COMMANDE A FAIRE
EXTRAIT
IM ALTER VON 20 JAHREN …
halben Jahre waren wir Rekruten durch den in der deutschen Armee üblichen Drill zu kriegstüchtigen Soldaten ausgebildet. Mitte Juli 1914 kam unser Regiment
der badisch-württembergischen Grenze, um dieGefechtsübungen
in großerem Maßstabe zu lernen.
Wir wurden dort manchmal aufs gemeinste herumgejagt
und geschliffen.
Am 29.Juli 1914 [… ] nachmittags hatte die Feldartillerie
Scharfschießen. Da es uns erlaubt war zuzusehen,
ging ich auch hin, denn ich war der Meinung,
daß ich diese Gelegenheit vielleicht nie mehr im Leben
haben würde. Das Schießen vor Ort war wirklich
interessant. Ich stand hinter den Geschützen und
konnte das Platzen der Schrapnells sowie die Einschläge
der Granaten bei den aufgestellten Zielen
genau sehen. Von dem drohenden Kriege hatten wir
Soldaten nicht die geringste Ahnung. Am 30.Juli
1914 gingen wir, durch den Dienst sehr ermüdet,
frühzeitig zu Bett. Etwa um 10 Uhr abends wurde
die Tür plotzlich aufgerissen und vom Kompaniefeldwebel
der Befehl zum sofortigen Aufstehen
gegeben, da der Ausbruch des Krieges unvermeidlich
sei. Wir fuhren aus dem Schlafe auf, keiner
war im ersten Moment vor Überraschung fähig, ein
Wort zu sprechen. Krieg, wo, mit wem? Natürlich
waren sich bald alle einig, daß es wohl wieder gegen
Frankreich gehe. Da fing einer das Lied »Deutschland,
Deutschland über alles« zu singen an. Fast alle
fielen ein, und bald tonte das Lied aus Hunderten
von Soldatenkehlen in die Nacht hinaus. Mir war es
absolut nicht ums Singen, denn sofort dachte ich,
daß man im Kriege nichts so gut wie totgeschossen
werden kann. Das war eine äußerst unangenehme
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Aussicht. Auch war mir bange, wenn ich an meine
Angehörigen und meine Heimat dachte, die hart an
der Grenze liegt und daher der Gefahr ausgesetzt
war, zerstört zu werden.
Eiligst wurde nun gepackt, und noch in der N acht
ging's nach dem im Donautale gelegenen Bahnhof
Hausen. Da kein Zug für uns da war, marschierten
wir ins Lager zurück, bis gegen nächsten Abend, um
dann in einem überfüllten Zuge, zusammergepfercht
wie Salzheringe in der Tonne, nach unserer
Garnisonsstadt Mülhausen zurückzufahren. Morgens
um 6 Uhr, 1. August 1914, kamen wir an und
marschierten in die Kaserne. Bis Mittag sollte Bettruhe
sein, jedoch bereits um 9 Uhr wurde ich mit
noch mehreren Kameraden geweckt. Wir empfingen
auf der Kammer die Kriegsmontur, alles nagelneu
vom Kopf bis zu den Füßen, dann erhielt jeder
von uns 120 scharfe Patronen. Nachher mußten wir
in die Waffenmeisterei, wo unsere Seitengewehre
geschliffen wurden.
Da kamen mein Vater und meine Schwester nochmals
zu mir, um mir Geld zubringen und Abschied zu
nehmen. Nun kam der Befehl, daß kein Zivilist mehr
den Kasernenhof betreten darf. Ich erhielt dann die
Erlaubnis, vor dem Kasernentor noch mit meinen
Angehörigen zu sprechen. Es war ein schwerer Abschied,
denn man wußte nicht, ob wir uns wiedersehen
würden. Wir weinten alle drei. Beim Fortgehen
ermahnte mich mein Vater,ja immer recht vorsichtig
zu sein, und daßich mich nie freiwillig zu irgend etvas
melden sollte. Diese Mahnung war eigentlich nicht
nötig, denn meine Vaterlandsliebe war nicht so gloß,
und der Gedanke, den sogenannten Heldentod zu
sterben, erfüllte mich mit Grauen.
Nun wurde ich mit noch 8 Mann zur Wache bei
der Stationskasse kommandiert. Andere Soldaten
standen am Bahnhof Wache, wieder andere patrouillierten
nach allen Richtungen den Gelesen
entlang. Am 3. August kreiste in großer Hohe ein
französischer Flieger über der Stadt. Alle Soldaten
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knallten in die Hohe. Jeden Augenblick glaubten
wir, daß er abstürzen würde, aber ruhig zog er seine
Kreise. Eine Menge Zivilisten hatten sich auf dem
Bahnhofsplatz angesammelt, um zuzusehen. Plötzlich
schrie einer der Zivilisten: »A Bumma!« (»-Eine
Bornbe!«) Schreiend lief der Haufen Zivilisten auseinander
und verschwand im Bahnhof und in den
umliegenden Gebäuden. Ich selbst sprang ebenfalls
in den Bahnhof und erwartete jeden Augenblick das
Explodieren der Bombe. Alles blieb still. Da wagte
ich mich unter dem Dach hervor, schaute in die
Höhe und sah einen Gegenstand herunterkommen,
an dem etwas flatterte. Bombe ist das doch sicher
keine, dachte ich. In Wirklichkeit war es ein schöner
Blumenstrauß, hauptsächlich aus Vergißmeinnicht
bestehend, der von einem rot-weiß-blauen Band zusammengehalten
war. Ein Gruß Frankreichs an die
elsässische Bevölkerung.
Am 4. August verließen zwei Züge, angefüllt mit
deutschen Beamten, Mülhausen in Richtung Baden.
Wir hatten von ihnen mehrere Flaschen Wein erhalten,
die wir uns wohl schmecken ließen. Da hieß es,
daß nicht nur Krieg zwischen Deutschland und
Frankreich sei, sondern zwischen Deutschland,
Österreich- Ungarn und der Türkei einerseits und
Frankreich, Rußland, Belgien, England und Serbien
andererseits. Oja, dachte ich, das wird was abgeben.
Am 5. August marschierte ich mit einer kleinen Abteilung
nach Exbrücke. Wir lagen 2 Tage auf dem
sogenannten Kolberg nördlich des Dorfes. Am
7. August sah ich die ersten Franzosen, es waren
Patrouillen, die durch die Kornfelder kamen. Wir
beschossen uns gegenseitig, doch gab's auf keiner
Seite Verluste. Das Pfeifen der Kugeln regte mich
anfangs sehr auf. Da bekamen wir den Befehl, uns
bis über den Rhein nach Neuenburg zurückzuziehien,
und marschierten dahin. Mit Tagesgrauen
marschierten wir über die Rheinschiffbrücke. Beim
Friedhof von Neuenburg schlugen wir unser Zeltlager
auf, todmüde legten wir uns hin, um zu schlafen
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und uns von dem Marsche auszuruhen. Dort blieben
wir 2 Tage, bis zum 9. August, liegen. Mehrere Regimenter
Soldaten waren nun don versammelt. Und
es war ein schönes militärisches Bild, das sieh dem
Auge bot.
Am 9. August morgens hieß es: »Fertigmachen!
Antreten!« un ging's wieder über die Rheinbrücke
in den großen Hardtwald hinein. Es wurde uns nicht
gesagt, was los sei oder wohin wir gehen würden. [… ]
Alle Unteroffiziere mußten zum Hauptmann gehen,
Befehl empfangen. Dann gab jeder Gruppenführer
seiner Gruppe den Befehl bekannt: Die Franzosen
haben die Linie Habsheim – Rixheim – Napoleonsinsel-
Baldersheim und so weiter besetzt. Wir müssen
gegen Abend angreifen und sie zurückwerfen. Unser
Regiment hat die Aufgabe, das Dorf Habsheim, Rixheim
und die dazwischen liegenden Rebhügel zu
erstürmen. Plötzlich war jedes Lachen, jeder Humor
wie weggeblasen, denn keiner glaubte, die heutige
Nacht zu erleben, und von der in patriotischen Schriften
so oh gerühmten Kampfbegeisterung und dem
Draufgängertum sah man herzlich wenig. Nun hieß
es weitermarschieren. Auf dem Straßenrand lag der
erste Tote, ein französischer Dragoner, der einen
Lanzenstich in die Brust erhalten hatte. Ein schauderhafter
Anblick: die blutende Brust, die verglasten
Augen, der offene Mund sowie die verkrallten
Hände. Wortlos marsehierte alles vorüber.
[… ] ln der Nähe von unseren Schießständen lagen
6 tote deutsche Infanteristen, alle auf dem Gesicht.
Wir mußten nun im Walde ausschwärmen und
bis gegen den Wald rand vorgehen und uns dann
hinlegen. lch lag in der 2. Schützenlinie. Vor uns am
Waldrand standen die Flugzeugschuppen des Habsheimer
Exerzierplatzes. Also mußten wir über den
1200 m breiten, deckungslosen Exerzierplatz vorgehen.
Ich dachte: Die Franzosen knallen uns weg,
sobald wir vorgehen. »Sprung auf! Marschmarsch!«
schallte das Kommando. Die 1. Linie erhob sieh und
rannte zum Walde hinaus. Ein Reservefeldwebel
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blieb liegen. leh weiß nicht, war's aus Feigheit oder
war er vor Angst. ohnmächtig geworden.
DIE SCHLACHT BEI MÜLHAUSEN
Sofort ais die 1. Schützenlinie var dem Waldrand
erschien, prasseIte es ihnen aus dem etwa 1200 m
entfernten Gebüsch schon entgegen. Die Kugeln
zischten über uns hinweg, zischten durch das Laub
oder klatschten in die Bäume. Mit klopfendem Herzen
schmiegten wir uns alle an den Waldboden,
so dicht wir nur konnten. »Zweite Linie, Sprung auf!
Marschmarsch!« Wir erhoben uns und sprangen aus
dem Walde. Sofort zischten uns die Kugeln um die
Ohren. Die 1. Linie hatte sich hingelegt und hielt die
Gebüsche lebhaft unter Feuer. Schon lagen einzelne
Gefallene und Schwerverwundete hinter der ersten
Linie herum. Leichter Verwundete rannten zwischen
uns durch, zurück in den schützenden Wald.
Unsere Artillerie beschoß mit Schrapnells die zwischen
Rixheim und Habsheim gelegenen Rebhügel.
Das Sausen der Geschosse war für uns neu. Das
Krachen, Knattern und Zischen brachte uns in eine
nicht geringe Aufregung. Plötzlich sauste es dicht
über uns: Zwei französische Granaten explodierten
kaum 20 m hinter uns. Im Laufen schaute ich mich
um, und als ich den Rauch und die umherfliegenden
Rasenstücke sah, dachte ich: Wenn mir 50 eine zwischen
die Beine flöge, 0 weh!
»In die erste Linie einschwärmen !- scholl das
Kommando. Wir sprangen hin und ließen uns in den
Lücken der 1. Linie zu Boden fallen. Wir mußten
nun das uns gegenüberliegende Gebüsch unter
Feuer nehmen. Wie oft schon hatten wir mit Platzpatronen
in Friedenszeit Sturmangriffe auf jenes Gebüsch
gemacht; doch damals war der Feind durch
rote Flaggen markiert. Heute war es leider ganz,
ganz anders. »Der Armbruster ist gefallen«, sagten
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sich die Soldaten gegenseitig in der Schützenlinie. Er
war ein Soldat meines Jahrganges. Das regte noch
mehr auf. [A., ein 23jähriger Schreiner, ist Iaut
Stammrolle des 112. Infanterieregiments bei diesem
Gefecht nicht gefallen, wurde an diesem Tag aber
durch einen Brustschuß schwer verwundet.] Zing,
schlug eine Kugel längs neben mir das Gras weg.
30 cm weiter nach links, und aus wär's mit mir gewesen.
-Sprung auf! Marschmarsch !- Alles stürzte vorwärts,
sofort prasselte es uns noch viel arger entgegen.
Wieder stürzten einzelne getroffen, manchmal
mit schrecklichem Aufschrei, zu Boden. »Stellung,
Feuer aufnehmen! 1., 3., 5., 7., 9. Gruppe springt!
2., 4., 6., 8. und 10. Gruppe schießt inzwischen
Schnellfeuer l- So ging's nun abwechselnd vor.
Als wir uns dem Gebüsch näherten, horten die
Franzosen mit Schießen auf. Als wir uns durch das
Gebüsch gewunden hatten, sahen wir eben die
letzten Franzosen beim Bahnhof Habsheim verschwinden.
Das waren die ersten Franzosen, die ich
beim Angriff zu sehen bekam. Im Gebüsch sah ich
nur zwei Tote liegen.
Als wir nun über das freie Feld gegen Habsheim
vorgingen, bekamen wir wieder starkes Feuer aus
dem Bahnhof und von den Rebbergen herunter.
Jedoch nur ganz wenige wurden getroffen. Als wir
mit Hurra den Bahnhof stürmten, waren die Franzosen
schon wieder gewichen. Wir waren dort auch
zu sehr in der Übermacht. Nun ging's zum Sturm
auf die Rebhügel. Anfangs prasselte uns ein starkes
Feuer entgegen, doch ais wir bald oben waren, flüchteten
die Franzosen in die Reben und waren verschwunden.
Die französische Stellung bestand nul'
aus einem etwa 50 cm tiefen Graben, dahinter Iag ein
Haufen Weißbrot und ein Fäßchen Rotwein. Beides
war bald in unseren Mägen verschwunden. Selbst
der größte Patriot fand das französische Weißbrot
besser ais unser Kommißbrot.
[… ] Inzwischen war es Nacht geworden. ln den
Reben fanden wir einen jungen, ohnmächtigen
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Franzosen . Im Scheine angezündeter Streichhölzer
sahen wir, daß er einen Oberschenkelschuf3 erhalten
hatte. Ein Badenser aus Mannheim wollte ihn totschlagen,
ich und mein Kamerad Ketterer aus Mülhausen
hatten Mühe, den Unhold von seinem Vorhaben
abzuhalten. Da wir sofort weiter vor mußten,
ließen wir den Franzosen liegen.
Als wir mit Hurrageschrei auf Rixheim losstürmten,
mußten sich die Franzosen zurückziehen, um
nicht in Gefangenschaft zu kommen. Trotzdem
wurden beim Häuserabsuchen noch Gefangene gemacht,
die sich vor Angst verkrochen hatten. Die
meisten Soldaten waren wie verrückt und wollten
überall im Dunkel Franzosen gesehen haben. Eine
blödsinnige Knallerei ging los, auf Bäume und alles
mogliche, sogar auf Schornsteine auf den Dächern
wurde geschossen. Überall zischten und schwirrten
die Kugeln herum, so daß man nirgends seines Lehens
sicher war. Der größte Soldat des Regiments,
der 2 m lange Hedenus, stürzte zu Tode getroffen zu
Boden. [H. war ein 19 jähriger Gymnasiast, laut
Stammrolle am 10. August 1914 um 10.30 Uhr
durch Brustschuß gefallcn.] Einzelne Hauser waren
in Brand geraten und beleuchteten die Umgebung.
l)je Verwundeten beider Parteien wurden aufgelesen,
die Toten blieben liegen.
Wir mußten uns sammeln, marschierten in Rich-
tung Mülhausen und mußten dann auf den Wiesen
ctwa 1km vor Rixheim übernachten. Da wir alle
naß yom Schwitzen waren, empfanden wir die
Kühle der Nacht unangenehm und hatten gro/3es
Verlangen nach unseren Strohsäcken in der Kaserne.
Doch müde, wie man war, schlief man bald
ein. Durch Schüsse und über uns schwirrende Geschosse
wurden wir aufgeschreckt. »Was ist los?«
schrie alles im Dunkel durcheinander. Da die
Schüsse in unserem Rücken bei dem Dorfe Rixheim
aufblitzten, immer zahlreicher wurden und sogar
ein Masehinengewehr anfing zu rattern, hien es:
..Die Franzosen sind in unserem Rücken«. Es gab
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ein unbeschreibliches Durcheinander. Gellend tö nten
die Aufschreie der Getroffenen. Die Offiziere
befahlen uns, eine Linie zu bilden, uns hinzulegen
und die Stellen, wo die Schüsse aufblitzten, kräftig
untel' Feuer zu nehmen.
Mehrere Minuten knallte alles drauflos. Da hieß es
plötzlich, es sind ja Deutsche. »Feuer einstellen!«
Wir mußten nun »Deutschland, Deutschland über
alles. singen, darnit die Soldaten bei Rixheim hören
sollten, daß wir Deutsche seien. Herrgott, war das
ein Gesang! Fast alle drückten das Gesicht in den
Rasen, um möglichst gedeckt zu sein. Langsam
flaute das Feuer ab. Die Offiziere làrrnten und
schimpften. Aber die armen Gefallenen konnten sie
nicht mehr lebendig machen. Wir hatten durch die
deutschen Kugeln so viele Verluste wie von den
französischen.
Am folgenden Morgen marschierten wir nach der
Napoleonsinsel. Überall sah man einzelne Tote,
Deutsche und Franzosen, umherliegen, ein grauenerregender
Anblick. Wir marschierten bis Sausheim,
machten kehrt, dieselbe Strecke zurück nach Mülhausen,
wo wir um 10 Uhr abends unter den Klangen
der Regimentsmusik einzogen. Die Einwohner
verhielten sich ruhig, und ich glaubte in vielen Gesichtern
zu lesen, daß unsere Rückkehr unerwünscht
war. Die nächsten 2 Tage bezogen wir
Alarmquartier in unserer Kaserne und konnten ausruhen.
Die meisten wollten nun weif Gott was für
Heldentaten vollbracht und eine Unmenge Franzosen
totgeschossen haben. Besonders diejenigen rissen
das Maul am weitesten auf, die während des
Gefechts am meisten Angst gehabt hatten.
Am 12. August marschierten wir in Richtung Baden,
überschritten beim Isteiner Klotz den Rhein
und wurden mitten in der Nacht in dem badischen
Dorf Eimeldingen in Scheunen einquartiert. Am folgenden
Tag wurden wir an der Bahn verladen. [... ]
ln Freiburg erhielten wir eine Unmenge Liebesgaben,
hauptsàchlich Schokolade, Zigarren, Zigaretten
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wohin. Alle müglichen Gerüchte wurden laut: nach
Nordfrankreich, Belgien, Serbien, Rußland und so
weiter. Jedoch aIle hatten sich getauscht, denn bei
Straßburg fuhren wir wieder über den Rhein und
mußten morgens bei Tagesgrauen in Zabern den
Zug verlassen. Sofort marschierten wir die Zaberner
Steige hinauf nach Pfalzburg (Lothringen). Es war
cin herrlicher, klarer Sommermorgen und die Aussicht
an einigen Stellen über die elsassische Ebene
wunderbar. Wir blieben in hochster Alarrnbereitschaft,
selbst kein Stiefel durfte ausgezogen werden.
ln der Ferne horten wir Kanonenschüsse. Aiso
schien auch hier etwas los zu sein.
Gegen Abend ging's weiter in Richtung Saarburg.
Auf einer Höhe mufiten wir Schützengräben ausheben,
eine richtige Schinderei, mit den kleinen Spaten
konnte man den harten, trockenen Lehrnboden nur
mit groüer Anstrengung wegarbeiten. [... ] Bei Anbruch
der Nacht entlud sich ein schweres Gewitter
über der Gegend, es wurde stockfinster, und ein
wolkenbruchartiger Regen ging nieder. Keiner
hatte mehr einen trockenen Faden am Leibe. ln den
Suefeln hatte sich das Wasser derart angesammelt,
daß wir dieselben ausleeren konnten. Wir hockten
oder standen auf dem Felde umher und fingen vor
Nasse an zu schnattern wie Ganse. »Alles nach Rieding,
Quartier suchenl– Wir tappten über das nun
nasse Feld und kamen endlich auf die Strahe, die ins
1iorf führte. Es war derart mit Soldaten überfüllt,
daJ3 wir lange kein freies Plätzchen unter Dach fanden.
Ketterer aus Mulhausen, Gautherat aus Menglatt
und ich hielten uns zusammen: »Ln der Kirche gibt's
sicher noch Platz «, meinte Ketterer. Wir gingen hin,
jcdoch dasselbe Bild. Die Soldaten hatten die Altarkcrzen
angezündet, so daßdie Kirche ziemlich erlcuchtet
war. Überall in den Banken und in den
(;~ingen Tru ppen. Sogar auf dem Altare lagen oder
s;tfkn die Soldaten herum. Wir verlieBen die Kirche
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und kamen am Dorfende zu einem Haus, dessen
Haustür verschlossen war. ln der Scheune kam pierten
Husaren. Wir rüttelten an der Türklinke, niemand
kam. Ketterer polterte mit dem Cewehrkolben,
zuerst leise, dann imrner stärker, an die Haustür.
Endlich fragte jemand: »Wer ist denn drauf.\
en?« – »Drei Soldaten, Elsässer «, sagte ich, »rnöchten
sich gerne einquartieren. Wir sind zufrieden,
werm wir am Boden schlafen körmen.« Die Tür ging"
auf. Wir rnuûten in die Küche. »Herrgott, se id ihr
nabl– klagte die Frau, machte uns unaufgefol'dert
heilie Milch, gab uns Brot und Butter dazu, das wir
uns wohl schmecken Iiehen. Die freundliche Frau
sagte uns, daßsie nul' ein freies Bett habe. Wir zogen
uns dann alle drei nackt aus und krochen ins Bert.
Die gute Frau halte unsere nassen Kleider und
trocknete sie am Ofen. AIs wir am falgenden Morgen
erwachten, waren aile Soldaten aus dem Dorfe
verschwunden. Die Frau brachte uns unsere trockenen
Kleider, und wir mubten noch frühstücken. Jeder
wollte dann der Frau für ihre Bemühungen 1
Mark geben [Tagessold eines Soldaten: 53 Pfennig];
sie wall te jedoch nichts. Dankend nahmen wir Abschied.
Nun gingen wir auf die Suche na ch unserer
Kampanie, die wir auf der Höhe trafen, wo wir am
vorhergehenden Abend einen Schützengrabenausgehoben
hatten.
Am Mittag marschierten wir nach dem Dorfe
Bühl, hielten, marschierten weiter, hielten wieder
und so weiter. Von vorne marschierten mehrereRegimenter
Bayern – Infanterie, Artillerie, Kavallerie
– an uns vorüber, zurück. Kein Mensch wu/3te,
woran el' war. Endlich marschierten auch wir zurück
und mu/3ten hinter dem Dorfe Rieding an einem
Waldrand in einer sumpfigen Mulde einen Schützengraben
ausheben. Wo man hinsah, arbeiteten Liniensoldaten
am Grabenbau. Bauerien wurden versteckt
eingebaut. Bald war uns allen klar, da/3 wir
hier die Franzosen aufhalten sollten. Mehrere Tage
vergingen ohne Zwischenfall. Am 18. August kamen
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franzosische Granaten angeflogen; diejenigen, die
in unserer Nahe in den Sumpfboden einschlugen,
explodierten nicht, während andere auf dem harten
Ackerboden mit lautem Krach zersprangen.
19. AUGUST 1914 – SCHLACHT BEI
SAARB URG (LOTHRINGEN)
ln der Nacht vom 18. zum 19. August hatten die
Franzosen die vor unseren Linien liegenden Dörfer
sowie das dazwischen liegende Celände besetzt. Am
Morgen in der Frühe wurde bei uns der Befehl zurn
allgemeinen Angriff gegen die Franzosen gegeben.
Mit einem Schlag war alles Lachen, aller Humor wie
weggeblasen. Alle Gesichter hatten denselben ernsten,
gespannten Ausdruck. Was wird der Tag bringen?
Ich glaube nicht, daû einer an das Vaterland
oder an sonstigen patriotischen Schwindel dachte.
Die Sarge um das eigene Leben drängte alles andere
in den Hintergrund.
Auf der Stra/3e, die bergab etwa 500 m von uns
nach dem Dorfe Rieding führte, fuhr in schnellstem
Tempo die etwa 80 Mann starke Radfahrer-Kornpanie
unseres Regiments auf das Dorf los. Kaum war
sie hinter den ersten Hausern verschwunden, aIs
eine tolle Schieûerei im Dorfe losging. Die ganze
Kompanie wurde vernichtet, bis auf 4 Mann. Plötzlich
setzte das deutsche Artilleriefeuer ein, die Franzosen
antworteten. Die Schlacht hatte begonnen. Mit
geladenem Gewehr und umgehängtern Tornister
knieten wir im Graben und warteten mit klopfendem
Herzen auf weitere Befehle. »Das Bataillon
geht geduckt im Graben nach der Straße hinüber.
Weitersagen!« Alles setzte sich mit gebücktem Oberkörper
in Bewegung. Mehrere französische Granaten
schlugen dicht beim Graben ein, so daßman sich
sekundenlang auf den Grabenboden warf. Wir erreichten
nun die Straûe und krochen – meist auf
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allen vieren – den Straßengraben entlang vorwärts.
Nur zu bald hatte uns die französische Artillerie
entdeckt. Plotzlich ein Sausen, ein Blitz über uns, ein
Schrapnell war geplatzt, doch keiner wur de getroffen.
Ssst-bum-bum, kamen sie nun angeflogen. Aufschreie
hier und dort, mein zweiter Vordermann
schrie auf, stürzte zu Boden, walzte sich herum und
schrie jammernd um Hilfe. Das regte auf.
»Vorwärts, marschrnarsch!« Alles rannte nun im
Straßengraben vorwärts, doch die franzosischenGesehosse
waren schneller, die Verluste häuften sieh.
"Bataillon nach links heraus, kompanieweise mit
4 Schritt Abstand, in Schützenlinien schwärrnt.
Marschmarsch!– ln kaum 2 Minuten war das Bataillon
ausgeschwärmt, im Laufschritt ging's weiter. Die
franzosische Infanterie, von der wir nichts sehen
konnten, eroffnete nun ein lebhaftes Feuer auf uns.
Wieder gab es Verluste. Vom Laufen und von der
Aufregung klopfte das Herz bis zum Halse hinauf.
Wir stürmten den Bahnhof Rieding. Vor unserer
Übermaeht muûten die Franzosen an dieser Stelle
weichen. Einige Gefangene blieben in unserer
Hand. Hinter der Bahnboschung muliten wir gedeckt
liegenbleiben und konnten wieder Atern
schopfen. Überall hörte man das Donnern der Geschütze,
das Bersten und Kraehen der Granaten 50–
wie das Geknatter der Infanterie und daschinengewehre.
Oh, wenn wir nul' lange in dieser Deckung
liegenbleiben könntenl dachte ich. Ja, Kuchen! Ein
anderes Bataillon schwärrnte von rückwärts bei uns
ein. ,,1. Bataillon lnfanterieregiment 112 zieht sich
gedeckt nach links rüber!« Wir gelangten nun in
eine Mulde, erreichten einen Wald und gingen etwa
2 km im Bogen herum, um das Dorf Bühl, welches
von den Franzosen tapfer verteidigt wurde, von der
Seite anzugreifen. Kaum verlief unsere 1. Linie den
schützenden Wald, aIs schon die franzosischen Cranaten
angesaust karnen. Sie waren gut gezielt, und
die Erdschollen schwirrten brummend um unsere
Këpfe, richteten jedoch in unseren aufgelosten Linien
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wenig Schaden an. Wir mußten ein flaches TaI
durchqueren, durch welches ein Bach HoH. Da die
Wiesen gar keine Deckung boten, blieb uns nichts
übrig, ais im Bache binter der jenseitigen Bëschung
Deckung zu suchen. "Vil' standen fast 2 Stunden bis
an den Leib im Wasser, duckten uns dicht an die
Böschung, während die Scbrapnells die Erlen und
Weiden über unsern Köpfen in Fetzen rissen. Wir
bekarnen aus dem Walde mehrere Linien Verstärkung
und rnuûten zum Angriff auf die Höhe vorgehen.
Ein prasselndes lnfanteriefeuer knatterte uns
entgegen. Mancher arme Soldat fiel ins weiche
Öhmdgras. [Südwestdeutsch Ohmd: Heu, die zweite
Mahd] Weiter vorzugehen war unrnoglich. Alles
warf sich zu Boden und suchte sich mit Spaten und
Handen einzugraben. Zitternd,dicht an den Erdboden
geschmiegt, lag man da, jeden Augenblick den
Tod erwartend. Da hörte ich auf der Hohe furchthare
Explosionen, hob ein wenig den Kopf und
schaute hinauf. Crolle, schwarze Rauchwolken
schwebten dort oben, neue Rauchwolken schossen in
die Höhe, Erdschollen flogen umher. Die deutsche
Fufi–Artillerie hielt die Hohe stark untel' Feuer. Wir
konnten nun die Höhe und das Dorf mit wenigen
Verlusten nehmen. ln einern ausgehobenen Keller
auf einern Bauplatz suchten wir gegen die französische
Artillerie Deckung. eben mir lag ein badischer
Reservist, Vater von zwei Kindern. Er zog eine Zigarre
hervor, beim Anzünden sagte el' zu mir: »Wer
weill, es ist vielleicht die letzte.. Kaurn hatte er diese
Worte gesprochen, als ein Schrapnell über uns
platzte. Ein Splitter durchschlug den Tragriemen
des Tornisters auf der Brust und drang ins Herz.
Der Reservist stief einen Schrei aus, schnellte hoch
und fiel tot hin. Zwei andere Soldaten und unser
Hauptmann wurden verwundet. Wir blieben bis gegen
Abend im Keller liegen. Dann ging's weiter;
ohne auf Widerstand zu stolien, besetzten wir die
südwestlich von Bühl gelegenen Höfe. Wir sollten
dort die Nacht verbringen. Todrnüde, abgehetzt,
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naf von Schweif und Bachwasser legte sich alles hin.
Ich selbst halte in der Nähe stehende Hafergarben,
breitete zwei in einer Furche aus und deckte mich
mit zwei anderen zu. Ich schlief bald ein. Plotzlich
ging ein Geschrei und eine SchieI3erei los. »Sofort
drei Linien bilden! Erste liegen, zweite knien, dritte
stehen! Sofort Schnellfeuer nach vorne eröffnen!«
Alles rannte riun hin, im Nu waren die Linien gebildet,
und die Franzosen, die einen Gegenangriff
machten, wurden mit einem furchtbaren Schnellfeuer
empfangen. Trotzdem kamen sie stellenweise
bis in die deutschen Linien, wo im Dunkel mit dem
Bajonett gekampft wurde. Schließlich zogen sich die
Franzosen wieder zurück, und die Ruhe kehrte wieder
ein. Ich selbst hatte mich an der ganzen Sache
nicht beteiligt und drückte mich so tief wie moglich
in meine Hafergarben. Lange konnte ich nicht einschlafen.
Das Jammern, Um-Hilfe-Rufen und Stohnen
der Verwundeten ging mir sehr zu Herzen.
Schließlich schlief ich wieder ein. Um 2 Uhr morgens
kam endlich die Feldküche, es gab Essen: heiI3en
Kaffee und Brot. Der heiûe Kaffee schmeckte herrlich,
man hatte kalt in den feuchten Kleidern bekornmen.
Da etwa die Hälfte der Mannschaften fehlte,
erhielt man, so viel man wollte. lch füllte noch meine
Feldflasche für den folgenden Tag. Dann kroch ich
wieder in meine Hafergarben und erwachte erst, aIs
mir die Sonne ins Gesicht schien. Ich stand auf.
Welch ein Anblick bot sich mir! Vor uns lagen tote
und verwundete Franzosen, so weit man blicken
konnte. Die toten Deutschen lagen auch noch da, die
Verwundeten waren schon weggeschafft. lch ging
zu den nächsten französischen Verwundeten und
verteilte ihnen meine Feldflasche Kaffee. Wie diese
Armen dankten! Deutsche Sanitatswagen fuhren
heran, die die verwundeten Franzosen wegführten.
Die Toten waren zum Teil entsetzlich anzusehen,
teils lagen sie auf dem Gesicht, teils auf dem Rücken.
BIut, verkrallte Hände, verglaste Augen, verzerrte
Gesichter. Viele hielten die Gewehre krampfhaft in
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der Hand, andere hatten die Hände vol! Erde oder
Gras, das sie im Todeskampf ausgerissen hatten. Ich
sah viele Soldaten beisammenstehen an einer Stelle,
ging hin, und es bot sich da ein entsetzliches Bild. Ein
deutscher und ein französischer Soldat lagen da halb
kniend gegeneinander. Jeder hatte den anderen mit
dem Bajonett durchbohrt und waren so zusarnmengesunken.
Nun wurde ein Korpsbefehl verlesen: Gestern
wurden die Franzosen in 100 km Breite von Metz bis
zum Donon angegriffen und trotz tapferer Gegenwehr
zurückgeworfen, so und sa vide Gefangene
fielen in unsere Hand, Geschütze wurden erbeutet.
Die Verluste werden aufjeder Seite auf 45000 Mann
geschätzt. Unseren Soldaten gebühre voiles Lob für
ihren Mut und ihr Heldentum, und der heiße Dank
ihres Vaterlandes sei ihnen gewiß und so weiter und
so weiter.
Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt? lch will es
fast bezweifeIn, denn im Feuer sah ich nichts aIs
Angst, Bangen und Verzweiflung in jedem Gesicht
geschrieben. Von Mut, Tapferkeit und dergleichen
überhaupt nichts, denn in Wirklichkeit ist's doch nur
die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Solda-
Ien vorwärts und in den Tod treibt.
20. AUGUST 1914
lch mubte dann mit einem Unteroffizier und 10
Mann nach Bühl, Munition holen, um die verschossene
zu ersetzen. Nahe dem Dorfe stand ein Feldkreuz.
Eine Granate hatte den Kreuzesstamm in
Kniehöhe des Heilandes sowie das Querholz weggerissen.
Der Heiland stand unversehrt mit ausgest
reckten Händen da. Ein erschütterndes Bild, wortlos
gingen wir weiter.
Etwa urn 10 Uhr morgens hief es: »Alles fertigrnachen,
vorwärts!« ln mehreren Schützenlinien ging's
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nun wieder den Franzosen entgegen. Balel karnen
einzelne Granaten heranget1ogcn, cine sehlug in die
dort stehende Ferme [Pachthof in Fran kreich, Gut],
die alsbald lichterloh branrue. Kein Mcnsch dacbte
ans LöschcnvWeit vorn sah ich ein Pferd mit hangendem
Kopfe in cinem Haferfelde stehen. Bcim
Hinzukomrnen sah ich, daH dasselbe bei seinern toten
Reiter, einern französischen Kavalleristen, stand
und selbst an einem hinteren Beine und am Bauch
schwer verwundet war. Aus Mitleid scholl ich ihrn
eine Kugel in den Kopf. Tot brach es zusammen.
Einige Schritte weiter trat ich im Hafer auf etwas
Weiches. Es war eine abgerissene Hand, an der noch
ein Fetzen yom Hemdärrnel hing. Unweit davon lag
neben einern Granatloeh die zerrissene Leiehe eines
franzosischen Infanteristen, jedenfalls der Eigentürner
der abgerissenen Hand.
Beim Weitervorgehen erhielten wir starkes Cranatfeuer.
lm Laufsehritt eilte alles hinter den steilen
Abhang eines vor uns liegenden etwa haushohen
Hügels. Die Granaten sehlugen nun entweder oben
auf der Höhe ein oder sausten über uns hinweg.
Nun ging's aber los mit Sehrapnells, die fast aile über
uns platzten. 0 diese verflixten 75er-Kanonen! Wie
der Teufel kamen die Gesehosse herangesaust. Man
hatte nicht einmal Zeit, sich zu Baden zu werfen. ln
einer Sekunde: Abschuû, Sausen und Krepieren.
Vor Angst hielten wir die Tornister über unsere
Köpfe, doeh gab es bald mehrere Verluste. Unser
Major narnens Müller gab uns ein Beispiel grofier
Unersehroekenheit. Eine Zigarre rauehend, ging er
zwisehen uns, die platzenden Sehrapnells nicht achtend,
hin und her, uns aufmunternd, keine Angst zu
haben. Etwa 500 m links, rückwärts von uns, fuhr
eine deutsche Batterie auf. ln wenigen Minuten war
dieselbe von der französischen Artillerie zusarnmengeschossen.
Nur wenige Kanoniere konnten sich
. durch Davonlaufen retten. Allmählich horte das
Schielien auf, wir gingen weiter VOl' und brachten die
Nacht im Walde bei dem Dorfe Hatten zu.
30
21.AUCUST 1914-GEFECHTHEI
LÖRCHINGEN (LOTHRINGEN)
Morgens in der Frühe ging's nun wieder weiter, in
c-inern Tale der Onsehaft Lürcbingen zu. Ein Leutliant
Vogel, eiu verdrieblicher, schlecht aussehender,
heiserer Mensch, führte seit der Verwundung
uuseres Hauptrnanns cl.ie Kornpanie alleine nach
lörchingen. lm Dorfe angekommen, meldeten vor-
ausgeschickte Patrouillen: »Auf der Höhe links von
dem Dode, fast in unserem Rückert, zurüekgehende
lranzösische Infanterie.« lm Laufschritt ging's das
Dorf hinauf, und wir besetzren dort eine mit einer
siarken Mauer umgebene Cärtnerei. Die Franzosen,
die in etwa 400 m Entfernung ahnungslos auf uns
zukamen, wurden plötzlich von einem furchtbaren
Feuer überschüttet. Viele stürzten, andere warfen
sich hin und erwiderten das Feuer. Doch konnten sie
uns nichts anhaben, da wir durch die Mauer gedeckt
waren. Da hielten einzelne, dann imrner rnehr die
Gewehrkolben in die Hohe, zum Zeiehen, daßsie
sich ergeben wollten. Wir hörten auf mit Schieûen.
Daprangen rnehrere Franzosen auf, um zu fliehen.
Sie wurden zusammengesehossen. Mieh dauerten
die armen Menschen. leh konnte es nieht fertigbrin-
gen, auf sie zu schieûen. »Vorwärts, marschmarseh!«
schrie Leutnant Voge!. »Wir wollen den Rest der
Bande gefangennehmen!« Alles kletterte über die
Mauer und lief den Franzosen zu. Diese schossen
nicht mehr. Da plötzlich von rückwarts ein Sausen.
Bum zerplatzte ein grolles Schrapnell über uns,
mehrere folgten. Wie vom Blitze getroffen, stürzten
mchrere Mann zu Baden. Alles wollte nun zurückl.
iufen, Deckung suchen, denn wir wurden von unse–
rer eigenen Fufiartillerie besehossen, und das regte
auf Leutnant Vogel schrie: »Vorgehen!« Ais einige
Soldaten zogerten, schof er kurzerhand vier dersel–
ben nieder, zwei waren tot, zwei verwundet. Ein gu–
ter Kamerad von mir namens Sand war einer der
Vcrwundeten. (Der Leutnant Vogel wurde zwei Mo-
31
einnate
spa ter in Nordfrankreich von eigenen Soldaten
erschossen.) [Der 23jahrige Zuckerfabrikarbeiter
Sand wurde laut Stammrolle am 21. August 1914 bei
Lörchingen durch Schuf ins rechte Schienbein verwundet.
Der 1871 geborene Feldwebelleutnant Vogel,
im Zivilleben Oberpostassistent, wurde Ende
1914 nicht erschossen: Zwei Tage nach dem Gefecht
kam er zur Etappe nach Belgien, wo er bis 191 7
blieb.]
Die Franzosen kamen nun, zitternd vor Angst, mit
erhobenen Händen zu uns gelaufen. lm Laufschritt
ging's zurück nach Lörchingen, wo wir uns in Kellern
und so weiter Deckung suchten. Gegen Abend
gingen wir, unsere Gefangenen mitnehmend, in das
weiter zurückliegende Dorf Hessen, wo wir, in Obstgarten
schlafend, die Nacht verbrachten.
22/ 23 / 24 AUGUST 1914
Morgens in der Frühe Alarm, Kaffeetrinken, Abmarsch
nach vorne. Verflucht, dachte ich,jeden Tag
mußman nun den Tod suchen. Mit welchem Widerwillen
ich weiterging, kann ich nicht beschreiben.
Wir erreichten nach einigen Kilometern Marsch die
französische Grenze. Der deutsche Grenzpfahl mit
dem Adler war von den Franzosen umgebrochen
worden. Ich dachte, daf vielleicht beim Grenzüberschreiten
hurra gebrüllt werden mub, Doch wortlos
tappten wir weiter. Jeder dachte wohl, ob er die
Grenze wieder rückwärts überschreiten werde. Wir
marschierten bis in die Nacht hinein und karnpierten
auf einem freien Ackerfelde.
Den Morgengruß brachte ein franzosischer Flieger,
der 2 Bomben abwarf. Jedoch wurde niemand
verletzt. Die Feldküche blieb aus, der Hunger stellte
sich ein. Vor uns lag ein Dorf. Wir hofften, dort
etwas Lebensmittel zu finden, durften es jedoch
nicht betreten und marschierten dicht an demselben
32
vorbei. Wir rissen in den Pflanzungen gelbe Rüben
aus, schüttelten im Vorbeigehen einige Mirabellen
von den Baumen, das war unser Frühstück. Doch
Hunger ist der beste Koch, das sollten wir noch ofters
erfahren. Folgen dieser Verpflegung: Durchfall-
und wie! Über die Halfte der Mannschaften liu
daran. Viele meldeten sich deswegen krank und wären
lieber ins Lazarett spaziert, ais langer im Feld
den Helden zu spielen. Ja, Lazarett! Vom Bataillonsarzt
ein Opiumtropfen auf einem Stückchen Zucker
und marsch, ran an den Feind! Ach, wie gerne hatten
wir uns nun im Kasernenhofe schleifen lassen!
Und die Betten! 0 ihr Strohsäcke, wie glücklich wären
wir nun, auf euch unsere Glieder trocken und
warm ausstrecken zu k6nnen! Weiter, oh ne Ruh,
ohne Rast.
Am Mittag wurde in einem Dorf haltgemacht.
Eine wahre Treibjagd auf die Hühner begann. Kaninchen
wurden aus Kisten und Ställen geholt, der
Wein aus den Kellern, der Speck und Schinken aus
dem Kamin. lch suchte die Eiernester und trank
(j-8 Eier aus. Ich ging dann in ein Haus. ln der
Stube standen auf den Milchschäften [Schaft: süddeutsch
für Gestellbrett, Schrank] Reihen von
Milchtopfen. lch langte hinauf und erwischte einen
mit süßer Sahne gefüllten Topf. Wie das schmeckte,
so süß und kühl! lm schönsten Trinken erblickte
ich hinter der Stubentür eine altere Frau, die bleich
und zitternd dastand. Obwohl ich kein Verbrechen
begangen hatte, schämte ich mich, oh ne weiteres
die Sahne wegzunehmen. lch wollte der Frau eine
halbe Mark geben, sie wollte jedoch nichts und gab
mir noch ein großes Stück Brot. Die Frau war die
cinzige Zivilperson, die ich im Dorfe sah. Entweder
hatten sich die Einwohner var Angst verkrochen
oder waren geflohen. Antreten, weiter! Mehrere
Kompanien gingen ausgeschwarmt vor, wir folgten
ais Reserve. Pang, pang, ging's vorne wieder los. Es
war die Franzosen-Nachhut, die leichten Widerstand
leistete. Unsere Kompanie brauchte nicht einnate
33
zugreifen. Beim weiteren Vorgehen sahen wir
einige gefallene Deutsche herumliegen. Wir gingen
weiter und übernachteten in einem Großen Gebirgswald.
An der Unruhe und Aufregung der Offiziere
konnte man merken, daß für den folgenden Tag
etwas in Aussicht war.
AUGUST 1914– ÜBERGA G ÜBER DIE
MEURTHE
Morgens in der Frühe fingen deutsche Batterien
ununterbrochen zu schieJ3en an. Drüben hörte man
den Einschlag der Granaten. Wir standen marschbereit
im Walde und warteten. Die Kompanieführer
ließen nun ausschwärrnen. Meine Kompanie stand
in der 2. Schützenlinie. »Vorwärts, marsch!« Alles
setzte sich in Bewegung. Vorne schimmerte es hell
durch die Baume, der Wald hörte dort auf. Kaum
zeigte sich die 1. Linie am Waldrand, ais die franzosische
Infanterie ein rasendes Schnellfeuer eroffnete.
Der Wald selbst wurde von der franzosischen Artillerie
mit Granaten und Schrapnells belegt. Zwischen
und über uns krepierten die Dinger, man lief wie
verrückt hin und her. Dicht neben mir wurde einem
Soldaten der Arm abgerissen, einem anderen der
halbe Hals durchgeschlagen. Er stürzte hin, gluckste
ein paarmal, das Blut schol3 ihm aus dem Iunde. Er
war tot. Eine in der Mitte getroffene Tanne stürzte
zu Boden, man wulite nicht, wo man sich verstecken
sollte. »Zweite Linie vorwärts!« Am Waldrand angekommen,
sah ich vor mir ein ziemlich tiefes TaI,
welches von einem Flusse, einer Straûe und einer
Bahn durchzogen wurde: das Tai der Meurthe. Das
Dorf und die Höhen jenseits des Flusses waren von
den Franzosen stark besetzt. Sehen konnte man nur
einzelne, sie lagen gedeckt. Überall sah man die
Rauchwolken der deutschen Granaten ernporschie-
ßen. Beiderseits von uns brachen die deutschen
34
Schützenlinien aus dem Wald hervor, sausend kamen
die franzosischen Artilleriegeschosse angeflogen
und forderten ihre Opfer. ln dem Krachen und
Knattern hörte man fast keine Kommandos mehr.
lm Laufschritt ging es hinunter ins 'l'al, wo wir endlich
im Straßengraben etwas Deckung fanden. Etwa
éOO m vor uns befand sich die Straßenbrücke über
dem Fluss. Beim weiteren Vorrücken drängte alles
n.rch der Brücke, die Franzosen überschütteten diesc-
lbe mit einem Hagel von Schrapnells, Infanterie–
und Maschinengewehrfeuer. Haufenweise stürzten
die Anstürmenden getroffen zu Boden. An ein Hinùberkommen
ùberkommen war nicht zu denken. Zitternd lag ich
auf der deckungslosen Wiese neben der Straße in
der Nähe des Flusses. Zu rühren traute ich mich
nicht, Ich dachte, mein letztes Stündlein sei gekommen,
und sterben wollte, wollte ich nicht. Ich betete
zu Gott um Hilfe, so beten kann man nul' in grüJ3ter
lebensgefahr. Es war ein angstvolles, zitterndes Fle-
hen aus tiefstem Herzen, ein inbrünstiges, qualvolles
Schreien nach oben. Wie ganz anders ist so ein Gebet
in höchster Not irn Vergleich zum sonstigen Beten,
das meistens doch nur aus einem gewohnheirsmàssigen,
oft gedankenlosen Hersagen besteht.
Rums, dicht neben mir hatte eine Granate einges(
Irlagen, prasselnd fielen Splitter und Erdschollen
heruieder. Ein Sprung, im Granatloch lag ich!
Plumps,,prang ein anderer Soldat, ebenfalls Dekk
kung suchend, auf mich. Doch ich war zuunterst und
Iiess mich nicht verdrängen. »Vorwärts, zum Sturm
Durch den Fluss<< schollen die Kommandos durch
Das Getöse. Alles sprang auf, oh ne langes Besinnen
In den Fluss, um hinter der jenseitigen Uferböschung
Deckung zu bekommen. Das Wasser reichte
An die Brust, doch das wurde weiter nicht beachtet.
Mehrere Mann wurden im Wasser von einem
SCHRAPNELL getroffen und fortgespült. Kein Mensch
half ihnen, jeder hatte mit sich selbst zu tun.
Am Dorfrand waren mehrere Hauser in Brand
geschossen; durch die Hitze gezwungen, mullten die
35
Franzosen stellenweise die Verteidigung des Dorfrandes
aufgeben. Wir mußten nun zum Bajonettangriff,
die Franzosen mußten weichen. Gefange~e
wurden gemacht. Waschnaß, erschöpft suchten wir
hinter den Häusern Deckung, um etwas auszuruhen.
Nach und nach hörte das Schießen ganz auf.
Gegen Abend mußten wir den links var dem Dorfe
gelegenen bewaldeten Hügel angreifen. Wir kehrten
na ch Thiaville zurück, um zu übernachten. Ich
lag mit vielen Kameraden in einer Scheune im weichen
Ohmd. Es war eine gewittersch,vere Nacht.
Rauschend stürzte der Regen auf die Dachziegel.
Infolge des Krachens der zusammenstürzenden, in
Brand geschossenen Hauser konnte man trotz aller
Müdigkeit keinen Schlaf finden. Viel Vieh war noch
in den brennenden Ställen angebunden und brüllte
vor Todesangst in allen Tonarten. Entsetzlich! Endlich
schlief ich ein. Nach Mitternacht hörte ich in der
Scheune rufen: »Cruppe Heuchele solI sofort herunterkornmen!-
Dazu gehbrte au ch ich. Wir kletterten
hinunter, die nassen Kleider klebten am Korper.
Wir 8 Mann mit dem Unteroffizier mußten einige
hundert Meter vor dem Dorf Feldwache beziehen.
Dort standen oder kauerten wir bei strörnendem
Regen und starrten und lauschten in die stockdunkle
Naeht hinaus. EndIieh graute im Osten der
Morgen. Was wird der neue Tag bringen?
26. AUGUST 1914- WALDGEFECHT BEI
THIAVILLE
Ais es hell wurde, warteten wir auf Ablösung, doch
niemand kam. Einige Schritte von uns stand ein kleines
Haus, das wir im Dunkel gar nieht bemerkt hatten.
ln einer Heeke daneben lag ein toter, vom Regen
vollstandig durchnäûter deutseher Infanterist.
lm Hofe des Hauschens lagen zwei tote franzosische
Infanteristen. Neben dem einen lag ein Portemon
36
naie, ich hob es auf. Es enthielt zwei 20-Franken-
Stüeke in Gold. lch hatte jedoch gar keinen Sinn
mehr naeh Geld und warf es weg. Wahrseheinlieh
hatte einer der Franzosen sein Geld hergeben wollen,
damit er verschont würde. Vom Dorfe her ritt
eine Dragoner-Abteilung heran und an uns vorbei,
der Straûe entlang dem etwa 400 m entfernten
Walde zu. Infanteriekompanien folgten. Wir muûten
uns unserer Kompanie ansehliel3en. ln unseren
nassen Kleidern tappten wir hinterher. Kein Menseh
fragte uns, ob wir etwas gegessen oder getrunken
hatten. Vorne im Walde knallten Schüsse. Verflucht,
sehon wieder! Die Dragoner, die aus dem Wald in
vollem Galopp zurückgesprengt kamen, maehten
unserem Brigadegeneral, Generalmajor Stenger,
die Meldung, daßsie auf Franzosen gestoßen seien.
Der General erteilte nun den Kompanieführern folgenden
Befehl [über den sieh in rnilitärischen Akten
nichts ermitteln liefi], der jeder Kompanie vorgelesen
wurde: »Heute werden keine Gefangenen gemacht.
Verwundete sowie gefangene Franzosen
werden erledigt.« Die meisten Soldaten waren starr
und spraehlos, andere wieder freute dieser volkerreehtswidrige,
niederträchtige Befehl. »Ausschwärmen,
vorwarts, marsch!« Gewehr im Arm ging's dem
Wald zu, in denselben hinein, meine Kompanie in
der 2. Schützenlinie. Kein Sehuß fiel. Sehon hofften
wir, die Franzosen, welche die Dragoner besehossen,
hatten sieh zurüekgezogen. Päng-päng-päng, ging's
los. Einzelne Kugeln kamen bis zu uns geflogen und
Iuhren klatsehend in die Baume. Morgens in der
Frühe waren frisehe Ersatztruppen angekommen,
die in die Kompanie eingeteilt wurden. Diese Soldaten,
die noeh keine Kugel pfeifen gehërt hatten,
machten fragende, ängstliche Gesichter. Da das
Feuer stärker wurde, muliten wir in die vordere
Linie einschwarmen. Jeden Baum,jeden Strauch als
Deekung benutzend, ging's weiter. Mehrere Schützenlinien
folgten uns. Die französischen Alpenjäger
und lnfanteristen mußten anfangs trotz tapferer
37
hinter Bäumen und in Waldgräben fest und knallten
uns entgegen. Die Verluste häuften sich. Dieverwundeten
Franzosen blieben Iiegen und gerieten in
un sere Hand. Zu meinem Entsetzen gab es bei uns
solche Ungeheuer, welche die armen, um Gnade
flehenden, wehrlosen Verwundeten mit dem Bajonett
erstachen oder ersehossen. Ein Unteroffizier
meiner Kompanie namens Schirk, Kapitulant [ins
Moderne übersetzt: ein Zeitsoldat; ehemals im deutschen
Heer ein Soldat, der sieh durch Vertrag über
die gesetzliche Dienstzeit hinaus verpflichtete] des
älteren Jahrgangs, schof hohnlachend einem im
Blut liegenden Franzosen durch das Gesäû, dann
hieJt er dem in Todesangst um Gnade flehenden
Unglüeklichen den Gewehrlauf vor die Schläfe und
drückte los. Der Arme hatte ausgelitten. Aber nie
kann ich das in Todesangst verzerrte Gesicht vergessen.
Einige Schritte weiter lag wieder ein Verwundeter,
ein junger hübseher Mensch, in einem Waldgraben.
Unteroffizier Schirk lief auf ihn zu, ich hinterher.
Sehirk wollte ihn niedersteehen, ich parierte
den Stof und schrie in höchster Aufregung: »Wenn
du ihn anrührst, verrecksch!« Verdutzt schaute er
mich an, und meiner drohenden Haltung nicht trauend,
brummte el' etwas und folgte den anderen Soldaten.
Ieh warf mein Gewehr zu Boden, kniete mich
bei dem Verwundeten nieder. Er fing an zu weinen,
faûte meine Hände und küûte sie. Da ich gar nichts
französisch sprechen konnte, sagte ich, auf mich
deutend: »Alsacien Kamerad!« und gab ihm durch
Zeichen zu verstehen, daf ich ihn verbinden wolle.
Er hatte kein Verbandszeug. Seine beiden Waden
waren von Gewehrschüssen durchbohrt. leh entfernte
seine Gamasehen, sehnitt mit dem Taschenmesser
die roten Hosen auf und verband mit meinem
Verbandspäckchen die Wunden. leh blieb
dann neben ihm liegen, teils aus Mitleid, teils wegen
der Deckung, die ich im Graben hatte. Ich hob ein
wenig den Kopf, konnte die vorgehenden Truppen
38
nicht mehr sehen. Ununterbrochen zisehten Kugeln
durch den Wald. Sie schlugen Zweige ab und fuhren
in Stämme und Aste.
Ganz in der Nahe standen einige Heidelbeersträucher,
die voll von reifen Beeren hingen, welche ich
pflückte und aû, Sie waren das erste Essen seit etwa
30 Stunden. Da hörte ich Sehritte hinter mir. Es war
der Kompaniefeldwebel Penquitt, in der Kaserne
cin sehr gefahrlicher Qualgeist, der jedesmal, wenn
er zu spreehen begann, ein paarmal stotterte. Mit
Erhobener Pistole schrie er mich an: »A–a–aas, verfluehtes,
willst du machen, daf du naeh vorne
kommstl– Was wollte ich maehen? Nahm mein Gewehr
und ging. Ein paar Schritte wei ter steIlte ich
Illich hinter einen Baum, um zu sehen, ob er dem
Verwundeten etwas anhaben wolle. Mein Entschluf
war, ihn sofort niederzuschielien, wenn er den Franwsen
töten wollte. Er betrachtete ihn und ging weiler.
Ich lief nun schnell vor ihm her dureh dichtes
Brombeergebüseh. Darin lagen 6-8 Franzosen, aile
.ruf dem Gesieht. leh merkte gleich, daßsie sich nur
lotstellten. Fliehen konnten sie nieht mehr, denn die
dcutschen Linien waren vor ihnen. Ieh berührte den
cinen mit dem Bajonett und sagte: »Kamerad..
AlIgstlich schaute er mieh an. Ich bedeutete ihm,
ruhig liegen zu bleiben, was er mit eifrigem Kopfnikkr-
ken bejahte. Tote und Schwerverwundete lagen zersi
streut im Walde umher. Das Knattern und Knallen
wollte kein Ende nehmen. Leichtverwundete rann-
ten an mir vorbei, rückwärts. lch sehlieh mieh, imnier
Deekung suchend, in die Gefechtslinie. Mit
Hurra ging's wieder weiter var, die Verluste häuften
sich schreeklich. [… ] Beim weiteren Vorgehen ka–
men wir an eine breite Schlucht. Die Franzosen kletl-'
terten im Zurückweichen den jenseitigen Hang hin–
:auf. Viele le von ihnen wurden wie Hasen abgeschosse-
sen. Manche der Getroffenen rollten den Abhang
hinab. AIs wir die Schlucht überschritten hatten, bek.
uuen wir plötzlich von einer Anhohe, die mitjung('
gen Tannen bepflanzt war, ein furchtbares Feuer.
39
Alles sprang hinter Baume oder warf sich zu Boden.
Einige flohen. Major Müller schrie, den Degen
schwingend: » Vorwärts, Kinder l– und brach dann
sofort tot zusammen. [Major M.,Jahrgang 1863, fiel
bei diesem Gefecht nach :~1 Jahren Militärdienst.]
Nun wurde es oben in denjungen Tannen lebendig.
Ganze Scharen von Alpenjäger n liefen mit gef~illtern
Bajonett auf uns ZU. Wir machten kehrt. lm schnellsten
'Tempo ging es zurüek. Ieh lief mit etwa 6 Mann
zusammen, vier davon stürzten aufschreiend zu Boden.
Ich nahm mir nicht die Zeit, mich naeh ihnen
umzuschauen. Unsere Verwundeten blieben fast
alle liegen. lch schnallte im sehnellsten Laufen meinen
Tornister los und schrnif ihn weg. Weiter zurück
hörte ich 2– bis 3mal meinen Namen rufen.
Mich umsehend, sah ich meinen guten Stubenkarneraden
Schnur, Landwirtssohn aus Wangen am Bodensee,
auf einem Zelt liegen, welches von Sanitätern
an Tragstangen befestigt worden war. Die Sanitäter
lichen ihn liegen und liefen davon. Sofort rief
ich 3 Kameraden herbei. Wir nahmen die Stangen
auf die Schultern, und im Laufschritt ging's nun
rückwärts, Für den armen Schnur war dies ein echter
Leidensweg. Die Zeltschnüre rutschten zusarnmen.
Schnur sa/3 mit dem Hintern im tiefen Zelt, die
Beine und der Kopf schauten oben hinaus. daßei
schwenkte das Zelt zwischen uns immer hin und her.
»Haltet! Um Gottes willen langsamer!« stohnte el',
aber wir liefen immer weiter, um aus dem Bereich
der Kugeln zu kommen. Offiziere hielten nu n alIe
zurücklaufenden Soldaten an und zwangen sie, eine
Linie zu bilden, um die Franzosen abzuwehren. Wir
vier durften den Verwundeten nach dem Verbandsplatz
bringen, der in einer kleinen Ferme nahe am
Waldrand sich befand. Die Ferme war von Verwundeten
derart überfüllt, daßwir gezwungen waren,
Sehnur im Hofe niederzulegen. Er hatte einen
Schuf ins Kreuz erhalten und war yom Blutverlust
sehr geschwaeht. Da es wieder zu regnen anfing,
suchte und Iand ich ein leeres Plätzchen in der Küche,
40
Küche,
und wir trugen Schnur hinein. Gatt, wie sah es
in diesem 1Iaus aus! Blut, Ächzen, Stühnen, Betcn l
Meinern Kamerarlen gute Besserung wünschend ,
verlief ich dieses Haus des Elcnds. (Drei Monate
spater starb Schnur in einern Lazarett in Strabourg.)
[Laur Stammrolle: verwundet am 26. August 1914
durch Oberschenkelschuß, verstorben am 2. Dezernber
1914 infolge Oberschenkelschuß, Amputation
und Blutvergiftung.] [... ]
Da ich seit etwa 30 Stunden oder mehr nichts als
ein paar Heidelheeren gegessen halte, regte sich der
Hunger. Da nichts Eûbares bei der Ferme aufzutreiben
war, ging ich in den Wald zurück, um Heidelbeeren
zu suchen. Don lag ein roter Franzose. lch
schnallte den Tornister auf und entnahrn eine
Büchse Fleisch und ein Päckchen Zigaretten. Einige
Sehritte wei ter lag ein roter Deutscher. Ihm schnallte
ich den Tornister ab, um meinen weggeworfenen zu
ersetzen. ln demselben befand sich die eiserne Portion
sowie ein reines Hemd. lch zog sofort mein
dreckiges, nal3gesehwitztes aus und zog das reine an.
Dann af ich die Büchse des Franzosen mit unglaubiicher
Gier auf. Das Schieûen im Walde verstummte.
Langsam senkte sich der Abend hernieder. Die
Kompanien sammelten sieh am Waldrand, meine
Kompanie bestand noeh aus etwa 40 Mann. Über
100 waren geblieben! Meine Karncraden Cautherat
und Ketterer waren auch noch da. Die waren
schlauer gewesen ais ich und hatten sich gleieh nach
Beginn des Gefechts im Gebüsch verkrochen. Die
Nacht verbrachten wir an einem Bergabhang untel'
strömendern Regen. Stumpfsinnig, todmüde, halb
verzweifelt hockten wir herum.
41
27. AUGUST 1914
Morgens sollte eine Patrouille, bestehend aus einem
Leutnant und 8 Mann, die Leiche des Majors Müller
aus dem Walde holen. Bald hörten wir aus der Richtung,
die sie eingeschlagen hatten, Schüsse. Keiner
kehrte zurück. Wie Soldaten erzahlten, hatte auch
Major Müller zwei verwundete Franzosen mit der
Pistole erschossen. Gut, daß ihn sein Schicksal erreichte.
Auch der Unteroffizier Schirk fehlte [der
22jahrige Metzger wurde bei diesem Gefecht laut
Stammrolle schwer verwundet], ebenso ein Reservist,
der ebenfalls einen Verwundeten erschoß.
Ich ging nun nach Thiaville, um einige Kochgeschirre
Wasser zu holen zum Kaffeekochen. Neben
der Straße stand eine Batterie des 76.Feldartillerieregimentes.
Die Mannschaften empfingen eben Essen
von der Feldküche. »Richert, wo laufsch urna?«
schrie ein Kanonier. Es war der Jules Wiron aus
Dammerkirch. »Hasch Hunger?" fragte er mich. Ais
ich bejahte, empfing er noch eine gehorige Portion
für mich, welche mir trefflich mundete, dann füllte
el' aus einer Großen Korbflasche, die auf der Protze
[Vorderwagen von Geschützen] stand, mein Kochgeschirr
mit gutem Weißwein. [... ]
Gegen Mittag gingen wir zurück über die Meurthe
und marschierten etwa 5 km talabwärts nach dem
Städtchen Baccarat, das 2 Tage zuvor von den Deutschen
erobert worden war. Heiß muß der Kampf
besonders an der Meurthe-Brücke gewesen sein.
Das Geschäftsviertel auf der westlichen Seite des
Flüßchens war total verbrannt, der Kirchturm
durchlochert. lm Stadtgarten mußten wir unsere
Zelte aufschlagen und konnten dort 2 Tage ausruhen.
Neben unseren Zelten war ein Massengrab, in
dem über 70 Franzosen ruhten. Daneben war ein
bayerischer Major beerdigt.
Alle Hühner, Kaninchen und Schweine, welche
noch aufzutreiben waren, wurden trotz des Protestes
verschiedener Einwohner gestohlen und geschlach–
42
tet. Der noch vorhandene Wein wurde ebenfalls aus
den Kellern gestohlen, und überal! sah man betrunkcne
Soldaten.
Mit frischen, aus Deutschland kommenden Soldarcn
wurden die Kompanien wiederaufgefüllt. Dann
ging's wieder vorwärts, zuerst aufwärts in Richtung
Ménil. Links und rechts auf dem Stral3enrand lag
eine Unmenge von den Franzosen weggeworfener
Tornister, Gewehre, eine Trommel und Trompe–
ten Weiter oben gingen wir durch den Wald, überall
lagen tote deutsche und franzosische Alpeninfanteristen
im Gebüsch. Sie fingen bereits an zu verwesen
und strornten einen entsetzlichen Geruch aus. Auf
ciner Anhöhe jenseits des Waldes mul3ten wir Schüt–
zengraben ausheben. Da es heiß war, schickte mich
mein Unteroffizier mit mehreren Essgeschirren auf
die Suche nach Wasser. Ich fand solches in einern
Straßengraben in der Mulde hinter uns. lch trank
sofort 3 bis 4 Becher voll und füllte die Kochge schirre.
Es kam mir nach dem Trinken vor, als habe
das Wasser einen faulen, widerlichen Geschmack,
glaubte, daß das langsame Fließen daran schuld sei.
lch ging dann einige Schritte den Graben entlang,
ein entsetzlicher Gestank kam mir in die Nase. Ne–
ben einem Weidengebüsch sah ich einen toten Franwsen,
der bereits in Verwesung übergegangen war.
Die Stirne, welche von einem Granatsplitter aufgerissen
war, schaute zum Wasser heraus und war mit
Maden und kleinen Würmern bedeckt. lch hatte das
durch den Toten sickernde Wasser getrunken! Es
crraßte mich ein furchtbarer Ekel, so dass ich mich
mchrmals erbrechen mußte. [... ]
43
DER ANGRIFF AUF MÉNIL UND
ANGLEMONT
Wir lagen no ch 3 Tage im Schützengraben. [… ] Am
vierten Tag morgens in der Frühe kamen mehrere
Bataillone Verstärkung. Wir sollten die Dorfer Ménil,
Anglemont sowie den im Hintergrund liegenden
Wald angreifen und nehmen. Dns allen graute davor.
Heimadressen wurden ausgetauscht, Photographien
der Lieben daheim betrachtet. Viele beteten
leise. ln allen Gesichtern lag tiefer Ernst, Angst und
Grauen. Gegen 10 Uhr morgens liefen Offiziere und
Melder umher und brachten den Befehl zum sofortigen
Angriff. »Fertigrnachen, Tornister umhängen,
Kompanie in Schützenlinie ausschwärmen}-
Sechs Schützenlinien wurden gebildet. »Vorwarts,
marschl- Alles setzte sich in Bewegung. Unsere Artillerie
beschof die beiden Dörfer. [… ] Wir drangen
in das Dorf. Kein Franzose war zu sehen, das Dorf
war nicht besetzt. Ein entsetzlicher Gestank machte
uns im Laufschritt Ménil passieren. ln vielen Häusern
war das Vieh in den Ställen verbrannt und nun
bereits in der Sommerhitze in Verwesung übergegangen.
Nun ging's weiter in Richtung Anglemont.
Vor uns liefen viele Ochsen, Kühe und Kälber hin
und her. Viel Vieh lag tot auf dem Boden. Es hatte
auf den Kleefeldern zuviel jungen Klee gefressen
und war an Aufblähung verendet. Anderes Vieh war
durch Geschosse getotet worden. AIs wir uns dem
Dorfe Anglemont näherten, wurden wir plotzlich
von der franzosischen Artillerie stark mit Schrapne
Ils beschossen. Das Infanteriefeuer setzte ebenfalls
ein. Wir konnten nur sprungweise vorwärtskommen.
Hinter einer Böschung sammelten wir
uns, dann ging's im Laufschritt, mit gefalltem Bajonett,
untel' Hurrageschrei aufdas Dorflos. Die Franzosen
verteidigten sich tapfer, rnubten aber VOl'unserer
Übermacht weichen. Gleich bei einem der ersten
Hauser saßein verwundeter Franzose auf einem
Schubkarren. Ein Soldat meiner Kompanie
44
wollte ihn erschieBen. Auf meinen energischen Protest
hin stand er davon ab. Ein hinzukommender
Sanitàter verband die Wunde.
Die französische Artillerie konzentrierte ihr Feuer
auf das Dorf. Ich sprang hinter einen hohen, mit
Mauersteinen gebauten Scheunengiebel, wo schon
eine ganze Anzahl Soldaten in Deckung stand. Plötzlich
über uns eine Explosion, Mauersteine stürzten
herab, mehrere Soldaten wurden von ihnen zu Boden
geschlagen. Eine Granate war durch das Dach
geflogen und an der Mauer geplatzt, ein großes
Loch in die Wand reißend. Nirgends war man mehr
sicher. Ich legte mich unter den Stamm eines schräg
stehenden dicken Apfelbaumes. Da kam der Befehl
zum weiteren Vorgehen. Kaum waren wir vor dem
Dorfe sichtbar, als auch schon die Franzosen wie
wahnsinnig zu schiefien begannen. Auf allen Seiten
schlugen Granaten ein. Schrapnells streuten ihren
Bleiregen aus der Luft. Sausen, Zischen, Krachen,
Rauch, umherfliegende Erdschollen und Getrofferie.
Eine Granate schlug etwa 3 m rechts vor mir
cin, unwillkürlich bückte ich mich und hielt den
linken Arm schützend vors Gesicht. Rauch und Erdschollen
trafen mich. Ein Splitter hatte meinen Gewehrkolben
unten am Schloßweggeschlagen. Meine
heiden Nebenmänner lagen tot am Boden. Ich selbst
blieb wie durch ein Wunder unverletzt, hob schnell
das Gewehr eines Gefallenen und sprang in das gar
uicht tiefe Granatloch. Ich wollte drinnen liegenbleiben,
denn ich war sehr erschreckt. »Na, Richert,
weiter l- Es war ein Unteroffizier meiner Kompanie.
Was wollte ich machen? Ich mußte mit. Über Klee-,
Kartoffel- und Turnipsäcker [Saatrübenäcker]
ging's weiter vorwärts, Die französische Infanterie
über schüttete uns mit Geschossen yom Walde her.
Wir warfen uns in die Ackerfurchen, muBten jedoch
imrner weiler. Dabei rif eine Infanteriekugel eine
tiefe Rinne in das Holz meines Gewehres dicht unter
der Hand. Infolge des immer zunehmenden Feuers
und der Verluste war es unmöglich, weiter vorzu-
45
Ich warf mich in eine Ackerfurche, in der
schon mehrere Mann lagen. Ein Glück für uns, daI3
die Acker quer zum Walde liefen, 50 hatten wir doch
etwas Deckung.
Die Regimenter und Kompanien waren beim Vorgehen
durcheinandergekommen. Neben mir lag ein
Grenadier des badischen Grenadierregiments. Ich
nahm meinen Spaten heraus, um mich einzugraben.
Der Boden war hart und trocken, ich konnte nur mit
gr6I3ter Mühe im Liegen ein Loch graben. Ein neben
mir liegender Soldat meinte, er kanne in der Furche
jenseits des Ackers besser graben, da dort ein Kartoffelacker
war und der bebaute Boden nicht so hart sei
wie hier auf dem Kleeacker. »Bleib hier und zeig
dich nichtl- sagte ich. »Wosich jetzt etwas regt, knallen
die Franzosen drauflos, denn im Feld ist jetzt
niemand mehr sichtbar.« – »Ach was, ich bin in einem
Sprung drüben!« Sein Gewehr in der Hand,
sprang er auf. Peng-pratsch. Mehr ais 20 Schüsse
fielen. Kugeln zischten über mich. Der Soldat stürzte
aufs Gesicht und rührte sich nicht mehr. lch konnte
nur seine Beine sehen. Der Oberkorper lag in der
jenseitigen Furche. Der Reservist Berg rutschte nun
neben mich. »Richert, gib mir deinen Spaten «, sagte
er. Ich gab ihn hin. Ein Grenadier sagte zu Berg:
»Wenn du fertig bist, gibst du mir den Spaten, nicht
wahr?« Ich rollte mich in meinem Loch zusammen
und nickte ein, bis mich eine in der Nähe einschlagende
Granate aufschreckte. Berg lag bereits in seinem
fertigen Loche, der Grenadier arbeitete nun
mit dem Spaten. Ich schlief wieder ein. »Richert,
guck doch mal nach, was der Grenadier macht!«
sagte Berg. Der Grenadier kniete in der Furche mit
dem Rücken gegen mich, hielt den Kopf gesenkt
und den Spaten in den Händen, rührte sich aber
nicht. »He, Kameradl- rief ich, kroch zu ihm und
rüttelte ihn. Da fiel er auf die Seite und stohnte. Eine
Infanteriekugel hatte oberhalb des Ohres den Kopf
durchbohrt. Das Gehirn stand in Bleistiftform etwa
3 cm heraus. Ich wickelte einen Verband um den
46
Kopf, trotzdem ich wuûte, daßhier nichts mehr zu
helfen war. Nach und nach ging das Stohnen in ein
Röcheln über, das immer schwächer wurde. Nach
etwa 2 Stunden war er tot.
Wir blieben liegen, bis es dunkelte. Da kam der
leise Befehl: »Alles zurückziehen, in Anglemont
sammeln!« Jeder suchte nun so schnell wie möglich
ins Dorf zu kommen. Man hörte Verwundete flehend
um Hilfe rufen: »Urn Gottes willen, laût mich
nicht liegen, ich habe Frau und Kinder zu Hause!«
Manche wurden mitgenommen, andere blieben liegen.
Hier hießes eben: J eder ist sich selbst der Nächste!
ln Anglemont wimmelte alles durcheinander.
»Infanterieregiment 112, 1. Kompanie hier samrneln!
« horte ich meinen Kompanieführer rufen.
Ich ging hin, einer nach dem anderen kam. Viele,
viele fehlten. »1. Kompanie, Infanterieregiment 112
hier samrneln!« rief der Kom panieführer nochmals.
Noch ein einzelner kam. Kein Wort wurde gesprochen.
Alle dachten an ihre gefallenen Kameraden.
»0hne Tritt, marsch!« Die zusammengeschmolzenen
Kompanien tappten in die Nacht hinaus, rückwärts,
Das Dorf wurde vollständig geraumt.
Auf einer Hohe hinter dem Dorfe muBten wir
cinen Schützengraben graben, eine verteufelte
Schinderei in dem harten Lehm! Gegen Mitternacht
wurde ich mit noeh einem Mann und einem Unterolfizier
ais Patrouille vorgeschickt, um auszukundschaften,
ob Anglemont sehon wieder von den Fran-
zosen besetzt sei. Die Naeht war dunkel. Vorsichtig
iIII Straßengraben vorwärtschleichend, hörten wir
sic.h uns nahernde Schritte. Wir drückten uns dieht
an die Straûenboschung. Eine 8 Mann starke französische
Patrouille ging langsam auf dem Straßenlxmkett
kaum 1m VOl' uns vorüber, bemerkte uns
aber nieht. Ruhig blieben wir liegen. lm Dorfe hör-
1Cil wir Laufen und Französisch-Sprechen. Dies gab
uns GewiI3heit, daß die Franzosen das Dorf wied el'
besetzt hatten. Kurze Zeit darauf fielen in Riehtung
(1er Deutsehen Schüsse. Keuehend kamen 6 Franzo-
47
sen zurückgerannt. Zwei fehlten. Wir gingen zurück
und crstatteten Meldung.
An Sehlaf war in jencr Nacht nicht zu den ken.
Gegen Morgen endlich konnten wir von der Feldküche
Essen holen. AIs die Franzosen am folzenden o
Morgen unseren Graben sahen, schickten sie Granaten
herüber. Cleich cine der erstcn war ein Volltreffer,
welche :3 Mann zerrib. Wir blicben dort cinige
Tage liegen. Eine deutsche Batterie Feldartillerie,
welche gedeckt hinter uns auffuhr, wurde in wenigen
Minuten von der franzosischen Artillerie in Fetzen
geschossen. Es war ein schauderhafter Anblick,
wenn man bei mondhellen Nachten die Stelle passieren
muûte. Bald ging man im Großen Bogen um die
Batterie herum, da der Gestank nicht auszuhalten
war. Ans Beerdigen schien niernand zu denken.
Eines Nachts versuchten die Franzosen einen Angriff
auf unsern Graben, wurden aber abgewiesen.
Am folgenden Tag fiel mein Kamerad Rein Camill
aus Hagenbach, ein Granatsplitter spaltete ihm den
Kopf. [R., laut Stammrolle Ziegeleiarbeiter, gefallen
am 5. Septernber 1914 durch Granatsplitter.] Rogert
Alfons aus Obersept wurde am Bein schwer verletzt.
Die Franzosen hatten sich wieder in den Waldzurückgezogen.
Eines Abends kam der Befehl: »Angreifen!
« Mein Stubenkamerad Urs sagte: »Richert,
ich komme nicht mehr nach Hause, ich fühl's.. 1ch
suchte es ihm auszureden, er jedoch beharrte darauf.
Nur 2 dünne Schützenlinien stark gingen wir
vor. Ich war wütend. Was sollten wir paal' Mann
zweeklos uns totsehieBen lassen] [... ] Einzelne
Schüsse fielen. Zing, zisehten die Kugeln uns um die
Ohren. Mein Nebenmann stürzte lautlos tot zu Boden.
»Ooooh l– schrie der Unteroffizier Liesecke
warf sein Gewehr weg und schüttelte die Hand. EÎl~
Finger war ihrn abgeschossen worden [faut Starnmrolle
Verwundung am 10. September 1914 durch
Schuf in die linke Hand]. Tak-tak-tak, rasselte ein
MG drüben. »Hinlegen, eirigraben l– Alles lag am
Boden und fing an zu buddeln.
48
Mein Kamerad Uts wurde mit noch 2 Mann nach
einem etwa 300 III VOl' uns Iiegenden Erlen- und
Weidengebüseh geschickt, 1I111 festzusteIJen, ob noch
Franzosen dort seien. Langsam sank der Abend nieder.
Die Patrouille war noch imrner nicht zurück.
»Die drei nächsten Leute -dazu gehürte auch ich–
»begebcn sich sofort nach dem Gebüsch, umnachzusehen,
wo die 3 Mann geblieben sind l– befahl der
Kompanieführer. Wir ersehraken nicht wenig, doch
wir muliten gehen. Mit der grüGten Vorsicht schlichen
wir dem Gebüsch zu, oft liegenbleibend, um zu
lauschen. Nichts war zu hören. Finster hob sieh das
Gebüseh im Dunkel ab. Endlieh kamen wir an und
gingen, den Finger am Drücker, mit vorgehaltenem
Bajonett in das Cebüsch. Da horten wir leises Rachein.
Vor uns lag Uts tot [laut Stammrolle am
10. Septernber 1914 um 7 Uhr vormittags durch
Brustschuf beim Patrouillengang gefallenJ, einige
Schritte weiter der röchelnde Soldat in den letzten
Zügen. Er hatte einen BauchschuG erhalten. Von
<lem dritten fehlte jede Spur. Wir liefen zurück und
crstatteten dem Kompanieführer Bericht. Dann legten
wir uns wied el' in die Linie. »Alles leise zurückgehenl
Weitersagen.« kam der Befehl von links; dies
machte uns glücklich. Alle erhoben sieh, in schnellen
Sehritten ging's rückwärts. Inzwischen war's stockdunkel
geworden, man tappte in Ackerfurehen und
Granatlöchern herum, mancher stürzte zu Boden.
1 ... ] Mehrere Male fingen var mir gehende Soldaten
plotzlich zu laufen an. Was haben denn die? dachte
ich, ging weiter, fing aber bald selbst an zu laufen.
Ein entsetzlieher Leichengeruch kam mir in die
Nase. »Atern anhalten! Weglaufen!« Diesel' Geruch
karn von Toten, die bereits in Verwesung übergegangen
waren und die man im Dunkel nieht liegen
sah. Endlich erreichtcn wir unseren Graben und
bcsetzten ihn. Ein Gefühl der Sicberheit überkarn
uns, Fast alle Soldaten murrten: »So cin Bkidsinn!
Vorgehen, ein paar Mann sich totschielicn lassen
und dann wieder zurückgehen, ohne Zie! und
49
Zweck l« – »Alles da?« fragte der Kornpanieführer.
»Jawohl!« – »Die Kornpanie geht mit Sack und Pack
zurück und samrnelt sich bei der Kirche von Ménil!«
Was soli das bedeuten? fragtcn sich die Soldaten.
WiT hingen die abgelegten Tornister wieder um,
nahmen die Gewehrc, kletterten zum Graben hinaus
und tappten durch das Dunkel Ménil zu. Armer
Kamerad Uts, nun liegst du tot in jenem Gebüsch,
doch du hast das Kriegselend hinter dir, bist fast
glücklicher als ich, dachte ich. AIs wir in ~énil an~amen,
wimmelte es dort von Soldaten. Uberall dieselbe
Frage: »Was ist denn eigentlich los?« – »Kornpanien
sarnrneln!« tönten Befehle durch die Nacht.
Wir traten ein, mehrere Bataillone marschierten an
uns vorbei, rückwärts. »Ohne Tritt, marschl– lm
Walde oberhalb Baccarat wurde haltgemacht. [… ]
Mehrere Batterien Bagagen fuhren an uns vorbei,
rückwars. »1. Kompanie Infanterieregiment 112 bildet
die Nachhutl- Also hatten wir die GewiBheit: Die
Gegend, die zu erobern Tausenden armen Soldaten
das Leben gekostet hatte, wurde geraumt. [… ] Der
Gedanke, zurückzubleiben und die Ankunft der
Franzosen abzuwarten, um mich zu ergeben, wirbelte
mir im Kopf herum. Aber die verfluchte Disziplin
hielt mich davon ab. Und vielleicht schießen
oder stechen mich die Franzosen tot, aus Wut, wenn
sie ihre ausgeraubten und zerstörten Dörfer sehen.
Also ging ich weiter.
AIs wir in Baccarat die Meurthe-Brücke überschritten,
bereiteten einige Pioniere die Sprengung
VOl'. Kaum hatten wir den Ort verlassen, aIs mit
gewaltiger Explosion die Brücke in die Luft flog. Wir
maschierten noch etwa 20 km wei ter zurück und kamen
endlich in einem Dorfe an, wo haltgemacht
wurde und wir Kaffee und Brot empfingen. Einige
Stunden Ruhe. Dann ging's mit dern Schanzzeug auf
eine VOl'dem Dorf gelegene Höhe. Dort wurde ein
Schützengraben gebaut. Wir Ireuten uns schon, hier
liegenbleihen zu können. ln weiter Ferne vor ~ns
hörten wir das Burn-Bum der Iranzösischen Artillerie.
50
Artillerie.
Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug
gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.
Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:
»Fertigmachcn]– Wir hockten und warteten. Was
gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts
hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es
war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.
Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei
Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt
die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten
die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen
_____________________
Artillerie.
Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug
gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.
Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:
»Fertigmachcn]– Wir hockten und warteten. Was
gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts
hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es
war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.
Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei
Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt
die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten
die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen
über Morchingen, Rémilly, Metz nach Vionville.
Von Metz hörten wir in der Ferne schon wied el'
Kanonendonner, und gegen Abend waren wir dernselben
ganz nahe. Brrr, eine Cänsehaut lief über den
Rücken, das Grauen vor der Zukunft. ln Vionville
verbrachten wir die Nacht. Ich schleppte eine Welle
[Bündel, Garbe] Su–oh in eine ausgeraubte Épicerie
[Lebensmittelladen] und legte mich mit meinem Kameraden
Gautherat darauf.
VOl' Tagesanbruch Alarrn. Alles sprang vom
Schlafe auf, Tornister urngehängt, Gewehr in die
Hand, raus und antreten, alles in einigen Minuten.
Jeder erhielt einen Becher heil3en Kaffee und ein
Stück trackenen Kara [Kornmibbrot]. [… ]
Der Morgen war unfreundlich, regnerisch und
neblig. Wir waren vielleicht eine Stunde marschiert,
da hieû es: »Ausschwärrnenl– Der ebel verschwand,
die Sonne kam zum Vorschein. VOl'uns lag
in etwa 400 rn Entfernung ein Wald. Darauf zu
ging's. Zing–zing, zischte es uns von dort um die
Ohren. »Vorwarts, marschmarsch, zum Sturrnlschrien
die Offiziere. Wir rannten gegen den Wald,
den Oberkörper geduckt, vorwärts, Einzelne Mann
Iielen. Schrapnells, und wie genau gezielt. Ver-
Huchte 75er-Kanonen! Die Franzosen zogen sich zurück.
Wir besetztcn den Wald. ln einer schmalen
Wiesenmulde zwischen zwei Waldern ging's wei ter
vor. Abseits stand der dicke Bataillonsarzt, der irnmer
fort schrie, wahrscheinlich, urn uns Mut zu ma-
51
chen: »Die Festung Maubeuge ist gefallenl«
Tsching-bum, platzten Schrapnells über der Mulde.
lm Laufschritt ging's weiter, um von der gefahrlichen
Stelle wegzukommen. Da hief es: »Der Bataillonsarzt
ist gefallen.« Aus einem kleinen Fichtenwäldchen,
das auf einer Höhe vor uns lag, bekamen
wir starkes Infanteriefeuer. Wir sprangen in den
Wald zurück, krochen an den Wald rand und nahmen
das Fichtenwäldchen stark unter Feuer. Das
Feuer der Franzosen wurde schwächer und horte
ganz auf. Wir gingen var und besetzten das Waldchen.
Die Franzosen hatten sich verduftet.
Es ging gegen Abend, wir muJ3ten die im Waldchen
Iiegenden toten Franzosen begraben. Es waren
alles alte Soldaten, so gegen 40 Jahre alt. Die armen
Menschen, jedenfalls fast durchweg Familienvater,
dauerten mich. Man konnte mit dem besten Willen
kein ordentliches Grab schaufeln; 30 cm Erde, dann
Kreidefelsen. Wir legten sie hinein, ihr Kor per
schnitt gerade mit dem Erdboden ab. Wir bedeckten
sie mit etwas Erde. Die traurige Arbeit war zu Ende.
Kein Mensch schaute nach, um Namen oder sons tige
Erkennungszeichen festzustellen, und 50 figurieren
diese Armen wahl auf der Liste der VermiHten.
Die Nacht verbrachten wir im Fichtenwaldchen.
Ein kalter Wind wehte, Regenschauer gingen nieder,
wir wurden pudelnaH, es fror uns sehr. Für was?
Für wen? Eine ohnrnachtige Wut überkam mich. Das
half alles nichts. Zahneklappernd, der Verzweiflung
nahe, hockte ich auf einigen von mir heruntergebogenen
Fichtenästen und starrte in die Nacht hinaus,
dachte an die Heimat, an meine Angehörigen und
an mein Bett. Es überkam mich eine unglaubliche
Sehnsucht nach der Heimat und meinen Lieben. Ich
mulite weinen. [... ] Mich durchzuckte der Gedanke:
Hab' ich eigentlich noch eine Heimat, leben meine
Eltern noch? Oder wo sind sie? Seit Kriegsausbruch
hatte ich einen Brief von dort erhalten, datiert vom
Anfang August. Was alles konnte dort seither passiert
sein! So nahe der Grenze! Vielleicht alles zerschossen,
52
zerschossen,
verbrannt, die Angehürigen geflohen.
Wohin? Diese Ungewiûheit quälte mich fürchterlich.
Nun war das MaS der Leiden voll, zu der UngewiHheit
meiner Zukunft noch die Sorgen urn Angehörige
und Heimat. An Schlaf konnte ich nicht mehr
denken. lch stand auf, lief var dem Wäldchen hin
und her, schlug mit den Händen um mich, um sa
etwas warrn zu bekommen. Endlich graute der Morgen.
Wie würde ein Becher heiûer Kaffee guttun!
Keine Feldküche, nichts. Wir gingen nun nach dem
var uns liegenden Dorfe Flirey. Die Kaninchen- und
Hühnerschlächterei ging wieder los. Es wurde alles
weggenommen, aIs wenn überhaupt keine Eigentümer
da waren. Man sah fast keinen Menschen, fast
alles hatte sich bei unserer Ankunft versteckt. Ich
g–ing in einen Stail, um vielleicht etwas Milch von
ciner Kuh melken zu konnen. Mit Mühe und Not
brachte ich vielleicht einen halben Liter heraus. lnzwischen
holten andere Soldaten die Hühner samt
den Kaninchen zum Stail heraus, Da ging die Türe
auf, angstlich kam ein alter Bauer in den StaIl. AIs er
die leeren Kaninchenkisten und den Hühnerstall
sah, schlug el' die Hände über dem Kopf zusammen
und sagte: »Mon Dieu, mon Dieu!« Der Mann daucrte
mich, und ich ging beschämt hinaus.
Jeder bemühtesich nun, irgend etwas zu kochen.
Die einen kochten Kaninchen, andere rupften Hühner,
einige plünderten eben einen Bienenstand,
SI ürzten die Korbe um und bohrten mit denSeitengcwehren
den Honig heraus, dabei eine Menge Bielien,
die an dem kühlen Morgen nicht f1iegen konntcn,
zerquetschend. Wieder andere schüttelten die
Zwetschgen von den Bäurnen. Da holte ich mir auch
cinige Handvoll. Nachher riû ich einige KartoffeIstauclen
im Garten aus, nahm die Kartoffeln, schälte
sie, tat sie in das Kochgeschirr, gab etwas Wasser und
Salz dazu, und nun ging's ans Kochen. Da ich groGe
Lust auf Honig hatte, holte ich mir auch ein wenig
und tat ihn in den Kochgeschirrdeckel. AIs nun eben
mein Wasser war m war, kam der Befehl: »Fertigrna-
53
chen, weiter l- Gegessen oder nicht gegessen, danach
wurde nicht gefragt. lch schüttete das heilie Wasser
ab, die Kartoffeln lieB ich drin, in der Hoffnung, sie
bei nächster Gelegenheit fertig zu kochen, stülpte
den Deckel auf das Kochgeschirr, und weiter ging's,
zum Dorf hinaus, den Franzosen entgegen.
Wir passierten noch das Dorf Essey. Kaum waren
wir zum Dorf hinaus, ging der Tanz wieder los.
Französische Schrapnells flogen heran, zum Glück
am Anfang über uns hinaus. BaIe! bekamen wir aus
dem vor uns liegenden Wald schwaches Infanteriefeuer,
und nun gab es einzelne Getroffene. Unsere
Artillerie beschoßden Wald. Die franzosische Infanterie
zog sich zurück. Wir besetzten den Wald. Der
Wald war von einem schmalen Wiesentale, etwa
200 m breit, durchzogen. Quer durch ging ein ziemlich
hoher Eisenbahndamm, den wir besetzten.
Plötzlich bekamen wir aus dem gegenüberliegenden
Walde starkes lnfanteriefeuer; der neben mir stehende
Reservist Kalt wurde getroffen und kollerte
den Bahndamm hinab. Dasselbe Schicksal erlitten
mehrere andere. Wir schossen nun über die Schienen
in den Wald. Franzosen konnten wir keine sehen.
Bald wurde ihr Feuer aber sa stark, daßkeiner
mehr wagte, den Kopf zu heben und zu schieben.
Nach einer starken BeschieBung unserer Artillerie
verstummte das französische Feuer.
Etwa eine Stunde spater kam der Befehl, Offizierstellvertreter
Bohn [ein Lehrarntspraktikant von 32
Jahren, 1908 als Einjährig-Freiwilliger eingetreten]
soUe mit 4 Mann den Wald absuchen; ich hatte das
Pech, dieser Patrouille zugeteilt zu werden. Mit bangem
Herzen betraten wir den Wald, jeden Augenblick
in der Gefahr, von einer Kugel niedergestreckt
zu werden. Vorsichtig schlichen wir durch das niedrige,
dicht stehende Ceholz und kamen dann zu
einer geraden Schneise (Durchhau) vor. [… ] Auf
einmal erblickte ich etwas Rotes, etwa 20 m VOl'uns
im Cebüsch. Ich mach te mich schuHfertig. Da sich
das Rote nicht bewegte, gingen wir vorsichtig darauf
54
ZU. Var uns lag neben einem Granatloch ein alterer
Franz.ose, dem ein Bein beim Knie total abgerissen
war, Mit einem Hemd war der Beinstumpf umwikkelt.
Der arme Mensch war schon ganz gelb im Gesicht
vom Blutverlust und sehr schwach. Ich kniete
mich neben ihn, machte seinen Tornister untel' seinen
Kopf und gab ihm aus meiner Feldflasche Wasser
zu trinken. Er sagte »Merci- und deutete mir an
den Fingern, daßer drei Kinder zu Hause habe. Der
Arme dauerte mich sehr, aber ich mußte ihn verlassen,
nachdem ich noch auf ihn deutete und sagte:
»Allernand hospital.« Er lächelte schwach und schüttelte
den Kopf, aIs woUte er sagen, daßdies fûr ihn
nicht mehr in Betracht kàme. Langsam schlichen wir
nun bis zum jenseitigen Waldrand. Offizierstellvertreter
Bohn schickte mich mit noch einem Mann
zurück mit der Meldung, daßder Wald frei sei. Beim
Passieren des Verwundeten sah ich, daû derselbe
den Rosenkranz in der Hand hielt und betete. Mit
der einen Hand deutete el' auf seine Zunge zum
Zeichen, daßer Durst habe. Ich gab ihm den Rest
Wasser aus meiner Feldflasche. AIs wir etwa eine
halbe Stunde später mit der Kompanie vorbeikamen,
lag el' tot da, noch immer den Rosenkranz in
der Hand haltend.
Wir besetzten nun den Waldrand, ich stand beim
Eingang der Schneise und schaute über die hügelige
Gegend vor uns. Da sah ich einen Franzosen auf
etwa 500 m Entfernung. AIs er mich erblickte, legte
el' sich nieder; gleich sah ich den Dunst seines Schusses
aufsteigen, und knapp 1m VOl'mir klatschte die
Kugel in den Boden. Nun verkroch ich mich schleunigst
im Gebüsch und versuchte, ein Loch zur Dekkung
zu graben. Der Boden bestand aber aus einem
derartigen Wurzelgef1echt, daßdies unrnoglich war.
Nun knatterte eine Salve, und prasselnd zischten die
Kugeln durch das Cebüsch. Da wir gaI' nicht gedeckt
waren, gab es bald l'ote und Verwundete. Mein Stubengefreiter
Mundiger bekam eine Kugel durch die
Schlagader am lin ken Oberarm, so daßdas Elut wie
55
aus einer Röhre vorne am Armel herausschoß. [Der
Maurer M., damaIs 23 .lahre aIt, wurde laut Stammrolle
am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarrnschuf
verwundet.] Schnell band ich ihm den
Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser
den Armel ab und verband ihm die
Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,
führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.
Nun schickte uns dieschwere Artillerie der Forts von
Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate
schweren Kalibers], gurgelnd sausten sie über uns
hinweg und explodierten mit furchtbarem Krachen
zurück im Walde. Ais wir zu dem Bahndamm kamen,
wo unsere Toten noch yom Morgen lagen,
woIlte ich der Bahn entlang das Dorf Essey erreichen.
Der Verwundete beharrte jedoch darauf, nach
der in der Nähe vorbeiführenden Straße zu gehen.
Ich woUte ihm nicht widersprechen, und so gingen
wir den Bahndamm entlang der Straße zu. Kaum
hatten wir einige Schritte zurückgelegt, ais unter
schrecklichem Krach eine der graßen Granaten auf
dem Bahnkörper platzte. Erde, Splitter, Steine und
Schienenteile sausten über unsere Kopfe, und wir
wurden in Rauch und Staub ganz eingehüUt. Zum
Glück wurde keiner verletzt. Hätte der Verwundete
vorher meinen Rat befolgt, auf der Bahn entlangzugehen,
sa wären wir aile drei zerrissen worden. Der
Verwundete, der vorher mehrere Male var Schwäche
zusammengesunken war, konnte nun sa laufen,
daßich ihm kaum folgen konnte. Dann brach el' aber
doch wieder auf den Wiesen zusammen. Gegen
Abend erreichten wir das Dorf Essey, wo wir den
Verwundeten dann zum Arzt brachten.
Da ich keine Lust mehr hatte, nach verrie zu gehen,
beschloßich, im Dorfe zu übernachten. Ich ging
zu einer Frau und verlangte einige "Pommes de
terre«, AIs ich sie bekam, gab ich ihr 2 »Nickel«. Wie
mich die Frau erstaunt ansahl Denn das war ihr wahl
noch nicht vorgekommen, von deutschen Soldaten
etwas bezahlt zu bekommen. Sie nahmen, was sie
56
wollten, einfach weg. Ich machte nun ein Feuerchen
im Hofe und kochte die Kartoffeln. Die Frau brachte
mir dann noch einen Liter Milch heraus. Ais ich
bezahlen wall te, nahm sie das Geld nicht, sondern
deutete mir, ich salle nur ruhig trinken. Da ich gro-
Ben Hunger hatte, schmeckte es mir vorzüglich.
Nachher legte ich mich in der Scheune aufs Strah,
um die Nacht zu verbringen. Es war für mich ein
Vergnügen, in Sicherheit, trocken und warm zu
schlafen.
ln der Nacht erwachte ich durch das Ceräusch auf
der Straße zurückmarschierender Truppen. lch
stand auf und fragte, was es für Truppen seien. Es
war mein Bataillon. Schnell hing ich meinen Tornister
um und schloßmich ihnen an. Etwa 1km hinter
dem Dorfe wurde auf der Höhe haltgemacht, eine
Linie gebildet und angefangen, einen Schützengraben
auszuheben. Eine schwierige Arbeit, da man
nichts sah und in etwa 30 cm Tiefe auf harten Kalkstein
stieû, Gegen Morgen waren wir doch 1m tief.
Unser Graben führte durch ein Rebstück. Ich aßvon
den halbreifen Trauben. Die Folge waren Leibschmerzen
und Durchfall.
Die Hälfte der Truppen durfte nun in den weiter
zurückliegenden Wald, um zu schlafen; es waren die
letzten Septembertage 1914. Gegen Mittag wurde
Post verteilt, und ich erhielt den ersten Brief aus
meiner Heimat, die seit Kriegsbeginn von den Franzosen
besetzt war. Wie glücklich war ich zu lesen, daß
meine Angehorigen noch gesund und zu Hause
seien. Da mein Heimatdorf nur etwa 8 km hinter der
Front lag, befürchtete ich imrner, dasselbe sei von
den Einwohnern verlassen.
Am nachsten Abend muliten wir wieder in den
Graben. ln der Nacht rnachten die Franzosen einen
Angriff; ohne daßman einen sehen konnte, schoß
man in die Nacht hinaus. Da es hieß, sie seien dicht
vor unserer Stellung, schoßunsere Artillerie auch
sehr kurz. Nach und nach hörte die SchieHerei auf.
AIs der Morgen grau te und die 4 Mann Vorposten,
57
aus einer Röhre vorrie am Armel herausschoû. [Der
Maurer M., damais 23 .Jahre ait, wurde laut Stammrolle
am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarmschuß
verwundet.] Schnell band ich ihm den
Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser
den Armel ab und verband ihm die
Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,
führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.
Nun schickte uns die schwere Artillerie der Forts von
Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate
schweren Kalibers], gurgelnd sausten sie über uns
hinweg und explodierten mit furchtbarem Krachen
zurück im Walde. Ais wir zu dem Bahndamm kamen,
wo unsere Toten noch yom Morgen lagen,
wollte ich der Bahn entlang das Dari" Essey erreichen.
Der Verwundete beharrtejedoch darauf, nach
der in der Nähe vorbeiführenden Straûe zu gehen.
leh wall te ihm nicht widersprechen, und so gingen
wir den Bahndamm entlang der Straûe zu. Kaum
hatten wir einige Schritte zurückgelegt, ais unter
schrecklichem Krach eine der Großen Granaten auf
dem Bahnkörper platzte. Erde, Splitter, Steine und
Schienenteile sausten über unsere Kopfe, und wir
wurden in Rauch und Staub ganz eingehüllt. Zum
Glück wurde keiner verletzt. Hätte der Verwundete
vorher meinen Rat befolgt, auf der Bahn entlangzugehen,
50 wären wir aile drei zerrissen worden. Der
Verwundete, der vorher mehrere Male var Schwäche
zusammengesunken war, konnte nun sa laufen,
daßich ihm kaum folgen konnte. Dann brach er aber
doch wieder auf den Wiesen zusammen. Gegen
Abend erreichten wir das Dorf Essey, wo wir den
Verwundeten dann zum Arzt brachten.
Da ich keine Lust mehr lutte, nach vorne zu gehen,
beschlof ich, im Dorfe zu übernachten. Ich ging
zu einer Frau und verlangte einige »Pornmes de
terre«. AIs ich sie bekam, gab ich ihr 2 »Nickel«. Wie
mich die Frau erstaunt ansah! Denn das war ihr wahl
noch nicht vorgekomnien, von deutschen Soldaten
etwas bezahlt zu bekommen. Sie nahmen, was sie
56
wollten, einfach weg. Ich machte nun ein Feuerchen
im Hofe und kochte die Kartoffeln. Die Frau brachte
mir dann noch einen Liter Milch heraus. Ais ich
bezahlen wollte, nahm sie das Geld nicht, sondern
deutete mir, ich solle nur ruhig trinken. Da ich gro–
Ben Hunger hatte, schmeckte es mir vorzüglich.
Nachher legte ich mich in der Scheune aufs Stroh,
um die Nacht zu verbringen. Es war für mich ein
Vergnügen, in Sicherheit, trocken und warm zu
schlafen.
ln der Nadu erwachte ich durch das Geräusch auf
der Straûe zurückmarschierender Truppen. Ich
stand auf und fragte, was es für Truppen seien. Es
war mein Bataillon. Schnell hing ich meinen Tornister
um und schlof mich ihnen an. Etwa l km hinter
dem Dorfe wurde auf der Hohe haltgemacht, eine
Linie gebildet und angefangen, einen Schützengraben
auszuheben. Eine schwierige Arbeit, da man
nichts sah und in etwa 30 cm Tiefe auf harten Kalkstein
stieli. Gegen Morgen waren wir doch 1m tief.
Unser Graben führte durch ein Rebstück. Ich aH von
den halbreifen Trauben. Die Folge waren Leibschmerzen
und Durchfall.
Die Halfte der Truppen durfte nun in den wei ter
zurückliegenden Wald, urn zu schlafen; es waren die
letzten Septembertage 1914. Gegen Mittag wurde
Post verte ilt, und ich erhielt den ersten Brie!" aus
meiner Heimat, die seit Kriegsbeginn von den Franzosen
besetzt war. Wie glücklich war ich zu lesen, daf
meine Angehürigen noch gesund und zu Hause
seien. Da mein Heimatdorf nur etwa 8 km hinter der
Front lag, befürchtete ich immer, dasselbe sei von
den Einwohnern verlassen.
Am nachsten Abend muûten wir wieder in den
Graben. ln der Nacht machten die Franzosen einen
Angriff; ohne daf man einen sehen konnte, schof
man in die Nacht hinaus. Da es hieß, sie seien dicht
VOl' unserer Stellung, schof unsere Artillerie auch
sehr kurz. Nach und nach hörte die Schief3erei auf.
Ais der Morgen graute und die 4 Mann Vorposten,
57
die etwa 50 m vor uns in einem kurzen Grabenstück
lagen, nicht zurückkamen, wurde ich mit noch einem
Mann vorgeschickt, um zu sehen, was los sei.
Wir krochen dahin. Alle vier lagen, teils die Gewehre
noch im Anschlag, tot da. Sie waren von der zu kurz
schießenden deutschen Artillerie getroffen worden,
das zeigten ihre Verwundungen am Hinterkopf und
auf dem Rücken. Dabei war auch mein Stubenkamerad
namens Sandhaas. [Laut Stammrolle ist der
22jahrige Zigarrenmacher S. bei Essey am 27. September
1914 durch einen Bauchschuf getotet worden.]
Wir ließen sie liegen, krochen zurück und erstatteten
Bericht.
Am Tage blieb die Halfte der Mannschaften im
Graben, die andere Hälfte ging zurück, um Unterstände
zu bauen für die Reserven. Da es am Nachmittag
heif war, arbeiteten wir in Hosen und Hemd.
Bald kreiste ein französischer Flieger über uns, der
uns in unseren weißen Hemden entdeckt hatte. Er
flog wieder zurück, und bald dachte niemand mehr
an ihn. Aber plötzlich sauste es heran, und etwa
8 Granaten schlugen in uns und hart neben uns ein.
Sofort erhob sich ein schreckliches Wehgeschrei, da
viele getroffen waren. Die meisten liefen nach allen
Richtungen davon. Ich selbst duckte mich, so tief ich
konnte, in das ausgehobene Loch. Schon kam die
zweite Lage. Eine der Granaten zersprang auf dem
Erdhaufen über mir, den ich selbst hinausgeschaufelt
hatte. Eine andere schlug in die auf der Seite
zusammengesetzten Gewehre, eine ganze Anzahl
zermalmend. Nun rannte ich, so schnell mich meine
Fülie tragen konnten, davon, mit vor das Gesicht
gehaltenen Handen durch das Cebüsch. Sehon krepierre
hinter mir die dritte Lage. Bald kam ich an
einen Eisenbahndamm, wo ich mieh in einem
Durchlaf verkroch, in dem sehon einige Kameraden
kauerten. Nachdem das Schieûen aufgehort hatte,
näherten wir uns langsam der Arbeitsstelle. Die ganz
zerrissenen Leiehname einiger Kameraden lagen da
und mehrere Schwerverwundete. Ein guter Kamerad
58
Kamerad
von mir namens Krarner hatte den Bauch aufgerissen,
so daß die Gedärrne heraushingen. Er bat
und flehte mich an, ihn doch totzuschießen, da er es
VOl'Sehmerzen nicht mehr aushalten könne , Seinen
Wunsch konnte ich mit dem besten Willen nicht
erfüllen. Nun kam der Bataillonsarzt, verband zuerst
den Kompanieführer, dem ein Bein in der Mitte
der 'Vade abgerissen worden war. Dann untersuehte
el' Kramer, legte die Gedärrne zurecht, nähte zu und
gab uns den Befehl, den Verwundeten zurückzutragen.
Wir machten aus Stangen eine Tragbahre, legten
Mäntel und Zelte darauf, ho ben den Verwundeten
behutsam darauf und trugen ihn zurück, wo er
gleich mit einem Krankenwagen weiter zurücktransportiert
wurde. Zwei Monate später schrieb er mir,
daßel' vollstandig geheilt sei, da die Cedärrne nicht
verletzt und nul' die Haut und der Bauchspeekaufgerissen
waren. [Laut Stammrolle ist K. zwei Tage
nach seiner Verwundung am 27. September 1914
verstorben. ]
[… ] ln der letzten Septembernacht wurden wir
von andern Truppen abgelöst und marschierten
:~5km zurück nach Metz. Bei Tagesanbruch kamen
wir dort an und wurden in der Vorstadt Longeville
in einem Kinosaale einquartiert. Drei Stunden
wurde gesehlafen, dann soUte Gewehrreinigen,anschließend
GewehrappeU sein. lch zog es VOl',mir
cinen gemütlichen Tag zu machen, bestieg die Tram
und fuhr in die Stadt. Ich hatte groGes Verlangen
nach einem guten Mittagessen, da mir das ewige
Einerlei der Feldküche zuwider war. Es schmeckte
mir vortrefflich, 50 daßich in drei verschiedenen
Wirtsehaften zu Mittag aG. [... ] Dann besah ich mir
die Stad t, besonders den schonen Dom, kaufte noch
c-in Quantum Schakolade und Dauerwurst und ging
.rlx.nds wieder zur Kompanie. Der Feldwebel
srh nauzte mich an. [... ] Am Tage waren ErsatztruppCtl
aus Deutschland gekommen, urn die Großen
l.ücken aufzufüllen. Dabei befand sich auch August
j,;lllger aus Struht. Da wir früher schon gute
59
Freunde waren, freute uns dieses Zusammentreffen
sehr. Wir gingen gleich zum Feldwebel mit der Bitte,
in die gleiche Gruppe eingeteilt zu werden , was auch
geschah.
DIE REISE NACH NORDFRA;\JKREICH
Am 2.0ktober 1914 wurden wir verladen und fuhren
mit der Bahn die Mosel entlang bis Trier. Eine
schöne Fahrt durch die hintere Eifel bis Aachen
durch Belgien über Lüttich, Brüssel und Mons nach
Nordfrankreich. Belgien ist ein sehr schönes, reiches
Land mit einer groûen Industrie und vielen Bergwerken.
[... ] Dort sah ich auch die ersten Windmühlen.
Die Bevölker ung betrachtete uns mit unfreundlichen
Blicken, was gar nicht zu verwundern war.
Wir wurden zwischen Valenciennes und Douaiausgeladen
und rückten dann in die Stadt Douai ein, die
kurz vorher von den Franzosen geräumt worden
war. ln der Kür~ssier–Kaserne wurden wir einquaruert.
Unser Regunentskommandeur hielt im Kasernenhof
eine Rede, in der er sagte, der schlimmste
Krieg wäre für uns vorbei; wir hätten jetzt ma' noch
Engländer und Schwarze vor uns. Wir wurden bald
eines anderen belehrt.
Vor Douai rückten wir dann vor, durch eine
schöne, reiche Gegend. [… ] Die Landstraûen waren
fast durchweg mit Steinen gepflastert. ln der Gegend
von Richebourg stieûen wir das erstemal mit
Engländern zusammen. ln einem dreckigen Stra–
J3engraben sollten wir uns an sie heranschleichen.
Bei einer Einfahrt auf die Acker muûten wir über die
Einfahrt springen, um jenseits davon wieder den
Graben zu erreichen. Bald bemerkten uns die Engländer.
Teder, der den Sprung machte, bekam einen
Hagel von Kugeln zugeschickt. Bald lagen mehrere
Tote auf der Einfahrt. Die letzten fünf fielen aIle.
Nun war die Reihe an mir. Da es der sichere Tod
60
ge"wesen ware, weigerte ich mich, trotz des Lärrnens
der Vorgesetzten. Ein Unteroffizier gab mir den
direkten Befehl, den Sprung zu machen. Ich sagte
ganz kaltblütig zu ihm, er sollte mir's mal vorrnachen,
wozu ihm aber auch der Mut fehlte. So blieben
wir bis nachts liegen.
Den nachsten Morgen bei Tagesanbruch griffen
wir mm Richebourg an, und die Englander muhten
zurück. Auber ihren Verwundeten erwischten wir
dort keinen einzigen Gefangenen. Fast in allen Häusern
konnte man sich zu Tisch setzen, die Englander
hatten für uns gekocht. ln einem Großen Kessel
kochte ein Schwein, welches wir unter uns verteilten.
Überall auf den Feldern lagen deutsche Kavalleristen
mit ihren Pferden, die bei den Patrouillengefechten
gefallen waren. Gegen Abend bildeten wir
VOl'dem Dorfe eine Linie und gruben uns inSchützenlocher
ein, welche von 1 bis 4 Mann besetzt wurden.
Gegen Mitternacht wurden Zanger, ein 18jahrigel'
Freiwilliger und ich auf Vorposten geschickt.
Wir hockten in einem Graben neben einem Feldweg.
[... ] Auf einmal hörten wir links Gehen. Gleich
tauchten drei Gestalten im Dunkel auf. Jeder von
uns nahm einen aufs Korn. Die beidenjungen Krieger
wollten gleich schielien, und ich hatte Mühe, sie
davon abzuhalten. Denn ich wulite ja nicht, waren es
Deutsche oder Engländer. Ich lief sie auf etwa 10 m
herankommen. Das Gewehr immer schußfertig,
schrie ich dann: »Halt! Parole!« Wie die drei zusarnmenfuhren!
Sie gaben aber sofort die richtige Parole.
Es waren 3 Mann meiner Kompanie, die den
Horchposten links von uns besetzt hatten, abgelöst
worden waren und sich im Dunkel verlaufen hatten.
Nun waren wir sehr froh, nicht geschossen zu haben.
Bald nachher wurden auch wir abgelost. Nachdem
ich eine Weile in meinem Schützenloche geschlafen
hatte, kam plötzlich der Vorposten zurückgclaufen
mit einer Mitteilung: "Die Englander kommen!
« Es ging nun eine wütende Knallerei los. Unsere
jungen Soldaten verknallten, so schnel
61
konnten, ihre Munition. Ich gab;) Schuf ab. Da ich
aber von Englàndern keine Spur sah noch hörte ,
sparte ich meinc Munition. Am Iorgcn wurde eine
Patrouille vorgeschickt, urn das Gelände nach toten
Englàndern abzusuchen. Aber was fanden sie) Zwei
tote Kühe und ein Kalb. Dieser Angriff war natürlich
leicht abzuschlagen. Dann munte jcder seine
Munition vorzeigen, und die keine mehr hatten, wurden
von den Vorgesetzten gehorig ausgeschimpft.
Nun wurde die Halfte der Grabenbesatzungherausgezogen
und dem Regiment 114 Zll Hilfe geschickt.
Unsere Stellung war dadurch sehr geschwacht.
Zudem waren noch viele ins Dorf gegangen,
um nach Lebensmitteln zu suchen. Plötzlich
fing die englische Artillerie an, uns stark zu beschie–
Ben. Granaten und Schrapnells zersprangen in gro–
[)er Anzahl. [… ] Bald tauchten vor uns englische
Infanterielinien auf, die sich sprungweise naherten.
Wir nahmen sie kraftig unter Feuer. Da sie aber in
groûer Übermacht waren, zogen wir uns zurück.
[... ] ln einem mit Weidenstümpfen bepfIanztenAblaufgraben
ging's nun im Laufschritt zurück, wahrend
die englischen Schrapnells immerfort über uns
platzten. Mancher von uns fiel, bevor er im Zurücklaufen
die Hauser erreichen konnte. Ein Schrapnell
schlug über meinem Kopf den oberen Teil eines
morschen Weidenstumpfes ab. Durch den Knall
und den Schreck flog ich der Linge nach in den
dreckigen Graben, erhob michjedoch sofort wieder,
um aus der gefàhrlichen Schulilinie herauszukornmen.
Die Englander besetzten nun das Dorf, machten
aber keinen Versuch, uns weiter zu verfolgen.
Wir gruben uns wieder ein und lagen einige Tage
dem Feinde gegenüber. Man mulite sehr vorsichtig
sein, denn die Tommys, wie wir die Englander nannten,
waren gute Schützen. Wo sich einer von uns
zeigte, hatte er schon was weg.
Dann wurden wir abgelöst und kamen 3 Tage in
Ruhe, in das Dorf Douvrin. Sofort ging die Kaninchen-,
Hühner- und Schweineschlachterci wieder
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los. Kurz: Alles EB– und Trinkbare wurde weggenommen.
Unser Zug war in einer Schule einquartiert.
Uns gegenüber,jenseits der Stralie, befand sich
eine große Wein– und Likorhandlung. Die Offiziere
hatten einen Posten davorgcstellt, um den Mannschaften
den Zutritt zu verwehren, Und natürlich,
daßalles für sie crhalten bliebe. Wir sahen, daH der
Posten oft in den Keller ging. SchlieHlich war er so
betrunken, dan er am Tor niedersank und einschlief.
Die Situation ausn ützend, holten Zanger und
ich uns mehrere Liter Anisette [Anislikör]. Bald
ging's im Keller aus und ein wie in einem Taubenschlag,
und bis gegen Abend blieb für die Offiziere
wenig mehr zum Holen.
Am dritten Tage um Mittag hief es wieder abrnarschieren.
Zuerst ging's zur Kirche, wo sich das ganze
Infanterieregiment 112 sammelte. Da die Kirche bereits
überfüllt war, nahmen mehrere Kompanien
vor derselben Aufstellung. Ein Feldgeistlicher hielt
cine kurze Ansprache und gab uns die allgemeine
Absolution. Dann ging's wieder weiter. Wir passierten
rnehrere von den Einwohnern verlassene Darfer.
[… ] Beim Anbruch der Nacht wurde haltgernacht
auf einem Zuckerrübenfeld, um dort zu übernachten.
Keiner von uns ahnte, daßdies für viele die
letzte Nacht ihres Lebens sein werde. Da die Nacht
ziemlich kalt war, waren wir froh, aIs es gegen Morgen
weiterging. Bald tauchten aus dern Dunkel Häuserreihen
auf. Wir befanden uns in dem Stad tchen
La Bassée und hörten in den Càrten Soldaten arbeiten,
die Deckungen bauten. Da fragte cine Stimme
<tusdem Dunkel: »Welches Regimentistdas? Welche
Kompanie?« – »112, die 1.« – »Ist der Zanger dahei?
« Auf die bejahende Antwort kam er gelaufen,
und zwei Brüder lagen sich weinend in den Armen.
War das ein Wiedersehen! Wir weinten aile drei, da
schon lange keiner cine Nachricht aus der Heimat
erhalten hatte. Charles begleitete uns bis an dasjenseitige
Ende des Stadtchens, wo cr von uns Abschied
nahm. Bald hiess es: »Halt !
63
22.0KTOBER 19I4–DERANGRIFF AUF
DAS DORF VIOLAINES
Wir mußten im Dunkel auf dem Felde Schützenlinien
bilden. Nun ging's vorwarts. Da der Morgen
zu orauen beg an n, sahen wir vor uns Hauser und b t1
Obstbaume auftauchen. Es war das Dorf Violaines.
Wir steckten unsere Bajonette auf die Gewehre, und
im Laufschritt ging es auf das Dorf los. Unserejungen
Soldaten schrien »Hu rra«, wie sie es auf dem
Exerzierplatze gelernt hatten, statt sich ruhig zu verhalten.
Dureh das Geschrei wurden die Englander
im Dorfe alarrniert. Bald knallten uns einzelne
Schüsse entgegen, eine Minute später prasselte es
uns aus allen Fenstern, Türen, hinter Hecken und
Mauern entgegen. Gleich eine der ersten Kugeln
traf meinen Nebenmann in den Bauch. Mit einem
furchtbaren Schrei stürzte er zu Boden. Zanger August
drehte sich nach mir um und rief: »Nickl, bist
du getroffen?« lm gleichen Moment durchbohrten
3 Kugeln seinen Tornister und das Kochgeschirr,
oh ne ihn zu verletzen. Sein Nebenmann stürzte mit
einem Schulterschuf zu Baden. Sa schnell wir konnten,
liefen wir hinter eine Dornenhecke. Alles duckte
sich hinter die Hecke, die die Engländer nun unter
starkes Feuer nahmen. Mehrere Kameraden rührten
sich bald nicht mehr. lm Verein mit neu hinzukommenden
Schützenlinien durchbrachen wir die
Hecke und stürmten durch die Cärten auf die Häuser
los, wobei noch rnancher von uns getroffen
wurde. Da wir in der Übermacht waren, wichen die
Engländer zurück. Wir sprangen zwischen den Häusern
durch auf die Straûe und konnten noch einen
Englander erwischen, der eben die neben der Stralie
sich hinziehendc Kirchhofmaucr ûberklettern
wollte. Durch die uns umzischenden Kugeln waren
wir genütigt, zwischen den Häuscrn Schutz zu suchen.
Der Englander glauhtc, wir würden ihn erschieûen,
cloch wir gaben ibm zu verstehen, dal3 wir
ihm nichts tun würden, woraufer sehr glücklich war
64
und uns sein Geld geben wollte. Wir nahmen es aber
nichtan. Ein hinzukommendcr Leutnant zwang uns,
weiter vorzugehen. Weiler unten stand auf der
Straße ein englischer Munitionswagen, unter welchem
ein Engländer lag, der auf die von der andcren
Seite des Dorres heranrüc:kenden Deutschen schoß.
lch berührte ihn von hinten mit dem Bajonett. Er
schaute sich um. Bei unserem Anblick erschrak er
sehr. Aber statt sich zu ergeben, sprang cr auf der
anderen Seite unter dem Wagen hervor und wollte
fliehen. Wir schrien ihm »Halt« nach, er aber lief
weiter. Da schof ihn Tambour Richert aus Reichwei–
1er nieder. [Tambour R., ein 1891 geborener »Cernenteur
«, wurde drei Tage spater verwundet. lm
Mai 1915 fiel cr im Gefecht bei Liévin. ] Etwas weiter
zurück stand eine englische Revolverkanone im
Straßengraben, welche uns mit ihren Geschossen
überschüttete. Einige gut gezielte Schüsse streckten
die Bedienungsmannschaft nieder.
Das Regiment sammelte sich im Dorfe, und nun
ging es zum Sturm auf einen etwa 300 m hinter dem
Dorfe liegenden englischen Schützengraben. Ein
furchtbares Maschinengewehr- und Infanteriefeuer
empfing uns. Cranaten und SchrapneIls zersprangen
zwischen und über uns. Trotz der Großen Verluste
stürmten wir den Graben. Zum Teil hielten die
Englànder die Hande hoch, viele flohen. Sie wurden
aber fast aIle auf dem deckungslosen, ebenen Felde
niedergeschossen. Urn aus dem Artilleriefeuer zu
kornmen, nahmen Zanger und ich einen Verwundeten
und schleppten ihn ins Dorf zurück, wo wir ihn
zu den Ärzten trugen. Wir verkrochen uns dann in
einem Keller, in dern von den Bewohnern des Hauses
allerhand Lebensmittel aufgestapelt waren. ln
ciner Ecke hockten angstlich eine Frau und ein etwa
20jàhriges Madchen, die vor uns sehr Angst hatten.
Wir gahcn ihnen durch Zeicben zu verstehen, daßsie
vor uns keine Angst zu haben brauchten. Wir Icbten
g Tage garlZ gemütlich bcisammen. Wir machten
einen Ofen in dem Keller, das Ofenrohr zurn Keller–
65
loch hinaus, und nun kochten die beiden Frauen
Hühner und Kaninchen, die wir abends im Dorfe
holten. Das Dorf lag dauernd unter englischemArtilleriefeuer.
Unser Haus bekarn mehrere Treffer,
und einmal flogen Backsteine die Kellertreppe hinunter.
Am dritten Tag gegen Abend polterten
Schritte die Kellertreppe hinab. Es war ein Leutnant,
der Regimentsadjudant. »Ihr verfluchten Drückeberger,
wollt ihr machen, daC ihr rauskornrntlschrie
er uns an. Wir packten unsere Sachen zusammen.
Das Madchen narnens Céline Copin gab uns
zum Andenken noch einige 1edaillen der heiligen
Muttergottes. Auf der Straûe standen etwa 60 Mann,
die sich aIle in den Kellern verkrochen hatten. Der
Regimentsadjutant führte uns zum Regimentskommandeur,
welcher uns eine geh6rige Strafpredigt
hielt, die uns aber ganz gleichgültig lieû. Unser Regiment
war inzwischen etwa 5 km vorgekommen. [... ]
Wir erfuhren nun, daß der Tag von Violaines unsere
Kompanie über 100 Mann gekostet hatte. Über
% des Bestandes. Da wieder Ersatz aus Deutschland
gekommen war, trafen wir sehr viele unbekannte
Gesichter. Wir lagen in einer Scheune, um die Nacht
zu verbringen. Unser neuer Kompanieführer hielt
eine Rede, die ich noch genau im Gedächtnis habe,
nämlich: »Ich bin der Oberleutnant Nordmann, ich
habe die Führung der 1/112 übernommen. Ich bitt'
mir aus, daf jeder seine Pflicht tut. Der sie nicht tut,
den solI der Teufel holen! Wegtreten!« [N., geboren
1885, war zu diesem Zeitpunkt seit neun Jahren
beim Militar.]
Am anderen Morgen, als es noch dunkelte, wurden
wir zu Gruppen eingeteilt, dann ging's gedeckt
nach einer etwa 200 m VOl' dem Dorfe liegenden
Ferme. Von dort sollten wir gruppenweise, das heiût
zu je 8 Mann, über das Feld zu einigen Weidenbaumen
springen und uns dort eingraben. Wir wußten
nicht, wo die Engländer lagen. Die ente Gruppe
sprang, bald fing es an zu knallen. Wir sahen gleich,
daß3 Mann stürzten. Die anderen liefen hinter einen
66
einen
im Felde stehenden Weizenhaufen. Nun mußte
die zweite Gruppe springen, der auch Zanger und
ich zgeteilt waren. Mit welchen Gefühlen ich mich
zum Laufen anschickte, kann ich niernandernbeschreiben.
Aber das furchtbare IVIuJ).Da gab's keine
Widerrede. Ein kurzes Stoßgebet, und los ging's.
Kaum wurden wir sichtbar, als es schon wie ein Bienenschwarrn
uns umzischte. Mein Vorderrnann
stutzte, warf die Arme in die Hohe und stürzte auf
den Rücken. Ein anderer stürzte aufs Gesicht.
Schnell wollte ich hinter den Weizenhaufen springen.
Da sah ich, daf von der ersten Gruppe kein
Mann auBer dem Unteroffizier Luneg mehr am Leben
war. Wir warfen uns nun auf die Erde und
drückten das Gesicht in den weichen Ackerboden.
Die ganze englische Grabenbesatzung richtete nun
ihr Feuer auf uns. Rundherum schlugen die Kugeln
ein, so dan die Erde über uns spritzte. Ein englisches
MG setzte nun ein. Kaurn eine Handbreit sausten die
Kugeln über uns, einer nach dem anderen blieb tot
liegen. Ich glaubte, auch mein letztes Stündlein habe
geschlagen, dachte noch an die Lieben daheim und
betete. Der neben mir liegende Zanger sagte: »Hier
können wir nicht liegenbleiben«, richtete sich etwas
auf und sah etwa 50 m vor uns einen Feldweg, auf
dessen beiden Seiten sich Graben befanden. Mit einem
Satz sprangen wir aufund stürzten dem rettenden
Graben entgegen. Trotzdem die Engländer ein
knatterndes Schnellfeuer auf uns richteten, kamen
wir wie durch ein Wunder unversehrt an. Hinterher
kam auch der Unteroffizier Kretzer, unser Gruppenführer,
herangesprungen. Da der Graben an
dieser Stelle sehr flach war, krochen wir auf dem
Bauche nach einigen von den Englandern verlassenen
Schützenlochern. Bei diesem Vorkriechen bekam
Unteroffïzier Kretzer einen SchuH durch das
Kreuz, sagte noch »Crülien Sie … « zu mir und war
lot. [Der Maurer K., 22 Jahre alt, starb nach Angaben
der Stammrolle am 23. Oktober 1914 bei Violaines
durch Kopfschuû. Angeblich wurde die Eintra–
67
gung allerdings bereits am 22.April 1914 (!) vorgenommen.]
Zanger und ich waren mm die einzigen Überlebenden
unserer Gruppe. Da die in der Ferme gebliebene
Kornpanie unser Schicksal sah, wagte niemand
mehr, auf das Feld zu kommen. Und so blieben wir
beide den ganzen Tag alleine in den Schützenlochern
liegen. Die Engländer belegten nun das Dorf
den ganzen Tag mit Artilleriefeuer, während kein
einziges GeschoH in unsere Nähe kam. AIs wir uns
anschickten, bei Anbruch der Nacht zur Kompanie
in die Ferme zu gehen, kam dieselbe, um die am
Morgen bestimmten Stellungen zu besetzen. Die
Mannschaften staunten sehr, uns beide noch lebend
zu finden.
Wir rnuliten nun eine Linie bilden und einen
Schützengraben aufwerfen. Jeder arbeitete, 50
schnell er konnte, um in die Erde zu kornmen, denn
beständig pfiffen einzelne englische Infanteriekugeln
durch das Dunkel. Nun ring es an zu regnen;
ich hing mir ein aufgefundenes englisches Gummizelt
um die Schultern. AIs der Graben tief genug
war, holte ich für mich und Zanger vom Weizenhaufen
2 Garben, um darauf zu schlafen. Unterwegs
stolperte ich zweimal über Tote. AIs ich eine Weile
im Graben geschlafen hatte, erwachte ich, da ich kalt
fühlte. Ich spürte, daßich längs im Wasser lag, das
sich von dem strörnenden Regen im Graben gesammelt
hatte.
Nun kam der Sergeant Hutt. Zanger, ich und noch
2 Mann muûten Unteroffizier Kretzer begraben gehen.
Es war ein guter Freund von Hutt. [Auch der
Maurer H. überlebte den Krieg nicht; er wurde im
März 1915 verwundet und starb drei Monate spater
im Alter von 23 Jahren.] Wir suchten lange in der
stockfinsteren Nacht, bis wir die Leiche fanden. Wir
scharrten nun die klebrige, nasse Ackererde mit unseren
Spaten weg, wickelten den Toten in sein Zelt,
das wir vom Tornister schnallten, legten ihn in das
keine 30 cm tiefe Grab und scharrten ihn zu. AIs wir
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glaubten fertig zu sein, fühlte Zanger mit den Handen,
ob Kretzer überall mit Erde bedeckt sei. Da
schauten noch die Stiefelspitzen und die Nase zur
Erde heraus, welche clann noch zugedeckt wurden.
Zanger nahm nun clas Seitengewehr des Toten,
steckte es quel' durch die Lederscheide und steckte
es 50 in Form eine Kreuzes auf das Kopfende des
Grabes.
Kaum waren wir wieder im Graben, als der Befehl
kam, leise vorzugehen. Wir kamen dann clurch eine
mit mannshohem Schilf bewachsene Niederung. Bis
wir uns durch das Schilf gewunden hatten, waren
wir alle bis auf die Haut durchnäût. Der Regen fiel
unaufhörlich. Nun kam der Befehl: »Halt] Eingraben!
« Ich und Zanger gruben nun schnell ein Loch.
AIs wir fertig waren, muHten wir etwa 10m weiter
vor, da die Linie nicht gerade war. Da die englischen
Infanteriekugeln von vorne, links und rechts über
uns pfiffen, warfen wir die Erde l'und um uns, zur
besseren Deckung. AIs der Morgen graute, schaute
ich vorsichtig nach den Engländern hinüber und sah
ihren Graben etwa 150 m VOl'uns. AIs die Engländer
nun die Erdhaufen vor sich sahen, knallten sie eine
Weile wie wahnsinnig darauf los. Sie lieûen nach,
und ich sah, daßeiner derjungen Soldaten, der mit
noch zwei anderen das Loch neben uns besetzt hatte,
vorsichtig nach den Englàndern hinüberschaute.
Schnell rief ich ihm zu, sich zu ducken, was er auch
tat. Doch die Neugierde war zu groû. Nach einer
Weile wollte er wieder hinüberschauen. Kaum
wurde sein Kopf sichtbar, als el', in die Stirn getroffen,
tot niederstürzte. Die beiden Kameraden wollten
nun die Leiche hinter sich auf das Feld legen, da
in dem Loch zuwenig Platz war. Dabei kam der eine
zu hoch und erhielt einen Schuf in den Rücken. Er
stürzte tot in das Loch, und die Leiche des anderen
kollerte auf ihn. Nun waren zwei Tote und ein Lebender
in dem Loche. Die En glander schossen mit
Schrapnells auf uns, doch keiner wurde verletzt. Es
war sehr langweilig, den ganzen Tag so im Loch zu
69
hocken. Wir lagen in einem Runkelrübenfeld. Urn
mir die Zeit zu vertreiben, steckte ich mein Seitengewehr
auf die Flinte, stach eine Runkelrübe an und
zog sie sa ins Loch. Dann steckte ich von unten das
Seitengewehr in die Rübe, setzte meinen Helm darauf
und lief das Ganze über die Deckung hinausschauen.
Die Engländer glaubten, es sei ein Kopf,
und schossen bald lustig drauf1os. Bald waren Rübe
und Helm wie ein Sieb durchlöchert.
ln der foIgenden Nacht stellten wir dann einen
durchgehenden Schützengraben fenig. Gegen Morgen
kam das 3. Bataillon zur Verstarkung und der
Befehl zum Angriff auf die englische Stellung. Ein •
wahnsinniges Unternehmen. Die Offiziere zogen
die Revolver und trieben uns aus dem Graben.
Kaum waren wir sichtbar, ais die Engländer auf uns
zu schießen begannen. Viele von uns stürzten gleich
zu Boden. Der Rest mach te kehrt und rannte wieder
zurück in den Graben. Die Schwerverwundeten blieben
liegen, manche stöhnten und jammerten bis gegen
Abend, bis auch sie starben. Trotzdem wurde
2 Tage spater, aIs neue Verstärkung herankarn,
noch mal angegriffen. Trotz großer Verluste kamen
wir bis an den englischen Graben. Es war aber unmöglich
hineinzukommen, denn die Englander
standen Mann an Mann und schossen uns nieder. Es
blieb nichts übrig, ais so schnell wie moglich wieder
unseren Graben zu erreichen. Das Feld zwischen
den beiden Graben war ganz mit Toten und Verwundeten
überstreut, welch letzteren niemand Hilfe
bringen konnte. Zanger und ich kamen beide wieder
heil davon. Die nächsten Tage blieben wir uns ruhig
gegenüberliegen. Da es oft regnete und das Regenwasser
sich in den Schützengräben sammelte, gab es
einen derartigen Schlamm, daß man sich bald nicht
mehr bewegen konnte.
Nun hießes auf einmal, der englische Graben sei
von Schwarzen, Indiern besetzt. [Englander wie
Franzosen setzten Kolonialtruppen ein.] Und wirklich
sahen wir hie und da einen Turban, ihre Kopf
70
Kopfbedeckung.
Da wir diesen nicht gut trauten, mußte
die Hälfte von uns nachts Posten stehen. ln einer
dunklen Nacht sprang plotzlich einer der Indier in
unseren Graben und hielt die Hände in die Höhe.
Niemand hatte ihn kommen hören. Er zeigte immer
nach den Englandern hinüber und machte mit der
Hand das Zeichen des Halsabschneidens. Ein Einjähriger,
der Englisch verstand, wurde herbeigeholt,
und da der Indier auch etwas Englisch sprechen
konnte, konnten sich beide verstandigen. Der Indier
sagte, daß er und seine Kameraden die EngIander
hassen würden, sie wollten aIle zu uns kommen und
gegen die Engländer kämpfen. Wir glaubten ihm
und lieûen ihn wieder laufen, um, wie er sagte, seine
Kameraden zu holen. Wir lauschten in die Nacht
hinaus, ob sie denn noch nicht kämen. Bald zeigte
uns ein schallendes Hohngelächter von drüben, daf
der Schwarze uns zum besten gehalten hatte. [... ]
Da hieJ3 es auf einmal: »Wir werden abgelost..
Und wirklich, die nachste Nacht besetzte das Infanterieregiment
122 den Graben, und wir rnarschierten
zurück. Es war ein schönes, freies GefühI für uns,
aIs wir uns auûer Schußweite befanden. [... ] Auf
dem Schlachtfelde von Violaines lagen noch die Leichen
der VOl' 3 Wochen gefallenen Englander. Wir
sahen mehrere Raben auf ihnen sitzen, die ihre
Mahlzeit hielten. Die gefallenen Deutschen waren
aIle begraben. lm Stad tchen La Bassée bezogen wir
Quartier. Aber wie sah es dort aus! Wer's nicht gesehen
hat, kann sich keine Vorstellung machen. Einwohner
waren keine mehr zu sehen. ln allen Häusern
und Zimmern lag alles drunter und drüber.
Kleider, Hüte, Photographien, kurz: alles, was in
den Zimmern war, lag kreuz und quer durcheinander.
Man sah au ch eine Menge unsittlicher Bilder
und Schriften umherliegen. Die Mëbel waren gröûtenteils
zerschlagen worden und aIs Brennmaterial
benutzt. ln einem Kleiderstoffgeschäft rissen die
Soldaten Streifen von den Stoffrollen, um sich Wikkelgamaschen
zu machen. ln einem Hutgeschäft
71
wollte ich mir eine Mütze mit Ohrenklappen hole n,
um mich spater im Graben etwas gegen die Kälte
schützen zu körinen. J n dern Laden war dasselbe
Bild: Mützen, Hüte, Strohhütc, Zylinder. Alles lag
etwa einen halben Meter hoch auf dem Boden, und
darüber schritten die Soldaten mit ihren dreckigen
Stiefeln.
[... ] Wir lagen 8 Mann in einem Zimmer, in der
Nähe der Kirche.In der Nacht wurden wir durch ein
furchtbares Gepolter geweckt. Das Haus zitterte wie
bei einem Erdbeben. [… ] Der Kirchturm, der früher
einige Artillerietreffer abbekommen hatte, war zusammengestürzt.
Wir waren 3 Tage in La Bassée
und benutzten die Zeit, um unsere Kleider zu trocknen
und einigerrnaûen vom Dreck zu befreien. Dann
ging's wieder in die Graben. Wir lagen nun etwa
1km nordlicher ais vorher. Vor uns lagen die Dorfer
Festubert und Givenchi. Wir hatten wieder Indier
vor uns und lagen ihnen etwa 80 m gegenüber. Bald
hatten wir einige Tote und Ver!etzte, die aile durch
die Schiefischarten getroffen wurden. Es muête drüben
ständig ein Indier im Anschlag stehen, der bei
jeder Bewegung bei uns drauflosschoH. Zanger und
ich gaben uns aile Mühe, um den Ker! ausfindig zu
machen. Wir konnten seinen Standort aber nicht
entdecken. Da fiel eines Nachts Schnee. Durch die
englischen Schielischarten konnten wir an der hinteren
Grabenwand Schnee sehen. Sobald ein Indier
nun durch die Schiellscharte beobachtete, verschwand
der weilie Schneefleck. So hatten wir bald
den Stand des indischen Schützen entdeckt. Ich
schob mein Gewehr in die Schieûscharte, zielte und
scholi, traf aber nicht, denn dicht daneben spritzte
der Schnee weg. Der Indier verschwand hinter der
Schiebscharte, und der weilie Fleck wurde sichtbar.
Nun Iegtc sich Zanger auf die Lauer. Bald verschwand
drüben wieder der weibe Fleck, der Indier
beobachtete wieder. Zanger schoü, der Indier war
getroffen. Nun hatten wir etwas mehr Ruhe.
Es kam der Befehl, den Graben der Indier zu
72
stürmen. Unsere Pioniere gruben Sap pen –das sind
Zickzackgräben – bis dicht vor die Stellung der l ndier.
Eines Nachts wurdc ich mit noch 8 Mann zur
Deckung der vorne arbeitenden Pioniere bestirnmt.
Wir standen etwa 6 m hinter ihnen, das Gewehr irn
Anschlag. und lauschten in die dunkle Nacht hinaus.
ichts war zu sehen und zu horen. Auf einrnal töriten
zwei entsetzliche Aufschreie durch die Nadu, die
von unseren Pionieren kamen. Schnell schossen wir
in das Dunkel und sprangen dann zu den Pionieren.
Aber beide lagen am Boden der Sappe, der eine tot,
der andere schwer verwundet. Beide hatten von heranschleichenden
Indiern Messerstiche erhalten.
Am 21. Novernber eroberten wir den indischen
Graben. Aus den Sappen wurden Handgranaten,
die ich dort das erstemal in Verwendung sah, in den
indischen Graben geworfen. Dann sprangen wir
hinüber und trieben die l ndier im Graben zurück.
ln einem Sackgraben, der zur Latrine führte, konnten
wir über 60 der braunen Gesellen gefangennehmen.
Ein junger Leutnant von uns, der erst einige
Tage im Felde war, kletterte zum Graben hinaus und
schrie zu den Indiern: »Hands upl« Das heiût:
Hände hoch! Aber einige Schüsse knallten, und der
Leutnant stürzte kopfüber in den Graben hinab.
Meine Kompanie, die durch die neuen Mannschaften
zu 240-Mann-Starke aufgefüllt war, verlor nur
drei Tote und den Leutnant. lm Graben lagen rnehrere
tote Indier; die alteren trugen lange Haare, die
jüngeren trugen sie kurz geschoren. Sie waren aile
ganz neu gekleidet und wohl erst kurze Zeit in den
Graben. Ebenso lagen viele neue, wollene Decken
und auch aile rh and von ihren Lebensmitteln, denen
ich keinen Namen geben konnte, im Graben umher.
Wir nahmen die englischen Schiefischarten und bauten
sie auf der anderen Seite ein, Front nach den
Indiern, die etwa 200 m zurück noch einen Graben
besetzt hatten. Wo sich ein Turban zeigte, wurde
drauflosgeknallt, und bald wagte keiner mehr den
Kopf ZlI heben.
73
22. NOVEMBER 1914- FURCHTBARES
NACHTGEFECHT MIT INDIERN
Bei Anbruch der Dunkelheit wurden wir mit Infanteriefeuer
überschütter, hatten zum Glück aber wenig
Verluste, da wir aIle am Boden im Graben lagen.
Einige Mann wurden verschüttet, zum Teil konnten
sie sich selber frei machen, zum Teil muliten wir sie
mit unserem Spaten frei machen. Da wir einen Gegenangriff
befürchteten, muûte die Hälfte von uns
Posten stehen. Zanger und ich losten uns gegenseitig
ab; während der eine stand, schlief der andere, in
mehrere indische Decken gehüllt. Von 4 bis 6 Uhr
morgens war die Reihe an mir. Da ich den lndiern
nicht traute, spähte ich in die Nacht hinaus. Plotzlich
glaubte ich ein Geräusch vorne zu hören. Mein Nebenposten,
der blof 2m neben mir stand, fragte
mich, ob ich nichts gehart hätte. Auf meine bejahende
Antwort entsicherten wir unsere Gewehre,
machten uns schuEfertig und suchten mit den Augen
das Dunkel zu durchdringen. Etwa eine halbe
Stunde lang war nichts zu sehen und zu hören, und
wir waren schon wieder beruhigt. Plotzlich durchdrang
ein lautes Pfeifsignal die Stille der Nacht. lm
gleichen Moment krach te dicht vor uns eine Salve,
und mit furchtbar gellendem Geschrei kamen die
lndier herangestürmt. Wir waren vollig überrascht,
und viele von uns verloren ihre Geistesgegenwart.
Schnell schoßich meine 5 Patronen ab, steckte mein
Bajonett aufs Gewehr und stellte mich an die vordere
Grabenwand. Zanger war taumelnd aus dem
Schlafe aufgefahren und konnte in der Aufregung
zuerst sein Gewehr nicht finden. AIs er es hatte,
stellte er sich neben mich. Die lndier schossen von
oben in den Graben, da wir uns aber an die vordere
Grabenwand drückten, flogen ihre Kugeln über uns
hinweg. Sehen konnten sie uns in dem dunklen Graben
nicht, während wir sie sofort erblickten, indem
sie sich gegen den Himmel abhoben. Wir schossen
und stachen immer in die Hahe, und keiner der
74
lndier wagte es, in den Graben zu dringen. Bald
jedoch sagte uns ein schreckliches Geschrei, daßdie
lndier etwa 30 m neben uns in den Graben eingedrungen
waren. Nun entstand ein wirres Durcheinander.
Wir wurden von der Menge von unseren
Plätzen weggeschoben und so zusammengedrängt,
daßich kaum in meine Patronentasche greifen
konnte, um mein Gewehr wieder zu laden. ln der
Aufregung und der Dunkelheit schossen manche
von uns ihren eigenen Kameraden in die Köpfe.
Nachdem die lndier eine Strecke unseres Grabens
erobert hatten, kletterten viele von ihnen hinten
zum Graben hinaus, liefen an ihm entlang und
schossen von rückwärts in unseren Graben hinein.
Nun waren wir in einer wahren Hölle. Von vorne,
von hinten und von der Seite knallten die lndier in
den Graben. Alles drängte nun nach dem in unsere
alte Stellung führenden Laufgraben. Die Getroffenen
stürzten und wurden zu Tode getreten. Alles
schrie durcheinander. Vor dem Laufgraben gab es
ein furchtbares Cedränge, jeder wollte der erste
sein. Doch der Eingang war so schmal, daßnur einer
nach dem anderen hineinkonnte. Endlich gelang es
auch mir und Zanger, in den Laufgraben zu kommen.
Kaum waren wir etwa 10m darin zurückgelaufen,
als es nicht mehr weiterging, da die in der alten
Stellung liegenden paar Mann Reserve uns nach
vorne zu Hilfe kommen wollten. Wir waren bald eng
eingeklemmt, da die Mannschaften hinter uns unbedingt
zurückwollten. Da ertönte der Ruf: »Rette
sich, wer kann!« Zanger und ich warfen die Gewehre
zum Laufgraben hinaus und liefen über das Feld
zurück. Mehrmals muûte ich mich zu Boden ducken,
um von den lndiern nicht gesehen zu werden. Zangel'
hatte ich bale! aus den Augen verloren. Auf einmal
horte ich ihn halblaut um Hilfe rufen. Schnell
sprang ich nach der Richtung und sah bald im Dunkel
zwei Gestalten miteinander ringen. Den lndier
kannte ich bald an seinem Großen Turban und
machte ihn kampfunfähig. So schnell wir konnten,
75
liefen wir nun in unsere alte Stellung. Zanger woIlte
nun schnell sein Gewehr laden, der Patronenrahmen
aber woIlte absolut nicht in die Kamrner des
Gewehres. Beim näheren Hinschauen sah er, daf er
das Gewehr des lndiers in Händen hatte, in das
natürlich unsere Patronenrahmen nicht paßten. lmmer
wieder kamen einzelne Mann zurückgelaufen.
Vorne dauerte die Schießerei noch an. Nun grau te
der Morgen. Wir schossen nun auf die im Felde
auftauchenden lndier, die bald aIle im Grabenverschwanden.
Auf einmaJ wurden sie einige Meter voraus
im Laufgraben sichtbar. Durch unsere Schüsse
stürzten die vordersten zu Boden. Nun verbarrikadierten
wir den Laufgraben mit Sandsäcken und
hatten Ruhe. Wir waren sehr müde und abgespannt,
und unsere Nerven waren ganz futsch. Und in welcher
Verfassung waren wir! Dreckig yom Kopfbis zu
den Fülien, meine Hosen waren yom Knie bis ans
obere Ende aufgerissen, mein Tornister mitsamt
meinem ganzen Hab und Gut war weg, da ich keine
Zeit mehr gehabt hatte, ihn beim Überfall der Indier
urnzuhangen. Auch den Helm hatte ich verloren,
die Patronentaschen waren leer. Zanger und die übrigen
waren ungefähr in derselben Verfassung.
Gegen Mittag kam unser Leutnant Hüliler, ein
Elsässer und guter Vorgesetzter, und schrieb aIle
auf, die von der Kompanie noch da waren. Er
brachte noch 24 Mann zusammen; also 90 Prozent
der Kornpanie waren weg. Sehrecklich! Wie ich
später hörte, waren von der 4. Kompanie nur noeh
16 Mann übrig.
ln der folgenden Nacht wurden wir von einem
anderen Regiment abgelost und marschierten in den
Laufgräben zurück. Stellenweise kam man kaum
vorwarts und versank oft bis zu den Knien im Dreck.
Wir waren froh, aIs wir die feste Stral3e unter unseren
Fül3en hatten, marsehierten nach La Bassée und
erwarteten dort den Morgen. Von der Feldküehe
bekamen wir Kaffee und trockenes Kornmiûbrot.
Ein mageres Frühstück. Wir glaubten, ein besseres
76
verdient ZLl haben. AIs wir gegessen hatten, marschierten
wir weiter zurüek. Von Marschordnung
und Disziplin war keine Rede mehr. Jedel' ging, wie
er woIlte. Nun gab der Bataillonskommandeur den
Befehl zum Singen. Ein allgemeines Gemurrnel war
die Antwort, aber singen, das tat keiner. Wir passierten
auch die Ortschaft Courrières. Dort kamen bei
einern Bergwerksunglück vor ein igen Jahren 1400
Bergarbeiter ums Leben. [Das Unglück ereignete
sich 1906.J
ln dem Stad tchen Hénin-Liétard [heute: Hénin-
Beaumont] wurden wir einquartiert. Zanger und ich
kamen zu einem alteren Ehepaar. AIs wir eintraten,
war die Frau alleine. Bei unserern Anblick schlug sie
die Hände überm Kopf zusamrnen, denn so drekkige,
zerlumpte Soldaten hatte sie wohi noch nie
gesehen. Dazu waren wir noch unrasiert. Sie winkte
uns, nach hinten in den Hof zu kommen, gab uns
warmes Wasser, Seife und Bürsten. Nachdem wir
uns einigerrnaûen gereinigt hatten, holte sie uns je
eine Zivilhose, Jacke, Strümpfe und Hausschuhe.
Wie wohl war uns, endlich einmal wieder trockene
Fübe zu haben! Die Frau war sehr gut zu uns, trotzdern
wir uns nicht einmal mündlich verstandigen
konnten. Sie gab uns dann noch heilien Kaffee und
Cognac und Bu tterbrot.
achher ging ich mit meinen Lumpen zum
Kornpaniefeldwebel mit der Bitte um neue Kleider.
Nachdern el' sie naehgesehen hatte, gab er mir eine
Bescheinigung, mich beim Bekieidungsamt einkleiden
zu lassen. Dort bekam ich neue Hosen, Rock,
Stiefel und Mütze. Dann lief ich mir die Haare
schneiden und mich rasieren. Darauf ging ich wieder
in mein Quartier. Die Frau kannte mich gar
nicht mehr. [... ] Nun kam der Mann nach Hause. Er
schien keineswegs über uns erfreut und betrachtete
uns mit der unfreundlichsten Miene der Welt. Da
sagte ich, auf uns deutend: »Alsaciens«; er aber
glaubte es nicht. Wir zeigten ihrn unser Soldbuch,
worin unsere Heimatadresse eingetragen war. Nun
77
wurde el' schon etwas freundlicher. N achher gab ich
ihm mehrere Zigarren. Da war sein Widerstand gebroche
n, und er holte sogar eine Flasche Wein. Da
wir beide schon sehr müde waren, deuteten wir, dan
wir schlafen rnöchten. Wir wären mit einer 'Velle
Stroh zufrieden gewesen, aber wir mußten die Stiege
hinauf, und die Frau zeigte uns ein gutes Ben in
einem freundlichen Zimmer. Welche Freude für
mich, in einem Bett schlafen zu këmnen! Hatte ich
doch in bald 4 Monaten nur eine einzige Nacht in
einem Bett zugebracht. Wir schliefen bald ein, ich
erwachte jedoch wieder, und es war mir unrnöglich,
die Fülie ruhig liegen zu lassen. Ich glaubte, in den
Füûen, welche wochenlang kalt und naf gewesen
waren und nun richtig erwärrnt wurden, Hunderte
von Ameisen zu haben. Bald jedoch rann der
Schweif derart aus meinen Füfien, daßdas Bettuch
an der Stelle ganz naf wurde. Nun konnte ich einschlafen.
Wir blieben 14 Tage beijener Familie, und
wir wu l'den mit jedem Tag besser zueinander. Wir
al3en zusammen, und manches Kaninchen mulite
dran glauben. Wir brachten der Familie ais Gegendienst
neue Hemden, Unterhosen, Schnürschuhe,
eine Menge Zigarren und Tabak und so weiter. Damais
war von allem im Überfluf vorhanden.
Wir hatten nur wenig Dienst, hauptsachlich Postenstehen.
Einmal stand ich auch Ehrenwache bei
einem Prinzen von Hohenzollern, der in einem
Schlof wohnte. Diese Vögel konnten es schon aushalten
im Krieg! Hingen sich die Brust voll Auszeichnungen,
obschon sie nie eine Kugel pfeifen
hörten, alien und tranken im Überfluß und waren
hinter den Mädchen her. Dazu bezogen sie ein hohes
Gehalt, während der gewahnliche Soldat bei seinem
Hundeleben 53 pfennig Löhnung bekam. Einmal
waren wir ais Brückenschutz auf Wache. Das Wachlokal
war in einem öffentlichen Hause. lch hätte
vorher nie geglaubt, dan Weibsleute in sittlicher
Hinsicht so tief sinken könnten. Überhau pt waren in
jener Gegend viele Mädchen und Frauen in sittlicher
78
Hinsicht sehr tief gesunken. Bald füllten sich die
Lazarette mit geschlechtskranken Soldaten.
Wir bekamen dann neue Ersatzmannschaften aus
Deutschland, darunter auch eine Menge Freiwillige
unter 20 Jahren. Nun hieû es wieder: »Marsch nach
der Front}– Und mit Bedauern nahmen wir von
unseren guten Wirtsleuten Abschied. Wir kamen
dann in eine bessere Stellung, hatten dort Franzosen
in etwa 800 m Enrfernung VOl' uns. Weiter zurück lag
die Stadt Béthune. Obwohl jene Stadt unter deutschem
Artilleriefeuer lag, wurde in den Bergwerken
weitergearbeitet. [... ] Wir lagen nun 3 Tage vorne
im Graben, 3 Tage in Reserve in einer Arbeiterkolonie
1km hinter der Front und dann 3 Tage in Ruhe
5 km weiter zurück. So vergingen dort etwa 3 Wochen
ohne nennenswerte Vorkommnisse. [… ]
Wenn wir in Reserve lagen, rriubten wir aile Nächte
durcharbeiten, Laufgraben und Stellungen graben.
Da die Gegend dort ganz waldfrei ist, konnten wir
infolge Holzmangels keine Unterstände bauen. Und
so lebte man immer im offenen Graben, den Unbilden
der Witterung ausgesetzt. Unsere Stellung Iief
dicht an einer Kohlenmine, Fosse [Schacht] 8, vorbei,
bei welcher eine Arbeiterkolonie, alles schëne,
schmucke Hauschen, erbaut war. Kohlen zumFeuermachen
waren in Mengen da. Da es aber an Holz
fehlte, ~urden zuerst die Fensterläden, dann die
Türen, "Iobel, Baden, Dachlatten aus den Hausern
genommen, um Feuer anmachen zu können. ln kurzer
Zeit standen nur noch die kahlen Mauern da.
[... ]
Nun kam das Weihnachtsfest, die erste Kriegsweihnacht.
Unsere Kompanie feierte das Fest in
Vendin-le- Vieil. Es waren eine Menge Liebesgaben
angekommen. Da ich, Zanger und Gautherat aus
Menglatt mit der Heimat keine Verbindung mehr
hatten und daher auch keine Pakete bekommen
konnten, gab uns der Kompanieführer extra Liebesgaben.
Dann bekamen wir noch einen Teil wie die
anderen. Auch bekamen Zanger und ich eine große
79
Kiste mit guten und nützlichen Dingen von einer
reichen Fabrikantin aus Mannheim, welche uns heimatlosen
Soldaten eine Freude machen wollte. VÙr
konnten unsere Sachen kaum auf einmal in unser
Quartier tragen. Wir hatten einen ganzen Tisch voll
Schokolade, Zuckerbr6tehen, Bonbons, Zigarren,
Zigaretten, Dauerwurst, Olsardinen, Pfeifen,Hosenträgern,
Halstüehern, Handsehuhen und sa weiter.
leh verteilte Schokolade und Bonbons an die
Kinder, die ich auf der Straße traf. Bald kannten
mich aile, und wo ich mieh zeigte, kamen sie gelaufen
und baten mieh um Sül3igkeiten. Aber ich
konnte nur geben, solange der Vorrat reiehte.
Bald kam der Befehl zum Abrücken, naeh der
etwa 12 km entfernt liegenden Lorettohöhe. [... ]
Wir gruben uns im Gebüsch am Abhang ein, über
uns lagen die Trümmer der zusammengesehossenen
Kapelle Notre-Dame-de-Lorette. Auf dem Gipfel
entlang lagen die mit Alpenjägern besetzten französischen
Graben. Da unsere Stellung einen Bogen
beschrieb, bekamen wir bald von der Seite Artilleriefeuer
mit sehwerem Kaliber. Auf allen Seiten sehlugen
die groHen Granaten ein. Ein mit 4 Mann besetztes
Sehützenloch bekam einen Volltreffer, die zerrissenen
Korper der Unglückliehen wurden nach allen
Seiten zerstreut. Man konnte nicht weglaufen, denn
wo sich nul' einer von uns zeigte, wurde el' gleich von
den Alpenjagern niedergeknallt. Dort verlor ich
auch einen guten Kameraden namens Sand. [Siehe
auch Sei te 31 f. Erst am l.Januar 1915 an die Front
zurückgekehrt, wurde der Zuckerfabrikarbeiter S.
laut Stammrolle am 21.Januar 1915 durch Kopfschuf
verwundet und starb zwei Tage spater.]
Eines Nachts fiel Schnee, und ich munte mit noch
4 Mann untel' Führung des Sergeanten Hutt eine
Patrouille den Hügel hinauf machen. Wir hatten
weiûe Hemden über unsere Uniformen angezogen,
um im Schnee nicht so gut gesehen zu werden. Was
wir dort oben suehen sollten, weif ich heute noch
nicht, es war der reine Blödsinn. Wir wu l'den bald
80
bemerkt, und einige Kugeln flogen uns um die Ohl'en.
Ein Mann bekam einen BrustschuI3. Wir rannten,
50 schnell wir konnten, bergab in unsere Stellung.
Sergeant Hutt erstatter.e eine Schwind~lmeldung
und bekam einige Tage später das Eiserne
Kreuz.
Nach 3 Tagen kam unsere Kompanie in Ruhe in
das sogenannte Wasserschlofi, ein großes, auf allen
Seiten von einem Bache umflossenes Cebäude. [... ]
Dort erfuhr ich, daß das Ill. lnfanterieregiment
links neben uns lag. Der Reservist Emil Schwarzentrüber
aus meinem Heimatdorfe befand sich bei
der Il. Kornpanie jenes Regiments. Sofor~ .fante ich
den Entschluß, ihn aufzusuchen, und hoffte, etwas
Neues aus der Heimat zu erfahren, denn ich hatte
bereits mehrere Monate keinerlei Nachricht von
dort bekommen. Ich ging nach dem Dorf Saint-Nazaire,
traf dort Soldaten des Ill. Regiments, welche
mir sagten, die Il. Kompanie liege oben in Stellung.
Sie beschrieben mir den Weg dahin, und ich machte
mich auf die Suche. lch kam bald in den Laufgraben,
der zur Stellung hinaufführte. Da der Schnee
schmolz, lief eine Masse Dreckwasser den Graben
hinab. Trotz allem patsehte ich in der dunklen Nacht
weiter hinauf und kam endlicb in der Stellung an.
Ich fragte einen Posten nach meinem Kamer~den.
Er konnte mir keine Auskunft geben. Ich fragte
einen anderen, der mich zur Gruppe wies, in der
mein Kamerad sei. Ich ging dorthin, und auf meine
Frage gab man mir nur ausweichende Antworten,
aus denen ich nicht klug werden konnte. Ich verabschiedete
mich und ging wieder fort. Da kam
mir einer nachgelaufen, ein Elsässer, u?d ~ragte.
mich, ob ich ein guter Kamerad von Emil sei. Auf
meine bejahende Antwort sagte er mir, dan Emil
vor 2 Tagen desertiert sei. .
lch ginO' nun wieder zu meiner Kompame und
munte do:t mehrere Gefallene begraben helfen. Ein
trauriges Stück Arbeit, besonders da man nie wußte,
wie bald die Reihe an uns war. Wir blieben etwa
81
10 Tage an der Lorettohöhe. Da kam der Befehl,
zurück nach Vendin-le-Vieil in unsre alten Quartiere
zu marschiere n. [... ] Den nächsten Abend beim
Postverteilen bekam ich einen Briel' von meinen Eltern.
Da ich nicht wußte, ob sie über haupt noch zu
Hause seien, l'iD ich den Brief schnell auf und las:
»St. Ulrich, den … Lieber Sohn ' Wir sind aile gesund
und noch zu Hause ... « Weiter kam ich nicht.
Vor Freude und Sehnsucht schossen mir die Trärien
in die Augen, und ich konnte nicht weiterlesen. Da
ich mich vor den Kameraden scharnte, ging ich hinaus.
Ich beruhigte mich bald wieder und konnte den
Brief fertiglesen. Er enthielt nur Gutes, und ich war
nun über das Schieksal meiner Angehorigen beruhigt..
Wir blieben einige Tage in Vendin-le-Vieil,
dann hief es abmarschieren nach einer Gegend, aus
der dauernd Kanonendonner herüberdröhnte. [… ]
Durch einen Laufgraben, der teilweise zusammengeschossen
war, gelangten wir in die vorderste
Stellung. Mit Tagesanbruch fingen unsere Artillerie
und Minenwerfer furchtbar auf die mit Englandern
besetzten Graben zu schießen an. Wir mußten zum
Sturm vorgehen. [... ] Trotz der Großen Verluste
eroberten wir zwei dicht hintereinanderliegende
englisehe Graben. Die Engländer, die in den Laufgraben
zurückwollten, wurden fast alle niedergeschossen.
Wir sollten noch einen 3. englischen Graben
nehmen. ln demselben stand en je do ch die Englander
Mann an Mann und schossen uns nie der.
Bald lag eine ganze Reihe Toter und Verwundeter
vor ihrem Graben, und der Rest der Kompanie
flüchtete zurück in den 2. englischen Graben. Hier
fiel auch der Walther Theophil aus Struht. Es war
ein schreeklicher Anblick, überall lagen Tote und
Verwundete, Deutsche und Englander durcheinander,
und aus den Wunden rieselte das Blut. Wenn
man in die Laufgräben hineinschaute, sah man
nichts als Beine mit Wiekelgamaschen und verkrallte
Hände in die Höhe stehen. Der Boden dieser Graben
war ganz mit toten Englandern bedeekt.
82
Wir muliten nun die in den Stellungen liegenden
Toten begraben. An der hinteren Grabenwand
machten wir etwas Erde weg, legten die Toten hin
und deckten sie mit etwas Erde zu. Da man sonst im
Graben keine Sitzgelegenheiten hatte, dienten diese
kleinen Hügel ais Sitze. Nun fing es wieder an zu
regnen. Die Graben füllten sieh bald mit dem Wasser
und Sehlamm, und bald waren wir wieder so drekkig,
daI3 man nichts mehr aIs das Weiße im Auge sah
vor lauter Dreck. lch mußte dann Munition heranholen;
überall sah ich Stiefelspitzen, verkrallte
Hande, aueh vom Dreck zusammengeklebte Haare
aus der Erde hervorsehauen. Es war ein schauerlicher
Anbliek, der rnich fast zum Verzweifeln
brachte. Es war mir derart verleidet, dal3 ich dem
Leben gar nichts mehr naehfragte. Die Kampfe dauerten
an jener Stelle sehon seit Oktober, und die
Gefallenen von damaIs lagen noeh auf dem Felde
zwischen den Graben. Es war unmoglich, sie zu begraben.
Etwas reehts vor meiner Schießscharte lag
ein deutseher Soldat auf dem Gesicht, den Kopf
gegen mich. Der Helm war ihm beim Sturze vom
Kopf gefaIlen, die Haut mit den Haaren war infolge
der Faulnis herabgerutscht, und die vom Regen und
von der Sonne gebleiehte Hirnschale war in der
Gröbe einer Hand siehtbar. ln der einen Hand hielt
el' noeh das rostige Gewehr mit dem Bajonett, das
Fleiseh war bereits von den Fingern weggefault, und
die Knochel sahen hervor. Besonders des Nachts
war es ganz unheimlieh, den weißen Schädel VOl'mir
zu sehen. Von den imrnerwàhrend, insbesondere
des Nachts, umherschwirrenden Kugeln war der
Körper wie ein Sieb durchbohrt.
Die nächste Naeht, den 26.Januar 19]5, kamen
wir etwa 400 m weiter nach rechts, hinter den sogenannten
Prellbock. Wir lagen an einem Eisenbahndamm
und schossen über die Sehienen in die englisehen
Graben. Bald nahm uns ihre Artillerie untel'
Feuer. Wir duckten uns nun hinter den Bahndamm.
Entweder platzten die Granaten oben auf dem
83
freie Feld. Die Nacht darauf kamen W1r wieder
200 m nach links. Dicht vor unseren Graben waren
mehrere haushohe Backsteinhaufen, da sich dort
eine zu Boden geschossene Ziegelei befand. Die Engländer
kletterten beim Dunkelwerden von hinten
auf die se Backsteinhaufen, und wo sie einen von
uns im Graben erblickten, knallten sie ihn nieder.
Eines Abends standen Zanger, ich und unser Karnerad
Kopf im Graben und erzählten eben etwas. Zanger
und ich standen gedeckt hinter der Schulterwehr,
während Kopf an der Rückenwand des Grabens
angelehnt stand. Auf einmal knallte ein Schuf
von dem Backsteinhaufen herunter, hinter dem
Kopf unseres Kameraden spritzte die Erc~eweg. Er
selbst sank röchelnd mit durchbohrter Stirn zu Boden.
Er wurde zurückgetragen, starb aber beim weiteren
Rücktransport im Krankenwagen. [Del:
24jahrige Zigarrenmacher K., laut Stammrolle bel
der Ziegelhaufenstellung in Auchy am 29.Januar
1915 durch Kopfschuf verwundet, starb am 31. J anuar
1915.]
Von den 280 Mann, die mit der Kompanie ins Feld
gezogen waren, waren wir nur noch 5, die ohne
Unterbrechung den Krieg bis dahin mitgemacht
hatten. Dazu kamen noch mehrere hundert Mann
Verluste der Abteilungen, die während des Feldzuges
als Ersatz zur Kompanie gekommen waren. Bei
einem Angriff, den wir auf ein vorgeschobenes englisches
Grabenstück machen muûten, wurde Zanger
durch eine Handgranate an der Stirn verwundet
und kam zurück. [Laut Stammrolle wurde der
22jahrige Maurer Z. am 1. Februar 1915 bei Auchy
durch Granatsplitter am rechten Auge verletzt.]
Bald schrieb er mir, daßer sich in einem Lazarett der
Stadt Douai befinde. Man nannte uns in der Kornpanie
nur »die beiden Unzertrennlichen«. Da er nun
fort war, war es mir noch mehr verleidet, und ich
sann auf Mittel, wie ich diesem schrecklichen Hundeleben
entrinnen könne.
84
Ein anderer Kamerad von mir, ein Badenser namens
Benz, hatte auch dick an der Geschichte, und
wir berieten, was wahl Zll tun sei. Auf einmal sagte
Benz: »Ich hab's! «, nahm sein künstliches Gebißaus
dem Mund und trat es mit dem Stiefel in den Dreck.
»So, jetzt meld' ich mich krank wegen Magenschmerzen
und komme zurück ins Lazarett«, sagte
er. Da fiel mir ein, daßich mehrere faule Zähne im
Munde hatte. Obschon ich gar keine Zahnschmerzen
hatte, wickelte ich mein vor Dreck starrendes
Halstuch um den Kopf, ging zum Kompanieführer
und meldete mich krank; ich körme es VOl' Zahnschmerzen
nicht mehr aushalten. Bald kam auch
Benz mit seinem Anliegen. Der Kompanieführer
sagte, er konne uns nicht zurückschicken. Er habe
Befehl erhalten, aile nur einigermaHen kampffähigen
Soldaten vorne im Graben zu behalten, da immer
ein Angriff der Englander befürchtet wurde.
Trotz unserer Bitte weigerte er sich, uns eine Bescheinigung
zu geben. Und oh ne Bescheinigung des
Kompanieführers lief man nicht weit. Wir gingen
wieder zurück an unsere Plätze. Die Engländer
schossen dauernd mit kleinen Minen in unseren
Graben. Das am weitesten vorgeschobene englische
Grabenstück muliten wir räumen, da dasselbe nur
16m von dem englischen Graben entfernt war und
die Engländer immer wieder Handgranaten hineinwarfen.
Benz und ich beschlossen nun, ohne Bescheinigung
zurückzugehen. Wir hingen die Tornister
um, nahmen die Gewehre und schlichen zu dem
rückwàrts führenden Laufgraben. Dort lagen mehrere
Tote im Dreck, die beim Munitionsholen gefallen
waren. Wir schritten über sie hinweg, und etwa
400 m zurück gelangten wir ans Ende des Laufgrabens,
der auf die Straûe mündete. AIs wir um die
Ecke wollten, stand da ein Feldgendarm und verlangte
unsere Ausweise. Trotz allen Redens lief er
uns nicht durch und schickte uns wieder zur Kornpanie
nach vorne. Wir gingen zurück in den Laufgraben;
nachdem wir etwa 50 m zurückgelegt hatten,
85
kletterten wir zum Graben hinaus und liefen hinter
einigen Häusern durch, um weiter vorne die Straûe
zu gewinnen. Die Englander, die uns sahen, 5ch05-
sen aufuns, zum Glück, ohne zu treffen. Wir erkundigten
uns nach dem Bataillonsarzt, der sich in einem
Keller aufhielt. Da wir keine Bescheinigung
hatten, sagte el' »Drückeberger!« undjagte uns zum
Keller hinaus. Nun gingen wir zum Regimentsarzt,
der auch in einem Keller wohnte. Ais wir eintraten,
fragte Er: »Na, wo fehlt's?« lch sagte, daß ich starke
Zahnschmerzen hätte. Er schaute mir in den Mund,
und aIs er meine schiechten Zähne sah, schrieb er mir
gieich einen Aufnahmezettel fürs Kriegslazarett II,
Zahnstation in Douai. Mein Kamerad Benz hatte das
gieiche GIück, und wir beide waIzten los. Wir waren
übergIückIich, dem elenden Leben im Graben für
einige Zeit entronnen zu sein. ln Hénin-Liétard bestiegen
wir den Zug und fuhren nach der Stadt
Douai. Dort angekommen, ging ich gieich ins Lazarett.
Sofort wurden mir 2 Zàhne gezogen. Und auch
die nächsten 3 Tage wurden mir je 2 Zahne gezogen.
Es war kein geringer Schmerz, denn es geschah ohne
Einspritzung.
Da wir ausgehen durften, besuchte ich auch langer,
der in einem anderen Lazarett Iag. Seine Wunde
an der Stirn war bald wieder geheilt. Beim Abschied
dachte keiner von uns, daßwir uns 2Jahre lang nicht
mehr sehen würden. Nach 3 Tagen wurde ich aus
der Zahnstation entlassen und mulite mich in der
Kürassierkaserne melden. [Laut Stammrolle des Regiments
112 war D.R. 18 Tage, vom 8. bis 26. Februar
1915, im Lazarett.] Dort wurden aile aus den
Lazaretten Entlassenen nochmals ärztlich u ntersucht
und entweder an die Front oder nach Deutschland
geschickt. Der Arzt stellte bei mir einen schweren,
infolge der Erkältungen zugezogenen Katarrh
fest, und ich wurde zum Ersatzbataillon des Infanterieregiments
112, welches in Donaueschingen/Baden
lag, zurückgeschickt. Wie glücklich war ich, ganz
von der Front wegzukommen! Und doch war es mir
86
nicht ganz recht, da ich meinen Kameraden langer
verlassen mulite. lch ging gleich zum Bahnhof in
Douai und fuhr mit einem bayerischen Lazarettzug
durch Belgien bis Aachen. Dort mubten wir aussteigen,
bekamen etwas zu Essen, und ich fuhr dann mit
einem Personenzug nach Kain. Dort blieb ich einen
Tag, besichtigte die Stadt und den Rhein. Dann bestieg
ich den Schnellzug und fuhr 1. Klasse durch
das herrliche Rheintal. [… ] Am nächsten Morgen
fuhr ich mit dem ersten lug nach Donaueschingen
und meldete mich beim Ersatzbataillon, welches in
Baracken untergebracht war. Bald traf ich mehrere
Kameraden meiner Kompanie, die zu halben Krüppeln
geschossen waren und nun geheilt auf ihre
Entlassung warteten. [… ] Am folgenden Tage meldete
ich mich krank und wurde dem Karlskrankenhaus
überwiesen. Dort pflegten uns katholische
Schwestern, die sehr freundlich und gut zu uns wal'en.
Es gefiel mir dort ausgezeichnet, und ich hatte
den Wunsch, lange dort bleiben zu körmen. Nur zu
bald sollte die Herrlichkeit ein Ende finden, denn
nach 5tagigem Aufenthalt kam der Befehl: Alle EIsasser
des Ersatzbataillons 112 müssen nach Freiburg
zum Ersatzbataillon des lnfanterieregiments
1ß. So mulite ich von den guten Schwestern Abschied
nehmen. Wir fuhren mit der Höllentalbahn
nach Freiburg hinunter. Unterwegs wurde von den
Elsässern weidlich auf die Preuûen geschimpft, und
man horte Ausdrücke, die wenig patriotisch klangen.
ln Freiburg wurden wir in einem Fabrikraum
untergebracht. AIs Nachtlager diente ein am Boclen
liegender Strohsack. Ich meldete mich gleich wieder
krank. Einige junge Arzte horchten an mir herum,
und das Resultat war, daßich wieder Dienst mitrnachen
mulite. lm ganzen war ich etwa 7 Tage in Freiburg.
Eines Abends nach Dienstschluf salien wir, Eine
ganze Menge Elsässer, beisammen. Es waren lauter
junge Soldaten, die noch nicht im Felde gewesen
waren. Sie sagten, ich solle ihnen etwas von meinen
87
Kriegserlebnissen erzahlen. Ich erzählte ihnen un ter
anderem auch die Ereignisse yom 26. August, von
dem Befehl des GeneraIs Stenger, keine franzüsischen
Gefangenen zu machen und alles zu tüten,
und daßich mit eigenen Augen gesehen habe, wie
französische Verwundete getütet wurden und sa
weiter. Auf eimnal kam der Kompanieschreiber in
den Saal und rief: »Richert sail auf die Schreibstube
kommenl– Ich hatte keine Ahnung, weshalb. Bald
sollte ich es erfahren. Der Kompaniefeldwebel sagte
zu mir: »Na, Sie können schone Geschichten erzählen.
Was erzahlten Sie denn soeben den Mannschaften?
« Ich sagte, ich hatte von meinen Kriegserlebnissen
erzählt. Da schnauzte er mich an: »Was, Sie wollen
wahl behaupten, daf ein deutscher General den
Befehl gab, französische Verwundete zu toten P. –
»Herr Feldwebel, der Befehl wurde tatsächlich am
26. August 1914 ais Brigadebefehl gegeben, und der
General Stenger war der Führer der Brigade.« Der
Feldwebel brüllte mm: »Nehmen Sie sofort diese
Behauptung zurück, oder Sie soUen mal sehen!« Ich
antwortete: »Ich kann meine Aussage nicht zurücknehmen,
da dieselbe auf Wahrheit beruht.. –
»Soooo, scheren Sie sich weg, das Weitere wird sich
finden!« brüllte nun die Kompaniemutter [soldatensprachlich
für Feldwebel].
Am nächsten Nachmittag war ein Übungsmarsch
in die Schwarzwaldberge mit kriegsrnäûig bepacktern
Tornister. Die Kompanie war angetreten. Da
wurde ich wieder auf die Schreibstube gerufen. Dort
erwartete mich der strenge Hauptmann der Kornpanie.
Seine Augen funkelten wie die eines gereizten
wilden Tieres. »Sie niedertrachtiges, gemeines Rindvieh!
Sie behaupten, ein deutscher General hätte
den Befehl gegeben, feindliche Verwundete zu Wten.
Nicht wahr?« Sa empfing er mich. Ich stand
stramrn var ihrn, schaute ihrn in die Augen und
antwortete: »[awohl, Herr Hauptmann!- Wütend
fuhr er mm auf mich los und schrie: »Sie verfluchter
Vaterlandsverräter! Auch mir gegenüber wagen Sie
88
es, lhre Aussagen zu behaupten. Sie Schwein, Sie
Kame!, Sie Rhinozeros!« Und nun folgten die Namen
wohl aller wilden und noch einiger zahmen
Tiere, und der Schluû dieser Litanei war: »Scheren
Sie sich zum T'eu f"el, Sie Himmelhund, Sie gottver-
Iluchter!« Ich machte kehrt und ging hinunter in die
angetretene Kompanie. Wir marschierten nun los.
Ais wir eine Bergstraûe hinaufmarschierten, kam
der Hauptmann, der bis dahin hinter der Kompanie
geritten war, neben die Kompanie nach vorne. Bald
bemerkte ich, daf el' mich suchte.
AIs er mich sah, sagte er: »Na, Sie Lümmel, kommen
Sie mal her!« Ich trat aus dem Glied und stand
stramm vor ihm. »Na, packen Sie mal Ihren Tornister
aus! « lch tat es, aber es fehlte nicht ein Stückchen
darin. Da sagte er: »Sie werde ich schon noch
rankriegenl« Damit ritt er der Kompanie nach. Ich
packte meine Sachen wieder ein und muf3te nun
bergauf Laufschritt machen, um die Kompanie wieder
einzuholen.
Des anderen Morgens beim Antreten jagte mich
der Feldwebel aus dem Glied in das Quartier. Dort
kümmerte sich kein Mensch um mich, und ich wulite
nicht, was das eigentlich zu bedeuten habe. Am
nächsten Tage kam ein Unteroffizier mit 2 Mann in
den Saal und fragte nach mir. Ich meldete mich.
»Komrnen Sie mit!« – »Ja«, sagte ich, »sofort, ich will
nur schnell urnschnallen.« – »Das brauchen Sie
nicht«, sagte er, »Sie sind Arrestant.« Ich war gar
nicht überrascht und ging mit. Wir gingen durch
mehrere Straûen, die beiden Soldaten mit ihren Gewehren
links und rechts, der Unteroffizier hinter
mir. Viele Passanten blieben stehen und schauten
uns nach. Und ich horte mehrere Male halblaut
sagen: »Ein Spion.« So kamen wir in die Kaserne
des Infanterieregiments 1ß. Auf einem Korridor
muûten wir lange warten. Da hörte ich aus einem
Zimmer rufen: »Soll eintreten!« Dort san ein Major
mit seinem Schreiber. Lange sah der Major mich an
und musterte mich von oben bis unten. Ich stand
89
still und sah ihm ungeniert in die Augen. Nun ging
das Verhör los. Narne, Kompanie, Heimat, Eltern,
ob mein Vater bei der deutschen Armee aktiv gedient
und so weiter. lch beantwortete alle Fragen.
»Nun wollen wir zur Hauptsache«, sagt er. »Sie haben
eine ungeheuerliche Aussage gemacht in Betreff
eines Befehls lhres Brigadegenerals Stenger.
Wie kommen Sie dazu? Erzählen Sie mir mal genau
den Hergang der ganzen Sache.. lch erzählte mm
dem Major so, wie sich die Sache tatsächlich zugetragen
hatte, und nannte als Zeugen die Namen
mehrerer Kameraden, die noch bei der Kompanie
im Felde waren. Der Schreiber mußte alles niederschreiben.
Dann schrieb der Major einen Zettel, gab
ihn dem Unteroffizier, der mich dorthin begleitet
hatte, und sagte ihm, er soIlte ihn der Kompanie
abgeben. Zu mir sagte dann der Major: »Sie können
gehen!«
Wir gingen nun wieder zur Kompanie zurück.
Dort hieB es bald: »Richert macht wieder Dienst
rnit.. Am nächsten Tage wurde ein Transport ins
Feld aufgestellt. Natürlich war ich dabei, obschon ich
mich noch nicht gesund fühlte. Bei der ärztlichen
Untersuchung wurde ich gleich zuvorderst gestellt,
und aIs mich der Arzt untersuchen wollte, hörte ich
den daneben stehenden Feldwebelleise sagen: »Es
ist der Richertl- Nun sagte der Arzt gleich: »K. V,« –
das heilit kriegsverwendungsfahig.
So hatte ich meine Strafe, denn viellieber ware ich
ins Cefängnis als wieder ins Feld. Aber was sollte ich
machen? lch war eben wie noch Tausende anderer
ein wiIlenloses Werkzeug des deutschen Militarismus.
Wir wurden nun ganz neu eingekleidet, und da
es am nächsten Morgen um 5 Uhr zur Bahn gehen
sollte, bekamen wir bis nachts Il Uhr Urlaub. Nun
ging's in die Wirtschaften. Da ich mit meinen Angehörigen
keine Verbindung hatte, war es in meinem
Portemonnaie schlecht bestellt. Ich besaf ganze
5 Mark. Die Hälfe davon wurde in Bier umgesetzt.
Diejungen Soldaten sangen übermütige Lieder und
90
machten Sprüche, wie sie den Feind verhauen wollten.
lch dachte: Wartet nur, nur zu bald wird euch
der Übermut vergehen! Mit einem halben Bierdusel
legte ich mich dann auf meinen Strohsack, und mit
Schaudern dachte ich an die zukünftigen Nachtlager
im Felde, da es noch immer Winter war. Am Morgen
ging's zur Bahn. Wir 1200 Mann, halb Elsässer, halb
Badenser, fuhren nun Baden hinunter nach Karlsruhe,
wo wir in einer Kaserne die Gewehre bekamen.
Dann ging's wieder durch die Stadt zur Bahn;
die Stimmung bei uns Elsässern war nicht gut. AIs
eine Frau fragte: »Wo wollt ihr denn alle hin?«,
antwortete ein Mülhauser: »Ceh verrecka, gottver
… <
lm Bahnhof hielt der Großherzog von Baden eine
Ansprache, um uns Mut zu machen. Er sagte, daf
wir in die Karpaten kommen, und wir sollten im
Verein mit unseren österreichischen Kameraden die
Russen bald aus Osterreich hinauswerfen. lch
dachte bei mir: Der hat gut reden! Dann ging's weiter;
wir fuhren 3.-Klasse-Wagen, 6 Mann in einem
Abteil. Von Karlsruhe ging's nach Mannheim, Heidelberg,
durch das schöne Neckartal, Württemberg.
ln der bayerischen Stadt Würzburg bekamen wir
Kaffee, Wurst, Butter und Brot. Dann ging's weiter
durch den verschneiten Fränkischen Jura, durch das
Fichtelgebirge über Hof nach Sachsen, über Chemnitz,
Freiberg nach Dresden. Die Reise war sehr interessant.
lch saf am Fenster, betrachtete die vorbeifliegenden
Gegenden und rauchte eine Zigarette um
die andere.
ln Dresden blieb unser Zug bis gegen Morgen
stehen. Dann ging's weiter, und als ich erwachte,
befanden wir uns bereits in Osterreichisch-Böhmen.
Dem Elbtal entlang ging's weiter nach Prag, der
Hauptstadt Böhrnens. Dort bekamen wir wieder zu
essen. Die Einwohner von Prag betrachteten uns mit
feindseligen Blicken, denn die Böhrnen sind keine
Freunde der Osterreicher und ebensowenig der
Deutschen. Dann fuhren wir weiter an der schonen
91
Stadt Brünn vorbei nach der osterreichischen
Hauptstadt Wien. Dort gab es wieder Essen. Nachher
muliten wir in 2 Gliedern antreten, eine osterreichische
Regimentsmusik spielte, und eine österr~
ichisch~ ~roBherzogin verteilte mit ihrem Gefolge
Bilder mit ihrer Photographie an uns. Mir machte
das wenig Freude, denn diese Zeremonien waren
mir sehr verhafit. Von Wien ging's dann weiter der
herrlichen Donau entlang über Preßburg nach Budapest,.
der Hauptstadt Ungarns. [... ] Überall jubelte
die Bevölkerung uns zu und rief: »Heil und
Si.eg!« Auch bekamen wir, wenn der Zug hielt, oft
Liebesgaben, besonders Rauchmaterial. Von Budapest
fuhren wir 2 Tage durch die große ungarische
Ebene. [… ] Und überall dasselbe Bild: Dörfer, einze~
stehende Gehoft~, aile Hauschen weif getüncht,
mit Stroh oder Schmdeln gedeckt, und dabei der
Schwebebaum des Ziehbrunnens. Zur Abwechslung
sah man oft auch Windmühlen. [... ] Der groHe Fluû,
die Theiû, führte Hochwasser, und die Gegend war
weit überschwemmt.
ln der Stadt Debreczin bekamen wir wieder Essen:
Suppe, gebratenes Fleisch und Kartoffeln mit Sauce.
Aber es war uns fast unmöglich, etwas zu genießen,
da alles mit dem roten Pfeffer, dem in Ungarn 50
beliebten Paprika, zu stark gewürzt war. Es brannte
uns im Mund und Hals wie Feuer. Dann ging's weiter
nach der Stadt Tokay. [… ] ln Ungarn sahen wir
sehr viele, sehr hübsche braune Mädchen. Dieselben
trugen ein farbiges Mieder, kurzes Röckchen und bis
an die Knie reichende Husarenstiefel. Wir bekamen
von ihnen massenweise Kufihände zugeschickt, die
wir natürlich erwiderten. Wenn der Zug langsam
fuhr, kamen massenweise Zigeunerkinder und bettelten
um Brot. Oft wurde ihnen ein Stück hinausgeworfen,
und es machte uns Spaû, wie sie sich darum
balgten. Beim Weiterfahren sah ich in der Ferne die
mit Schnee bedeckten Karpatenberge auftauchen.
[…]
Nun erreichten wir die Stadt Munkacs, Die Stadt
92
liegt am Fuße der Karpaten. Wir mußten dort aussteigen.
Man war ganz steif und wie gerädert vom
langen Sitzen, denn die Bahnfahrt hatte 7 Tage und
Nachte gedauert. Ais unsere jungen Soldaten die
hohen, schneebedeckten, vor Kalte starrenden
~erge sahe.n, verschwand bereits ein großer Teil
ihrer Begeisterung. Mit Sehnsucht dachte ich an
meine nun über 3600 km entfernten Lieben daheim.
Ob ich sie wohl nochmals wiedersehen würde, oder
ob ich in dem Großen Gebirge vor mir mein Grab
finden würde? Die nächste Nacht verbrachten wir in
l'v~assenquartie~en. Am folgenden Morgen bestiegen
wir nochmals die Bahn und fuhren etwa 8 km in das
Gebirge hinein, bis zu dern Dorfe Volocs. Die Ortschaft
bestand aus einigen armseligen Hütten. Dort
stiegen wir aus und kamen in Baracken, um die
nächste Nacht zu verbringen. Da kein Ofen zum
Heizen da war, froren wir schon die erste Nacht
gewaltig. [… ] Die Wände bestanden aus übereinandergelegten
Tannenstämmen. Dazwischen befand
sich Moos, und die Spalten waren mit Lehm verstrichen.
Die Dacher bestanden aus Stroh. Ich hätte
früher nie geglaubt, daßin Europa solche Behausungen
zu finden seien. Einwohner bekam ich keine
zu sehen.
Am folgenden Morgen brachen wir auf. Wir mars~
hiert.en auf einer. Zick~ackStraße einen hohen Berg
hmauf. Dort sah ich die ersten Russen. Es waren
Gefangene, die an der StraHe arbeiteten, alles starke,
groHe Männer. Ihre Mäntel hatten die Farbe von
Lehm. Auf dem Kopfe trugen sie hohe Pelzmützen
ihre Füûe staken in hohen, bis zu den Knien reichenden
Stiefeln. Beim Weiteraufwartssteigen fïng es an,
stark zu schneien, so daßman keine 50 m weit sehen
konnte. Bald sahen wir aus wie Schneemänner. Endlich
führte die Straûe bergab. Das Schneien hörte
auf, wir sahen tief unter uns etwa 20 der elenden
Ha~lser stehen. Das Dorf hießVerecky. Ein Soldat
memte: »Verreck i, das ist noch die Fragel– Wir
marschierten weiter und erreichten bald ein ande-
93
res, ebcnso armseliges Dorf. Auf einer Tafe! stand
der Namc: »Also Verecky«. Nun meinte der Soldat:
»Cibt's fûr uns keine Rettung mchr? Dort stehr's:
Also vcrreck i.« Trotz des Ernstes der Situation
rnuûten wir lachen. ln Also Verecky wurden wir
einquartiert. lch ging mil noch einern Kameraden
zu einer dort stehenden üsterreichischen Feldküche
und bat den Koch um etwas Warmes. Der Koch,
obschon er kein Wort Deutsch verstand [irnVielvolkerstaat
Osterreich-Ungarn nur eine Minderheit
deutsch; selbst im osterreichischen Teil der Doppelmonarchie
waren es lediglich rund 36 Prozent], gab
jedem von uns beiden einen Becher sehr guten Tee
mit Rum. Wir dankten und gingen nach der Hutte,
die uns zugewiesen worden war. Dieselbe war aber
derart mit Soldaten vollgestopft, daßwir nicht das
kleinste freie Plätzchen darin fanden. ln den Nachbarhütten
dasselbe Bild.
Ich fragte nun einen der daherkommenden osterreichischen
Soldaten, ob er uns beiden nirgends ein
Unterkommen wülite. Er sagte, wir solIten nur seinen
Fuûstapfen folgen. Wir kärnen nach einer Viertelstunde
zu einer Hütte, die hinter einem kleinen
Tannenwàldchen stehe. Da wir die Nacht nicht
drauûen im Schnee zubringen woIlten, gingen wir
dahin und erreichten bald unser Ziel. Ich öffnete die
Türe und befand mich in einern Raum, dem ich
keinen Namen geben konnte. Er war Wohnstube,
Stail und Vorratskarnmer. lch war ganz baff, mein
Kamerad ebenfalls. ln der Ecke vor uns standen 2
Kühe; das Wasser derselben lief über den Lehrnboden
bis zur Eingangstür. Dabei hockten zwei halbnackte
Kinder, kratzten den von dem Wasser aufgeweichten
Lehmboden auf und fabrizierten kleine
runde Kügelchen, ähnlich unseren Klickerle [süddeutsch
für Spielkügelchen, Marrneln]. Neben den
Kühen stand eine Ziege an eincn in den Boclen geschlagenen
Pfahl gebunden. Nirgends ein B~tt,
nicht einrnal ein Tisch. An der Wand war ein GesteU
angebracht, das den vier aufeiner Bank Karten spielenden
94
lenden
osterreichischen Soldaten wohl ais Sehlafstelle
cliente. Unter dem Gestel! bernerkte ich den
Kartoffelvorrat der Familie. Aber wie armselig waren
die g-ekleidet! Der Mann lutte zerrissene Stiefel
an, trug das Hemd über die Hosen, wie dies in der
ganzen Cegend üblich war, Über die Schultern hing
ein Sehafpelzmantel, einen derselben Gattung trug
auch die Frau. Der Mann trug einen machtigen Ban
und die Kopfhaare halblang. Der Kopf selbst war
mit einer Pudelkappe bedeckt. Wir beide konnten
gar nicht fertig werden vor lauter Sehauen.
Weder die Soldaten noeh die Bewohner der Hütte
konnten ein Wort Deutsch, und dureh Zeichen gaben
sie uns zu verstehen, Platz zu nehrnen. Ich hing
nun meinen Tornister ab und legte ihn neben den
mächtigen Ofen, der aIs Wärrnespender, Koch– und
Backofen diente und wohl ein Viertel des ganzen
Raurnes einnahm. Dann nahm ich den HeIrn ab und
legte ihn auf rneinen Tornister. Klatsch, fiel mir
beim Bücken etwas in den Nacken. Ich griff mit der
Hand hin, und – 0 Schrecken! – Nacken und Hand
waren besudelt von Hühnerdreck. Ich schaute mm
nach oben und gewahrte etwa 10 Hühner, die friedlich
auf an die Balken genagelten Stäben saûen und,
falls sie etwas drückte, ganz gemütlich in die Stube
hinuntersauten. Das war ein nettes Quartier! Aber
immer war es noch besser, als draußen im Schnee zu
überriachten. Wir kochten uns im Ofen etwas Kaffee
und alien ein Stück Kommilibrot dazu.
Da wir von dem Marsche ermüdet waren, deuteten
wir an, daßwir schlafen möchten, AIs Schlafstelle
claraufund deckten uns mit unseren Oecken zu. [... ]
Da es nun dunkelte, nahm der Mann einen langen
Kienspan yom Ofen herunter, steckte ihn zwischen
2 Tannenstämrnen in die Wanel und zünclete ihn an.
Das war die Bclcuchtung. Zwei der Osterreicher legten
sich dann zu uns; die zwei anderen holten einige
Handvoll Stroh, Jcgtcn es auf den Bodcn. Das war
ihre Schlafstelle.leh war Bun gespannt, wo die Fami-
95
lie sich wohl schlafen legen würde.Bald wurde mir
dieses Ratsel gelost. Die Frau kletterte auf den Ofen,
der Mann reichte ihr die beiden Kinder und stieg
dann selbst hinauf. Alle legten sich hin und deckten
sich mit ihren Schafpelzen zu. Von einer Bettdecke
oder Unterlage war nichts zu sehen. Bald schlief alles
friedlich beieinander: wir 2 Deutsche, 4 Osterreicher,
4 Ruthenen [damalige Bezeichnung für die in
Österreich-Ungarn lebenden Ukrainer], 2 Kühe, 1
Ziege und die Hühner. Jedoch etwas wachte, und
zwar ein gefahrlicher Feind: die Lause. Schon in der
Nacht wurde ich dureh das Beißen wach, wubte aber
nicht, daß es Lause waren, da ich vorher noch nie
keine hatte. Am Morgen gingen wir wieder zu unserer
Truppe. Unterwegs biß es mich ganz gewaltig
auf der Brust. lch kratzte drauflos, aber bald bif es
noch mehr. lch knöpfte nun Mantel, Rock, Unterjacke,
Hemd und Finet [UnterhemdJ auf und sah
nun die Urheber des Beißens: Drei Lause, ganz vollgesogen,
saßen auf meiner Brust. Nun zwischen die
Fingernagel, und knacks, hin waren sie. Nun fing es
mich an zu beißen: auf dem Rücken, an den Beinen
und noch an sonstigen gewissen Korperteilen. Doch
das war nul' ein ganz kleines Vorspiel von dem, was
noch kommen sollte.
Wir erreiehten nun unsere Truppe, die schon zum
Abmarsch angetreten war. Nun horten wir in der
Ferne vor uns Bum-bum-bum – das Artilleriefeuer
an der Front. Mit welchern Unwillen ich weiterrnarschierte,
kann ich niemandem beschreiben. Was erwartete
uns dort? Schnee, Kalte, nachts Draufienliegen,
Lebensgefahr. Wir marschierten nun an einigen
Baracken vorbei, die als Feldlazarett dienten.
leh versuchte es nochmals mit Krankmelden und
ging in die ers te Baracke hinein. Dieselbe lag voll von
Verwundeten und halberfrorenen Soldaten, halb
Deutsche und Osterreicher. Sie waren fast aile graugelb
im Gesicht und sehr niedergeschlagen. Man sah
ihnen an, daß sie sehr viel durchgemacht hatten. lch
meldete mich nun beim Arzte. Er fragte mich
96
barsch, was ich eigentlich wolle. Ich sagte, daß ich an
einem Katarrh litte und sehr entkraftet sei, Da lachte
er mir ins Gesicht und sagte: »Na, mein Lieber, Sie
waren wohl schon im Felde und haben die Nase vol1.
Machen Sie nul' schleunigst, daß Sie raus und zu
lhrer Abteilung kommen! ({Was wollte ich machen?
leh marschierte hinterher und erreichte die Truppe
bei ihrer nächsten Ruhepause. Wir marschierten
wied el' den ganzen Tag bergauf, bergab. Auf der
glatten SO'aße rutschte man oft aus. Ganze Schlittenkarawanen
fuhren an uns vorbei nach vorne, mit
Munition und Lebensmitteln beladen. Zurück kamen
sie leer. Einzelne Schlitten brachten Verwundete
zurück. Gegen Abend erreichten wir wieder
einige Baracken, wo wir die Nacht verbringen sollten.
Man sah, daßder StraJ3e entlang ein Dorf gestanden
hatte. Die Hauser waren bis auf die Erde
abgebrannt, nur die Großen Ofen und die Kamine
standen noch. Auf den verschneiten Bergabhangen
sah man Stacheldrahtverhaue aus dem Schnee hervorragen.
lch sah auch mehrere Bajonette. Ich
fragte nun einen deutschsprechenden Osterreicher,
der zur Barackenwache gehorte, was das eigentlich
zu bedeuten habe. Ererzählte mir, daß an dieser
Stelle hart gekampft wurde. Die Russen seien bis
hier vorgedrungen und mußten sich naeh schweren
Kärnpfen zurückziehen. Untel' dem Schnee lagen
noch viele Tore, die erst im Frühjahr, wenn es taut,
begraben werden können. Nun war es mit dem Mut
der jungen Soldaten, ais sie dies hörten, vorbei. Und
sie machten lange Gesichter.
Am nachsten Morgen ging's dann wieder weiter.
Wir bestiegen nun einen hohen Berg. Oben auf dem
Kamm machten wir eine Ruhepause. An dieser
Stelle befand sich die ungarisch-galizische Grenze.
Die Aussicht von oben war herrlich. Ringsherum die
verschneiten Berge und Schluchten, und an den Abhängen
sah man oft herrliche Tannenwälder. Von
vorne drohnte der Kanonendonner gut vernehmbar
herüber. Nun ging's wieder im Zickzack bergab. ln
97
einer tiefen Schlucht sahen wir ein Geschütz mit
Bespannung liegen. Wahrscheinlich war es auf der
glatten Straße ins Rutschen gekommen, abgestürzt
und hatte die Pferde mitgerissen. ln dem Tai unter
uns war die Haltestelle der Schlitten. Von hier wurde
alles mit Trageseln auf schmalen Saumpfaden nach
der Front geschafft. Wir ging·en nun einer hinter
dem anderen einen solchen Pfad entlang, der in
Windungen um den Berg führte. Wenn uns Tragesel
begegneten, muhten wir uns eng an die Bergwand
drücken, um ihnen das Vorbeikommen zu
errnöglichen, so eng war der Pfad. Endlich erreichten
wir das Dorf Tucholka. Imrner dieselben elenden
Behausungen, dazwischen die dreckigen Bewohner
mit ihren Schafpelzmanteln. Nachdem wir
in Tucholka etwa eine Stunde geruht hatten, muliten
wir in 2 Gliedern antreten. Nun kamen die
Kompaniefeldwebel des 41. und des 43. Infanterieregiments,
und wir wurden den Kompanien zugeteilt.
lch kam mit noch etwa 50 Kameraden zur
7. Kompanie des Infanterieregiments 41. Meine
Adresse lautete nun: Musketier Richert, 7. Kompanie,
Infanterieregiment 41, 1. Brigade, 1. Division,
1.Armeekorps Kaiserlich-deutsche Südarmee.
KÄMPFE UND STRAPAZEN lN DEN
KARPATEN
Bei Anbruch der Dunkelheit marschierten wir nun
unter Führung der Feldwebel nach der Front. Am
Tage war jene Strecke nicht zu passieren, da sie im
Feuerbereich der russischen Artillerie lag. Wir erreichten
nun das Dorf Orawa, das aus etwa 20 Hütten
und einer Kirche bestand. Die Kirche war mit
Blech bedeckt, und der Turm hatte die Form einer
Kuppel, Das Kreuz auf der Spitze hatte 3 Querbalken,
wovon der untere schrag stand, das Zeichen der
griechisch-katholischen Religion. Das Dorf lag am
98
Fuße eines etwa 8 km langen, 1200 m hohen Berges,
welcher die Form eines Daches hatte und stellenweise
sehr steil war. Der Berg hief Zwinin. Die Stellung
der Russen lag den Gipfel entlang. Die Deutschen
hatten sich etwa 200 m tief am Abhang, etwa
1000 m über der Talsohle, eingegraben. Gegen Morgen
wurden wir in die Stellung hinaufgeführt. Der
Schnee lag durchschnittlich etwa 70 cm hoch, in den
Mulden und Schluchten war er mehrere Meter hoch
zusammengeweht. Am Tage war der Verkehr am
Bergabhang unmoglich, da die Russen von einigen
vorspringenden Punkten die Abhange mit Gewehrund
MG-Feuer bestreichen konnten.
Nun kamen wir zu unserer Kompanie. Die Mannschaften
bestanden hauptsachlich aus Ostpreußen,
die einen schlecht zu verstehenden Dialekt sprachen,
und einigen Deutschpolen. [Etwa 10 Prozent
der Einwohner Preuliens geh6rten der diskriminierten
nationalen Minderheit der Polen an.] Bei Tagesanbruch
sah ich, daßfast aIle sehr heruntergekommen
waren und sehr schlecht aussahen. Sie erzählten
uns, wie furchtbar sie hier unter der Kälte zu
leiden haben, und es solle ja keiner von uns wagen,
den Kopf über den Schnee zu heben, denn die Russen,
sibirische Scharfschützen, knallen jeden weg,
der sich zeigt. Da sah ich etwa 30 m vor mir einen
Deutschen den Graben verlassen, um sich den Berg
hinunterzubegeben. Oben knallten einige Schüsse.
Der Mann warf die Arme in die Hohe und stürzte in
den Schnee. Er war der erste 'l'ote von unserem
Ersatz, ein starker, übermütiger.Junge, der während
der Bahnfahrt wohl hundertmal den Gassenhauer
gesungen hatte: »Der Storch, der ist ein Schnabeltier,
er bringt die kleinen Kinder. Er ist aber nul' im
Sommer hier. WeI' besorgt denn die Sache im Winter?
« Nun hatte der arme Tropf ausgesungen. Wie
ich dann horte, wollte er tiefer unten am Abhang
dürre Tannenreiser holen, um sich etwas Kaffee zu
kochen.
Die Ostpreuûen erzählten uns dann, daßsie sch
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mehrere Angriffe auf die russische Stellung gemacht
hatten, aber jedesmal mit graßen Verlusten
zurückgeschlagen worden seien. Ihre Toten lagen
noch oben und wurden eingeschneit. Ich hob einen
Moment den Kopf und sah mehrere starre Hande
und Bajonette aus dem Schnee ragen. Auch sah ich
viele Erhohungen im Schnee, worunter die Leichen
der Gefallenen lagen. Das Essen konnte nur des
Nachts geholt werden. Da keine Feldküchehierherkommen
konnte, wurde unten im TaI in kleinen
tragbaren Kesseln gekocht. Bis mm die Essenholer
die 1000 m gestiegen waren, war das Essen erkaltet,
ebenso der Kaffee. Und so bekarn man nul' jeden
dritten Tag etwas Warmes. Wenn die Reihe des Essenholens
an mir war, dann aßich die Portion gleich
unten. Das Kommißbrot war derart gefroren, daß
man kaum mit dem Taschenmesser ein Stück abschneiden
konnte. Ich steckte das abgeschnittene
Stück Brot zwischen Rock und Unterjacke auf die
Brust, um es so auftauen zu lassen. Fast aIle Iitten
infolge der Erkältungen an Leibschmerzen und
Durchfall. Die meisten hatten Blut im Stuhl. Es war
zum Verzweifeln, und nirgends gab es einen Ausweg;
uns drohte entweder der Tod, Verwundung,
Erfrierung von Gliedmaßen oder Gefangenschaft.
Es herrschte eine unglaubliche Mutlosigkeit unter
den Soldaten, und nu r der furchtbare Zwang
machte uns aushalten. Besonders die bitterkalten
Nächte wollten kein Ende nehmen. An Schlaf war
wenig zu denken, denn alles trampelte von einem
Bein aufs andere und schlug mit den Händen um
sich, um sich so etwas zu erwärrnen. Manchmal
schossen die Russen plötzlich mehrere Salven von
oben herab. Da hielten die meisten von uns die
Hände über den Schnee hinaus in der Hoffnung,
einen Handschußzu bekommen und zurück ins Lazarett
zu kommen.
ln besonders kalten Nachten erfroren oft mehreren
Soldaten die Füße, Nasenspitzen und Ohren.
Eines Morgens fand man 2 Horchposten erfroren
100
im Schnee. Eines Tages setzte ein furchtbarer
Schneesturm ein. Der Schnee bestand nicht aus
Flocken, sondern aus hartgefrorenen Nadeln. Der
Graben war bald voIlgeweht, und wir mußten dauernd
mit unseren Spaten den Schnee hinauswerfen.
Die Kälte drang uns durch Mark und Bein, und man
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im Schnee. Eines Tages setzte ein furchtbarer
Schneesturm ein. Der Schnee bestand nicht aus
Flocken, sondern aus hartgefrorenen Nadeln. Der
Graben war bald voIlgeweht, und wir mußten dauernd
mit unseren Spaten den Schnee hinauswerfen.
Die Kälte drang uns durch Mark und Bein, und man
konnte in dem Cestöber keine 30 Schritte weit sehen.
Dies dauerte 2 voile Tage. Der Verkehr nach rückwärts
war ganzlich unterbrochen, und wir bekamen
nun einige. Tage se~r wenig zu essen. Drei Tage
bekamen WIr gar kem Brot, nur steinharten,österreichischen
Zwieback. Dann gab es mehrere Tage
nul' zu 8 Mann ein Kommißbrot von 3 Pfund pro
Tag. Wir litten in jenen Tagen schwer Hunger und
froren noch mehr.
Eines Tages erhielten wir Schmalz, um es aufs
Brot Zll schmieren. Unser Cruppenführer, Unteroffizier
Will, ein roher Ostpreuûe, machte gleich die
Hälfte für sich in eine Blechbüchse. Die andere
!1alfte wollte er an uns 8 Mann verteilen. Da sagte ich
ihrn, so etwas gehe doch nicht, das Schmalz gehare in
9 gleiche Teile verteilt. Ais er mich noch dazu ans~
11I1a~zte,w~rde ich derart base, daß ich ihm gehöng
meme Memung sagte. Vonjener Stunde an schikanierte
mich der Unteroffizier, wo el' nul' konnte.
Da ich gegen ihn machtlos war, verleidete es mir
noch mehr, und ich nahm mir vor, mich selbst zu
verwunden, um von hier wegzukommen. Zu diesem
Zwecke band ich ein kleines Brettchen vor die Hand.
Das Brettchen sollte die Pulverkorner und den Pulverschleim
auffangen, damit der Arzt beim Verbinden
nicht sehen sollte, dan der Schuf aus nachster
Nähe abgegeben worden war. ln einem geeigneten
Moment wollte ich die Tat ausführen. Ich lehnte das
geladene Gewehr an mein Knie, hielt die Hand mit
dem davorgebundenen Brettchen etwa 20cm vor
den Lauf, falite mit dem rechten Daumen den Abzug,
bif die Zähne zusammen und — schoßdoch
nicht, da mir im letzten Moment der Mut fehlte.
Wir wurden aile von den Läusen sehr gequalt, und
101
der Kuckuck wuHte nicht, wo sie aIle hergekommcn
waren. Da es bei der Kälte unmöglich war, sichauszuziehen,
konnten die Lause ungeniert in den Kleidern
nisten und brütcn. Wenn ich vorne an der
Brust bis unter den Arm kratzte, hingen mindestens
vier an der Hand , wenn ich dieselbe herauszog.
Die Kompanie wurdejeden Tag schwachcr, da es
oft Verwundete und viele Schwerkranke gab. Da
bekamen wir eines Nachts ein Bataillon des 43. Regiments
als Verstarkung. Am Morgen kam der Befehl
zum Angreifen. Ich dachte: Unsere Führer sind verrückt,
Angreifen mit uns halbtoten, entkräfteten
Soldaten! Morgens um 10 Uhr ging's los, zum Graben
hinaus. Vorher muliten wir mit dem Spaten
Ausfallstaffeln [provisorisehe Graben, aus denen
heraus der Sturmangriff erfolgte] machen. Kaum
waren wir drauûen, als es von oben schon zu knallen
anfing. ln dem hohen Sehnee konnte man sehr
schlecht vorwärtskommen. Gleieh stürzten einige
getroffen in den Sehnee. Leiehtverwundete machten
kehrt und liefen in den Graben zurück. Dann,
wie auf ein Kommando, liefen alle zurück in den
Graben. Die Toten und Sehwerverwundeten blieben
liegen, und versehiedene jammerten bis gegen
Abend, bis sie starben.
ln der folgenden Nacht wurden wir endlieh abgelöst
und kamen hinunter in das Dorf Orawa. Wir
waren 16 Tage oh ne Ablüsung oben gewesen. Wie
froh waren wir, uns wieder mal in einer warmen
Stube, auf einem trockenen Boden und zum Sehlafe
ausstrecken zu können! Am folgenden Tage bekamen
wir unsere Löhnung. Wir bekamen für jeden
Tag l Mark Zulage, also l,53 Mark pro Tag. Nach
3 Tagen Ruhe ging's wieder in Stellung, nach 3 Tagen
Stellung wieder 3 Tage in Ruhe und so weiter.
Da, eines 'Lages, gab es plötzlich Tauwetter, ein lauer
Wind strich über die Berge. Der Schnee fing an zu
schrnelzen, und es gab einen unglaubliehen Dreck in
den Cräben. Wir muliten den Graben tiefer machen,
denn je mehr der Schnee schmolz, um so niedriger
102
wurde er. Mit der Schneeschmelze kamen auch die
Gefallenen zwischen den Stellungen zum Vorschein,
und es waren viele, die in allen moglichen Stellungen
herumlagen.
9. APRIL 1915 – DIE EROBERUNG DES
BERGES ZWININ
Am Morgen begaben wir uns vor Tagesanbruch wieder
in Stellung. [... ] Vor dem Aufstieg wurde uns
nicht gesagt, daßwir angreifen sollten, doch wir
ahnten es. Oben angelangt, mubten wir gleich Ausfallstaffeln
graben. Punkt 8 ging's los. "Der Berg
muf um jeden Preis genornmen werden l- lautete
der Befehl. Kaum waren wir zum Graben hinaus, als
oben schon die Russen auftauchten und uns mit
Schnellfeuer ernpfingen. Trotzdem lief und kletterte
alles nach oben. lm Laufen schossen wir unsere
Gewehre nach den sichtbaren Kopfen der Russen
ab. Dadurch wurden sie beunruhigt und zielten
nicht mehr so genau. leh duckte mieh einen Moment
hinter einen Erdhügel. Zur Seite schauend sah ich,
daßdie Deutschen die ganze Lange des Berges angriffen.
Stellenweise hatten sie bereits den Gipfel
erreicht. Es war ein derartiges Geschrei und GeschieHe,
daf man weder die Kommandos noch sonst
etwas unterseheiden konnte. Plötzlich fing ein russisehes
MG an, uns in die Flanke zu schiel3en. Sehr
viele wurden getroffen und stürzten zwischen die
Toten, die bei früheren Angriffen gefallen waren.
An besonders steilen Stellen kollerten die Getroffenen
eine Strecke weit den Berg hinab. Endlich kamen
wir atemlos vor der russischen Stellung an. Einzelne
Russen woJlten sich noch wehrcn und wurden
mit den Bajonetten niedergestochen. Die anderen
hielten ängstlich die Hände in die Höhc oder flohen
rückwarts den Berg hinunter. Die russische Stellung
war nicht stark besetzt gewesen, denn vicie Russen
103
waren in den Unterstanden, die sich am Abhang
hinter ihrer Stellung befanden, mit dem Kochen
ihres Frühstücks beschaftigt gewesen. Wir gingen
nun bis an den Rand des Berges vor und sahen, daf
den Abhang hinunter alles von Russen wimmelte,
die abwärts flohen. Sie wurden nun massenweise
niedergeschossen. Da der Nordabhang des Berges
ganz kahl war, fanden sie nirgends Deckung. Dieses
Morden war schrecklich anzusehen. Nul' wenigeerreichten
lebend den Fuf des Berges. Manche rollten
300 bis 400 m tief den Berg hinab. An verschiedenen
Stellen lag noch eine Menge Schnee, der vom Winde
zusammengeweht worden war. Die Russen sanken
darin ein bis zum Leib und wurden am schnellen
Fortkommen gehindert, so daßfast aile totgeschossen
und verwundet wurden.
Nun fingen wir an, die Unterstände nach Lebensmitteln
abzusuchen. Ich schob ein Zelt zur Seite, das
vor dem Eingang eines Unterstandes hing, und ging
hinein, prallte aber gleich zurück, denn darin standen
8 Russen, die nicht den Mut hatten zu fliehen.
Sie hielten gleich die Hände hoch. Zwei von ihnen
woIlten mir ihr Geld geben, damit ich ihnen nichts
tue. ln Wirklichkeit war ich froh, daßsie mir nichts
taten. Ich gab ihnen zu verstehen, daßsie hinausgehen
soIlten. Sie wurden von anderen Soldaten in
Empfang genommen und auf den Gipfel des Berges
geführt, wo schon einige hundert Gefangene beisam
men waren. Ich war wahrscheinlich in den Lebensmittelunterstand
einer russischen Kompanie
geraten, denn darin lag ein machtiges Stück Rindfleisch,
eine Seite geraucherter Speck, mehrere Ballen
Butter und eine Menge Zuckerbrötchen in runden
Rollen. Schnell steckte ich Brotbeutel und aIle
Taschen voll Brötchen, schnitt mit meinemTaschenmesser
die Speckseite entzwei und schnaIlte
ein mächtiges Stück unter meinen Tornisterdeckel,
so daßauf beiden Seiten die Enden heraussahen.
Dann schnallte ich mein Kochgeschirr los und
stopfte dasselbe voll Butter. Zum Schluf nahm ich
104
noch einige Handvoll Zucker aus einem Sack und
füllte damitjedes leere Plätzchen in meinen Taschen
aus. Inzwischen waren noch andere Soldaten in den
Unterstand gekommen, und in wenigen Minuten
war er ausgeräumt. Viele Soldaten hatten nur Brot
und sons tige Kleinigkeiten gefunden. AIs sie meinen
Speck zu beiden Seiten des Tornisters herausragen
sahen, nahmen mehrere ihre Taschenmesser und
schnitten Stücke davon ab. Bald blieb mir nur das
Stück, das unterm Tornisterdeckel war. Es waren
immer noch 10 Pfund, und ich gab einem guten
Kameraden von mir, [... ] Hubert Weiland, der vor
dem Krieg Theologie studiert hatte, ein schönes
Stück ab, ebenso noch kleinere Stücke mehreren
elsässischen Kameraden.
Nun kam der Befehl, alles solle sich auf dem Gipfel
des Berges sammeln. Die Verwundeten, die inzwischen
verbunden worden waren, Deutsche und
Russen, wurden nun auf Zelte gelegt und von den
gefangenen Russen nach Orawa hinuntergetragen.
Eine Abteilung Russen mußte uns helfen, große Löcher
auszuheben; darin wurden die Gefallenen, die
beim Sturm, sowie die, die schon früher ums Leben
gekommenen waren, begraben. Letztere hatten bereits
ein schreckliches Aussehen. Man mußte seinen
ganzen Mut zusammennehmen, um sie herbeitragen
zu helfen.
Wir blieben nun in der russischen Stellung. ln der
Nacht setzte wieder heftiges Schneegestöber ein,
und am Morgen waren Berge, Schluchten und Wälder
wieder in eine weiße Decke gehüllt. Vor uns
befanden sich zwei Berge in Form von Häusern, mit
der Schmalseite gegen uns. Durch die dazwischen
liegende Schlucht sah man in einem Tälchen wieder
einige der armseligen Hütten stehen und im Hintergrund
noch 3 bis 4 Berggipfel, einer höher aIs der
andere. Es wurden nun Patrouillen auf die uns gegenüber
liegenden Berge geschickt, um festzustellen,
ob dieselben von den Russen geraumt seien.
Bald winkten sie von drüben zum Zeichen, daß die
105
Russen weg waren.Wir kletterten nun den Nordabhang
des Zwinin hinunter; wo man hinschaute, lagen
tote Russen. Eingeschneit am Fu Be einer Mulde,
lagen etwa 12 Stück übereinander, die die steile
Mulde hinuntergerollt waren. lm Bach am Fuße des
Berges lagen eine Menge tot im Wasser, mehrere
lehnten noch am Rand. Es war ein trauriges Bild. Die
Russen waren gegen die Kälte viel besser ausgerüstet
als wir. Sie trugen dicke wollene Mäntel mit Kapuze,
auf dem Kopf hohe Pelzmützen, ihre Füfie staken
meist in Filzstiefeln, und ihre Hosen und Westen
waren mit Watte gefüttert.
Wir gingen nun in der Schlucht zwischen den beiden
Bergen vor und warteten die Nacht ab. Bei
Anbruch der Dunkelheit bestiegen wir den rechts
liegenden Berg und hoben in halber Hohe einen
Schützengraben aus. Es war eine kalte Nacht. Ein
Kamerad von mir namens Brüning aus Mühlhausen,
Familienvater, dem es auch sehr verleidet war,
verlangte von mir, ich solle ihm mit dem Kopf meines
Beiles eine Kugel in die Hand schlagen. Er wollte
die Hand auf einen Baumstumpf legen. lch sagte
ihm, daß ich es nicht fertigbrachte. Am Morgen, als
die Sonne aufstieg und wir weit und breit nichts von
den Russen sahen, setzten wir uns hinter den Graben
auf die Tornister, und jeder aû, was er hatte. Plotzlich
ein Sausen durch die Luft und im gleichen Moment
ein furchtbarer Krach. Erde, Schnee, Rauch,
alles wirbelte durcheinander. Eine große russische
Granate hatte kaum 5 m vor unserem Graben eingeschlagen.
Schnell sprangen wir alle in den Graben.
Schon kam die zweite. Sie schlug unter einem MG
ein und schleuderte es hoch in die Luft. Zwei Mann
wurden getatet. Die dritte Granate explodierte dicht
hinter dem Graben, die vierte mitten darin, etwa 7 m
neben mir. Nun war es mir zu bunt. lch sprang aus
dem Graben und lief am Abhang entlang in ein
niedriges Cehölz, das hauptsächlich aus Haselstauden
bestand. Bald war niemand mehr im Graben aIs
die Getroffenen. Nach einer Weile hörte das Schie-
106
Ben auf. Wir gingen nun vorsichtig in den Graben
zurück, um nach den Verwundeten zu sehen. Bald
brachten 2 Mann den Brüning; bleich wie der Tod
wankte er daher, streckte die Arme von sich und
rang nach Atem. Verletzungen konnte man keine an
ihm sehen. Plotzlich schof ihm Blut aus dem Mund
und aus der Nase. Er stürzte hin, und nach einigen
Zuckungen war cr tot. Durch den Luftdruck der
neben ihm platzenden Granate war ihm die Lunge
geplatzt. Sieben Tote lagen noch im Graben, mehrere
bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Wir legten aile
in eines der groHen Granatl6cher und deckten sie
mit Erde zu. Dann befestigten wir mit Weiden zwei
Stäbe in Form eines Kreuzes und steckten dasselbe
auf das Grab.
[… ] ln der dritten Nacht verlieBen wir den Berg,
überschritten ein schmales 'TaI und gruben uns jenseits
des Tales ein. Die Russen lagen uns gegenüber
auf einem langgestreckten Berg, der höher war aIs
der unsrige. Am Tage mußten wir standig sitzen
oder liegen, da die Russen von oben in unseren
Graben hineinschießen konnten. Der Abhang vor
uns war mit mannshohem Gebüsch bedeckt. Eines
Abends beim Dunkelwerden stand ich Posten, paßte
aber nicht auf und plauderte mit den Kameraden.
Plotzlich stand ein Russe vor uns auf dem Grabenrand,
das Gewehr in der Hand. lch glaubte, es kamen
noch viele, und schlug mein Gewehr gegen ihn
an. Da hielt er die Hände in die Höhe und sprang in
den Graben zu uns. Es war ein Überläufer, der wohl
schon genug hatte am Krieg. Wir gaben ihm Zigaretten.
Wie glücklich der Mensch war, mm sein Leben
in Sicherheit gebracht zu haben! [… ]
Am 2. Mai horten wir ganz in der Ferne das
dumpfe Grollen der Geschütze. Es war der Durchbruch
der deutschen Armee durch die russische
Stellung bei Corlice-Tarnow. Am 4. Mai hatte ich
Geburtstag, ich war nun 22 Jahre aIt. Nachmittags
fing der Russe mit Schrapnells unseren Graben zu
beschießen an. Wir hatten Bretter über den Graben
107
gelegt und oben mit Erde bedeckt, um uns gegen die
Schrapnells LU schützen. Wir standen zu 5 Mann
darunter. Plötzlich ein Sausen, ein Blitz, ein Knall,
ich erhielt einen Schlag auf den Kopf und war besinn
ungslos. Ais ich wieder zu mir karn, drehte sich :llles
im Kreise. Ich lag halb mit Bretterstücken und Erde
zugedeckt im Graben. Aufdem Kopfe hatte ich eine
mach tige Beule, und im Gesicht untel' dem reehten
Auge hatte ich die Haut abgeschürft. Einer der vier
Kameraden Iag tot im Graben. Ein anderer lehnte
sitzend an der Grabenwand, hing den Kopf vornüber
und stöhnte leise. Beim Zusehen bernerkte ieh,
daI:\ el' ein Sprengstück in den Rücken erhalten
hatte. Ich schrie nach den Sanitätern, aber niemand
kam, denn jeder duckte sich in irgendeine Ecke im
Graben. AIs ich mich nach einer Weile wieder naeh
ihm umsah, war el' tot. Von den beiden anderen sah
ich keine Spur; wahrscheinlich waren sie weggelaufen.
Später erfuhr ich, daßmein guter Kamerad
Weiland, der eine Brille trug, leicht verwundet worden
war. Die Brillengläser, von Erdschollen zertrümmert,
staken ihm unterhalb der Augen im Gesicht.
Wir bekamen dort sehr wenig Verpflegung, und
da meine Beute vom Zwinin langst aufgezehrt war,
litt ich wie aIle anderen schweren Hunger. Eines
Tages wurden wir etwa 10 Mann ~urück nach d:m
Zwinin geschickt, um von den russischen Unterstanden
Bretter zu holen; damit soIlten wir unserem
Kornpanieführer einen Unterstand bauen. Am Zwinin
angekommen, sahen wir, daJ3 die Russen noch
unbeerdigt umherlagen. Ihre Kopfe waren schwarz
und ganz dick, der ganze Korper überhaupt derart
aufgedunsen, daßdie Uniform prall ausgefüllt war.
Wir suchten nun nach etwas EGbarem. Ich sah
meine Kameraden Brotkrusten, die im Dreck lagen,
auflesen sie im Ouellwasser waschen und essen. Vor
mir lag ~in Rus~ auf dem Rücken, den Ruck.sack
hatte el' noch aufgeschnallt. Ich sah, daßel' emen
Brustschuf erhalten hatte. Ich schnitt nun mit einem
Taschenmesser die Riemen durch, zog den Rucksack
108
unter ihm hervor, scnitt ihn auf und fand ein
Säckchen Zucker und ein großes Stüek Brot. Jedoch
war sein Blut durch den Rueksack und das Brot
gesickert. Aber mein Hunger war ~lerart, daß ich das
mit Blut besudelte Stüek wegschnitt und das andere
ali. Wir suehten dann noch weiter, Emden aber
nichts mehr. Wir nahmen jecler ein Brett und gingen
zurück zu unserer Kompanie. Wie wir clann erfuhren,
sind am Zwinin im ganzen 12000 Mann auf
deutscher Seite gefallen.
BEGINN DER GROSSEN OFFENSIVE
IM MAI 1915
Am 5. Mai 1915 verlieGen wir unsere Stellung und
marschierten in einem kleinen Tale hinter der Front
entlang nach Osten. Dort wimmelte alles von friseh
angekommenen osterreichischen Truppen. Es hieû,
daßdort die russische Front durchbrochen werden
müûte. Die Russen hatten ihre Stellung hier ebenfalls
dern Karnm eines Berges entlang. Uns graute
var dern Angriff, cloch cliesmal hatten wir mehl'
Glück; wir blieben in Reserve. Wir lagen in Deckung
gegen Sieht in einem Tannenwaldchen. A~ 7: Mai
morgens ging der Tanz los. Einige osrerreichische
Gebirgsbatterien beschossen die russische Stellun?
Bald ging die deutsch-osterreichische 1nfante~le
zum Sturm vor. Furchtbar prasselte das Infanterieund
Maschinengewehrfeuer. Dazwischen hörte man
das Krachen cl~r Schrapnells und Granaten. Wir
konnten dern Verlauf des Karnpfes zusehen. Wir
sahen, dafi viele Getroffene hinter den emporkletternden
Deutschen und Osterreichern liegenblieben.
Trorzdern erreichten sie den Gipfel, und bald
wurden groHe Kolonnen russischer Gefangener den
Berg hinabgeführt. Aber der Karnpf dauerte fort,
ein Zeichen, daßauf derjenseitigen Seite des Berges
die Russen noch Widerstand leisteten.
lO9
Nun hießes: »Antreten, vor rùckenl- Wir sam melten
uns am Walclrand; plotzlich schlug eine russische
schwcre Granate rnitten in den Haufen Soldaten
und tötete und vcrwundete über 40 Mann. Vor
Sehrecken liefen wir aile auseinan der. Es kamen
noch mehr Granaten, sie flogen aber aile über uns
hinweg. Wir muûten uns aufs neue sammeln und
kletterten nun den Berg hinauf; zwischen der deutsehen
Stellung und clem Gipfel lagen eine Menge
Toter und Verwundeter von unserer Seite. Die Verwundeten
baten mu Hilfe. Wir muliten aber weiter.
Deutsche Sanitater und Arzte waren mit Hilfe russiseher
Gefangener bemüht, die Verwundeten zu verbinden
und wegzuschaffen.
ln der russischen Stellung lagen eine Menge toter
Russen, die fast aile Stichwunden hatten. Am hinteren
Bergabhang lagen überall zerstreut ebenfalls gefallene
Russen, dazwischen auch einige Deutsche.
An einer Stelle sah ich eine vollstandige russische
Schützenlinie tot liegen. Manche hatten noch den
Spaten in der Hand, um sich einzugraben, andere
lagen da, das Gewehr noch im Anschlag. Sie waren
wahrseheinlich mit einem MG niedergemäht, Die
Russen hatten hinter ihrer Stellung eine richtige
Schweinerei, nirgends sah man eine Latrine. Daher
konnte man kaum passieren, ohne in Menschenkot
zu treten.
Wir erreichten die zu verfolgenden Truppen erst
auf der Höhe des nachsten Berges. Die Russen hatten
dort auch eine starke Reservestellung gebaut,
aber keine Zeit mehr, Widerstand zu leisten. Nun
ging die Verfolgung los. Den ganzen Tag ging's
bergauf, bergab hinter den Russen her. Irnrner wieder
kamen einzeln oder in kleinen Gruppen die Russen
freiwillig zu uns, urn sich zu ergeben. Die hatten
wohl auch übersatt an dem Kriege.
Da es heiû war, loschten wir unseren Durst am
klaren Quellwasser, von dem es eine Menge gab. Mit
dern Essen war es mau, denn jeder harre nur ctwa
1Pfund Konservenfleisch und 1Sackchen Zwieback
110
d. h. die eiserne Portion. Sie darf nur auf Befehl des
Kompanieführers angegriffen werden. Hungrig
verbrachten wir die Nacht oben auf einern Berge.
Bei Tagesanbruch ging es wieder weiter. Vorher
durften wir die halbe Büchse Fleisch essen und
einige Zwieback.
Gegen Mittag wurden etwa :20 Mann, darunter
auch ich, auf den vor uns liegenden Berg geschiekt,
um Umschau zu halten. Kaurn hatten die ersten die
Bergspitze err eicht, ais sie sofort zu schieûen begannen
und uns zuriefen, schnell heraufzukommen.
Von dern Berggipfel sah ich eine tiefe Schlucht unter
uns. Sie wimrnelte von Russen, die sich auf dem
Rückzug befanden. Wir sehossen nun hinunter, was
'lUS den Gewehren ging, und mehrere Russen stürzten
zu Boden. Dann warfen aile die Gewehre weg
und hielten die Hände in die Hohe. Da wir unsere
Schwàche nicht zeigen wollten, blieben wir gedeckt
liegen und erwarteten die Ankunft des Bataillons.
Die Russen muûten sich nun sammeln und wurd en
zurückgeführt. Es waren über 700 Mann. [… ] Das
Cebirge war hier sehr wild und zerrissen. Nirgends
Weg und Steg, noch weniger eine menschliche WohlIung.
Unaufhaltsam ging es weiter. lnfolge des beschwerlichen
Bergauf- und Bergabsteigens und des
Mangels an Lebensmitteln wurden wir sehr müde
und schlapp, aber trotzdern ging es weiter bis zum
Anbruch der Nacht. Nun afien wir den Rest unserer
l.ebensmittel und schliefen im Walde.
Am nächsten Morgen ging es mit hungrigem Magcn
wieder vorwärts; wir kletterten einen Bergabhang
hinab, ais wir plötzlich von dern uns gegenüber
Iicgenden Berge starkes Infanteriefeuer bekarnen.
I,um Glück gab es bei uns mehrere gro[.)e Felsen,
hinter denen wir Deckung fanden. Es war wohl die
russische Naehhut, die den Rückzug ihrer Armee
decken sollte. Balel knallten zahlreiche Schüsse, die
von deutschen Abteilungen karnen, und die Russen
/Ogen sich zurück. Nachdem wir mm den Berg, auf
rlcrn die Russen vorher lagen, erstiegen hatten, er-
111
blickten wir zu unserer angenehmen Überraschung
ein schönes TaI. [… ] ln der Ferne konnte man die
abziehenden Russen mit bloBem Auge sehen. Die
Straße war, so weit man sehen konnte, mit ihren
Kolonnen bedeckt. Wir stiegen nun in das Tai hinunter,
und der Straße folgend, kamen wir bald in das
Städtchen Skole. Da wir durch den Hunger sehr
geplagt waren, ging es auf die Suche nach Lebensmitteln.
Bald wurde eine Quelle entdeckt. Am Stra–
Benrand standen zwei Baracken, die mit russischem
Brot und Lachsfischen angefüllt waren. Sie wurden
nun im Sturm genommen. An den Eingängen gab es
ein unglaubliches Cedränge. Bald sah man überall
Soldaten umhersitzen und -liegen, mit einem Großen
Stück Fisch und einem russischen Brot, tapfer
draufloskauend. Wir verbrachten die nächste Nacht
in Skole. [… ] Beim Weitermarschieren am nächsten
Morgen kamen wir bald zu Hindernissen. Die Russen
hatten am Abhang mach tige Tannen abgesagt
und quer über die Straße geworfen. Sie mußten von
uns weggeraumt werden.
Infolge der ungleichmäfiigen Verpflegung litt ich,
wie viele andere, an starkem Durchfall. Die Disziplin
bei den Ostpreuûen war trotz der Strapazen und des
Elends derart groB, daßman je des mal auf dem Marsche
die Vorgesetzten fragen mulite, um austreten
zu dürfen. lch fragte meinen Zugführer, Unteroffizier
Will, um die Erlaubnis. Da er mich immer noch
haûte, schickte er mich zum Kompanieführer, ich
solle denselben fragen gehen. Dieser aber ritt an der
Spitze des Bataillons. Ich fragte nun nochmalsUnteroffizier
Will um die Erlaubnis. Und da es mir
unrnöglich war, langer zu warren, ging ich aus der
Kolonie, legte Tornister, Gewehr und Koppelzug
auf den Straûenrand und begab mich in das neben
der Straße stehende Cebüsch. ln demselben Moment
hief es für die Kolonne hait, da vorne wieder
Hindernisse auf der Straûe waren. Unser Kornpanieführer,
ein schrecklich grober Mensch, kam nun
von vorne zu seiner Kompanie geritten, und als er
112
meine Sachen am Stralienrand liegen sah, schnarrte
er: »Wern gehoren die Sachen hier?" Ich schrie aus
dem Gebüsch: »Mir, Musketier Richertl– – »Nun
kommen Sie mal her!« schrie er. Ich brachte meine
Kleider in Ordnung, ging hin und stand still vor ihm.
»Haben Sie um die Erlaubnis gefragt, austreten zu
dürfen?« – »Jawohl, den Unteroffizier Will«, gab ich
zur Antwort. –Unteroffizier Will, kommen Sie mal
her l« sagte der Oberleutnant. »Hat dieser Mann Sie
um Erlaubnis gefragt, austreten zu dürfen?« Der
Unteroffizier Will, der hier eine Gelegenheit sah,
mir eins auszuwischen, log nun: »Nein, HerrOberleutnant!
« – "Sie frecher, gemeiner Lürnmel!«
brüllte mich nun der Oberleutnant an. »Ich bestrafe
S~e mit 5 Tagen strengem Arrest wegen Belügens
emes Vorgesetztenl« Ich wollte nun dem Oberleutnant
melden, daf es mindestens 20 Mann geh6rt
haben müssen, ais ich Unteroffizier Will um Erlaubnis
fragte. Kaum tat ich den Mund auf, ais er schon
den Arm mit der Reitpeitsche erhob und schrie:
»Wollen Sie die Schnauze halten!« Ich platzte fast
vor Wut, war aber vollständig machtlos. Das war die
e:ste Strafe, die ich nun in meiner damais bald 2jahngen
Militärdienstzeit erhielt. Ich war mehrere
T~ge derart aufgebracht, daßich nur mit gröûtern
Widerwillen meinen Dienst versah.
Da keine Zeit um Absitzen, auch keine Arrestlokale
vorhanden waren, wurden die Bestraften mit
Stricken irgendwo an einen Baum oder ein Wagenrad
gebunden. Zwei Stunden Angebundensein
loschte jedesmal einen Tag Arrest aus. Aiso soUte ich
10 Stunden angebunden werden [eine damais in
allen europaischen Armeen übliche Militarstrafe].
Eine schöne Aussicht, zurnal wenn ich daran dachte
was ich alles schon für diese Preußen ausstehen und
durchmachen mubte. Einen Großen Trost brachte
mir ein Brief aus der Heimat mit der Mitteilung daf
es meinen Lieben gutgehe, alles gesund sei und sie
trotz der Nähe der Front zu Hause bleiben könnten.
Beim Weitervormarschieren kamen wir zum Ge-
113
birge hinaus und sahen vor uns die weite galizisehe
Ebene. Alles grünte und blühte, und wir waren sehr
froh, endlich das schreckliche Gebirge hinter uns zu
haben. Über die weite Ebene blickend, dachte wohl
jeder, ob er wohl dort irgendwo sein Grab finden
würde. Leider wurde dies für die rneisten der FaU.
Wir passierten mehrere Dörfer, ohne auf Russen zu
stolien. Die Bauart der Hauser war etwas besser als in
den Karpaten. Die Bauern liefen auch hier mit dem
Hemd über der Hose herum, und die Weibsleute
waren auch hier unsauber. Mit verwunderten Blikken
sahen sie uns an, denn wir waren wahl die ersten
Deutschen, die sie zu sehen bekamen. Sprechen
konnten wir mit ihnen kein Won, da sie dort polnisch
sprechen. Einmal ging ich in ein Haus, um Eier
zu kaufen. Ich zeigte der Frau 6 Finger und gackene
wie ein Huhn. [… ] Alles half nichts, sie wollte mich
einfach nicht verstehen. Ais letztes Mittel zeigte ich
mein Portefeuille, aus welchem ich einen Geldsehein
zog. Das half. Die Frau langte einen Korb aus der
Ecke und gab mir 6 Eier. Sie verlangte »1 Kuronna «,
daßheiût 1 öster reichische Krone, die den Wert von
80 Pfennig hatte. Ich gab ihr 1 Mark. Ich bekam
noch 2 Eier mehr, anstelle der 20 Pfennig.
Am folgenden Tage hörten wir links von uns dauernd
Kanonendonner, woraus wir erkannten, daf
die Russen unseren Vormarsch aufhalten wollten.
Machtige Rauchwolken stiegen in die Hohe, Dorfer
brannten. Des Nachts war der Himmel über jener
Gegend blutig rot. Am folgenden Tage ging es wieder
weiter. Wir waren ganz kaputt yom vielen Laufen
und sehnten uns nach einem Ruhetag. Auf einmal
knallten vor uns Schüsse. Eine Kavalleriepatrouille
kam zurückgesprengt mit der Meldung, daf
sie auf kleinere russische Abteilungen gestoHen sei.
Nun schien es bald wieder ernst zu werden. Wir etwa
20 Mann wurden mit einem Leutnant vorgeschickt,
um den vor uns liegenden Wald abzusuchen. Wir
fanden jedoch keinen einzigen Russen. Yom jenseitigen
Waldrand sahen wir ein Dorf. Mehrere Häuser
114
waren mit Ziegeln bedeckt, andere mit Blech und
Schindeln. Am Waldrand entlang zog sich eine
Schlucht von etwa nur 5 m Tiefe. Wir legten uns an
den Rand der Schlucht und beobachteten das Dorf.
Aber nirgends war ein Russe zu sehen. Auf einmal
kam ein Russe in gestrecktem Galopp um eine Biegung
der Schlucht gesprengt. Wir schlugen sofort
die Gewehre auf ihn an. Er warf die Lanze weg, hielt
beide Hande hoch, und ohne die Zügel zu halten,
sprengte er zu uns. Dann schwang er ein Bein über
den Hals des Pferdes, sprang herunter und ergab
sich. Wir muûten aile staunen über diesesReiterkunststück.
Wir deuteten dem Russen, bei uns zu
bleiben, und er schien recht zufrieden damit.
Da kam ein Bauer aus dem Dorfe, der auf dem
Felde arbeiten wollte. Wir riefen: »Panje, Moskali?«
Das hießungefahr: »He rr, sind noch Russen dort?«
Der Mann antwortete auf gut deutsch: »Nein, vor
einer halben Stunde sind die letzten weg.« Er erzählte
uns, daû letzte Nacht das Dorf voller Russen
gewesen sei, und soviel er verstehen konnte, wollten
sie sich in der Gegend verteidigen. Für uns war das
kein angenehmer Bericht. Das Dorf hief Bergersdorf
und war nur von Deutschen bewohnt. Nachdem
der Leutnant einige Mann mit der Meldung
zum Bataillon geschickt hatte, begaben wir uns ins
Dorf, freudig begrüHt von der Einwohnerschaft. Da
wir alle sehr heruntergekommen waren und ein
schlechtes Aussehen hatten, bedauerten uns die
Leute und gaben uns zu essen: Milch, Brot und was
sie sonst hatten. Nach der Ankunft des Bataillons
muûten wir jenseits des Dorfes einen Schützengraben
bauen, mitten durch ein Kartoffel feld. Die Bewohner
des Dorfes schlachteten nun auf Gemeindekosten
ein Schwein, kochten Sauerkraut und Kartoffeln
dazu und brachten uns dieses Essen in den Graben.
Wie das schmeckte! Das war wieder einmal etwas
anderes aIs das ewige Einerlei der Feldküche.
»Morgen ist Ruhetag!- hief es.
Wir schliefen in einer Scheune. Am Morgen
115
brachten uns die beiden Töchter des Hausbesitzers
gekochte Milch. Es waren zwei hübsche, sehr
freundliche Madchen, und ich unterhielt mich tagsüber
oft mit ihnen. Am Nachmittag kam ein Unteroffizier
zu mir und sagte, ich solle in einer halben
Stunde an den im Hofe stehenden Apfelbaum gebunden
werden. Den Strick müsse ich selber besorgen.
Ich hätte vor Wut die ganze Welt zertrümmern
können. Nach etwa einer halben Stunde nahm ich
meinen Gewehrwischstrick [Kettenschnur zum Reinigen
des Gewehrlaufs] aus meinem Tornister und
wollte mich damit bei dem Unteroffizier melden. Da
liefen die Kompaniemelder im Dorfe umher und
riefen: »Sofort alles fertigmachen, es geht weiter!«
Obwohl wir ahnten, daß es nun bald zu einem Zusammenstof
mit den Russen kommen würde, war
ich doch wie erlöst, diesmal noch von der Schande
des Anbindens losgekommen zu sein.
Wir marschierten einige Kilometer durch einen
Wald bis an den jenseitigen Waldrand. Dort übernachteten
wir. ln der Nacht hörten wir vor uns dauernd
Infanteriefeuer. Einzelne Kugeln kamen bis zu
uns geflogen. Es war eine sehr schone, laue Mainacht,
und das Schlafen im Freien war gar nicht so
übel. Gegen Morgen mußten wir vorgehen und kamen
durch ein großes, ganz mit Heidekraut bewachsenes
Celände. Dort hatten österreichische Tru ppen
einen Graben aufgeworfen, den wir nun besetzten.
Bei Tagesanbruch sah ich, daß vor uns in etwa 800 m
Entfernung ein mit jungen Tannen bewachsener
Wald lag, der im Halbkreis die Heide einsaurnte.
Rechts von uns knatterte plotzlich starkes Infanteriefeuer.
Dort war bereits ein Gefecht im Gange. Wir
blieben tagsüber ruhig im Graben liegen. Am Abend
lief der Kornpanieführer die Unteroffiziere zu sich
kommen und sagte ihnen, daßeine Patrouille von
2 Mann – wenn möglich aktive Leute, die bis jetzt
den ganzen Feldzug mitgemacht hatten – nach
vorne gehen müsse, um auszukundschaften, wo sich
die Stellung der Russen befinde. Mein Unteroffizier
116
meldete, daß sich ein solcher Mann in seiner Gruppe
befinde. So wurden ich und ein Badenser namens
Brenneisen vorgeschickt. Wir gingen an den vorne
liegenden Horchposten vorbei, und ich fragte, ob sie
das Losungswort wüHten, nicht daßsie bei unserem
Zurückkommen auf uns schießen. [… ] Wir schlichen
mm vorsichtig weiter, legten uns wieder hin
und lauschten in die Nacht hinaus. So ging es langsam
weiter und weiter. Um die Richtung festzustelien,
lutte ich einen Kompaß mit leuchtender Spitze
bei mir. Brenneisen wollte noch weiter vor, ich
zwang ihn aber, sich ne ben mich ins Heidekraut zu
legen, und sagte: »Mensch, bedenke doch, daß du
cine Mutter hast. Was kannst du hier vorne finden?
1Iöchstens den Tod!« Er antwortete leise: »Aber wir
müssen doch die Meldung bringen, wo die Russen
licgen!« – »LaS mieh nur machen. Für eine Meldung
werde ich schon sorgen.« Dann blieben wir ruhig
licgen. Plotzlich hörten wir links von uns das Heidehaut
rascheln und gleich darauf ein leises Flüstern.
Wir brachten leise unsere Gewehre in Anschlag, und
irh raunte Brenneisen ins Ohr, wenn möglich nieht
1.\1 schießen. Da tauchten 8 Russen neben uns auf.
Vorsichtig spahend gingen sie kaum 20 Schritt vor
IIIIS vorüber, sahen uns aber nicht. Wir hielten den
Atem an, aber das Herzklopfen konnten wir nicht
Iwschwichtigen. Ruhig liegenbleibend lauschten wir
ill die Naeht hinaus. Da hörten wir deutlieh in dem
Walde Klopfen, dann den Sehall von Àxten. Es war
111111 kein Zweifel mehr, die Russen bauten am Waldr.
md vor ihrer Stellung ein Drahthindernis. [… ]
Vorsichtig gingen wir nach etwa 2 Stunden zurüc.
k. Bald schallte uns das »Haltl Wer da?« der
Ilorehposten entgegen. Wir sagten >,Helene« und
konnten passieren. lm Graben angekommen, gingCI!
wir gleich zum Kompanieführer, der in einer
Vcke lag und schlief. Ich weckte ihn und meldete:
..Patrouille zurück l- Er stand auf und fragte: »Nun,
W;IS gibt's Neues vorne?« Ich erzählte ihm nun: »Wir
srhlichen bis an den vor uns liegenden Waldrand
117
var. Wir stießen beinahe mit einer 8 Mann starken
russischen Patrouille zusamrnen, die uns aber nicht
bemerkte. Wir legten uns hin und hor ten, wie die
Russen Baume fällten, Pfahle spitzten und in den
Boden schlugen. Auch hörten wir Drahtrollen knirschen,
zum Zeiehen, daßdie Russen vor ihrer Stellung
ein Drahthindernis bauten. Wir schliehen 50
nahe an die Russen heran, daß wir sie gut sprechen
hörten. lm Zurüekgehen schritt ich die Entfernung
ab, welche von unserer Stellung bis an den Waldrand
ungefahr 800 m betragt.« Mit dem letzten Teil der
Meldung belog ich den Kompanieführer in der
Hoffnung, daßer mir die 5 Tage Arrest schenke. AIs
ich gemeldet hatte, klopfte er uns beiden auf die
Sehultern und sagte: »Sie haben die Patrouille
schneidig ausgeführt. lch bin mit Ihnen sehr zufrieden.
Wie heißen Siei'. Wir nannten unsere Narnen.
»Richert? Riehert? Sind Sie nicht der Mann, den ich
mit 5 Tagen strengem Arrest bestrafte '– – »[awohl,
Herr Oberleutnant«, gab ich zur Antwort, »So «,
sagte er, »für die schneidige Ausführung der Patrouille
ist Ihnen die Strafe geschenkt. Andernfalls
hatten Sie das Eiserne Kreuz erhaltenl– Ich hatte
erreieht, was ieh wollte, und mit dem Angebundenwerden
war's vorbei. Der Oberleutnant ließgleich in
der Nacht die Gruppenführer zu sich kommen und
gab ihnen den Befehl, sämtlichen Soldaten der
Kompanie bekanntzugeben, mit welcher Bravour
ich und Brenneisen die Patrouille ausgeführt hatten.
Von jener Naeht an konnte mieh der Oberleutnant
gut leiden. Sonst war er ein ganz gefahrlicher, grober
Mensch und in der Kompanie sehr gefürchtet.
Einmal sah ieh, wie er einem Soldaten, einem älteren
Mann, ins Gesieht schlug, daßer aus der Nase blutete.
Ein anderes Mal hörte ich, wie er Verwundete,
die vor Schmerzen jammerten, » Kindskopfe« und
»feige Memmen« schimpfte.
Gegen Morgen verlielien wir den Graben, gingen
nach rechts über die Heide dem Walde zu. Gleich am
Waldrand befand sich ein Forsthaus, bestehend aus
118
Wohnhaus und Stallung. Bei dem Haus und in dessen
Nähe lagen viele deutsche Soldaten, die tags
zuvor bei einem Zusammenstoû mit den Russen gefallen
waren. Wir blieben den ganzen Tag im Walde
liegen. Eine 6 Mann starke russische Patrouille lief
aufuns zu und muhte sich gefangen geben. Es waren
starke Kerle, wahrscheinlich aus Südostsibirien,
denn sie waren gelbbraun im Gesicht, hatten etwas
schiefliegende Augen und hervorstehende Backenknochen
(mongolische Rasse).
26.MA11915
Dm Mitternacht kam der Befehl, leise im Walde
vorzurücken, bis wir Feuer kriegten. Dann hinlegen
und eingraben. Die Nacht war dunkel, und manchmal
stießman an Baume. AIs wir 50 etwa 300 m
zurückgelegt hatten, blitzte es kurz VOl' uns auf, und
es knallten uns Schüsse entgegen. Wir legten uns
hin, bildeten so ungefahr Linien und gruben uns
ein. Es war keine leichte Arbeit bei der stockfinsteren
Nacht, in dem mit Wurzeln durchzogenen Boden.
Schlieûlich brachte ich ein Loch zustande, legte mich
hinein und schlief. Es war immer ein unangenehmes
Gefühl, so in einem grabahnlichen, kühlen Loch zu
liegen, besonders da man immer den Tod zu erwarten
hatte.
AIs ich erwachte, war es bereits heller Tag. Da kam
ein Befehl, der mich immer mit Grauen erfüllte:
»Fertigmachen, Seitengewehr aufpflanzen, vorwärts!
« [... ] Mit Hangen und Bangen ging's nun
vorwärts, Vorsichtig spähten wir nach vorne, konnten
aber nichts entdecken. Da kamen wir an Draht,
der nur von Baum zu Baum gezogen war. Wir korinten
leicht hinüberkommen. Der Wald bestand hier
hauptsächlich aus Großen Buchen und Eichen, der
Boden war mit niedrigem Brombeergebüsch bedeckt.
Sosehr ich au ch nach vorne spähte, ich konnte
119
von einer russischen Stellung nichts sehen. Plotzlich
krachte kaum 50 m vor uns eine Salve. Maschinengewehre
rasselten, kurz, es war ein ununterbrochenes
Knallen. Die Wirkung dieses Feuers war infolge der
kurzen Entfernung furchtbar. Gleich die erste Salve
streckte etwa die Hälfe von uns tot oder verwundet
zu Boden. Die Unversehrten warfen sich ebenfalls
hin, und jeder suchte sich sa schnell wie moglich
einzugraben. Aber viele wurden bei dieser Arbeit
getroffen. Dann lag fast alles still, und die Russen
hörten so ziemlich auf mit SchieI3en. Das Jammern
und Stöhnen der armen Verwundeten war schrecklich
anzuhören. Ich hatte mich ebenfalls bei der ersten
Salve sofort zu Boden geworfen und war hinter
den machtigen Stamm einer Eiche gekrochen. Ein
Badenser, der etwa 3 m seitwärts von mir lag, bekam
einen Schußschräg durch die linke Wange. Er kroch
zu mir hinter die Eiche, stand auf, nahm den Taschenspiegel
und besah sich seine Wunde. »Es ist
nicht schlimrn«, sagte er zu mir, »ein Heimatschuû.«
So nannten wir die leichten Verwundungen. Auf
einmal blickte er starr vor sich, warf die Hände in die
Höhe, wankte. Das Blut schoßihm zu Mund und
Nase hinaus, und er stürzte auf den Rücken quer
über mich, mich mit seinem Blut ganz bespritzend.
Ich rollte ihn von mir hinunter; ob er noch einen
Schußerhalten hatte oder infolge der Verwundung
im Gesicht gefallen war, konnte ich nicht feststellen,
da ich mich fast nicht zu rühren wagte. Es fiel mir
auf, daßmehrere Kugeln von der Seite knapp über
mich zischten. Ich hob ein wenig den Kopf und sah,
daß die russische Stellung schräg lief. Ich konnte
nun feststellen, wie raffiniert sie gebaut war. Der
Graben war mit Brettern bedeckt, darauf lag Erde,
die wieder mit Laub überstreut war. Auch hatten die
Russen Straucher daraufgesteckt, um so die SteUung
fast ganz unsichtbar zu machen. Ihre Schießscharten
waren nur kleine, runde Löcher knapp über dem
Waldboden. Nun durchschlug eine Kugel meinen
Tornisterdeckel und ging quer durch meinen Wäschebeutel
120
Wäschebeutel.
Ich dachte, mm jeden Augenblick von
einer Kugel durchbohrt zu werden, und rief mehr
Heilige an, als im Himmel sind. Ich sah, daßich
hinter der Eiche nicht mehr liegenbleiben konnte,
zog den Tornister vom Rücken, erhob ein wenig den
Kopf und sah etwa 3 m rechts von mir eine kleine,
etwa 20 cm tiefe Vertiefung, ungefahr in der Lange
cines Mannes. Ich kroch, platt auf die Erde gedrückt,
ganz langsam nach der Vertiefung, vorsichtig
das Rütteln des niedrigen Brornbeergestrauches
vermeidend. Meinen Tornister zog ich am Riemen
nach. ln der Vertiefung befand sich nasses, faules
l.aub und Schlamm. Ich legte mich nun auf die Seite
und scharrte es mit den Handen aus dem Loch nach
vorne, nahm dann meinen Spaten heraus und grub
Illich im Liegen tiefer ein. Durch die hinausgewor-
Iene Erde wurden die Brornbeersträucher ins Rüt-
1 cln gebracht, und schon zischten Kugeln knapp
über mich hinweg. Bald war ich so tief, daßich vollst.
indig gedeckt war. Ich lag nun ruhig im feuchten
Loche. Von der rechten Seite streckte ein Toter
se-ine Beine bis ans Loch. [… ] Links etwas hinter mir
w.ilzte sich ein Pole vor Schmerzen hin und her,
srhreckliche J ammertone ausstoûend. Er hatte bei
der ersten Salve einen Bauchschuf erhalten. Dann,
.rls er sich am Boden vor Schmerz krürnrnte, schlug
ihm ein Querschlager 4 Finger der rechten Hand
wcg, eine weitere Kugel zerplitterte ihm das Kinn. Es
war fürchterlich, 50 etwas mit anzusehen. Trotz der
Iurchtbaren Verwundungenjammerte und stöhnte
der bedauernswerte Mensch bis ungefähr 3 Uhr
nachmittags, bis er durch den Tod von seinen
Schmerzen erlöst wurde. Ein Leichtverwundeter
karn von hinten nach vorne gekrochen; ich dachte,
cler Mensch sei verrückt. Da sah ich, daßer seinen
1 ornister holen woUte, den er nach seiner Verwundung
vor dem Zurückkriechen abgehängt hatte. ln
<fun Moment, ais er nach dem Tornister griff, traf
ihn eine Kugel in die Stirn. Er sackte hin und rührte
sich nicht mehr.
121
Ich lag nun den ganzen 'l'ag im Loche, ganz aUein.
Ich wußte nicht, lcben noeh welche oder niemand
mehr. Es war sehr unheimlich, denn ich fürehtete,
die Russen kärnen und körmten mieh in rneinem
Loche niederstechen. Zurn Glüek blieben sie jedoch
im Graben. Ich bekarn nun sehr star ken Hunger,
nahm meine eiserne Portion und aßsie ganz auf. Ich
dachte, beim Dunkelwerden zurückzukriechen und
einem Toten die eiserne Portion aus dem Tornister
zu nehmen. Ich meinte, dieser Tag kormte kein
Encle mehr nehmen. Gegen Abend horte ich eine
Stimme halblaut rufen: »Hopp, hopp, ist clenn niemand
mehr da P. Die Stimme karn kaum 3 m rechts
von mir. Ich gab leise zur Antwort: »Doch, ich bin
hier, der Richert.« Wir fingen nun an, im Knien
einen kleinen Graben zu unserer Verbindung zu
graben, und in einer Stunde waren wir beisammen.
Es war mir viel wohler, wieder bei einem Mensehen
sein zu können. Nach und nach machten sieh noeh
andere bemerkbar, und alle traehteten danach,
dureh Auswerfen von kleinen Graben die Verbindung
gegenseitig herzustellen.
Da keine Vorgesetzten zu hören und zu sehen
waren, nahm ich mir vor, bei Anbrueh der Dunkelheit
nach hinten zu verduften. AIs ich mich eben
anschickte auszukneifen, raschelte es hinter uns im
trockenen Laub. Wir bekamen das Infanterieregiment
222 zur Verstärkung. So leise wie moglich gruben
wir die kleinen Graben tiefer. Doeh rnuûten wir
uns oft ducken, da die Russen uns arbeiten horten
und lu stig drauflosknallten. Endlieh war der Graben
fertig. Ieh machte mir nun mit Hilfe von dürren
Asten, die ich zerbraeh, in den nach vorne aufgeworfenen
Erdhaufen eine Schieûscharte, um 50, werm
ctwas vorkommen sollte, gedeckt schießen zu können.
Von meiner Gruppe, die aus 8 Mann und einem
Unteroffizier bestand, waren nur Petersen und Niederfellmann,
2 Westfälinger, die erst kürzlich zum
Regiment gekommen waren, und ich übriggeblieben
122
Die Hälfte mui.\te nun wach bleiben und Posten
stehen. Die andere Hälfte, darunter auch ich, saß
oder lag im feuchten, kalten Graben und schlief.
Plötzlich ging eine Schießerei los, und es hien: »Die
Russen komrnen l- Ich sprang schnell auf, schob
mein Cewehr durch die Schießscharte und knallte,
ohne etwas zu sehen, in das Dunkel hinaus. Auch die
Russen, die wahrscheinlich glaubten, daßwir angreifen
wollten, schossen, was aus den Gewehren hinausging.
Auch warfen sie Handgranaten, die kurz vor
unserem Graben mit Iautern Krach zersprangen. Petersen,
der keine Schießscharte gemacht hatte, schof
nun über den Erdhaufen hinweg, Auf einmal sah
ich, daßer nicht mehr neben mir stand. Mich umdrehend,
sah ich seine Gestalt im Graben kauern. Ieh
schrie: »Petersen, Mensch, schief cloch!" Und
knallte weiter. Da Petersen sich nicht erhob, glaubte
ich, er habe wegen der über uns zischenden Kugeln
Angst zu schießen. Ich stießihn mit der Hancl an den
Kopf, ihn nochrnals aufforclernd, zu schießen. Zu
meinem Schrecken blieb meine Hand an seinem blutenden
Kopf kleben. Ich griff in meine Tasche und
holte meine Taschenlampe hervor. Petersen saf zusammengesunken
tot im Graben; eine Kugel hatte
ihm die Stirne durchbort, und das Blut lief ihm über
Gesicht und Brust hinab. AIs die Schieûerei nach
einer Weile aufhörte, hoben ich und Niederfellmann
den toten Petersen zum Graben hinaus und
legten ihn hinter dem Graben auf den Waldboden.
Da die Nacht nun ruhig verlief, setzte ich mich auf
den Grabenboden, um zu schlafen. Niederfellmann
sagte: »Ich lege mich hinter dem Graben auf den
Waldboden. Ich habe Deckung genug durch den
aufgeworfenen Erdwall.« Dann zündete er seine
Pfeife an und legte sich neben den toten Petersen.
Bei Tagesanbruch lag Niederfellmann anscheinend
noch schlafend mit cler Pfeife im Munde da. Ieh
wollte ihn wecken und sagte, er solle dochjetzt in den
Graben kommen, vielleicht könnte el' doch von den
Russen gesehen werden. Trotz meines Rufens und
123
Rüttelns rührte er sich nicht. Beim näheren Zusehen
stellte ich Fest, daf er tot war. Eine Kugel, die die
Spitze des Erdwalles durchschlagen hatte, hatte ihn
von der Seite ins Herz getroffen. Ohne den geringsten
Schmerz zu spüren, war er im Schlafe gestorben.
Er hatte nun alles Elend hinter sich, und ich
beneidete ihn beinahe. Von meiner Gruppe war ich
nun alleine übriggeblieben. Infolge der eben erlebten
schrecklichen Ereignisse war ich sehr niedergeschlagen.
27. MAI 1915
AIs es hell wurde, sahen wir VOl' der russischen Stellung
eine grone Tafel stehen. Darauf stand auf
deutsch geschrieben: »Ihr dummen deutschen
Schweine, Italien gehtnun auch mit uns!« Es war der
Tag nach dem Eintritt Italiens in den Krieg. Da es
nachmittags sehr hein war und keiner nichts Trinkbares
bei sich hatte, litten wir sehr Durst. Da sah ich,
dan die Soldaten rechts von uns jeder einen Becher
Wasser bekamen. Sie sagten, dan etwa 100 m rechts
eine Mulde bis an unseren Graben heranreiche,
darin konne man gedeckt zurück und im Brunnen
beim Forsthaus Wasser holen. Ich nahm nun mehrere
Kochgeschirre mit. VOl' der Stallung des Forsthauses
lag eine ganze Reihe Schwerverwundeter, die
den heiben Sonnenstrahlen ausgesetzt dalagen. Die
armen Menschen dauerten mich sehr. Sanitäter wal'en
damit beschaftigt, sie auf Tragbahren einzeln
wegzutragen. Da hörte ich leise, mit schwacher
Stimme, meinen Namen rufen. Ich schaute mich um
und erkannte den Unteroffizier Will, meinen frühel'en
Feind, durch dessen Schuld ich unschuldig
5 Tage Arrest bekommen hatte. »Richert, geben Sie
mir um Gottes willen etwas Wasser!« stöhnte er. Ich
ging zum Brunnen. [… ] Das Wasser war sehr unappetitlich
und hatte einen fauligen Geschmack.
124
Wahrscheinlich hatten die Russen ihre Kochgeschirre
dort gespült und das Wasser wieder in den
Brunnen geleert. Ich ging nun zu Will, kniete neben
ihm nieder, hob mit der Hand sein en Kopfund gab
ihm zu trinken. Er trank mindestens einen Liter
dieses schlechten Wassers. Ich sah nun, daß el' einen
Brustschuf erhalten hatte. »Danke, Richertl- sagte
el' dann matt, und ich legte seinen Kopf wieder zurecht.
Ich brachte es nicht fertig, auch nur ein Wort
mit ihm zu reden. Ich füllte nun meine Kochgeschirre
und ging durch die Mulde gedeckt wieder in
den Graben. Alle wollten Wasser haben. Ich gab aber
nur den Soldaten, die links und rechts von mir den
Graben besetzt hielten.
Am folgenden Morgen kam der Befehl, alles, was
zurn Regiment 41 gehüre, solle sich durch die Mulde
zurückziehen und sich beim Forsthaus sammeln.
Wir verlieBen nun den Graben und die im Wald
umherliegenden toten Karneraden, die noch nicht
Iwerdigt waren. Wir sammelten uns, die Kompanie
w.ir noch 30 Mann stark, 126 waren geblieben. Wir
niarschierten etwa 2 km zurück und karnen nach
«iuern kleinen Dorf, wo die Feldküche auf uns waru-
t e. Der russische Kavallerist, den wir bei Bergersdorf
gefangen hatten und der bei der Feldküche
mithelfen mußte, konnte sich ein höhnisches Li-
.hcln nicht verwehren, als er unsere zusammengeschmolzene
Kompanie sah. Wir bekamen nun zu
('sscn, und es hien, heute sei Ruhetag. Nach dem
l'.sscn war Lühnungsappell. Es war se hl' traurig dalni;
der Feldwebel verlas manchmal6 bis 10 Namen,
worauf sich niemand meldete. Wir Übriggebliebe-
11('11 meldeten dem Feldwebel, was wir von dem
Schicksal der Zurückgebliebenen wuûten: tot oder
vr-rwundet. Diejenigen, von denen keiner Bescheid
wu lite, wurden als vermilit eingetragen. Von 30 Ta-
~~('JI bekam ich 46 Mark und noch 20 Mark Beuteg('
ld von den früher eroberten russischen Kanonen
und Maschinengewehren.
lch mach te es mir bequem, zog Stiefel und
125
Strümpfe aus, wusch Fübe, Arme und Kopf, boite
eine Welle Stroh aus einer Scheunc und legte mich
an die Sonne. Ich konntejedoch nicht whig licgenbleiben,
denn die Lause qualten und bissen mich
schrecklich. lch zog nun das Hemel aus, und die Jag-d
begann. Es waren zweierlei Lause: großerc und ganz
winzig kleine, die nur wie ein rotes Pünktchen aussahen;
jene waren die gefahrlichsten. Dann legte ich
mich wieder hin und schlief ein. Gegen Abend kam
der Befehl: »Sofort fertigmachen, antreten!« Mit
der Ruhe war es nun vorbei. Wir marschierten los,
kamen in der Nacht in einem kleinen Dorf an und
verbrachten die Nacht in einer Scheune. Am nächsten
Morgen war Feldgottesdienst. Wir bekamen die
allgemeine Absolution, das sichere Zeichen, daß wieder
ein Gefecht in Aussicht war. Die Regimentsmusik
spielte mehrere Stunden, und am Nachmittag
bekam unsere Kompanie über 100 Mann Ersatztruppen
aus Deutschland, alles junge Soldaten, die
noch nicht im Felde gewesen waren. Beim Anbruch
der Nacht legten wir uns wieder in der Scheune
schlafen. Um Mitternacht wurden wir geweckl. Es
war Post angekommen. Ich bekam eine Karte, nahm
meine Taschenlarnpe und las: »Irn Auftrag Ihres
früheren Kriegskameraden August Zanger teile ich
Ihnen mit, daßderselbe an der Lorettohohe von
einer Granate getroffen wurde und auf den Tod
verwundet hier im Lazarett liegt. Krankenscbwester
Soundso; Reservelazarett Schladern an der Sieg
(Rheinland).« Ich war durch die Nachricht sehr niedergeschmettert.
War doch August außer meinen
Angehörigen seit unserern Beisammensein an der
Westfront mir der liebste Mensch auf der Welt. So
einen braven, treuen Kameraden fand ich nicht so
bald.
Mitten in der Nacht muhten wir abmarschieren.
Vor uns in noch ziemlicb weiter Entfernung hörten
wir Kanonendonner. Von Zeit zu Zeit hörten wir den
Abschuf eines sehr schweren Geschützes. Nach einigen
Kilometern kamen wir an einem osterreichischen
126
30-cm–Geschütz vorbei; die mächtigcn Geschosse
wurden mittels eines Krans geladen. Der
Abschuf aus nachster Nahe krachte derart, daß man
fast zu Boden {log. Bei Tagesanbruch kamen wir in
ein Dorf, in dem cine Menge dcutsche Batterien
schul3fertig standen. Vor dem Dorfe muûten wir
cine IVI uldc in cincrn Wcizcnfcldc besetzen. Keiner
wuf3te, was eigentlich los war, Plötzlich krachte eine
furchtbare Artilleriesalve der deutschen Batterien,
das Trommelfeuer setzte ein. Es war ein furchtbares
Krachen und Sausen in der Luft. Von vorne tönten
die Explosionen der Granaten zurück. Bald kamen
ais Antwort russische Schrapnells, einige Mann wurden
verwundet. Wir hockten am Boden und hielten
die Tornister über die Kopfe. Die jungen Soldaten,
die hier die Feuertaufe erhielten, zitterten wie
Espenlaub. Nun kam der Befehl zum Vorgehen. Das
russische Artilleriefeuer verstummte. Auf der Rohe
angekommen, sahen wir die russische Stellung in
etwa 600 m Entfernung an einem Wald rand entlang.
ln Schützenlinien ging es nun im Laufschritt vorwarts.
Die russische Stellung war fast unsichtbar im
Rauch der krepierenden Granaten und Schrapnells.
Auf einmal wurde es bei der russischen Stellung
lebendig. Erst einzeln, dann immer mehr und zuletzt
scharenweise kamen die russischen Infanteristen zu
lins übergelaufen, die Hande in die Höhe hebend.
Sie zitterten alle heftig, infolge des furchtbarenArtilleriefeuers,
das sie aushalten mußten. Unsere Artillerie
verlegte nun ihr Feuer in den Wald, und wir
kamen ohne Verluste in die russische Stellung. Der
Boden l'und um den Graben war von den Granaten
allfgewühlt, auch lagen zerrissene russische Soldaicn
in cler Stellung herum.
Da kam der Befehl: »Infanterieregirnent 41 bleibt
ill Reserve!« Wir blieben nun liegen, andere Bataillone
gingen vor, und bald hörten wir von vorne
heftiges Infanteriefeuer, das sich langsam entfernte.
Wir mubten nun nachrücken, erreichten denjenseitigen
Waldrand, der sich auf einem Abhang hinzog.
127
Var uns breitete sich die Ebene von Stryi aus. Das
ganze Gelände war von vorgehenden deutsehen und
österreichisehen Schützenlinien überstreut. Dazwisehen
sah man Kolonnen russischer Gefangener, die
zurückgeführt wurden. Überall sah man SchrapneUs
und Granaten platzen. lm Hintergrunde lag
die Stadt Stryi. Dureh die BeschieBung waren dort
mehrere Brande ausgebrochen, und gewaltige
Rauchwolken stiegen gegen den Himmel. Rechts
von Stryi leisteten die Russen zähen Widerstand.
Links der Stadt hatten sie ein Dorf stark besetzt,
welches sie ebenfalls tapfer verteidigten. DieSchützenlinien
schwenkten nun nach rechts und links, um
die Russen von der Flanke zu fassen. Die entstande
ne Lüeke mußte nun unser Regiment ausfüllen; es
ging direkt gegen die Stadt var. Aus einigen Fabriken
bekamen wir heftiges Infanteriefeuer, und wir
waren gezwungen, uns einzugraben. Einige Batterien
nahmen nun die Fabriken untel' Feuer, und die
Russen zogen sieh zurück. Ich muûte mit einer
8 Mann starken Offizierspatrouille vorgehen, um
nachzusehen, ob die Russen die Stadt geraumt hatten.
[… ) Die Russen waren versehwunden und die
Stadt von ihnen frei. Die Einwohner brachten uns
Weckehen [kleine Brötchen], Zigaretten und sa weiter.
Ein alter Jude stellte sieh var mieh und sagte:
»Wir haben gebeten zu Gatt dem Gereehten, daH el'
möchte geben den Deitsehen den Sieg.« Sofort ging
er ins Gesehaftliehe über, langte in die Tasche, halte
ein Päckchen Tabak hervor und sagte: »Kaifen Sie,
gnadiger deutseher Herr, guten, sehr guten russisehen
Tabak, nicht taier, billig, billig.« Ich sagte ihm,
daß ich fast nie rauehte. Trotzdem lief er mir noeh
eine Streeke weit naeh, mieh immer quälend, ihm
doeh den Tabak abzukaufen. [… )
Wir hofften nun, in Stryi wenigstens einen Ruhetag
zu bekommen. Leider vergeblich, denn bei der
Ankunft des Regiments verliehen wir sofort die
Stadt und marschierten naeh links, wo wir am Stra-
Benrand lagerten. Eine deutsche Batterie Feldartillerie
128
fuhr neben uns auf und schof in die Ferne auf
die abziehenden Russen. Gleieh eine der ersten Granaten
platzte VOl'der Mündung des Rohres. Zwei
Kanoniere wurden dureh die Splitter getötet.
Die nächste Naeht verbrachten wir im Straûengraben.
Am folgenden Morgen ginges wieder vorwärts.
Wir kamen durch eine waldreiche Gegend. Wir marschierten
auf einer guten Strafie; da es sehr heif war
und nirgends ein Tropfen Wasser, litten wir entsetzlichen
Durst. Endlich karnen wir zu einem Brunnen,
der in der einsamen Gegend hart an der Straûe
stand. Alles stürzte darauf los, um seinen Durst zu
Ioschen. Aber welche Enttäuschung erlebten wir!
Die Wasserflache war mit Teer übersehwemmt, den
die Russen in den Brunnen geworfen hatten. Auberdem
schauten zwei Knochen eines verendeten Pferdes
zum Wasser heraus.
Trotzdem wir den ganzen Tag marschierten, sahen
wir keinen einzigen Russen. Wir kamen nun
wieder in eine fruchtbare Gegend, die mit Dörfern
übersät war. Weiter vor uns sah ieh ein Stad tchen
liegen. Ieh nahm nun eine Karte, auf der die Gegend
genau aufgezeiehnet war (ich hatte die Karte einem
toten Feldwebel abgenommen), und stellte fest, daf
es das am Flusse Dnjestr gelegene Stad tchen Zurawno
sein mußte. Der Dnjestr flofi von Westen nach
Osten, und da wir von Süden nach Norden marschierten,
bildete der FIuH für uns ein gefahrliches
Hindernis. Es war daher bestimmt zu erwarten, dan
uns die Russen den Übergang verwehren würden.
ln der Nacht besetzten wir das Städtchen. Es wurde
gemunkelt, dan am foigenden Morgen der Übergang
über den Flun erzwungen werden müsse.
129
ÜBERGANG UND KÀMPFE AM DN]ESTR
einer hölzcrnen Brücke überquert, die von den Russen
jedoch abgebrannt worden war. Jenseits des
Flusses befanden sich Wiesen in etwa 200 m Breite.
Dann erhob sich ein langgestreckter, steiler Felshügel
von ungefähr 80 m Höhe; die Russen hatten
3 Schützengràben dort angelegt: einen am oberen
Rand, einer befand sich, in die Felsen gesprengt,
am Abhang und der dritte unten am Fuße des
Hügels.
Hinter einer Hecke gedeckt, beobachtete ich mit
dem Glase des Unteroffiziers die russische Stellung.
Es schien mir unrnoglich, daß dieser Übergang ohne
ungeheure Verluste auszuführen sei. Da ich absolut
kein Verlangen danach hatte, zu ersaufen oder auf
eine sonstige Art den vielgerühmten Heldentod zu
erleiden, beschloßich, mich zu drücken. Mit einem
Kameraden, einem Rheinländer namens Nolte,
schlich ich von der Kompanie weg. Wir beide versteckten
uns hinter einem Hause in einem Holzwellenhaufen
und warteten der Dinge, die da kommen
sollten. Morgens, etwa um 8 Uhr, fing plötzlich die
deutsche Artillerie an, mit allen Kalibern die russischen
Graben mit Granaten und Schrapnells zu
überschütten. Ich schaute um die Hausecke und sah,
daß der von den Russen besetzte Felsenhügel einem
Vulkan glich. Überall zuckten Blitze und schossen
Rauchwolken in die Luft. Bald war der ganze Hügel
in schwarzen Granatenrauch eingehüllt. Einige ganz
in meiner Nahe platzende russische Schrapnells
zwangen mich, meinen Beobachtungsposten zu verlassen
und hinter dem Hause Deckung zu suchen.
Nach etwa einer Stunde mischte sich in den Kanonendonner
Gewehrgeknatter, welches uns sagte,
daß der Angriff der Infanterie begonnen hatte. Da
die russische Artillerie dauernd das Stadtchen Zurawno
beschoß, wagte ich nicht, das schützende
Haus zu verlassen und den Verlauf des Kampfes zu
130
beobachten. Nach etwa einer weiteren Stunde flaute
das Feuer ab, und es wurden ganze Kolonnen russischer
Gefangener zurückgeführt. [… ] Am folgenden
Morgen marschierten wir beide nach vorne, um
unsere Kompanie wieder aufzusuchen, denn es
wunderte uns sehr, wie es den Kameraden beim
Angriff ergangen war. Die deutschen Pioniere hatten
bereits wieder eine Brücke über den Dnjestr
gebaut, die stark genug war,jede passierende Last zu
tragen. Gleich jenseits des Flusses lagen tote deutsche
Infanteristen auf den Wiesen herum. Man war
eben damit beschaftigt, sie zu begraben. Sie wurden
meist in die von der vorgehenden Infanterie gegrabenen
Schützenlocher gelegt und mit Erde zugedeckt.
»Was meinst du, Richert«, sagte mein Karnerad
zu mir, »wenn wir uns nicht gedrückt hatten,
wären wir vielleicht auch dabeil-
Von der Brücke führte eine Straße über die Wiesen
durch einen tiefen Einschnitt auf den vor uns
liegenden Felsenhügel. Gleich rechts von der Straße
lagen etwa zehn tote Deutsche dicht beisammen;
mehrere hatten das Gesicht schrecklich verzerrt und
hielten noch in der starren Hand eine Handvoll Gras
oder Erde, die sie im Todeskampf ausgerissen oder
ausgekratzt hatten. ln einem der Gefallenen glaubte
ich einen Kameraden meiner Kompanie zu erkennen.
Um mich zu vergewissern, ging ich zu ihm hin,
nahm ihm das Soldbuch aus der Tasche und stellte
l'est, daß ich mich geirrt hatte. AIs ich mich wieder
bückte, um ihm das Buch wieder in die Tasche zu
stecken, sah ich, daß seine Kleider ganz von Läusen
wimmelten, die sich von dem toten, kalten Körper
geflüchtet hatten und sich auf den Kleidern sitzend
in der Sonne wärrnten. Dasselbe war bei allen dort
liegenden Gefallenen zu konstatieren. Wir gingen
weiter. ln den am Felsenhügel gebauten russischen
Stellungen sah es auch schrecklich aus. Von Granaten
zerrissene russische Soldaten lagen umher, zer-
Ietztes Gebüsch, losgebrochene Felsstücke und Erdschollen
bedeckten den Boden. Auch sah ich dort
131
Granatlöcher in der Graße eines Zimmers, die wahrscheinlich
von den Geschossen der osterreichischen
30-cm-Motorgeschütze herrührten. Wir marschierten
mehrere Kilometer nach vorne. Da sahen wir auf
einer NebenStraße eine kleine Abteilung von etwa
30 Mann anmarschieren, geführt von einem Leutnant.
»He, warten Sie mal!« rief er uns an. Wir blieben
stehen. Der Leutnant fragte, woher und wohin.
Wir sagten, wir seien von unserer Kom panie abgekommen
und im Begriffe, dieselbe aufzusuchen.
»Kenne das schon l- schnauzte er uns an. »Ihr seid
ebensolche verdammten Drückeberger wie diese
Bande hier!« Wir mußten nun in die Kolonne eintreten,
und vorwärts ging's. Der Leutnant lieferte uns
am Abend bei der Kompanie ab, die eben dabei war,
einen Schützengraben an einem Waldrand auszuheben.
Ich dachte, daß wir gehorig ausgeschimpft werden
würden, aber wir hatten diesmal verhältnisrnä-
Big Glück. Die Nacht verbrachten wir im Schützengraben.
[… ] Von den Kameraden erfuhr ich, daf
die Kompanie beim Kampfe am Dnjestr etwa 30
Mann verloren hatte. [… ]
Da der Graben nur schwach besetzt war, bekamen
wir osterreichische Jager zur Verstarkung. Einige
Mann wurden zurückgeschickt, bei der Feldküche
Kaffee und Brot zu empfangen. Wir waren eben
nach ihrer Rückkehr damit beschaftigt, unseren
Kaffee zu trinken und Brot zu essen, aIs plotzlich
sehr starkes russisches Artilleriefeuer einsetzte. Ihr
Ziel war unser Graben, und sie schossen gut. Wir
waren vollständig überrascht, ließen unsere Kochgeschirre
fallen, ergriffen unsere Gewehre und Iegten
uns dann auf die Grabensohle. Durch dicht vor dem
Graben einschlagende Granaten wurden mehrere
Mann verschüttet. Ohne Großen Schaden genommen
zu haben, wurden sie aber wieder von den Erdmas
sen befreit. Ein österreichischer J äger, der neben
mir lag, stand auf, um nach vorne Ausschau zu
halten. Kaum hatte er den Kopf über dem Graben,
aIs er schrie: »Die Russen kommen!« Alles sprang
132
auf. Sofort sah ich mehrere russische Schützenlinien,
die im Laufschritt auf uns zukamen. Wir eröffneten
ein prasselndes Schnellfeuer auf sie. lch sah
gleich mehrere stürzen. Aber es bildeten sich neue
Schützenlinien. Wir sahen uns einer erdrückenden
Übermacht gegenüber. Die russische Artillerie belegte
unseren Graben nun mit starkem Schrapnellfeuer.
Viele von uns hatten nicht mehr den Mut zu
schießen und duckten sich in den Graben. Andere
wurden getroffen. Ebenso der neben mir stehende
österreichische J ager. Er erhielt eine valle Schrapnelladung
in Kopf und Brust und war sofort tot. Die
Russen, die immer sprungbereit gegen uns anstürmten,
waren schon ziemlich nahe gekommen. Da sah
ich, wie bereits einige von uns nach hinten aus dern
Graben hinauskletterten und ihr Heil in der Flucht
suchten. Da ich kein Verlangen hatte, von diesen
halbkultivierten Russen aufgespießt zu werden, verlieD
ich, gefolgt von meinem Freund, dem Rheinländer
Nolte, ebenfalls den Graben. Die Russen sandten
uns eine Menge Kugeln nach, doch mit wenigen
Sprüngen waren wir durch das Gebüsch gedeckt
und ihren Blicken entschwunden. Zu unserem
Glück ging's im Walde bergab, so daßwir gegen
Infanteriegeschosse gedeckt waren, die nun durch
die Kronen der Baume zischten. Die Schrapnells,
deren Kugeln in den Wald niederprasselten, waren
Iür uns gefahrlicher. lm Laufschritt suchten wir aus
ihrem Bereich zu kommen. AIs ich mich umsah,
gewahrte ich, daßuns die ganze Grabenbesatzung
Iolgte. Die Verwundeten, die nicht mehr Iaufen
konnten, kamen in russische Gefangenschaft. Wir
liefen hinter dem Wald an einer Batterie Feldartillerie
vorbei. Der Batterieführer schrie, was denn eigcntlich
los sei. »Die Russen sind durchgebrochen!«
.mtworteten wir. Worauf er die Batterie aufprotzen
licb, um weiter zurück wieder das Feuer aufzunehmen.
Hinter uns hörte das lnfanteriefeuer nun ganz
.urf, zum Zeichen, daßdie Russen uns nicht direkt
n.ichfolgten, während rechts von uns der Kampf
133
noch in vollen Gange war. Ein ununterbrochenes
Geknatter der Infanterie und der Maschinengewehre
tonte vom Dorfe zu uns herüber. Etwas weiter
zurück, bei Zurawno, gewannen wir die Straûe, die
mehrere Kilometer zurück über die Dnjestrbrücke
führte. Bald wimmelte die ganze SU–aBevonzurückgehender
deutscher Infanterie. Die russische Artillerie
nahm nun die Straße unter Feuer, und wir
waren gezwungen, über die Felder zurückzugehen.
Jeder lief, wie er wollte, und auf Komrnandos wurde
überhaupt nicht mehr gehort.
So langte ich müde, keuchend, naBgeschwitzt wieder
ob en auf dem Felshügel am Dnjestr an, wo die
Russen ihre alten Stellungen hatten. Mein Plan war,
so schnell wie möglich die Dnjestrbrücke zu überschreiten,
um den Fluf zwischen mich und die Russen
zu bringen. Doch der Soldat den kt, und der
Offizier lenkt! Mehrere Offïziere hielten uns an und
gaben den Befehl zum Halten und Sammeln. Ich tat,
als hörte ich nichts, denn zu gerne hätte ich mich
über die Brücke in Sicherheit gebracht. AIs mich
jedoch ein Offizier mit erhobener Pistole anschrie,
zu halten oder —, blieb mir nichts anderes übrig,
aIs mich der angesammelten Truppe anzuschließen.
ln aller Eile mußten wir eine Schützenlinie bilden
und uns eingraben. Wir sollten die Russen, wenn sie
bis hierher vordringen würden, aufhalten, bis die
Ietzten von uns die Brücke passiert hatten. »Wir
müssen uns, wenn nötig, für unsere Kameradenaufopfern!
« Iautete der Befehl. »Herrgottsakra «,
meinte ein neben mir liegender Bayer, »dösmal
geht's für uns schiefl– Vor uns befand sich in etwa
500 m Entfernung ein Wald. Aus demselben stromten
nun die Truppen zurück, die rechts von uns
ebenfalls zum Rückzug gezwungen wurden. Verschiedene
Soldaten trugen ihre verwundeten Karneraden
auf dem Rücken zurück. Auch sah ich einen
ungarischen H usaren, der einen schwerverwundeten
deutschen Infanteristen aufs Pferd hob, um ihn
vor der Gefangenschaft zu bewahren.
134
Nach etwa einer Stunde kamen nur noch einzelne,
meist Leichtverwundete, aus dem Walde und an uns
vorüber. Sie sagten, daßdie russische Infanterie
nicht mehr weit sei. Von Russen war immer noch
nichts zu sehen. Da auf einmal wurde es vor uns am
Waldrand lebendig. Schüsse krachten, und die Kugeln
pfiffen uns unheimlich um die Ohren. Die Russen
kamen aus dem Walde hervor, immer schieHend
auf uns ZU. Wir antworteten, was aus den Gewehren
hinausging. Da kam der Befehl: »Zurück, marschmarsch!
« Das lieû sich keiner zweimal sagen. So
schnell wie moglich sprangjeder aus seinem Loche,
um hinter dern Abhang in Deckung zu kornrnen. Ein
vor mir laufender Soldat stürzte mit lautem Aufschrei
getroffen auf das Gesicht,jedoch keiner nahm
sich Zeit, sich 1ßchihm umzuschauen, noch viel weniger,
ihm zu helfen. Jeder hatte nur den einen
Gedanken, über die Brücke das rettende Ufer zu
erreichen. So kletterten, rutschten und sprangen wir
den steilen Abhang hinab und 50 schnell wie mëglich
über die Wiesen nach der Brücke. Dieselbe war von
Granaten halb auseinandergerissen, doch gelangten
fast aIle heil hinüber. AIs die russischen Infanteristen
oben auf dem Felsenhügel anlangten, waren wir
bereits hinter den Hausern von Zurawno in Dekkung.
Die Brücke wurde nun von unseren Pionieren
gesprengt. Bei Anbruch der Dunkelheit verlieûen
wir das Stad tchen und marschierten nach einern
etwa 5 km weiter zurückliegenden Dorfe. VieJe
Flüchtlinge aus Zurawno begleiteten uns, die ihre
notwendigsten Habseligkeiten mitschleppten. Vor
dern Dorfe trafen wir auf unsere Kompaniefeldküche,
so daf wir unseren Hunger stillen konnten.
Es waren wieder neue Ersatzmannschaften aus
Deutschland gekommen, die nun in die Kompanie
verteilt wurden. Nachher wurden die Kriegsartikel
verlesen, von welchern jeder endete: »Wird mit
Zuchthaus bestraft. Wird mit dem Tode bestraft.«
Nichts aIs bestraft und wieder bestraft. Diese Kriegsartikel
wurden nur verlesen, um dem Soldaten
135
seine Willenlosigkeit und Ohnmacht den Vorgesetzten
gegenüber vor Augen zu führ en. Nachher
muhten wir vor dem Dorfe einen Feldweg entlang
eine Schützenlinie mit 1rn Abstanc! bilden und uns
eingraben. [… ] Am folgenden Tage blieben wir an
derselben Stelle liegcn. Es sprach sich unter den
Soldaten herum, daßdie Russen auf das diesseitige
Ufer des Flusses gelockt werden sollten. Die deutschen
Flieger und die Artillerie sollten dann im
Rücken der Russen die Übergange zerstoren, worauf
wir angreifen sollten und sie gefangennehmen.
Die Russen warenjedoch zu schlau, um in die Falle
zu gehen; nur kleinere Abteilungen setzten über
den Flub. Die Hauptmacht besetzte wieder die drei
übereinander liegenden Stellungen am Felsenhügel
jenseits des Flusses. Von unseren im Vorgelände
herumschleichenden Patrouillen wurden einige
russische Gefangene gemacht. Sie gehbrten einem
Garderegiment an. Es waren alles sehr große, stark
gebaute Männer, so daßwir ihnen gegenüber fast
wie Knaben aussahen. Auûer einigen zwischen den
Patrouillen gewechselten Gewehrschüssen war tagsüber
alles ruhig.
Gegen Abend nahm unsere Artillerie Zurawno
unter Feuer. Bald zeigten uns mehrere Rauchsäulen
an, daßßrande ausgebrochen waren. ln der Nacht
bildete das Städtchen ein einziges Flammenmeer.
Ein schrecklich-schöner Anblick. Der Himmel war
weithin blutig rot. Die Nacht über und den folgenden
Tag blieben wir an derselben Stelle liegen.
DER ZWEITE ÜBERGANG ÜBER DEN
DNJESTR~ MITTEJUNI 1915
Bei Anbruch der Dunkelheit kam der Befehl: »Sofort
fertigmachen!« ln kaum 10 Minuten stand Ul1-
ser Bataillon marschbereit auf der StraGe. Schnell
wurde die Munition erganzt. Auch erhieltjcder eine
136
Büchse Fleisch und ein Sackchen Zwieback für den
FaU, daf:\wir die Verbindung zur Feldküche verlieren
sollten. »Vorwarts, marsch!« Und los ging's. Die
5 km nach Zurawno waren bald zurückgelegt. Fast
das ganze Stadtchen war abgebrannt. Untel' den
Trümmern glimmte noch das Feuer und verbreitete
einen ekligen Brandgeruch. Wir gingen bis an das
Ufer des Dnjestr vor und gruben uns in an den FIuH
angrenzenden Cernüsegärten ein. Da wurde es vor
uns auf dem FluHlebendig. Sehen konnten wir nicht
viel, doch hörten wir leises Klopfen und Ruderschlage.
Unsere Pioniere bauten 2 Stege über den
Fluû, Sie verbanden starke Bohien mittels Klammern
und Draht. Auf beiden Seiten wurden Pfähle
in das Ufer getrieben, der Steg mittels Draht darnit
verbunden, um einem allzu groHen Schwanken vorzubeugen.
Um Mitternacht begann der Übergang.
Zuerst unser 1. Bataillon, dann folgten wir ais zweites.
Um den schwankenden Steg nicht zuviel zu belasten,
durften wir nur mit 4 Schritt Abstand von
Mann zu Mann hinübergehen. Nun setzte noch Regen
ein, und es wurde so dunkel, daßman kaurn die
Umrisse des Vordermannes sah. Bei jedem Schritt
muûte man mit den Füben tasten, um nicht neben
den Steg zu treten und in den Fluf zu stürzen. ln der
Mitte senkte sich der Steg durch unser Gewicht ins
Wasser, so daI3 es uns oben in die Stiefel hineinlief.
Jeder atmete erleichtert auf, ais er jenseits des Flusses
wieder festen Boden unter den Fülien hatte. Dort
stand ein Feldwebel und sagte jedem, sich nach
rechts zu begeben und eine Linie zu bilden. Wir
legten uns nun auf den Flulikies und warteten auf
weitere Befehle. Die Russen, die genau wieder dieselben
Stellungen am Felsenhügel wie beim ersten
Übergang besetzt hatten, knallten die ganze Nacht in
Richtung des Flusses. Doch ihre Kugeln sausten fast
aile über uns. Ais das ganze Regiment übergegangcn
war, kam der leise Befehl, langsam vorzugehen,
wenn wir Feuer bekommen würden, uns hinzulegcn
und uns cinzugraben. Da das Wiesengelände, auf
137
dem wir vorgingen, zwischen dem Fluf und der
russischen Stellung nur etwa 200 m breit war, bemerkten
uns die Russen bald und knallten uns einzelne
Sehüsse entgegen. Ieh warf mieh sofort zu
Boden, um mich mit dem Spaten einzugraben. lm
Dunkel konnte ich nieht einmal meinen Nebenmann
sehen. Da horte ich leise meinen Namen ru-
Fen: »Richert, komm her, wir wellen uns zusammen
eingrabenl– Es war mein Freund, der Rheinlander,
der mich rief. Kaum hatte ich drei Sehritte getan,
als ich in der Dunkelheit in ein Loch stürzte. Ich
tastete mit den Händen umher und stellte Fest, daf
es ein Sehützenloeh war, wohl noeh vom ersten
Übergang herrührend. lch rief nun den Rheinländer
zu mir. Da die Russen stark zu schieûen begannen,
waren wir beide froh, in dem Loche Deckung
zu haben. Ein Aufsehrei und darauffolgendes Stohnen
sagten uns, daßein Mann in unserer Nahe getroffen
worden war. Von Mann zu Mann wurde
nun der Befehl weitergegeben: »Sanitäter nach
Iinksl– Bald kamen zwei derselben an uns vorüber.
Zu verbinden brauehten sie den jungen Mann nicht
mehr, denn el' war bereits gestorben. Es war ein
junger Freiwilliger aus Ostpreulien. Er hatte das
Elend nun überstanden.
[... ] Etwa um 8 Uhr morgens kraehte hinter uns
ein Kanonenschuß, das Zeichen der Eroffnung .des
Trommelfeuers, um die russisehen Stellungen
sturmreif zu schiehen. Ein furchtbarer Krach zerrif
plotzlich die Luft. Sàrntliche deutschen Batterien aller
Kaliber schleuderten ihre Gesehosse auf die russisehe
Stellung. [… ] Wir fühlten am Boden liegend
ganz deutlich den Einschlag der sehweren Gesehosse.
Wie das zisehte und sauste über uns! Von
den kleinen Kalibern hörte man nur Tsehing-bum,
Abschuû, Flug und Einsehlag in wenigen Sekunden.
Die mittleren Kaliber erkannte man im Flug an dem
etwas langer gezogenen Tsch-sch, und die sehweren
Granaten kamen mit einem lauten Tsch-sch-sch herangesaust.
Ich hob ein wenig den Kopf, um mir das
138
furehtbare Sehauspiel anzusehen. Der ganze Felsenhügel
glieh einem feuerspeienden Berg; überall
schlugen die Gesehosse ein, Gebüsch, Erde, Felsstücke
umherschleudernd. Verschiedene Splitter
und Erdschollen kamen bis zu uns geflogen. Überall
sah ich die Köpfe unserer lnfanteristen aus den
Löchern hinausragen, das Furchtbare anzusehen.
Manche standen aufrecht, den russischen Infanteristen
ein schones Ziel bietend. Doch die Russen lagen
wohl aile in Todesangst auf dem Grabenboden,
denn wehrlos waren sie dem auf sie niederprasselnden
Eisenhagel preisgegeben. Naeh etwa einer halben
Stunde wurde es im vorderen russischen Graben,
der sich am FuJ3e des Hügels hinzog, lebendig.
Zwischen den einschlagenden Geschossen hindureh
kam die ganze noch marschfähige Grabenbesatzung
mit erhobenen Handen zu uns übergelaufen. Sie
waren fast aile vor Angst bleieh wie der Tod und
zitterten von den ausgestandenen Schrecken heftig.
Sie mußten sich samrneln und sich hinter unseren
löchern auf die Wiesen hinlegen, um gegen die
russischen Anilleriegeschosse, die noch immer vercinzelt
herangesaust kamen, besser gedeekt zu sein.
1lie Besatzung des obersten russischen Grabens
xuchte ihr Heil in der Flucht. Nun war nur der mittle-
re Graben besetzt, der sich im Abhang hinzog.
Da kam der BefehI, den einer dem anderen zurur('
11 mufite: »Fertigrnachen, Seitengewehr aufpflan-
/('11.« [ .•• ] Den kurzen Spaten steckte ich wie immer
lx-im Vorgehen vorne mit dem Stiel in das Koppel,
11111 so durch den Spaten gegen einen Bauchschuf
("1 was geschützt zu sein. Die deutsche Artillerie ver-
Icgte ihr Feuer nun weiter vor. »Zurn Sturm vorw.
irts, marschmarschl– erscholl das Kommando. AIlt-
s stürzte aus den Löchern, und im Laufschritt unln
Hurrageschrei stürmte alles auf die russischen
( -räben los. Doch die Hauptarbeit hatte unsere Artilk-
ric besorgt; wir stießen auf nur ganz geringen Wi-
.k-rstand. lm unteren Graben lagen nur Tote und
Vr-rwundete. Aus dem mittleren Graben knallten
139
Oberleutnant das Knie zerschmettert. Der Mann,
der früher die jammernden Verwundeten »Kindskëpfe–
und »feige Mernrnen– geschimpft hatte,
schrie und jammerte nun wie besessen. Ich konnte
be~m besten Willen kein Mitleid für ihn empfinden.
"':Il~ kletterten nun den steilen Abhang hinauf.
Einige Russen aus dem mittleren Graben wollten
fliehen und kletterten, so schnell sie konnten, nach
oben. Aber wie Hasen wurden sie abgeschosscn und
kollerten in den Graben zurück. Ais wir vor dem
Graben ankamen, streckten aile noch Lebenden die
Hände in die Höhe. Sie wurden hinunter zu den
schon vorher Gefangenen auf die Wiesen geschickt.
Oben kamen auch noch einzelne heruntergeklettert,
um sich zu ergeben. Jene hatten leicht ausreiûen
kënnenl Sie gingenjedoch lieber in Gefangenschaft,
ais den Krieg noch langer mitzumachen. Durch zerfetztes
Gebüsch und Löcher bahnten wir uns nun
einen Weg nach dem Gipfel, wo sich das Regiment
sammelte. Von oben sahen wir, wie eben die gefangenen
Russen rückwärts den Fluf überschritten. Sie
waren jedenfalls glücklicher als wir, denn sie hatten
die Morderei hinter sich
DER WEITERE VERLAUF DER OFFE SIVE
Das 2. Bataillon muhte nun langsam in Schützenlinien
vorgehen. Einzelne Patrouillen wurden vorausgeschickt.
~as 1. und das 3. Bataillon folgten geschl?
ssen. Lmks und rechts von uns gingen andere
Regimenter vor. Den ganzen Tag stiel3en wir auf
keinen Widerstand. Hie und da kamen einzelne Russen
aus dem Getreide oder Gebüsch, wo sie sich
versteckt hatten, um sich zu ergeben. [… ]
Eines Morgens bekamen wir auf einem mit Weizen
bepflanzten Hügel den Befehl, die unten im
Tale liegende Wassermühle zu besetzen. Etwa 2 km
140
links von uns lag das Stad tchen Rohatyn. Die russische
Batterie richtete ihr Feuer nun auf die Mühle.
[... ] Vier Schrapnells kamen zusammen angesaust.
Alle platzten um und über der Mühle. Die aus Holz
gebauten, mit Stroh bedeckten Cebäude boten uns
nur wenig Deckung. Von einem über dem Holzschuppen
platzenden Schrapnell wurden 4 Mann
verwundet, darunter mein Freund, der Rheinländer,
der schrag von oben eine Kugel in den Oberschenkel
bekommen hatte. Ich schnitt ihm die Hosen
auf und wickelte seine beiden Verbandspäckchen
um die Wunde. Dann trug ich ihn mit Hilfe
eines Karneraden in die Wohnstube, wo etwas mehr
Deckung war. Die Stube lag ganz voll von Soldaten,
die den Wänden entlang aufihren Tornistern lagen.
ln allen Gesichtern lag der Ausdruck angstlicher
Cespanntheit, denn keiner konnte wissen, wem die
nächste Artilleriesalve galt. Nun kamen immer 2
Schrapnells, die in der Luft zerplatzten, und 2 Cranaten,
die beim Aufschlag auf den Boden krepierten,
zusammen angeflogen. Ein Soldat namens Spiegel,
der in der vorderen Ecke der Wohnstube lag,
stand auf, ging durch den Hausflur zur Tür, um zu
schiffen. lm selben Moment krepierte eine Granate
an der vorderen Hausecke, ein gr(1)es Loch in die
Wand reil3end. Splitter, Holzstücke und der Tornister
des Soldaten Spiegel flogen an die Decke. Die
ganze Stube war mit stinkendem Pulverrauch gefüllt.
Spiegels Tornister und Kochgeschirr waren
vollstandig zerrissen und zerfetzt. Ais dieser beim
Hereinkommen sein Zeug betrachtete, wurde er totenbleich,
und ais einer der Soldaten bemerkte, daf
er sein Leben einem glücklichen Zufall zu verdanken
habe, antwortete er: »Ich habe eine Mutter zu
Hause, die täglich für mich betet.. [… ] Da kam der
Befehl: »Sofort die Mühle räurnen!« Wir sollten uns
nun dem Bächlein entlang, durch die Erlen und die
Weidenbüsche gedeckt, nach dem einige hundert
Meter weiter unten liegenden Dorf begeben. Die
Verwundeten wurden mitgetragen. Die Russen be
141
schossen mm bis gegen Abend die Mühle, bis sie in
Brand geschossen war, obwohl kein einziger von uns
mehr dort war. [… ] Ich begab mich in eine Hütte,
urn cin paar Eier zu kaufen. lch harre Glück, dcnn
ich konnte ein halbes Dutzend bekommen. Da noch
Milch vorhanden war, mußte die anwesende Frau
mir 1 Liter kochen, natürlich gegen Bezahlung. So
verging eine halbe Stunde. Meine Kornpanie war
inzwischen bis zumjenseitigen Dorfrand vorgegangen,
wo sie auf Russen gestoßen war, derm plötzlich
knatterte lebhaftes lnfanteriefeuer dureh den still en
Morgen. Gleieh darauf sah ich einzelne unserer Infanteristen
zurücklaufen. Ich fief zum Fenster hinaus,
was denn eigentlich los sei. Sie wußten selbst
nichts Riehtiges und liefen weiter. Sehnell trank ich
meine Milch aus und steekte den Rest der Eier in
meinen Brotbeutel. Da immer mehr Soldaten zurückliefen,
schlof ich mich ihnen an. Was eigentlich
los war, wußte ich nicht.
Wir liefen nun durch ein Wiesental bis zu einem
Bach. ln dem ausgetrockneten Bachbett nahmen wir
wieder Stellung. Nach kurzer Zeit befand sich die
ganze Kompanie dort. Einige Mann fehlten. Sie waren
wohl im Dorfe gefallen oder verwundet worden.
Gegen Mittag sahen wir einige Russen am Dorfrand.
Da wir auf sie zu schießen begannen, verschwanden
sie hinter den Häusern. Am Naehmittag hörten wir
reehts von uns starkes Artilleriefeuer. Bald wurde
dasselbe yom Geknatter der Infanterie und der Masehinengewehre
unterbrochen. Gegen Abend hieß
es, daßdie Unseren die russische Front dort durchbrochen
hatten. Die Nacht verbrachten wir im ausgetrockneten
Baehbette. [... ]
Ohne von der Fe!dküche cine Spur zu sehen, ging
es mit hungrigem Magen weiter. lch se!bst konnte
von Glück reden, denn ich hatte noeh 3 Eier im
Brotbeute!, die mir trefflich mundeten. Nach einigen
Kilometern stiegen wir wieder in ein breites,
Haches T~lI, das in der Mitte etwa 500 m breit mit
meterhohem Schilf bewachsen war. Auf der diesseitigen
142
Talseite standen einzelne Cehöfte. Ais wir uns
den ersten naherten, saustc es heran, und mehrere
Schrapnells platztcn über uns. Ieh sprang hinter den
Stamm einer Weide, die anderen Soldaten Iiefen
hinter die Hauser. Ein Schrapnell riß nun mehrere
Aste von der Weide, hinter der ich stand, so dan mir
ganz unheirnlich zumute wurde. Da horte ich den
Befehl: »Der 2. Zug soli einzeln hinter die links liegenden
Hauser springenl– lch gehörte auch zum
2. Zug. Ais die ersten hinübersprangen, bekamen sie
von der jenseitigen Talseite lnfanteriefeuer. leh
schaute scharf hinüber und entdeckte vern am Rand
eines Weizenfeldes, das sanft oberhalb des Schilfes
anstieg, einen langen Erdwall, die russischelnfanteriestellung.
Ich entschlof mich, hinter dern Weidenstamm
zu bleiben und mich hier einzugraben. Kaurn
hatte ich einige Spatenstiche ausgehoben, ais unser
Feldwebel, der hinter dem Hause stehend mich sah,
zu mir herüberschrie: »Richert, wollen Sie schleunigst
machen, daJ3 Sie zu Ihrem Zuge kornmen!« So
sehnell ich konnte, rannte ich über die Acker, den
beiden Hausern zu. [... ] Eine Kuge! schlug knapp
vor mir in die Erde, so daß ich unwillkürlich einen
Luftsprung mach te. Einige Schritte weiter Iag ein
Soldat rot am Boden. Ich selbst kam heil hinter den
Häusern an. Wir waren gezwungen, uns dort einzugraben,
da die Kugeln der Russen durch die Holzwände
und die niedrigen Strohdächer zischten. [... ]
Wir litten sehr Durst, da die Sonne den ganzen Tag
herunterbrannte. Keine 100 m vor uns floß ein
Bach. Da das Wasserholen jedoch mit Lebensgefahr
verbunden war, hatte keiner den Mut dazu. Wir
lagen in den Löchern, bis es dunke!te.
Bei Anbruch der Nacht mußten wir einen Steg
über den Bach machen, jenseits desselben im Schilf
vorgehen und lins etwa 200 m vor der russischcn
Infanteriestellung eingraben. Das war leichter gesagt
als getan. Kaum einen Spatenstich tief sammelte
sich das Wasser im Loch, an ein tieferes Graben war
nicht zu denken. lch stach eine Menge Wasen [Ra-
143
senstücke, Grassoden] ab und baute sie var mir auf,
um doch etwas Deckung zu haben. Sa hoekten wir
die Naehtim feuchten Schilfe. Trotz allem sehliefich
ein. Gegen Morgen erwachte ich, da ieh kalt fühlte.
Ich saß im Wasser. Sa erging es fast allen Soldaten.
Die Russen hatten nämlich wei ter unten den Bach
gestaut und uns so unter Wasser gesetzt. Die ganze
Naeht knaIlten vom russisehen Graben her einzelne
Gewehrschüsse. AIs es morgens hell ge,vorden war,
hörte ich einen Kameraden rufen: »Die Russen winken,
sie wollen sich ergeben.« leh hob den Kopfund
spähte über das Sehilf. Richtig, ich sah die Russen
winken mit ihren Mützen und weißen Tüchern. Da
wir jedoch der Geschichte nicht recht trauten, wurden
einige Mann vorgesehickt. AIs dieselben vor die
russische Stellung kamen, kletterten die Russen,
etwa 20 an der Zahl, zu ihrem Graben hinaus und
ergaben sich. Sie waren zurückgelassen worden, um
uns durch ihre Schüsse zu täuschen, während sich
die Hauptmacht zurückzog. lm Graben lagen noch
Brotstücke umher, die von uns gierig versehlungen
wurden. Viele Soldaten rissen von den noch grünen
Weizenähren ab, rie ben die Körner aus, bliesen die
Streu weg und allen die Körrier, um sa den Hunger
etwas zu stillen.
Dann wurden mehrere Patrouillen ausgeschickt,
um auszukundschaften, ob noch Russen in der Nahe
seien. Ich selbst wurde mit 2 Mann nach einem etwa
1km rechts vor uns liegenden Dorf geschickt, um zu
sehen, ob dasseJbe von den Russen frei sei. Vorsichtig,
gebückt gingen wir durch die Weizenfelder dem
Dorf zu. Von dem an den Ähren und Halmen hangenden
Tau wurden wir ganz durchnäût. Am Rande
des Weizenfeldes legten wir uns hin und spähten
nach dem nur etwa noch 200 m entfernten Dorfe.
Aus einigen Kaminen stieg Rauch. Russen konnten
wir keine sehen. So schnell wir konnten, liefen wir
nun nach dem nächsten Haus hinüber und spähten
um die Hausecke die dreckige Dorfgasse hinunter.
Von den Russen keine Spur. Da ging eine Haustür
144
auf, eine Frau kam heraus. An einem Stock, den sie
auf der Schulter trug, hingen 2 hölzerne Wasserbehälter.
Sie ging zu dem neben uns stehenden Ziehbrunnen.
Da wir uns an die Giebelwand lehnten,
erblickte sie uns erst, als sie das Wasser heraufziehen
wollte. Sie ersehrak heftig, stief einen Sehrei
au s, aIs ob sie schon an unseren Bajonetten hinge,
ließ alles faUen und rarinte wie besessen zur Haustür
hinein, die sie sofort verriegelte. Ich ging nun
um das Haus herurn zur Hintertür, denn wir hatten
gern von der Frau erfahren, ob noch Russen im
Dorf seien. AIs ich eben die Hand auf den Drücker
legte, ging die Tür auf. Die Frau wolIte allem Ansehein
naeh mit einem kleinen Kind auf dem Arm
durch die Hintertür entfliehen. AIs sie mi ch sah,
fiel sie vor Sehreek in die Knie und hielt mir ihr
Kind entgegen. Sie sagte etwas in ihrer Spraehe,
wahrscheinlich, ich solle sie doch um des Kindes
wilIen schonen. Um sie zu beruhigen, klopfte ich ihr
freundIieh auf die Sehulter, liebkoste das Kind und
machte demselben ein Kreuzzeichen, damit sie sah,
daf ich aueh ein Katholik sei wie sie. Dann zeigte ich
auf mein Gewehr und auf sie und sehüttelte den
Kopf, um ihr zu zeigen, dan ich ihr nichts tun
würde. Wie glüeklich sie nun war l Sie erzählte mir
eine ganze Menge, wovon ich kein Wort verstand.
Ich muhte nun meine beiden Karneraden hereinrufen.
Sie gab uns gekochte Milch, Butter und Brot.
Wie uns das sehmeckte! Ich fragte nun: »Moskalirund
deutete durch das Fenster nach dem Dorf. Da
ging sie nach der Uhr in der Stube, wo sie auf
12 Uhr zeigte und mit der Hand fortwinkte. Nun
wubten wir, daßdie Russen das Dorf um Mitternacht
verlassen hatten.
Ich ging nun hinter das Haus, bestieg einen dort
liegenden Erdhaufen, steckte meinen Helm aufs
Bajonett und winkte der Kornpanie herzukommen.
Wir marsehierten zusammen ins Dorf. Dort wurde
haltgemaeht, die Gewehre zusammengesetzt und
auf die Feldküche gewartet. Von allen Seiten kamen
145
Madchen und Frauen und brachten gekochte Milch, , '
Brot und andere Lebensmittel. Auch befestigten sie"
Blumen an unseren Gewehren und Helrnen. Wir
waren ganz verwundert, denn sonst sahen wir in den
galizischen Dörfern bei unserer Ankunft wenig
freundliche Gesichter. Wie wir dann erfuhren, hatten
die Russen in dem Dorfe vor ihrem Abzug mehrere
Frauen und Madchen vergewaltigt. Daher sahen
sie in uns ihre Befreier. Endlich kam die Feldküche
heran. Sie hatten guten Reis und Rindfleisch
und einige Hühner gekocht, und das Ende vom Lied
war, daß wir aIle die Magen überladen hatten,
Am Nachmittag bekamen wir wieder Ersatzrnannschaften,
meist Lothringer. Sie wurden von der
Westfront weggenommen, da einige Lothringer desertiert
waren. Auch einige OstpreuJkn waren dabei.
Ebenso mein guter Kamerad Hubert Weiland,
der Theologe, der am 4. Mai in den Karpaten leicht
verwundet worden war und nun geheilt aus dem
Lazarett zu seinem Truppenteil zurückgeschickt
wurde. Wir freuten uns beide über das Wiedersehen,
denn er traf nur noch wenige der früheren
Kameraden in der Kompanie. Die meisten waren
gefallen, verwundet oder krank geworden. Beim
Neueinteilen der Kompanien baten wir den Feldwebel,
uns derselben Gruppe zuzuteilen, was er auch
tat. Bei der Gruppe befand sich noch ein junger
Lehrer sowie ein reicher Student, Sohn einesRittergutsbesitzers,
beide aus Ostpreußen. Wir vier wurden
bald sehr gute Kameraden. [, , ,] Die acht verbrachten
wir im Dorf. Am frühesten Morgen ging es
wieder weiter. Gegen Abend wurde in einem Wald
haltgemacht, wo wir 2 Tage verblieben. Dort konnten
wir uns mal richtig ausruhen.
Am 30.juni morgens ging es wieder weiter. Wir
stieûen auf schwächere russische Abteilungen, die
sich schleunigst zurückzogen. Mehrere ihrer Verwundeten
kamen in un sere Gefangenschaft. Am
l.juli 1915 besetzten wir am Morgen eine Höhe. Es
war uns verboten, uns oben auf der Höhe zu zeigen. 146
So lagen wir bis Mittag gedeckt am hinteren Abhang.
Ich war sehr neugierig, was eigentlich vor uns los sei,
kroch auf die Hohe, legte mich hinter den Stamm
einer dort stehenden mächtigen Hainbuche, nahm
mein Glas und betrachtete die Gegend vor mir. [... ]
lch nahm rneine Karte. Bald hatte ich festgestellt, wo
ich mich befand. Das Dorf vor uns hief Livtira
Corna, der Bach Zlota Lipa. Arnjenseitigen Abhang
entlang zogen sich quer einige Haferacker , dazwischen
befanden sich mit Gebüsch bewachsene Boschungen.
Da entdeckte ich etwas, was mich mit
Schrecken erfüllte: einen durch das Gebüsch teilweise
gedeckten, frisch aufgeworfenen Erdwall, die
russische Stellung. Da gab's sicher wieder etwas zu
stürrnen, die beste Gelegenheit zurn Sterben. Ich
krach zurück und erzàhlte rneine Entdeckung den
Kameraden. Sie waren aile – besonders die jungen
Soldaten, die noch kein Gefecht mitgemacht hatten
– sehr niedergeschlagen. Von dem Mut oder Draufgängertum,
von dem Uiglich in Zeitungen und Büchern
zu lesen war, konnte man keine Spur sehen.
DIE KÀMPFE AN DER ZLOTA LIPA-
1./2. JULI 1915
Am Nachmittag des l.Juli kam der Befehl zumFertigmachen.
Wir sollten uns, wenn möglich gedeckt,
ins TaI hinunterschleichen und uns hinter der hohen
Boschung der Eisenbahn sammeln. Zu unserem
Clück zog sich eine mit dichtem Gebüsch bewachsene
Mulde ins Tai hinunter. Dadurch gelangten
wir, von den Russen ungesehen, hinter den Bahn-
.lamm. Die Kompanien, die links von uns den Bahndamm
zu besetzen hatten, konnten schlechter als wir
dahin gelangen, denn sie muliten den mit freiem
!\ckerfeld bedeckten Hang hinunterlaufen. Jeder
licf, wie er wollte. AIs die ersten oben erschienen,
croffneten die Russen sofort ein lebhaftes Schützen-
147
feuer auf sie. Bald war der ganze Abhang mit im
schnellsten Tempo talwärts strebenden Soldaten
überstreut. Wir sahen deutlich die Einschläge der
russischen Infanteriegeschosse, denn bei jedem
Aufschlag flog ein Staubwolkche n auf. Von 3 Kompanien
bliebenjedoch nur etwa 10 Mann getroffen
liegen. Die Russen belegten nun den Bahndamm mit
Schrapnellfeuer. "Vil' waren gezwungen, zur besseren
Deckung Lecher in den Bahndamm zu graben.
Weiland und ich schrieben nun Feldpostkarten nach
der Heimat. Wir hatten jedoch keine Ge\egenheit
mehr, diese\ben bei der Fe\dküche abzugeben an
jenem Tage. Gegen Abend mußten wir uns hinter
dem unten am jenseitigen Abhang hinziehenden
Bahndamm vorarbeiten. Auch hier hatten wir
Glück; durch das Gebüsch, das sich neben einem
dorthin führenden Bächlein hinzog, gedeckt, gelangten
wir ohne Verluste hin. Ais die Sonne bereits
am Horizont verschwunden war, glaubte ich, daß wir
hinterm Bahndamm übernachten würden und der
Angriff erst am folgenden Morgen erfolgen würde.
Ich soli te mich jedoch getauscht haben. Hinter uns
donnerten Artillerieschüsse; die Geschosse sausten
über uns und explodierten oben bei der russischen
Stellung. Vie\e Sprengstücke schwirrten bis zu uns
herunter. –Vorgehen!« schrie unser Regimentskommandeur
von dem hinteren Bahndamm herüber.
Wie mich dieses Wort erschaudern machte! Denn
jeder wußte, daf es für man chen das Todesurteil
war. Am meisten fürchtete ich den Bauchschuß,
denn die armen, bedauernswerten Menschen lebten
gewëhnlich noch 1 bis 3 Tage, bis sie unter den
furchtbarsten Schmerzen ihr Leben aushauchten.
»Seitengewehr aufpflanzen! Zum Sturm vorwärtsl
Marschmarschl– Alles lief nun nach oben. Eine
Strecke weit waren wir durch Gebüsch gedeckt. Ais
wir jedoch das schützende Gebüsch durchbrachen,
wurden wir von einem knatternden Schnellfeuer
empfangen. Aufschreie hier und dort. [… ] Schrecklich
war das Schreien der Verwundeten anzuhören.
148
Leichtverwundete rannten, so schnell sie konnten,
zurück hinter den schützenden Bahndamm. Aber
trotz allem ging's vorwärts. ln das Knattern desInfanteriefeuers
mischte sich noch das Rasseln der russischen
Maschinengewehre. Schrapnells platzten
über unsren Köpfen. lch war derart aufgeregt, daß
ich bald nicht mehr wußte, was ich tat. Abgehetzt,
keuchend kamen wir vor der russischen Stellung an.
Die Russen kletterten nun aus dem Graben und
rannten den Hügel hinauf, dem nahen Wald zu.
Jedoch die meisten von ihnen wurden niedergeknallt,
ehe sie den Wald erreicht hatten. Wir gingen
noch weiter vor bis zum Waldrand, wo wir uns hinlegten,
um Atem zu schopfen.
Langsam senkte sich der Abend nieder, das Schie–
Ben hörte fast ganz auf. Nur vereinzelte deutsche
Granaten sausten über uns, die oben im Walde explodierten.
Auf einmal prasselte links von uns aus
einem vorspringenden Waldstück Infanteriefeuer.
Zing-zing, zischten die Kugeln über uns hinweg. Ein
vielstimmiges Uräh-Ceschrei scholl uns entgegen;
im Dunkel konnte ich no ch sehen, wie die Russen aus
dem Waldstück heraus mit gefaUtem Bajonett auf
uns zugelaufen kamen. Da sie uns von der Flanke
her angriffen, konnten die meisten von uns nicht
gleich schieBen, ohne die VOl' ihnen knienden oder
liegenden Kameraden zu treffen. Einige von uns
zogen sich zurück. achdern ich einige Schüsse abgegeben
hatte, schlich ich mich ebenfaUs zurück. Die
Russen hatten sich hingelegt, und beide Parteien
beschossen sich aus nächster Nähe. Hinter einer B6–
schung gedeckt, wartete ich der Dinge, die da kommen
soUten. Inzwischen war es Nacht geworden,
jedoch konnte man seine Umgebung deutlich sehen.
Mehrere Soldaten huschten an mir vorüber und verdufteten
sich. Die Knallerei hielt imrner noch an,
jedoch schwächer werdend. Da horte ich VOl' mir
Schritte; ein Soldat rutschte die Böschung hinunter,
wo er stohnend neben mir sitzen blieb. »Bist du
verwundet, Kamerad?« fragte ich. Worauf ich die
149
stöhnende Antwort bekam: »ja, Arm und Erust tun
mir so weh.« Ich leuchtete mit der Taschenlarnpe
und sah, daßer eine tiefe Rinne am Hals hatte, aus
der das Blut lief. »Es ist nicht schlimrn«, sagte ich,
»ein Streifschuû am Hals.« – »Am Hals spüre ich gar
nichts. Nul' im rechten Arrn und in der Brust.«
Nachdem ich sein en Hals mit einem Verbandspäckchen
verbunden hatte, wollte ich ihn den Hügel hinunterführen.
Er hatte jedoch nicht mehr die Kraft
zu gehen. Erst da bemerkte ich, daf sein rechter
Arm schlaff herabhing. lch leuchtete nochmals. Da
sah ich am rechten Oberarm seitwàrts den Einschu li.
Der Arm war durchschlagen und die Kugel zwischen
den Rippen hindurch in die Brust eingedrungen. lm
selben Moment liefen wieder mehrere Soldaten an
uns vorüber. lch rief sie an, mir den Verwundeten
hinuntertragen zu helfen. Aber aIle rannten weiter.
Nach einigen Minuten kam ein anderer, der war
gleich einverstanden, mir zu helfen. Wir setzten den
Verwundeten auf mein Gewehr, der eine hielt am
Lauf fest, der andere am Kolben. Der Verwundete
legte seinen gesunden Arm um meinen Hals, und
vorwàrts ging's den Abhang hinunter. Aber wir kamen
nicht weit. Bei der steilen Böschung kamen wir
aile beide ins Rutschen, 50 daf wir mitsamt dem
Verwundeten zu Boden stürzten. lch sagte zu dem
Soldaten, el' solle mein Gewehr und meinen Tornister
tragen; mit seiner Hilfe nahm ich den Verwundeten
auf den Rücken und trug ihn, solange ich
konnte. Dann wechselten wir uns ab. So erreichten
wir das Dorf. Einen Sanitäter, der auf uns zulief und
den ich trotz der Dunkelheit an der weiûen Binde am
Arrn erkannte, fragte ich nach dem Ante. »Das
dritte Haus links ist der Verbandsplatz.. Wir gingen
hin und lieferten unseren Verwundeten ab. Wir
beide hielten uns dort nicht lange auf, denn das
Jammern und Stöhnen sowie das Blut griffen uns an
die Nerven. »Wohin wollen wir P. fragte mich mein
Kamerad. Am liebsten wollte ich in einer Scheune
übernachten, doch ich hatte keine Ruhe. lch wufite
150
nichts über das Schicksal von Weiland und den beiden
anderen ostpreuBischen Kameraden. Also entschlossen
wir uns, die Kompanie zu suchen. Unterwegs
trafen wir am Straßenrand sitzend einen Soldaten,
der einen Schuf durch die Ferse erhalten
hatte. Er hatte sich bis hierher geschleppt, bis er vor
Blutverlust, Schmerzen und Müdigkeit nicht mehr
weiter konnte. Wir beide trugen ihn nach dem Verbandsplatz.
Der Verwundete, den wir vorher dahin
gebracht hatten, lag besinnungslos auf dem Stroh
und schien dem Tode nahe. lnzwischen war es Mitternacht
geworden. Nun machten wir uns erneut
auf die Suche nach unserer Kompanie. Wir trafen
sie hinrer dem Bahndamm, von dem wir den Angriff
unternommen hatten. Die Soldaten lagen oder
hockten dort, die einen schliefen, die anderen stierten
in die Nacht hinaus. leh ging den Bahndamm
entlang und fragte jeden: »Lst Weiland hierP. So
kam ich bis zur Nachbarkompanie. Aber den Weiland
habe ich nicht gefunden. Da sagte mir ein Soldat,
er habe ihn taumeln und stürzen sehen. Er
wisse aber nicht, ob er tot oder schwer verwundet
sei. Eine Nachricht, die mich ganz niederschmetterte.
Gerne wäre ich ihn suehen gegangen, aber
erstens hatte es in der dunklen Nacht keinen Zweck,
und zweitens war es zu gefahrlich, da die Russen,
wie Patrouillen festgestellt hatten, wieder ihre Stellung
besetzt hatten. Die Toten und die meisten
Schwerverwundeten blieben oben liegen und befanden
sich in den Händen der Russen. Nun traf
ich meinen anderen Kameraden, den ostpreuBischen
Studenten. Er sagte mir, daß der junge Lehrer
einen Schuf quer durchs Gesicht erhalten hatte,
der ihm einige Zähne ausgeschlagen und die Zunge
verletzt hatte. Also waren wir von vier guten Kameraden
nur noch zwei. Auch unser Gruppenführer,
Unteroffizier Hiller, fehlte. Die Kompanie hatte
schwer gelitten.
ln meiner Nähe saf der Kompanieführer; er unterhielt
sich mit einem jungen Leutnant, der erst in
151
der Nacht zu unserer Kompanie kornmandiert worden
war. Ich hörte, wie letzterer sagte, daf3 dies wohl
die letzte Nacht seines Lebens sei, denn bei dem
Sturm morgen früh werde er wahrscheinlich fallen,
da doch sein Zug voranmüsse. Auch der Kornpanieführer,
ein erst 19j;ihriger Junge in jageruniform,
seufzte. Ihm graute es ebenfalls vor dem kommenden
Tag. Ich nahm mir fest vor, den Angriff, wenn
irgend möglich, überhaupt nicht mitzumachen.
Langsam graute der Morgen. Einige Mann WUl'–
den zur Feldküche geschickt. Sie brachten Essen,
Kaffee und Brot. Einige Soldaten aßen überhaupt
nichts, aus Furcht, einen Bauchschuf zu bekornmen,
was natürlich mit vollern Magen weit gefahrlicher ist
aIs mit leerem. »Da oben kommt noch ein Verwundeter
«, hörte ich einen Kameraden rufen. Ich
schaute über die Geleise nach oben. Wirklich, da
walzte sich ein Verwundeter immer über und über
den Abhang hinunter auf uns zu. lm Graben jenseits
der Bahn machte el' haIt. Einige Soldaten sprangen
hinüber und holten ihn hinter den schützenden
Damm. Wie der Mensch aussah! Er hatte ein lnfanterie–
Explosivgeschoß in die rechte Wade erhalten.
Die Wade war an drei Stellen, von oberhalb des
Knöchels bis zum Knie, auseinandergerissen. Ein
schrecklicher Anblick! Seine Lippen waren vom
Wundfïeber trocken und aufgespalten. Er verlangte
immer wieder zu trinken und trank mindestens
2 Liter Kaffee. Durch die Büsche gedeckt, wurde er
zurückgetragen.
Mit Grauen erwarteten wir alle den Befehl zum
Sturm. Da setzte das deutsche Artilleriefeuer ein,
jedoch viel zu schwach, um die russische Stellung zu
erschüttern. Welche Niedergeschlagenheit unter
den Soldaten herrschte, laßt sich nicht beschreiben.
Man kam sich vor wie ein zum Tode Verurteilter,
der seine Henker erwartet, die ihn zum Schafott
führen. Sich weigern mitzumachen, das ging nicht,
denn ein Kriegsartikellautet: »Wer var dem Feinde
den Gehorsam verweigert, wird mit dem Tode
152
bestraft!
« Also blieb nur ein Weg: mitzumaehen oder
sich unauffallig irgendwo zu verkriechen.
»Fertigmachen!« Wir mußten uns hinterm Bahndarnm
aufstellen. Eine Kompanie sollte am Bahndamm
in Reserve bleiben, um im Falle eines russischen
Gegenangriffs denselben abzuschlagen. »Vorwärts!
Marschmarsch !>> Über die Bahnlinie ging's.
loch fiel kein Schuû. Wir waren noch durch Gebusch
gedeckt. Absichtlich blieb ich etwas zurück
und kroch blitzschnell unter einen an der ersten
Boschung stehenden, verkrüppelten Eichenbuseh.
Nun ging oben das Geknatter und Hurrageschrei
los. Ich war sehr gespannt, wie der Angriff ausfaIlen
würde. Bald hatte ich die Gewißheit, daß das Schie-
Ben nachlieb. Eine Menge russischer Gefangener,
begleitet von einigen unserer Soldaten, kamen den
Abhang herunter. Der Angriff war geglückt. Zu
meinern nicht geringen Staunen kam nun unser
Kompanieführer, der sich sicher auch gedrückt
hatte, in beiden Händen Munitionspakete tragend,
von unten herauf. Ich dachte: Wenn der sich mit
seinern Leutnantsgehalt [damais etwa 280 Mark im
Monat] drücken konnte, warurn sollte ich's nicht mit
meinen 53 Pfennig Löhnung pro Tag [also 16 Mark
im Monat]! lch selbst holte nun hinter dem Bahndarnm
auch einige Munitionspakete und ging den
Abhang hinauf wieder zur Kompanie, um sa den
i\nschein zu erwecken, aIs wäre ich zum Munitionsholen
zurückgeschickt worden. Mein Zurückbleiben
war nicht aufgefallen. Unterwegs hielt ich unter den
Toten, von denen wohl die Hälfte auf dem Gesicht
lag, Umschau nach Weiland, konnte ihnjedoch nicht
eutdecken ...
Am Waldrand befanden sich mehrere StelIen, die
mit sehr schonen Blumen wie mit einem Teppich
hedeckt waren, Dazwischen lagen einige auf der
Flucht niedergeschossene Russen. Welcher Gegensatz,
die herrliche Natur, dazwischen die armen, unschuldigen,
aus ihrer Heimat gerissenen Opfer des
europäischen Militarisrnusl
153
Die Kompanie war oben damit beschäftigt, sich
cinzuschanzen. lch ging zum Kornpanieführer, bat
um die Erlaubnis, meinen Kameraden Weiland suchen
zu dürfen, da er mir den Auftrag gegeben
hatte, im Falle, daß ihrn etwas zustoûen sollte, seine
Angehörigen zu benachrichtigen. Ich bekam die Erlaubnis
und ging zurück zur SteHe, wo unsere Kornpanie
vorgegangen war, und hielt Urnschau unter
den armen Toten. Viele lagen auf dem Gesicht, und
ich rnubte sie umdrehen. lch erschrak mehrrnals, ais
ich gute Kameraden von mir erkannte. [… ] Dicht
vor der russischen Stellung fand ich meinen Cruppenführer,
den lothringischen Unteroffizier Hiller.
Er lag auf dem Rücken und hatte einen Bauchschuf
erhalten. Er hatte die Hosen heruntergeschoben,
das Hemd hochgezogen, sein Verbandspackchen
zweimal um den Leib geschlungen. Wahrscheinlich
hatte er dabei das Bewußtsein verloren. Seine Tressen
waren an Kragen und Armel abgetrennt; wahrscheinlich
hatten sie die Russen ais Andenken mitgenommen.
Trotz meines Suchens fand ich von Weiland
keine Spur. Ich konnte es mir nicht anders
erklären, ais daß ihn die Russen im schwerverwundeten
Zustand mitgenommen hatten. ln diesem
Sinne teilte ich den Eltern Weilands das Schicksal
ihres Sohnes brieflich mit.
Weiter oben untersuchte ich die Rucksäcke von
zwei toten Russen; aus dem einen nahrn ich ein Säckchen
Zucker und ein Stück Schwarzbrot, aus dem
anderen ebenfalls ein Säckchen Zucker und ein
neues Hemd. Sofort zog ich es an, nahm mein altes,
von Schmutz und Läusen wimmelndes Hemd und
warf es weg. [… ]
Morgens in aller Frühe nahmen andere Regimenter
die Verfolgung auf. Unsere Division muJ3te sich
bei Livtira Gorna samrneln, um an einem anderen
Frontabschnitt eingesetzt zu werden. Ais wir uns in
Marsch setzten, glaubte ich, hinter mir ein lei ses
Schluchzen zu hören. lch schaute mich um und sah
einen Soldatcn unterdrückt weinen. Sie waren zwei
154
Brüder bei der Kornpanie gewesen, der cine aktiv,
der andere freiwillig mit 18 Jahren. Dieser war ein
munteres Kerlchen, den alle gLlt leiden konnten und
der in der Kompanie nur »Bubi« genannt wurde.
Bubi war auch gefallen. Wie mir mm sein Bruder
crzählte, hatte el' ihn selbst begraben.
Gegen Mittag fragte ich den Kompanieführer
ums Austreten und blicb absichtlich zurück. AIs die
ganze Division durchmarschiert war, ging ich gemütlich
hinterher. lm nächsten Dorf traf ich einen
Soldaten rneines Bataillons, der auch genug hatte
und sich einige Tage drücken wollte. Wir kauften im
Dorfe Brot, Milch und Eier und blieben in einer
Scheune über Nacht. So bummelten wir mehrere
Tage hinterher. Mehrere Male wurden wir von Offizieren
aufgehalten und gefragt, woher und wohin.
lch sagte, wir seien von unserer Truppe abgekornmen
und eben im Begriffe, dieselbe aufzusuchen.
lch wuûte ganz genau, daßman, werm man 7 Tage
von der Kompanie weg war, für fahnenflüchtig erklärt
wurde und eine harte Strafe in Aussicht hatte.
So gingen wir zu mehreren österreichischen Abtei-
lungen, die eben in den Dörfern lagerten, meldeten
uns bei irgendeinem Kornpanieführer und baren
ihn, uns seiner Truppe anschließen zu dürfen, bis
wir wieder deutsche Truppen antreffen würden.
Wir wurden dann von der Feldküche verpflegt. lch
hat dann den Kompanieführer um einen Ausweis,
damit ich bei der Ankunft bei meiner Kornpanie
vorzeigen konnte, wo ich mich während meines
Fernbleibens aufgehalten hatte. Sobald wir im Besitz
dicses Ausweises waren, verschwanden wir bei der
nächsten Gelegenheit.
Langsarn näherten wir uns wieder der Front in
Richtung des Stadtchens Brzezany in Nordostgalilicll.
Vor uns in gaI' nicht weiter EnLfernung war ein
schweres Gefecht im Gange; den ganzen Nachmittag
klamgen der Donner der Kanonen, das Rasseln der
Maschinengewehre und das Infanteriefeuer von
vorne. Wie schon es doch war, cincm Gefecht von
155
weitern zuzuhoren, statt dasselbe mitzumachen. Gegen
Abend flaute das Feuer ab. Viele Leichtverwundete,
die meisten mit Arrn- oder Handschüssen, kamen
an uns vorüber. Es waren Soldaten meiner Division,
ebenso viele Österreicher. Nach einer Weile
ging eine große Kolonne gefangener Russen, geführt
von einigen deutschen Soldaten, ebenfalls an
uns vorüber.
Erst am anderen achmittag gingen wir wieder
weiter. Eine Brücke führte über einen Bach. Mich
überkam grol3e Lust zu baden, denn den ganzen
Sommer hatte ich noch keine Gelegenheit dazu gehabt.
Wir beide zogen uns aus und unterzogen uns
einer gründlichen Reinigung. Ich erschrak, ais ich
meinen nackten Körper betrachtete. Derselbe hatte
eine gelbgraue Farbe und war zum Skelett abgemagert.
Überall war die Haut wegen der Lause aufgekratzt,
besonders unten bei den Knöcheln, Soweit
die wollenen Chaussettes [Socken] reichten, waren
mehrere Wunden vom Kratzen. Der Korper meines
Kameraden bot dasselbe J ammerbild. Nach dem Baden
setzten wir uns an die Sonne und fïngen in
unseren Hemden und Kleidern Lause. Jeder fïng
mehrere hundert dieser schrecklichen Qualgeister.
Nachher ging es wieder weiter. Links und rechts von
der Stral3e befanden sich viele Weidenbüsche,dazwischen
sah ich viele Schützenlöcher. Ais wir aus
dem Gebüsch herauskamen, befanden wir uns auf
der Stelle, auf der tags vorher das Gefecht stattgefunden
hatte. Aus den Weidenbüschen heraus war
der Angriff der deutsch-österreichischen Infanterie
erfolgt. Die russische Stellung hatte sich auf einer
kleinen Anhöhe befunden. Vor dem Graben zog
sich ein teilweise zerschossener Drahtverhau hin.
Von dem Weidengebüsch bis zur russischen Stellung
dehnten sich flache, deckungslose Wiesen aus. Darauf
lag zerstreut eine Menge Gefallener, Deutsche
und Österreicher. Vorne lag eine Zickzacklinie dieser
Annen. Wir beide gingen von der Stralie herab,
um sie naher anzusehen. Viele hatten noch den Spa-
156
ten in der Hand, sie waren beim Eingraben getroffen
worden. Die Deutschen waren vom 43. Infanterieregiment,
aiso von unserer Division. Viele waren
ganz neu eingekleidet und ausgerüstet. Sie waren
allem Anschein nach erst vor wenigen Tagen aus
Deutschland angekommen und hatten hier den Tod
gefunden. ]edenfalls waren sie glücklicher zu schätzen
aIs diejenigen, die jahrelang das Elend mitmachen
und dann doch fallen muûten. An einer Stelle
führte eine Auffahrt nach der höher gelegenen
Straße, dahinter lagen 15 bis 20 Gefallene in- und
übereinander. Dieselben waren wohl von einem russischen
MG, das sie schrag von der Flanke hatte
fassen können, zusammengeschossen worden. Ich
schnallte dort von einem Tornister ein neues Kochgeschirr,
warf mein altes, unappetitliches, verrostetes
weg und schnallte das neue auf. Dann gingen wir
wieder weiler. ln der russischen Stellung sahen wir
nur sehr wenige Gefallene Iiegen.
Wir kamen nun in ein Dorf, das von der deutschen
Artillerie zur Halfte in Brand geschossen worden
war. Überall umstanden die Bewohner jammernd
ihre verbrannten, noch rauchenden Wohnstätten.
Eswohnten meist deutsche Ansiedler in jenem Dorf.
Fine Frau, die bei ihrem verbrannten Hause stand,
«rzählte uns, daß ihr Haus bereits vorigen Herbst,
"ci dem Vormarsch der Russen, verbrannt sei. lm
Frühjahr hatten sie es wiederaufgebaut, und nun
stehe sie wieder obdachlos da. Sie weinte zum Herzzcrbrechen.
Von ihrem Mann, der in der Festung
Przemysl war, hatte sie, seit die Russen die Festung
erobert hatten, auch keine Nachricht mehr. Was 50
ein KriegJammer und Herzeleid unter die Menschhcit
bringt!
Zwei Tage spater kamen wir wieder zur Kornpanic,
Ich woilte mich unauffällig dazugesellen, doch
der Kompaniefeldwebel hatte mich bald entdeckt.
Wir hatten wieder einen neuen Kornpanieführer,
dell ich nicht kannte. Zu diesem führte mich der
leldwebel. Ich wurde ganz gehörig abgekanzelt,
157
und mit der guten Nummer in der Kompanie war es
natürlich vorbei. Es war mir alles einerlei, so gleichgültig
war ich geworden. »Sie gehoren exemplarisch
bestraftl– tobte der Feldwebel. Da langte ich meine
Brieftasche aus der Rocktasche, kramte die Bescheinigungen
hervor und hielt sie dem Feldwebel hin.
»Was haben Sie da für einen Wischj'. schrie er.»Bescheinigungen
über meinen Aufenthalt seit meiner
Abwesenheit von der Kornpanie«, antwortete ich.
Ais der Feldwebel alles durchgelesen hatte, sagte er:
»Sie scheinen ein schlaues Schwein zu sein, aber ich
werde Sie noch rankriegen. Machen Sie, daß Sie mir
aus den Augen kommen! «
[… ] Ich traf auf viele unbekannte Gesichter. Es
waren neue Ersatzmannschaften, die aus Deutschland
gekommen waren. Auch hatte die Kompanie
seit meiner Abwesenheit mehrere Verluste erlitten.
Ich kam zufällig' zu der Gruppe, in der mein Kamerad,
der Student aus Ostpreußen, sich befand. »]a,
Richert, wo kommst denn du blof her? Wo warst du
denn die Tage? Ich dachte schon, dir sei etwas zugestoûen!
« sagte er. »Ich habe bloß einige Tage Erholungsurlaub
gehabt hinter der Front«, antwortete
ich, worauf wir beide lachen mußten.
Nun ging es wieder weiter. Infolge der graßen
Hitze litten wir sehr Durst. Auf den schlechten
Straßen und Wegen lagerte bei dem trockenen
Wetter eine Unmasse Staub; durch die rnarschierenden
Kolonnen wurde er so aufgewirbelt, daß
man sich in einer regelrechten Staubwolke vorwärts
bewegte. Der Staub legte sich auf Uniform und
Tornister, drang in Nase, Augen, Ohren. Da die
meisten unrasiert waren, setzte sich der Staub in
die Bärte, der Schweiß rann unaufhorlich hinab,
wahre Bachlein in den bestaubten Gesichtern bildend.
Bei solchen Märschen sahen die Soldaten
ganz ekelhaft aus.
Infolge der unregelmaûigen Verpflegung, der
Uberanstrengung, des schlechten Trinkwassers, der
Hitze und der abgeschwächten Kërper brachen unter
158
de Truppen Krankheiten aus, so die Ruhr, der
Typhus, Magen- und Darmkatarrh, welche viele Opfer
forderten. lch selbst litt oft an Durchfall. Ich
meldete Illich mehrmals krank, bekam dann auch
einige Arzneimittel, kam aber doch nicht ins Lazarett,
da ich noch kr äftig genug war, mich mitzuschleppen.
Wir wurden oft g'egen die ansteckenden
Krankheiten geimpft, was manchmal schmerzhaft
war. Die Stelle der Einimpfung auf der Brust schwoll
manchmal hoch an. Nach diesen Impfungen machten
viele Soldaten auf den Märschen schlapp und
wurden auf von Bauern requirierten Wagen hinten
nachgeführt.
Wir marschierten noch 2 Tage, bis wir in die Nahe
des Städtchens Brzezany kamen. Am 18.Juli abends
erwarteten wir, gedeckt hinter einem mit Weizen
bepflanzten Hügel, die Nacht. Am Tage hörten wir
dauernd Kanonendonner. Ais die Nacht sich niedersenkte,
sahen wir über die Höhe hinweg, daßsich
der Himmel blutig rot farbre: es schienen gewaltige
Brande ausgebrochen zu sein. Nun kam der Befehl,
den Hügel zu besetzen. Wir kamen an mehreren
Gruppen Osterreichern vorbei, die eben dabei waren,
Tate zu begraben. lm Vorbeigehen fragte ich,
was hier eigentlich los sei, erhieltjedoch keine Antwort,
da keiner der Österreicher Deutsch verstand.
Ais wir die Hohe überschritten, sahen wir tief unter
uns mehrere Dërfer sowie einzelnstehende Cehöfte
lichterloh brennen. Es schien uns, als ob die Brande
mit Absicht gelegt worden waren. Mitten in einem
Weizenfeld, das nach vorne schrag abfiel, muûten
wir uns eingraben, etwa in 10 m Entfernung von
Mann zu Mann. Es wurde uns streng verboten, uns
bei Tagesanbruch zu zeigen, da die Russen die Stelle,
\VO wir lagen, gut übersehen konnten. So lagen wir
den ganzen Tag im Loche,jeder einzeln für sich. Die
Sonne brannte den ganzen Tag unbarmherzig hernieder,
qualender Durst stellte sich ein, und jeder
sehnte sich na ch dem kühlen Abend in der Hoffnung,
dass dann von der Feldküche Kaffee oder
159
doch wenigstens Wasser geholt werden konnte. Ich
war in meinern Loch eingeschlafen, als ich plotzlich
von einern lauten Krach aufgeschreckt wurde.
Gleich darauf schwebte eine Wolke schwarzer, stinkender
Granatrauch über mich. Eine Granate hatte
kurz vor mir eingeschlagen. Wahrscheinlich hatten
uns die Russen im Weizen entdeckt. Nun karn Granate
auf Granate, welche teils kurz hinter oder seitwarts
von mir explodierten. Es war mir ganz unheimlich
zumute, und ich vergaf sogar den qualenden
Durst. Endlich hörte die Schießerei auf, und
langsam senkte sich der Abend nieder. Der Tau
setzte sich an Gras und Halm. Um etwas Kühle und
Feuchtigkeit in den Mund zu bekommen, leckte ich
den Tau ab. Wir hofften, abends da wegzukornmen,
mußten jedoch bis in der Frühe des nachsten Morgens
bleiben. Da hieß es, die Russen hatten sich zurückgezogen.
Wir standen auf und betrachteten die
Gegend vor uns. Nirgends fiel ein Schuß, ebenso sah
man keine Spur von den Russen. Die Feldküche kam
angefahren, wir erhielten Essen: Kaffee, Brot sowie
Rauchrnaterial. Dann ging es wieder vorwärts durch
verbrannte Dörfer, die die Russen absichtlich eingeäschert
hatten.
Am Nachmittag stief3en wir wieder mit der russischen
Nachhut zusammen. Wir mußten in Schützenlinien
ausschwarrnen und gegen die Russen vorgehen.
Sie zogen sich bald zurück. ur von einem
runden Hügel, etwa 1500 m rechts var uns, bekamen
wir in die Flanke lebhaftes Infanteriefeuer. Durch
die große Entfernung hatte das Feuer jedoch nur
geringe Wirkung. Plötzlich stief mein Nebenmann
einen markerschütternden Schrei aus, ließ das Gewehr
fallen, drückte beide Hände VOl'das Gesicht
und schrie immerfort herzzerbrechend. Ich sprang
zu ihrn hin und sah das Blut zwischen seinen Fingern
hindurchlaufen. »Was hast du, Karnerad>. schrie
ich. »Die Augen, die Augenl– rief el' weinend. »Ich
sehe nichts mehr! « Ich zog ihm die Hände vom Gesicht
weg und erschrak heftig. Der arme Mensch war
160
blind geschossen. Eine Kugel hatte ihm beide Augen
aufgerissen, sa daf sie ausliefen. Ein Jammerbild,
wie ich noch wenige gesehen hatte. DasJammern des
Kameraden ging mir, sosehr ich auch abgehartet
war, so sehr zu Herzen, daß mir selbst die Tranen
herunterliefen. »Ach, wenn mich doch nur eine Kugel
toten würdel– jamrnerte er. Da immer noch Kugeln
um uns schwirrten, zog ich ihn auf den Boden
nieder und wickelte meine beiden Verbandspackchen
mn seinen Kopf, tröstete ihn, so gut ich konnte,
und versprach ihm, bei ihm zu bleiben und ihn dann
zurückzuführen, sobald das Feuer nachließ. Nach
einer Weile kamen 2 Sanitäter, die uns hatten liegen
sehen, und führten ihn zurück. Ich selbst lief der
Schützenlinie nach.
Wir rasteten auf einer Anhöhe, von wo man eine
weite Sicht nach vorne hatte. Wir konnten mit dem
bloßen Auge die Kolonnen der zurückgehenden
Russen sehen. ln einem flachen Tale var uns lag ein
Dorf. Wir sollten dasselbe besetzen. Die Einwohner
hatten ihre paal' Mobel sowie Fenster und Türen von
ihren Hütten weg ins Freie getragen, im Falle, dass
ihr Dorf in Brand geschossen wurde. Eine Frau gab
mir im Vorbeigehen ein grolks Stück Brot. [... ]
DER MARSCH NACH RUSSISCH–POLEN
Am anderen Morgen muûte sich das Regiment sammeln.
Es hieß, wir sollten an eine andere Front transportiert
werden. Die einen sagten, nach Italien, die
anderen, nach Frankreich, wieder andere, nach Serbien
hinunter. Am liebsten wäre es mir gewesen,
wenn es nach Frankreich gegangen ware. Erstens
wurde man während der Reise nicht totgeschossen,
und zweitens hoffte ich dort auf eine baldige Gelegenheit,
auszukneifen und in Gefangenschaft zu gehen.
Den Russen traute ich nicht, und es wurde uns
vorgelogen, die gefangenen Deutschen würden
161
nach Sibirien geschickt, um dort in den Bergwerken
zu arbeiten, wo die meisten balel vor Kälte undEntbehrungen
zugrunde gehen würden.
Bald wurden wir gewahr, daf wir uns aile getäuscht
hatten. Den ganzen folgenden Tag marschierten
wir hinter der Front entlang in westlicher
Richtung. Gegen Abend kamen wir vor das Städtchen
Przemyslany. Dort wurde haltgemacht. Wir
mußten in Gruppenkolonnen antreten und soUten
vor einigen öster reichischen Generalen im Parademarsch
vorbeimarschieren. Das fehlte noch! Mit unseren
müden Knochen! Ich selbst mußte mich an
den rechten Flügel der Gruppe stellen, da ich ais
aktiver Soldat den Parademarsch vorschriftsmäûig
gelernt hatte. Eine osterreichische Regimentsmusik
fing an zu spielen. »Irn Gleichschritt, marschl- Erst
etwa 30 Schritt vor den Cenerälen sollten die Beine
rausfliegen. Ais ich die beiden vollgefressenen, mit
Orden und Auszeichnungen vollbehängten Dickwanste
sah, die mit der kältesten Miene der Welt den
Vorbeimarsch abnahmen, erfaûte mich eine derartige
Wut, daßich es nicht über mich bringen konnte,
im Paradeschritt zu marschieren, und es ging im
Gleichschritt vorüber. Ein Feldwebel, der hinter mir
an der Spitze des dritten Zuges war, sagte dann zu
mir: »Na, Richert, warum sind Sie nicht marschiert?
« – »Ich war zu müde«, antwortete ich ihm.
»Sie hatten ganz recht«, sagte el' dann zu mir, »solchen
Blödsinn braucht man eigentlich nicht in
Kriegszeiten.« Die Nacht und den folgenden Tag
verbrachten wir in einem Dorfe. [... ] Statt dass wir
uns richtig ausruhen durften, mussten wir allen möglichen
Blödsinn exerzieren: Crüssen üben, Parademarsch,
Einzelmarsch, kurz: wie auf dem Kasernenhof.
Von da ab sollte nur des Nachts marschiert werden,
um den russisehen Fliegern unmüglich z.u rnachen,
die Truppenbewegung zu beobachten. Mit
dem Dunkelwerden ging es weiter. [… ] Nach etwa
15 km trat ich zur Kolonne hinaus, um zu lesen, was
162
an einern Kilorneterstein stehe. »Lwow J 3 krn «, las
ich. Lwow heilit auf deutsch Lemberg, die Hauptstadt
Galiziens. Diese Stadt will ich mir ansehen:
auch kann ich dort sichcr allerhand einkaufen,
dachte ich. Ich wulite ganz genau, daßman nie in
einer grösseren Stadr einquartiert wird , Also musste
ich auf eigene Faust dorthin gelangen. lch trat aus
der Kolonne und fragte den hinter der Kompanie
reitenden Kornpanieführer, austreten zu dürfen.
»Ja«, antwortete er, »aber machen Sie, dass sie so
schnell ais moglich wieder in Ihr Loch kommenl– –
»Jawohl, Herr Leutnant«, antwortete ich, sprang
über den Straßengraben, ging hinter einen Busch,
stellte den Tornister auf den Boden und setzte mich
darauf. Der Vorbeimarsch der Division wollte kein
Ende nehmen. Da ich unter dern Tornister geschwitzt
hatte, bekam ich in der kühlen Nacht ganz
kalt auf dem Rücken. Endlich, nach etwa 2 Stunden,
fuhren die letzten Bagagewagen vorbei. Ich hing
rneinen Torriister um, mein Gewehr um den Hals,
zündete eine Zigareue an und ging gemütlich hinterher.
Nach etwa einer halben Stunde kam ich zu einem
einzelnstehenden Cehoft. Das Scheunentor war unverschlossen.
Ich ging hinein, kroeh ins Stroh und
schlief bald ein. Ich erwachte, ais mir die Sonne
durch ein Loch im Schindeldach ins Gesicht schien.
Eine Frau, die eben im Hof die Hühner fütterte, war
ganz erstaunt, als sie einen deutschen Soldaten aus
der Scheune kommen sah. Ich ging ZlI ihr hin und
grüßte sie auf polnisch: »Tschen dobra, madka!«
Worauf sie erwiderte: »Tschen dobre, pan!– Das
heißt: »Cuten Morgen, Frau. Guten Morgen, Herr.«
Ich fragte sie nun um »rnilka«, »jaika«, »rnasla« und
»kleba« (Milch, Eier, Butter und Brot), zeigte ihr
meine Brieftasche und sagte: »Pinunze«, das heiût
»bezahlen«. Die Frau winkre mir, hineinzukommen,
und setzte balel das Verlangte auf den Tisch. Sie
mußte làcheln, ais sie sah, welches Quantum ich vertilgte.
AIs ich sart war, steekte ich noch etwas Brot
163
und einige Eier in rneinen Brotbeutel, bezahlte, bedankte
mich und ging hinaus, denn ich hö rte a us der
Richtung, aus der wir gestern nacht gekommen waren,
WagengerasseI. Eine Trainkolonne karn angefahren.
Vorne ritt ei n Leutnant. Obwohl mir absolut
niehts fehlte, hinktc ich nach der nahen Straûe, bat
den Leutnant, mitfahren zu dürfen, da ich fuûkrank
geworden sei und meiner Truppe nicht mehr nachfolgen
konne. Der Leutnant, der ein gutes Herz zu
haben schien, schrie zurück, man solle mir in einem
Wagen Platz machen. Ich bestieg den zweiten Wagen
der Kolonne, legte mich hinter den Fuhrrnann auf
einige Sacke unter das gewülbte Zeltdach. Wir unterhielten
uns eine Weile; der freundliche Trainsoldat
gab mir auch aus einer Flasehe Cognac zu trinken.
Diese Gelegenheit wurde von mir gehorig ausgenützt.
Dann schlief ich ein. Durch ein seltsam surr endes
Ceràusch wurde ich aufgeweekt. Ich kroeh untel'
dern Zeltdach hervor und sah, daßieh mich in einer
Stadt befand. Das konnte nur Lemberg sein. Das
Ceräusch rührte von einem eben vorbeifahrenden
Trambahnwagen her. Auch fuhren wir eben an einem
Mar kt vorbei, wo auf Verkaufsstanden alles
mögliche zum Kaufen feil war. Sehnell nahm ich
Abschied vom Trainsoldaten und kletterte den Wagen
hinab. Nun ging es ans Einkaufen. Schokolade,
Wurst, Süßigkeiten vom Zuckerbacker und so weiter.
Dann ging ich in ein Gasthaus und lief mir ein
gutes Mittagessen vorsetzen. Nach dem Essen besichtigte
ich die Stadt. Es befanden sieh herrliehe
Straßen und sehr schone Gebäude darin, die ich in
Galizien nicht gesucht hätte. Zufällig karn ich zu
einem Militärauskunftsbüro, ging hinein und fragte,
wo das 2. Bataillon, Infanterieregiment 41 sieh gegenwartig
befande. [… ] lch karn eben bei meiner
Kompanie an, als sie sich zum Weitermarseh fertigmachte.
Unauffällig gesellte ich mich lU meiner
Gruppe. »Hcute nacht geht's bis zum Städtchen
Rawa Ruska, 35 krn«, hief es. Aulierhalb des Dorfes
gab es eine Stockung auf dern Marsche. Wir sollten
164
wieder im Paradeschritt VOl'einigen deutschen und
österreichischen Ceneràlen und höheren Offizieren
vorbeimarschieren. Von hinten tönte cler Ruf:
»Rechts ran l- Eine Kraftlastwagenkolorme fuhr
langsam an uns vorbei. »Wohin fahrt ihr P. horte ich
hinter mir einen Soldaten den Chauffeur fragen.
»Nach Rawa Ruska«, lautete die Antwort. Sofort
kletterten mehrere Soldaten auf die Camions [Lastwagen],
ich ebenfalls, trotz der wütenden Rufe der
Offiziere und Unteroffiziere. Nach etwa l y~ Stunden
hatten wir Rawa Ruska erreicht. Verschiedene
Einwohner waren noch nicht zu Bett. Wir gingen in
eine Bäckerei und kauften uns eine Menge Milchweeken,
koehten in einem Bauernhaus Miich dazu
und legten uns nach dem Essen ins Stroh, während
unsere Karneraden in der dunklen Nacht hierher
tappten. Am Morgen suehten wir unsere Kompanie,
die in einem Obstgarten schlief. Jeder von uns legte
sich zu seiner Gruppe. Am Abend ging's dann wieder
wei ter. Bei Rawa Ruska schienen schwere
Kämpfe stattgefunden zu haben. Überall sahen wir
Schützenlocher, Granattrichter und Soldatengräber.
Wir begegneten sehr oft Abteilungen russischer
Gefangener, die se hl' glücklieh schienen, in Cefangenschaft
gekommen zu sein. Der Marsch dauerte
6 Tage, dann hörten wir VOl' uns Kanonendonner.
Wir näherten uns wieder der Front. Wir befanden
uns nun in Russisch-Polen, links yom Flusse Bug.
Hier waren fast alle Dörfer und Cehöfte abgebrannt,
nur die gemauerten Ofen und die Kamine
standen noeh. Die Gegend war hier fast ganz eben.
Am Tage sahen wir nicht allzu weit VOl'uns Brande
und Schrapnellwolkchen in der Luft. »Morgen früh
werden wir eingesetzt, um die hier starke russische
Stellung zu durchbrechen!« hief es. Eine schöne
Aussicht!
165
KÀMPFE lN RUSSISCH-POLEN
ENDE JULI 1915
ln der Nacht mußten wir vorgehen. Wir kamen an
vielen deutschen Batterien vorbei, die hauptsächlich
an den Waldrändern aufgestellt waren. ln einem
groûen Kartoffelfeld muêten wir uns eingraben. Die
Schüsse der Infanterie knallten weiter vorne, sa daß
ich Hoffnung hatte, daf wir beim Angriff in Reserve
bleiben würden. AIs der Tag graute, fing die deutsche
Artillerie an, die russisehe Stellung zn beschie–
Ben. [... ] Das Kleingewehrfeuer dauerte lange an, 50
daßwir nicht wissen konnten, wie der Kampf ausgefallen
war. Endlich ka men viele russische Gefangene
mit erhobenen Händen an uns vorübergelaufen. Ich
sah mehrere, die ganz gekrümmt daherkamen, sich
mit den Händen den Bauch hielten und stohnten.
Das waren Kranke, die mit der Ruhr oder Magenund
Darmkatarrh befallen waren. Diese armen Teufel
hatten aueh eine gute Pflege in Aussieht. »Fertigmachen,
vorwartsl- Tornister wurden umgehangt,
und vorwarts ging's. Bald kamen wir var die rus sisehe
Stellung. Gott, wie sah es dort aus! Sehr viele
gefallene Deutsche lagen vor und in dem Drahtverhau,
der teilweise von Granaten auseinandergerissen
war. Die Deutsehen muliten hier sehon vor einigen
T'agen ohne Erfolg angegriffen haben, denn
viele der Toten waren bereits in Verwesungübergegangen
und strömten einen entsetzlichen Gestank
aus. Es waren Bayern; dies sah ich an den Lowen, die
sieh auf den Knopfen ihrer Uniformen befanden.
Die preufiischen Regimenter hatten Kronen auf
ihren Rockknöpfen. Ieh sah dort Gefallene mit
sehrecklichen, angefaulten Kopfwunden, die bereits
von Würmern und Maden wimmelten. Schnell
bahnte sich jeder einen Weg über Cranatlocher und
wirren Draht, um aus dem Bereich dieses Geruchs
herauszukornmen. Dicht vor der russischen Stellung
sah ich einen Russen liegen. Er sah aus wie ein Sack
KartoffeIn, an dem ein Bein war. Kopf, beide Arme
166
sowie ein Bein waren weggerissen, die Wunden waren
ebenfalls mit Würmern bedeckt.
Die russische Stellung war sehr stark ausgebaut,
mit Balken bedeckt, darauf waren Bretter gelegt,
und das Ganze war mit Erde zugedeckt. Nur vorne
über dem Erdboden befanden sich die offenen
Schieûscharten. Die Russen hatten nur sehr wenig
Verluste, einige von Volltreffern in der Stellung Getroffene.
ln Schützenlinien ging es wieder weiter.
Var uns sahen wir das Städtchen Grubeschow. Wir
glaubten dort auf Widerstand zu stoûen, konnten es
jedoeh kampflos besetzen. Es dauerte nicht lange, da
kamen russische Schrapnells herangeflogen. Wir
suchten hinter den Häusern Deckung. Zwei Frauen,
wahrscheinlich Flüchtlinge, suchten auf dem freien
Platze ein graßeres Kalb festzuhalten, das durch das
Sausen und Krachen der Schrapnells wild geworden
war. Trotz der um sie einschlagenden Schrapnellkugeln
lieben die beiden Frauen nicht von dem Kalb
ab. Wir sehrien und winkten, sie sollten doch zu uns
in Deckung kommen; alles half nicht. Da, ein Schrei,
eine der beiden war am Arm von einer Schrapnellkugel
durehsehlagen. Die andere Frau lief nun das
Kalb ebenfalls los, welches in tollen Sprüngen davonjagte.
Ich sprang mit noch einem Kameraden zu
der Frau. Wir beide schieppten sie hinter die Hauser
in Deckung, wo sie ein Sanitäter verband.
Gegen Abend hörte das Feuer auf. Ich schaute
nun um eine Hausecke und sah die russischeInfanteriestellung
am Rande eines Weizenfeides, etwa
700 m entfernt. Zwischen uns und den Russen befand
sich eine Mulde, durch welche ein Bach floû.
Hier müssen wir jedenfalls wieder angreifen, dachte
ich. Da es nachts zu regnen anfing, schiiefen wir in
den Häusern. Diese waren mit Soldaten vollgestopft,
so daßmir nichts übrigbIieb, aIs mich vorne in ein
Bett zn legen, in dem hinten an der Wand ein jüdisehes
Flüchtlingsmädchen schiief. Ich betete Ieise
den Rosenkranz, um beim morgigen Angriff wieder
wohlbehalten durchzukommen
167
DER ANGRIFF BEI GRUBESCHOW
30.JULI 1915
Am nachsten Morgen mullten wir hinter den Häusern
mehrere schmale, tragbare Brücken bauen, da
Patrouillen in cler Nacht festgestellt hatten, daf der
zwischen uns und den Russen vorbeifließende Bach
tief mit Treibsand angefüllt war, so daßein Durchschreiten
unrnöglich war. lch clachte bei mir: Das
wird was abgeben, wenn wir beim Angriff auf so
freiem Celande die Brücken zum Bach tragen und
ihn dann im Gänsemarsch überschreiten müssen!
Dieses Unternehmen schien mir tollkühn. Gegen
Abend ging's los; im Laufschritt wurden die Brükken
zum Bach getragen, dann folgten – ebenfalls im
Laufschritt-die lnfanteristen. Aber, 0 Wunder, von
drüben fiel kein Schuß. Ich dachte: Entweder haben
sich die Russen zurückgezogen, oder sie wellen uns
nur naher herankommen lassen, um uns mit
Schnellfeuer zu vernichten. Erst als wir die Brücken
überschritten hatten, fielen var uns einige Schüsse.
Ein Soldat fiel, durch die Stirn geschossen, einem
anderen wurde die Kinnlade zersehmettert. Dann
fiel gar kein Schuf mehr. lm Laufschritt ging es nun
mit Hurrageschrei auf die russisehe Stellung los.
Nichts regte sich. Ais wir vor dem Drahtverhau ankamen,
sahen wir auf einmal eine Menge Gewehre
mit Bajonett, auf denen russische Mützen hingen
oder weiûe Tücher angebunden waren, hin- und
herschwenken. Es wagte keiner der Russen, auch
nur den Kopf zum Graben herauszustrecken. VoU
Freude kletterten wir über den Drahtverhau. AIs ich
in den Graben hineinschaute, standen die Gewehre
an den Wänden umher. Die Russen waren wieweggeblasen.
lch rief in den Graben hinein. Da wurde
unter mir ein angstliches Gesicht sichtbar. Es befanden
sieh nach vorne, unter unseren Fülien, Höhlen:
in diese hatten sich die Russen in ihrer Angst verkrochen.
lch lachte gegen den Russen und deutete ihm,
nur herauszukommen. Nun kamen sie, einer nach
168
dem anderen, heraus. Einige wollten uns Geld geben,
andere Butter, Brot und so weiter, daf wir
ihnen nichts tun sollten. Wir waren ihnen jedoch
sehr dankbar, denn durch ihr Verhalten hatten sie
manchem von uns sozusagen das Leben geschenkt.
Sie wurden nun aufgestellt und gezahlt. Es waren
450 Mann, 5 Offiziere mit 4 Maschinengewehren.
Wenn sie sich verteidigt hatten, wäre von uns kein
einziger vor ihren Graben gelangt. Wir übernachteten
in der russischen Stellung. Zur Sicherung wurden
Feldwachen und Vorposten aufgestellt. Jedoch
blieb alles ruhig.
Ais es morgens hell wurde, wurden ich, der ostpreuliische
Student und noch ein Soldat nach einem
etwa 1km vor uns liegenden Waldstück geschickt,
um dasselbe abzusuchen, Solche Befehle waren selten
gut auszuführen. Ohne das geringste zu bernerken,
kamen wir in den Wald. Der Student legte hier
die groHte Unerschrockenheit an den Tag. Jede
Vorsicht auber acht lassend, ging er vor uns her, mit
dem Gewehr im Arrn wie auf der Hasenjagd. Am
jenseitigen Wald rand schauten wir durch die Büsche
und sahen in etwa 1500 m Entfernung russischeInfanterie,
die eben mit dem Aufwerfen von Schützengraben
beschäftigt war. »Herrgott, schon wieder
eine Front vor uns! Wo blof die Russen diese Soldateri
alle hernehrnen!« sagten wir uns. Der Student
und ich blieben innen am Waldrand liegen, der andere
Soldat ging mit der Meldung zur Kompanie
zurûck. Abwechselnd beobachteten wir nun mit meinem
Glas die Russen. Viele von ihnen rupften Hafer
und Gras aus und streuten es auf die frisch aufgeworfene
Erde, um so die Stellung unsichtbar zu machen.
Dann kam der Soldat zurück mit dem Befehl,
wir sollten am Waldrand liegenbleiben, bis wir durch
Truppen abgelost werden würden. Gegen Mittag
besetzte ein Reserve-Infanterieregiment den Wald.
Am Nachmittag sollten einige Kompanien eine
Mulde rechts von uns, die mit Büschen bewachsen
war, besetzen. lm Laufschritt liefen die Soldaten
169
zum Walde hinaus. Sofort kamen russische Schrapnells
angeflogen. Wie vom Blitz getroffen sah ich
einen Soldaten gleich vor dem Waldrand zu Boden
stürzen. Hinter einer Eiche lag ein Leutnant mit
seiner Ordonnanz. Von rechts kamen aus weiter
Ferne groHe Granaten herangeflogen. Eine der selben
schlug neben der Eiche ein, hinter der die beiden
lagen. Sic wurden zur Seite geworfen und blieben
tot liegen. Wir drei liefen nun, von Zeit zu Zeit
hinter den Stämmen Deckung suchend, zurück. Ein
Kornpanieführer legte die Pistole auf uns an und
schrie, wenn wir noch einen Schritt zurückgehen
würden, knalle er uns nieder. Er glaubte, wir seien
Soldaten seines Regiments. Ich lief zu ihm hin und
teilte ihm den Befehl mit, den wir von unserer Kornpanie
erhalten hatten. Dann gingen wir zurück zu
der russischen Stellung, wo wir unsere Kompanie
verlassen hatten, doch dieselbe war weggerückt. Wohin,
hatten wir keine Ahnung. Wir gingen zurück
nach Grubeschow, kauften uns Lebensmittel und
übernachteten bei einer Judenfamilie, wo wir in einem
Zimmer am Boden schliefen.
Wir suchten 2 voIle Tage, bis wir unsere Kornpanie
wiederfanden. Drei Kompanien des Bataillons
lagerten bei einem Gute, die vier te kampierte einige
hundert Meter weiter weg auf freiem Feld. Bald
erfuhren wir die Ursache. Injener Kompanie waren
2 Cholerafälle vorgekommen, die todlich verlaufen
waren. Viele Soldaten, die an Durchfall litten, kamen
zur Beobachtung in Seuchenlazarette. Cholera,
das fehlte noch, um die Serie der Leiden vollzurnachen!
Diese Seuche war gefahrlicher als die Kugeln
der Russen, denn dagegen gab es keine Deckung.
Wir wurden mehrere Male dagegen geimpft. Die
Nacht und den folgenden Ruhetag verbrachten wir
in einem armseligen, dreckigen polnischen Dorfe.
lch ging in ein Haus, um Eier zu kaufen. AIs ich die
Stubentür öffnete, fuhr ich erschrocken zurück. ln
der Stube lagen zwei tote Frauen am Boden, wahrscheinlich
Opfer der Cholera. Der eine der beiden
170
Köche bei der Feldküche, der uns am Morgen noch
den Kaffee ausgeteilt batte, lag, ais wir das Mittagessen
holten, tot in einern Holzschuppen. Ebenso starben
am selben Tage noch 2 Soldaten an Cholera. Es
war ein schrecklicher Tod; sie wälzten sich am Boden
hin und her, krürnmten sich wic ein Wurm und
drückten fest immer die Hände gegen den Leib. Sie
muliten sich immer erbrechen, ebenso HoHder Sruhl
dauernd. Die Augen hatten schon die Farbe des
Todes angenommen, als die Ärrnsten immer noch
bei Verstande waren. Gegen Abend muûten wir antreten.
Unser Regimentskommandeur, ein Freiherr
von und zu, hielt hoch zu RoHeine Rede: »Kameraden,
ich fühle mich etwas unwohl. Morgen muf ich
mich für einige Tage zur Erholung in ein Lazarett
begeben. Ich wünsche und hoffe, euch aIle bei meiner
Rückkehr gesund anzutreffen. Wegtreten!« Am
anderen Morgen in aller Frühe hief es, der Regimentskommandeur
sei gestorben, ebenfalls an der
Cholera. Es wurde uns allen unheimlich zumute. Da
die meisten einen verdorbenen Magen und aft
Durchfall hatten, befürchtete man immer, ebenfalls
von der Krankheit befallen zu sein. Es wurde streng
verboten, Wasser zu trinken, das nicht abgekocht
war.
GEFECHT BEI CHELM (RUSSISCH-POLEN)
ANFANG AUGUST 1915
Morgens in aller Frühe verlielien wir das von der
Cholera verseuchte Dorf. Wir waren etwa 2 km
marschiert, als vorne schon die Knallerei losging.
Unsere Vorhut war auf Russen gestoHen. Wir muliten
uns hinlegen und abwarten. Allem Anschein
nach waren die Russen stärker aIs zuerst angcnommen,
denn plötzlich karn der Befehl: »Ausschwärmen
und vorgehen!« Vorläufig waren wir noch
durch eine sanft ansteigende, mit Hafer bepflanzte
171
Anhöhe gedeckt. Auf der Höhe angekommen, sah
ich var uns wellenförmiges Hügelland, meist mit
Hafer bepflanzt, dazwischen ein weit verstreutes
Dörfchen. Von den Russen konnte ich nichts sehen,
obwohl uns sofort Infanteriegeschosse umschwirrten.
»Hinlegen, eingraben!« Kaum hatten wir
einige Spatenstiche getan, aIs 4 Schrapnells über
uns platzten; mehrere Mann wurden verwundet,jedoch
keiner schwer. Sie konnten aIle ohne Hilfe
zurücklaufen. Die Batterie schoß mindestens 20 SaIven,
aber alles knapp über uns hinweg. Jeder arbeitete,
so schnell er konnte, mu so bald als moglich
gedeckt zu sein. Dann saßen wir in unseren Lachern,
die Sonne brannte uns unbarmherzig auf
den Pelz. »Becker, hast du noch etwas zu trinken?«
rief ich einen Kameraden an, der ein Loch vieUeicht
1Y2 m von mir gegraben hatte. Keine Antwort. Ich
dachte, er sei eingeschlafen, und kroch zu ihm hinüber.
Aber welches Bild bot sich mir! Becker saf in
seinem Loch und starrte mich an. Ich sah, daß el'
etwas sagen wollte, er brachte aber keinen Ton heraus.
Er mußte sich immer wieder erbrechen. Rock
und Bose waren ganz voU davon. Ich untersuchte
ihn und entdeckte eine Schußwunde im Nacken.
Die russische Infanteriekugel hatte die locker aufgeworfene
Erde durchschlagen, war in den Nacken
eingedrungen, wo sie dann wahrscheinlich in der
Kehle sitzen geblieben war. Ich verband ihm den
Hals, weiter konnte ich ihm nicht helfen. Matt griff
er nach meiner Band und schaute mich flehend an.
Ich verstand die Cebärde und sagte: »[a, Becker,
ich bleibe bei dir.« Ich steckte unsere beiden Seitengewehre
links und rechts von ihm in die Erde,
schnaUte sein en Mantel vom Tornister und spannte
denselben über die Seitengewehre, damit er vor
den heiBen Sonnenstrahlen geschützt war. Von
links kam der Befehl: »Fertigmachen zum Vorgehenl-
Ich bat noch 3 Kameraden, doch hierzubleiben,
um Becker am Abend zurückzutragen. Sie waren
gleich zufrieden, denn es war ihnen wie mir
172
lieber, im Loche zu liegen, als vorzugehen. Unser
Gruppenführer war vorher von einem Schrapnell
verwundet worden und zurückgelaufen, so daß niemand
da war, uns vorzutreiben. »Vorwärts, marschrnarsch!
« scholl das Kommando. Die Soldaten
sprangen aus den Löchern, und schon fingen die
Russen wie wahnsinnig zu schieûen an. Viele Kugeln
pfiffen über uns hinweg und durch den Hafer.
Was vorn los war, wußten wir nicht. Auch hatte keiner
von uns vieren den Mut, den Kopf über den
Hafer hinauszustrecken und Ausschau zu halten.
So lagen wir bis gegen Abend in den Löchern. Dann
breiteten wir Beckers Zelt auf den Boden, legten
ihn darauf. Zwei Mann zogen vorne an den Zipfeln,
2 Mann schoben hinten. Das war ein Transport!
Alles rnuûte im Kriechen geschehen, denn wir durften
über dem kurzen Bafer nicht sichtbar werden.
Endlich, nach vieler Müh' und Schweiß, kamen wir
hinter die Höhe, wo wir aufrecht gehen konnten.
Für Becker war dieser Weg der wahre Kreuzweg.
Er winkte mit beiden Händen zum Zeichen, daß el'
gehen wollte. Ich faßte ihn auf einer Seite, ein Kamerad
auf der anderen. Wir hoben ihn auf und
führten ihn eine Strecke weit, dann knickte er wieder
zusammen. Wir legten ihn wieder aufs Zelt und
schleppten ihn ins Dorf zum Bataillonsarzt. ln einer
Stube, in der schon viele Verwundete lagen, legten
wir Becker aufs Stroh. Ich bat den BataiUonsarzt,
sich doch seiner anzunehmen. Er kam, besah die
Wunde und gab mir durch einen Blick zu verstehen,
daß hier jede Hilfe nutzlos sei. Dann ging er
wieder zu anderen Verwundeten. Wir nahmen Abschied
von Becker. Er schien schon halb bewuûtlos,
denn er lag ganz still.
AIs wir aus dem Haus traten, wurde eben eine
Truppe gefangener Russen zurückgeführt. Zwei
von uns steckten ihr Bajonett aufs Gewehr und gingen
aIs Begleitmänner mit. Da es nun dunkelte,
suchten wir bei den anderen Quartier für die Nacht,
schleppten Stroh in eine leere Stube und legten uns
173
darauf. Jedoch der Magen fing an zu knurren, und
zum BeiBen hatten wir nichts. Ich stand auf, ging
hinter das Haus und machte im Gemüsegarten beim
Mondschein ein Kochgeschirr von Kartoffeln aus.
Nun sollten wir noch Wasser haben, um sie zu waschen
und zu kochen. Ich ging zu einem Ziehbrunnen,
der an der Straße stand. [... ] Da kam ein Soldat
und sagte: »Karnerad, du mußt hier kein Wasser
nehmen, es ist choleraverdàchtig. Siehst du, da
hängt ein Verbot am Brunnengestell.« Ich hörte
gleich am Akzent, daßder Soldat ein Elsässer war.
Auch kam mir die Stimme bekannt vor. Ich schaute
ihm in sein vom Mond beschienenes Gesicht, und
wirklich, es war der Schorr Xavier von meinem
Nachbardorf Fülleren. »Bisch dü net der Schorr
Xeri vo Füllera?« redete ich ihn an. Er fiel fast auf
den Hintern, ais er sich so angesprochen horte.
»Doch, wer bisch denn dü?« Ich leuchtete mir mit
meiner Taschenlampe ins Gesicht. Er konnte mich
aber nicht erkennen, so abgemagert war ich. Auch
war ich noch unrasiert. Wir gingen nun zusammen
in mein Quartier. Schorr war Unteroffizier und
hatte die Aufsicht über die MG–Kompaniewagen,
brauchte so au ch kein Gefecht mitzumachen und
hatte immer genug Lebensmittel. Er holte in seinem
Quartier ein Kommißbrot, eine Büchse Fleisch, ein
Säckchen Zucker und Zwieback. Ais wir gegessen
hatten, legten wir uns aufs Stroh und erzählten uns
von der Heimat. Ich hatte kurz vorher einen Brief
aus der Heimat erhalten mit der Mitteilung, daßdie
Einwohner von Fülleren trotz der Nähe der Front
noch zu Hause seien. Darüber war Schorr sehr erfreut,
denn er hatte lange keine Nachricht von zu
Hause mehr erhalten. Wir erzählten uns, bis der
neue Tag zum Fenster hereinsah. Da nun Schorr
seinen Dienst versehen mußte, nahmen wir Abschied.
Ich selbst schlief dann bis zum Nachmittag.
Dann brachen ich und mein Kamerad auf, um unsere
Kompanie wieder aufzusuchen. Wir kamen
durch das Celände, wo tags zuvor das Gefecht stattgefunden
174
hatte. Überalliagen vereinzelte Tote, zuerst
Deutsche, dann Russen. [… ] Wir brauchten 2
Tage, bis wir unsere Kompanie wieder trafen. Wir
hatten es auch gar nicht eilig.
GEFECHT BEI WOLODAWA
ANFANG AUGUST 1915
ln der folgenden Nacht marschierten wir wieder
mehrere Stunden. Dann mußten wir uns an einer
sanft ansteigenden Anhöhe zugweise in Reihen eingraben.
lm Dunkel gingen mehrere unserer Bataillone
leise nach vorne an uns vorüber. Keiner von uns
wulite, was los war. Mit Tagesanbruch fingen mehrere
Batterien hinter uns zu schießen an. Der Einschlag
der Geschosse erfolgte ziemlich weit vor uns.
Also lagen wir wieder in Reserve. Vorne ging das
Infanteriegefecht los. Es war aber nur von kurzer
Dauer, die Russen ergaben sich nach geringem Widerstand.
Ihre Artillerie streute mit kleineren Kalibern
das Celände ab. Auf einmal schlug eine
schwere Granate etwa 300 m vor uns ein. Gleich kam
die zweite, sie schlug etwa 200 m vor uns ein, die
dritte 100 m, alle drei genau in der Richtung auf uns
zu. »Du«, sagte ich zu dem ostpreuûischen Studenten,
der bei mir im selben Loche lag, »paf auf, die
nächste sitzt in der Kompaniel– Es war uns unheimlich
zumute; wir duckten uns, so tief wir konnten, in
unser Loch. Dann kam die vierte angesaust. Sie
schlug in ein Loch etwa 3 m vor uns, in welchem 2
Soldaten des ersten Zuges lagen. Ais sich der Rauch
verzogen hatte, sahen wir einzelne Gliedmaßen von
ihnen herumliegen, Teile von Eingeweiden hingen
in der N ähe in einem Strauch, ein schrecklicher und
doch leichter Tod. Die nächste Granate flog über
uns hinweg. Dann hörten die schweren Geschütze zu
schießen auf. Nur noch einzelne Schrapnells kleiner
Kaliber kamen hie und da angeflogen. Da sagte der
175
Student: »Ich rnuf mal austreten« und ging hinter
einen in der Nähe stehenden Busch. Da kam ein
Schrapnell, platzte über ihm. Eine Kugel drang ihm
an der Schlafe in den Kopf. Er war sofort tot. Ich
halte ihn mit Hilfe meiner Kameraden und legte ihn
in das Granatloch, das die große Granate geschlagen
hatte. Die aufgelesenen Leichenteile der beiden anderen
Soldaten lagen bereits darin. Sie wurden nun
zugeschüttet. Ich schnitt mit dem Taschenmesser
2 dicke Stäbe aus dem Gebüsch, nahm eine Weide,
verband damit die beiden Stabe in Form eines Kreuzes
und steckte dasselbe auf ihr Grab. Ein Unteroffizier
schrieb ihre Namen auf ein Blatt Papier, welches
er mit einer Schnur am Kreuze oben festband. Nun
hatte ich den letzten meiner besten Kamer aden verloren.
Es war mir 50 sehr verleidet, daû ich mir bald
nicht mehr zu helfen wuûte.
»Vorwärts, marschl « hief es nun. Wir gingen über
die Felder der russischen Stellung zu. Davor lagen
einige gefallene Deutsche. ln der russischen Stellung,
die wunderbar angelegt und ausgebaut war,
sah ich nur zwei tote Russen liegen. Wir gingen nun
weiter vor und folgten den Truppen nach, die be-
, reits die Verfolgung aufgenommen hatten. ln einem
bis an den Boden abgebrannten Hause bot sich uns
ein grauenhaftes Bild, das uns fast alle erschaudern
machte. ln dem Hause hatte sich wahrscheinlich der
Verbandsplatz der Russen befunden. Ein Haufen
vollständig verkohlter Leichen lag am Boden. Eine
davon war einige Meter entfernt und nur auf der
einen Sei te verbrannt. Wahrscheinlich war es ein
Verwundeter, der sich retten woIlte, aber nicht mehr
weiterkriechen konnte. »Den Heldentod fürs Vaterland
gefallen!« Heldentod! Welche Lüge ist doch
dieses Wort. lch habe sa viel erlebt und durchgemacht.
Aber ich habe unter 1000 kaum einen Helden
entdecken können.
Die Russen hatten sich wieder ganz aus der Gegend
verduftet. Wir marschierten mehrere Tage,
ohne daßein Schuf fîel. Wir kamen in wellenformiges
176
Hügelland, welches meist mit Hafer und Gerste
bepflanzt war. Dort stießen wir mit Russen zusammen.
Ausgeschwarrnt in Schützenlinien ging's var.
Plotzlich bekamen wir starkes Schrapnellfeuer. Von
einem Schrapnell wurde mein Kamerad Anton
Schmitt aus Oberdorf schwer verwundet. Er bekam
3 Kugeln durch Schulter und Oberarm. Ich
schleppte ihn hinter eine in der Nähe stehende
Hütte, wo ich ihn mit Hilfe eines hinzukommenden
Sanitäters verband. Ein Feldwebeljagte mich wieder
in die Linie. Eine Gruppe unter Führung des elsässischen
Unteroffiziers Walter ging ausgeschwärrnt
etwa 100 m VOl' uns. Das Schrapnellfeuer hielt imrnerfort
an. Russische Infanterie konnte ich keine
sehen. Auf einmal wurde es var uns irn Hafer lebendig.
Russen, in Massen, standen plötzlich vor uns. Sie
liefen unter Uräh-Geschrei auf uns zu. Bald hatten
sie die Gruppe Walter erreicht. Die Soldaten Walters
warfen die Gewehre weg und ergaben sich den Russen.
Sie wurden sofort abgeführt. Wir waren alle
sehr aufgeregt, knieten irn Hafer nieder, und jeder
schoû, so schnell el' nur konnte. Wir standen einer
etwa 10- bis 15fachen Überrnacht gegenüber. Die
vordersten Russen schossen irn Vorgehen immer auf
uns. Wir hatten bereits mehrere Verluste. Sie waren
nur noch etwa 50 Schritt von uns entfernt. Ich wollte
eben mein Gewehr wegwerfen, um mich zu ergeben
– ein furchtbarer Moment, wubte man doch nicht,
ob man niedergestochen wird oder nicht-, da ertonte
hinter uns Hurrageschrei, und aus einer
Mulde stürmten 2 Kompanien unseres Regiments.
Sofort schossen sie über unsere Köpfe hinweg auf
die Russen. Die vordersten Russen stutzten. Sie wufiten
nicht, wie stark ihre neuen Angreifer waren.
Einige machten kehrt und rissen die anderen mit
sich. ln wenigen Minuten befanden sich aile auf der
Flucht. Wir schossen ihnen nach, was aus den Gewehren
ging. Sie hatten furchtbare Verluste.
AIs wir nachher durch den Hafer vorgingen, lagen
überall von ihnen die Toten, fast aile auf dem
177
Gesicht. Die Überlebenden waren in einer Mulde im
Felde verschwunden. Die Verwundeten beider Parteien
wurden verbunden und an einen Fahrweg getragen.
Wir muliten wieder weiter. ln Schützenlinien
näherten wir uns einem Wald. Einzelne Schüsse
knallten uns entgegen. Plötzlich glaubte ich, einen
Peitschenhieb auf den rechten Ellenbogen bekornmen
zu haben.lch lief rnein Gewehr fallen, faßte mit
der linken Hand da hin und sah, daßmein Rock von
einer Kugel durchbohrt war. Am Ellenbogen fühlte
ich ein heftiges Brennen. Mein erster Gedanke war:
Gott sei Dank! Jetzt kornm' ich ins Lazarett! Ich lief3
mich zu Boden fallen, um den Russen kein lie! mehr
zu bieten, stülpte den Armel auf und erlebte eine
grof3e Enttäuschung. lch hatte nur einen Streifschull:
Eine Kugel hatte nur eine Rinne in die Haut
gerissen. Ich verband mich mit der linken Hand,
unter Mithilfe der Zähne, und blieb liegen. Ais die
Schüsse vorn aufhörten, ging ich zurück und lief
gerade auf den Bataillonsarzt zu. Ich wollte mich
eben vorbeidrücken, um mich weiter nach hinten zu
begeben, aIs er mich anrief: »Na, Mensch, was haben
Sie eigentlich? Kommen Sie mal her!« lch ging zu
ihm und wickelte meinen Verband auf. »]a, Junge,
das langt nicht fürs Lazarett! Sie bleiben vorläufig
2 Tage bei der Feldküche Ihrer Kompanie. Nachher
melden Sie sich wieder bei mir l- Ja, Feldküche! Wo
bist du? Gegen Abend kam sie angefahren, und ich
ging hinterher, nachdem ich mein Gewehr und meinen
Tornister aufgeladen hatte. [… ]
Nach 2 Tagen meldete ich mich wieder beim Bataillonsarzt.
»So, Sie können wieder in Ihre Kornpanie
eintreten!« Ich wartete bis zum Abend und ging
mit den Essenholern wied el' zur Kompanie. Am
nachsten Tag marschierten wir an der Stadt Brest-
Litowsk vorbei und wandten uns ostwarts durch die
Rokitnosümpfe in Richtung Pinsk. Seit einigen Tagen
hatte ich wieder sehr an Leibschmerzen und
Durchfall zu leiden. Dadurch wurde ich derart abgeschwächt,
daß ich kaum nachlaufen konnte. lch meldete
178
mich wieder krank, muûte wieder zur Kompanie,
Dienst mitmachen. Wir kamen nun in eine waldreiche
Gegend, unsere Kompanie marschierte auf
einem schlechten Waldwegdahin. Pang-päng, knallten
vor uns einige Schüsse. Ein Aufschrei! Einer der
Soldaten hatte einen Schuf mitten durchs Knie erhalten.
Wir mußten uns hinlegen. Die russischen
Vorposten waren fortgelaufen. [… ] Wir muûten uns
im Walde eingraben und abwarten. Am Morgen
hieß es: »Vorgehenl- Es war wieder ein sehr heilier
Tag. [... ] Der Schweiß floß wie Bächlein an unserem
Korper hinab, und der Tornister drückte. Die Füûe
in den Stiefeln brannten wie Feuer. Es war Vorschrift,
daßjeder 300 Patronen mitschleppte. Das
war mir zu schwer. lch warf einfach 200 davon weg.
Meine Leibschmerzen nahmen derart zu, daßich es
nicht mehr langer aushalten konnte. Beim nachsten
Hait meldete ich mich krank. Ieh durfte Gewehr und
Tornister auf die Feldküche laden, mulite jedoch
weiter mitlaufen. Wir übernachteten in einem Gebüschwald.
Dort wurde ich vom Bataillonsarzt für
krank befunden: Magen- und Darrnkatarrh. HeITgott,
wie glücklich ich warl Das kann ich niemandem
beschreiben! Nun wußte ich, daßich von der Front
weg in ein Lazarett kommen würde.
Beim Weitermarseh am nächsten Morgen mufite
ich wieder mit, denn der Bataillonsarzt sagte zu mir,
daß wegen mir alleine kein Sanitätswagen zurückgesehiekt
werden könne; ich solle noch dableiben, bis
mehrere Verwundete und Kranke beisammen seien.
Ich ging nun mit der Bataillonsbagage. Auf einem
fast unbefahrbaren Waldweg trafen wir auf eine
Flüehtlingskolonne. Diese armen Menschen waren
von den Russen zum besten gehalten worden: Wir
würden bei unserer Ankunft alles niedermetzeln.
Hals über Kopf warfen sie einige Lebensmittel und
das Notwendigste auf Wagen und flohen vor uns
her. ln jenem Walde hatten wir sie eingeholt. Es war
eine einsame, fast ganz unbewohnte Gegend. Die
Pferde der Bagage konnten fast nicht mehr weiter-
179
kommen auf dem schlechten Weg. Da wurden einfach
die Pferde der arrnen Flüchtlinge ausgespannt
und als Vorspann genommen. Das Jammern und
Bitten dieser armen Menschen ging mir sehr zu Herzen.
Manche Frauen fielen vor den Soldaten auf die
Knie und baten und flehten, ihnen doch die Pferde
zu lassen. Alles war vergebens. Einige der rohesten
Soldaten kletterten noch auf die Flüchtlingswagen
und stahlen die Lebensmittel. Nun ging's wieder
weiter. Diejammernden Flüchtlinge wurden einfach
stehengelassen.
Vorne fielen einige Schüsse der Patrouillen. Ein
Soldat kam zum Bataillonsarzt mit einem Armschuß.
Am Abend wurden noch zwei krank befunden. Der
eine hatte dieselbe Krankheit wie ich, der andere
Blutbrechen. Die folgende Nacht, die letzte an der
Front, schliefen wir vier unter einem Zelt. Am Morgen
in der Frühe kam ein Sanitater mit einem mit
2 pferden bespannten, leichten Wagen, wie sie in der
Gegend in Gebrauch waren. Wir setzten oder legten
uns darauf, und fort ging's nach rückwärts, Trotz
meiner Leibschmerzen hätte ich aufjauchzen können.
Nun war es sicher, daßich für einige Zeit nicht
totgeschossen werden würde. Auch freute ich mich
rie sig darauf, wieder in einem Bett schlafen zu können.
Meine drei mitfahrenden Kameraden befanden
sich trotz ihres Zustandes in der freudigsten
Stimmung. [… ]
Der Sanitäter gab uns zu Mittag Kommihbrot und
Büchsenfleisch. lch wagte jedoch nicht zu essen aus
Furcht vor den danach wiederkehrenden Leibschmerzen.
[… ] Des anderen Morgens früh fuhren
wir mit einem Krankenauto, etwa 15 Mann an der
Zahl, meist Ruhrkranke, nach Grubeschow, wo wir
in der Nacht ankamen. Die russische, ganz neue
lnfanteriekaserne in Crubeschow war in ein Feldlazarett
umgewandelt worden. Ein verschlafener Sanitäter
empfing uns. Jeder erhielt eine Tasse Tee,
dann wurden uns Betten angewiesen, Soldatenbettstellen,
wie sie eben in der Kaserne üblich sind. Todmüde
180
180
müde legte ich mich hin, deckte mich mit der darüber
liegenden weiûen, wollenen Decke zu und
schlief sofort ein. lch erwachte. Am ganzen Körper
bif und juckte es mich, so daßich mir nich t zu helfen
wuûte. An die Lause war man ja gewühnt, aber so
etwas, das war fast nicht mehr zum Aushalten.
Trotzdem schlief ich gegen Morgen wieder ein. AIs
ich erwachte, war es bereits heller Tag. Ich besah
meine Decke. Herrgott, die wimmelte ganz von Lausen!
[… ] Cerne wäre ich langer liegengeblieben,
aber es war mir unmüglich. lch erhob mich, kleidete
mich an, eine Arbeit, die ich auch nicht mehr gewöhnt
war, denn seit Februar (1915), also bald
6 Monate, hatte ich keine einzige Nacht unangekleidet
geschlafen.
Gefangene Russen, die ais Krankenwärter fungierten,
brachten uns Tee und Kommißbrot. lch
ging hinaus, um mir die Umgebung anzusehen.
Gleich hinter der Kaserne war ein neu angelegter
Soldatenfriedhof. Etwa 10 Russen waren damit beschaftigt,
Graber zu graben. Aus dem ehemaligen
Exerzierhaus, das in ein Lazarett fur Cholerakranke
umgewandelt worden war, wurden eben zwei Leichen
herausgetragen und ohne Sang und Klang von
den Russen beerdigt. Auf allen Gräbern standen
schöne schwarze Kreuze, auf welchen mit weiûer
Farbe der Name, das Regiment und die Kompanie
der Toten verzeichnet waren. Auf den Kreuzen der
Russen stand nur: »Hier ruht ein tapferer Russe«
oder auch: "Hier ruhen drei tapfere Russen«, je
nach der Zahl der Soldaten, die in dem Grabe beerdigt
waren. Auf einem Kreuz las ich: »Musketier
Schneidmadl, 7. Kompanie, 1. Regiment 41«. Ein
Soldat, mit dem ich gut befreundet war. Es war mir
bei der Kompanie schon einige Tage aufgefallen,
daßer fehlte. So mulite ich ihn wiederfinden. lm
Feldlazarett wurden wir unserer Krankheit entsprechend
sehr schlecht verpflegt; es war eben noch
nicht richtig eingerichtet. Mit einem Kameraden
ging ich am Nachmittag in das Stad tchen Grube-
181
schow. Wir hatten Glück. Jeder konnte einen schonen
Laib Weifibrot kaufen, welches jedenfalls für
unsere kranken Magen besser war als das Kommif3-
brot. Auf dem Heimweg wurden wir von einem J uden,
der vor seiner Haustür stand, angehalten.
»Gnädiger Herr, kommen Sie rein, trinken Sie eine
Tasse Tai, können Sie maehen Sehw ... für 2 Mark
mit meiner Tochter, soviel Sie wollen.« Mein Kamerad
haute ihm eine ganz Cehorige ins Gesieht, und
wir gingen wieder ins Lazarett. Viele dieser polnischen
J uden suchten auf aIle mëglichen Arten Geld
zu verdienen, niehts war ihnen zu gemein. Nur Geld,
Geld, weiter schienen sie niehts zu kermen.
Jeden Tag kamen neue Verwundete und Kranke
in das Lazarett, manche waren dem Tode nahe. So
lag aueh ein Soldat neben mir, der sich vor Leibschmerzen
krürnmte wie ein Wurm in der Sonne. Er
hien Simon Duka, aus Obersehlesien. Ais der Arzt
ihn untersuehte, sagte er zum Wärter: »Bringen Sie
diesen Mann nach der Abteilung C!« Das war das
Exerzierhaus, in dem die Cholerakranken untergebracht
waren. Nach 2 Tagen ging ich über den
Friedhof. Auf dem Kreuze, das auf einem ganz frischen
Grab stand, las ich den Namen Simon Duka.
Die Cholera hatte ein Opfer mehr gefordert. Ich
hatte nur den einen Wunsch, so bald aIs möglich von
hier wegzukommen. Ich war 6 Tage in Grubeschow,
aIs wir aIle vom Arzt untersucht wurden. Alles, was
transportfähig war, soIlte anderntags weiter zurückbefördert
werden. Wir fuhren einen halben Tag auf
requirierten Bauernwagen, dann kamen wir zu einer
Feldbahn. Dieselbe war schmalspurig, und die
Züge, bestehend aus kleinen Plateauwagen, wurden
von Pferden gezogen. [... ] Die Gegend war sehr
langweilig und wenig bevölkert, die meisten Cehofte
und Dorfer abgebrannt. [… ] Wir passierten [am anderen
Morgen] die russisch-galizische Grenze. Auf
dem Bahnhof der Stadt Unow bestiegen wir den
Zug, der uns über Rawa Ruska nach Lemberg
brachte, wo wir des Nachts ankamen.
182
IM KRIEGSLAZARETT lN LEMBERG
Das Kriegslazarett in Lemberg, in dem wir untergebracht
wurden, war ein grones Gebäude, eine frühere
Schule. ln dem Saale, der mir zugewiesen
wurde, befanden sich lauter Soldaten, welche an
Ruhr, Magen- und Darmkatarrh sowie Typhus litten.
Alles arme Menschen, welche die Hàlfte der Zeit
auf dem Abort sitzen muHten. AIs Lager dienten uns
am Boden liegende Strohsäcke. Die Verpflegung
war schleeht. Es herrschte überhaupt keine Ordnung;
österreichische Zuständel Langsam sehlichen
die Tage dahin. Es wurde sehr wenig erzählt, denn
fast aile Iitten furchtbare Leibschmerzen. Wenn einer
zu sehr jammerte, karn ein Wàrter, steekte ihm
das Thermometer unter den Arm, um das Fieber zu
messen. Ais ob das etwas nützen körinte. Ein Soldat
war darüber derart aufgebracht, dan er das Thermometer
an die Wand schleuderte, wo es in kleine
Stücke zerschellte. AIs ihn der Arzt deswegen zur
Rede stellte, sagte der Soldat, er verlange, wie ein
Mensch behandelt zu werden. Wir alle konnten
kaum den Tag erwarten, wo wir weitertransportiert
wurden.
REISE ACH DEUTSCHLAND
Endlich nach 6 Tagen ging's zur Bahn. Wir fuhren
3. Klasse. Die Reise ging durch Galizien an der Festung
Przernysl vorbei, dann über Jaroslau, Tarnow
nach Krakau. Wir fuhren auf einer zweigleisigen
Bahn. Alle 5 Minuten fuhr ein Zug aus Richtung
Deutschland an uns vorüber, beladen mit Mannschaften,
Kriegsgerät, Munition und Lebensmitteln.
Die Russen hatten auf ihrem Rückzug särntliche
Brücken zerstort, überall waren hölzerne Notbrükken
erbaut, über welche die Züge nur im Schritt
fahren durften. Manche dieser Notbrücken führten
183
über tiefe Schluchten, 50 daßman sich kaum getraute
hinunterzusehen, Vor der Festung Krakau
hatten wir Aufenthalt; Tausende russischer Gefangener
waren gleich neben der Bahn mit Erdarbeiten
beschaftigt. Ein Gewitter kam, und es fing an zu
regnen, wie ich es noch selten erlebt habe. ln wenigen
Minuten waren die Russen bis auf die Haut
durchnäbt. Die Arbeitsstelle zu verlassen schien ihnen
verboten zu sein. Beim Weiterfahren passierten
wir die galizisch-deutsche Grenze. Unser erster Hait
in Deutschland war die Station Annaberg. Alles
mußte aussteigen, antreten, dann ging' es in die Entlausungsanstalt.
Diese war so groß wie ein kleines
Dorf. Jeden Tag wurden dort Tausende von Soldaten
von ihren Läusen befreit. Wir kamen dort aile
zuerst in einen Großen, erwärrnten Raum, wo wir uns
ausziehen mußten. Alles befand sich im Adamskostüm;
die meisten Soldaten waren derart abgemagert,
daß sie aussahen wie ein Knochengestell. Doch
aile schienen glücklich, weil sie mm wieder in ihrem
Heimatland waren und das angenehme Lazarettleben
in Aussicht hatten. Nun ging es in den Baderaum.
Von oben spritzte das warme Wasser in mehr
ais 200 Strahlen hernieder. Jeder stellte sich untel'
eine Brause. Wie wohl das tat, ais das warme Wasser
den Korper herunterrieselte. Seife war genug vorhanden,
bald waren wir aile ganz weif von Seifertschaum.
Nun noch einmal untel' die Brause, dann
ging es in den Ankleideraum. Jeder bekam ein neues
Hemd, Unterhosen sowie Strümpfe. Unsere Uniformen
waren inzwischen in Großen, eisernen Rohren
aufgefangen worden, die nun bis zu 90 Grad erhitzt
wurden. Die Hitze tötete Lause und Nissen, die sich
in den Kleidern befanden. Die Kleider selbst waren
arg zerknüllt und gelblich geworden. Das war uns
aber einerlei. Wir bekamen Verpflegung, die Magenkranken
Schleimsuppe, die uns weniger Leibschmerzen
verursachte ais festere Speisen.
Nun ging es wieder zur Bahn, Wie wohl uns war,
làusefrei zu sein, kann nur der verstehen, der schon
184
von diesem Ungeziefer gequalt wurde. Auf einem
Bahnhof trank ich ein Glas Bier; ebenso aHich einen
Apfel, den ich von einer Frau geschenkt erhalten
hatte. Es war eine große Unvorsichtigkeit von mir,
die so gut wie den Tod zur Foige hätte haben können.
Ich bekam derartige Leibschmerzen, daß ich
mich im Abteil herumwälzte. Nach und nach ging es
wieder besser. Die Nacht senkte sich nieder. Wo wir
des Nachts hinfuhren, wußten wir nicht. Am andel'en
Morgen hielt der Zug injedem Stad tchen. J edesmal
muliten so viele Kranke und Verwundete aussteigen,
ais Plätze in den Lazaretten frei waren. Die
letzten, darunter auch ich, verlielien in Fraustadt
(Provinz Posen) den Zug. Diejenigen, die nicht lau-
Fen konnten, wurden mit Wagen abgeholt. Das Lazarett
war in der dortigen Infanteriekaserne eingerichter,
darin lagen über 2000 Verwundete und
Kranke. Diejenigen, die an Magen- und Darrnkatarrh,
an der Ruhr und an Typhus litten, kamen in
die Seuchenabteilung, welche sich im Exerzierhaus
der Kaserne befand. Das große, geraumige Exerzierhaus
war in mehrere groHe Zimmer eingeteilt,
darin standen die weilien, reinlichen Betten. Neben
jedem Bett stand ein Nachttischchen, in der Mitte
lange Tische, mit allerhand Büchern, Zeitungen und
Zeitschriften bedeckt. Alles war peinlich sauber gehalten.
Hier wäre es zum Aushalten, dachte ich bei
mir. Neugierig blickten die in den Betten liegenden
Kranken uns an. Jeder von uns bekam ein Bett angewiesen.
Dann kam der Arzt und untersuchte uns
nochmals. Ich muûte mich sofort zu Bett legen. Wie
wohl das tat, ausgezogen, läusefrei in einem weichen,
sauberen Bett liegen zu könnenl
Ich mulite jedoch of t, sehr oft aufstehen und
den Abort aufsuchen. Dabei hatte ich derartige
Schmerzen in den Cedärrnen, daßich mehrere
Male bewulitlos wurde. Es war, ais ob mit rnehrel'en
Bohrern darin herumgearbeitet wurde. Ich
durfte nichts, gar nichts zu mir nehmen ais Haferschleim
oder Reisschleimsuppe. Der Arzt warnte
185
mich, sonst etwas zu genießen, da er sonst fÜT
nichts garantieren könne.
Die Behandlung war sehr gut, Schwestern, Arzt
und Wärter sehr freundlich. Jeden Morgen beirn
Erwachen stand auf jedem Nachttischchen ein
schöner Blumenstrauß, daneben ein Glas Wasser
mit etwas darin zum Mundausspülen. Jeden Tag
kam der Arzt zweimal durch. Nach und nach
wurde ich derart schwach, daßieh nicht mehr aufstehen
konnte. Jeden Samstag wurden wir gewagen.
Das erstemal wog ich noch 118 Pfund in Rock
und Hose, jedoch ohne Stiefel, das zweitemal im
Hemd 115 Pfund, das drittemal 114 Pfund [D. R.
war 1,78 Meter groß]. Fast alles Blut ging im Stuhl
fort. leh mußte oft stundenlang im Bett auf der
Bettpfanne liegen. Die Leibschmerzen wollten kein
Ende nehmen. Meinen Kameraden ging es nicht
viel besser. Manchen sogar schleehter. Von vielen
Kranken kamen die Angehörigen zu Besuch. Wie
gerne hätte auch ich meine Angehörigen gesehen.
[...]
Eines MOI–gens war mein Nachbarbett leer. Der
Kranke, der darin gelegen hatte, ein Familienvater,
war schon mehrere Tage so schwach gevvesen,
daßer kaum noch spreehen konnte. Nun war er in
der Naeht gestorben. Die folgende Nacht starb
wieder ein Ruhrkranker im selben Zimmer. lch erwachte
im Moment, ais die Wärter seine Leiche
hinaustrugen. Trotzdem ich immer Hoffnung
hatte durchzukommen, war mir manchmal nicht
einerlei [sic!], ich tat nichts ais leise beten, bis ich
vor Schwàche wieder einschlief. lch konnte nicht
einmal mehr die Schleimsuppe alleine schlürfen;
die Schwester mulite mir die Tasse an den Mund
halten und mich am Rücken etwas hochheben, so
schwach war ich. 16 Tage bekam ich weiter nichts
ais Schleimsuppe. Wie mir das zuwider wurde!
Wenn ich die Schwester damit kommen sah, ekelte
ich mich zuletzt sehr.
Einmal bei der Visite tat ich, aIs ob ich schliefe.
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Arst und Schwester traten leise an mein Bett.
»Nun, Herr Doktor, was halten Sie von Richert?«
fragte die Schwester leise. » lch habe bestimmte
Hoffnung, ihn durchzubringen. Er hat ein äuûerst
zähes Leben«, antwortete der Arzt ebenso leise.
Wie mich diese Worte glücklich machten! Ich war
von neuer Hoffnung beseelt, denn sterben, das ist
immer etwas Schweres im Alter von 22 J ahren.
Nach und nach fühlte ich mich etwas kraftiger,
ich konnte mich wieder alleine erheben im Bett.
[... ] Wie ein Kind wurde ich wieder ans Essen
gewohnt. Endlich durfte ich etwas anderes genie–
Ben. [... ] ln der ersten Woche, in der ich essen
konnte und durfte, nahm mein Körpergewicht
um 7 Pfund zu. Rasch kehrten die Kräfte zurück,
so daßich wieder gut aufstehen konnte.
Oft saûen wir draußen in bequemen Sesseln und
ließen uns von der Herbstsonne anscheinen. Mir
war so wohl wie noch nié seit Kriegsausbruch. ln
unserem Saal war kein Schwerkranker me hl', so
ging es manchmal laut zu. Es wurden Karten,
Dame, Domino und aile moglichen Spiele gespielt,
um die Zeit zu vertreiben. Es gefiel mir
sehr gut, doch schon oft dachte ich daran, daß
die Herrlichkeit ein jähes Ende finden könne,
denn immer weiter tobte der Krieg. Die gesund
aus dem Lazarett Entlassenen kamen gewohnlich
noch kurze Zeit in ihr Ersatzbataillon, dann wieder
an die Front; davor grau te mir, denn der
Winter stand wieder vor der Tür.
Mein Kamerad Zanger August, mit dem ich immer
in regem Briefverkehr stand, war bald wied erhergestellt,
jedoch untauglich, um nochmals Soldat
zu spielen. Er befand sich noch immer im Reservelazarett
im Rheinland. Er schickte mir einen Aufnahmeschein
vom dortigen Lazarett. Ich freute mich
schon, daßdie Aussicht bestand, wiederzusamrnenzukommen.
Ich zeigte den Aufnahmeschein dem
Arzt und bat ihn, mieh dorthin reisen zu lassen. Er
sagte mir jedoch, daßdas unrnöglich sei, da mein
187
Ersatzbataillon vom Infanterieregiment 41 in Speyersdorf
bei Kënigsberg in Ostpreußen liege. Dann
sagte der Arzt zu mir: »Richert, Sie konnen
einen Erholungsurlaub von 4 Wochen beantragen;
ich werde denselben befürworten.« – »Das
ist mir unmöglich, Herr Doktor«, antwortete ich.
» Meine Angehörigen und Verwandten befinden
sich aile in dem von den Franzosen besetzten
Teil des Elsall.« [… ] »Sie sind wirklich zu bedauern,
Richert«, sagte der Arzt, erkundigte sich
noch, ob ich Nachricht von zu Hause bekommen
hätte, und ging dann wieder weiter. Am nächsten
Tag fragte ich den Arzt, ob ich nicht einem Erholungsheim
für 4 Wochen überwiesen werden
könne. »[a, das ist zu machen«, sagte der Arzt
und brachte mir einen Aufnahmeschein fürs Erholungsheim
bei den katholischen Grauen Schwestern
in Fraustadt. [… ]
Dort wurde ich bei meiner Ankunft sehr freundlich
aufgenommen. Das Erholungsheim war das
frühere Bürgerspital der Stadt Fraustadt. Die Soldaten,
die sich dort befanden, hatten fast durchweg
ein gutes Aussehen. Sie waren bald wieder
reif, um auf die Schlachtbank geführt zu werden!
Die Verpflegung war ausgezeichnet und reichlich,
die Schwestern sehr freundlich und gut. Zwei
freundliche junge Mädchen servierten bei Tisch
die Speisen mit einem freundlichen "Bitte schönl–
Des Morgens wurde bis 8 Uhr geschlafen, dann
wurde aufgestanden, gewaschen, dann erhielten
wir Kaffee, guten Mi1chkaffee mit Semmeln, die
entzweigeschnitten und mit Butter oder Marmelade
bestrichen waren. Um 10 Uhr eine Tasse
Fleischbrühe. Zu Mittag Suppe, Fleisch und Gemüse
oder Gebratenes und Nudeln. Dazu bekam
jeder eine kieine Flasche Bier. AIs Nachtisch Äpfel,
Birnen und hie und da Trauben. Um 4 Uhr am
Nachmittag Tee mit Semmel, natürlich mit Butter
oder Marmelade, manchmai belegt mit Schinken
oder Wurst. Abends 6 Uhr Bratkartoffeln mit
188
Würstchen, nachher Milchkaffee. jeder konnte soviel
nehrnen, wie er wolIte.
Das war eine herrliche Zeit, rrur gingen die Tage
zu schnell um, und die 4 Wochen näherten sich
ihrem Ende. Oft brachten reiche Damen und
Fräuleins aus der Stadt Liebesgaben und unterhielten
sich rnit uns. Die Schwestern spielten oft mit
uns Domino, Dame und so weiter. Die jungen Soldaten,
die oft in einer kleinen Spitalkapelle der
heiligen Messe beiwohnten und auch hie un? da
die heiligen Sakramente empfingen, waren bel den
Schwestern besondes gut angeschrieben.
Jede Woche nur einmal kam ein Arzt, der uns
untersuchte. jedesmal wurden Soldaten gesund erklart
und muûten uns verlassen und sich zu ihrern
Ersatzbataillon begeben. Nun waren meine 4 Wochen
ebenfalls vorüber. » Morgen kommt der
Arzt«, hieß es. An jenem Morgen aß ich gar nichts,
rauchte schnell hintereinander emlge ZIgaretten,
trank den Magen voll kaltes Wasser, rannte hinten
beim Aborr kurz vor der Visite wie wahnsmmg hm
und her und ging dann zur Unternuchung. Der
Arzt konstatierte zu rege Herztaugkelt. Auch hatte
ich infolge des Rauchens und Wassertrinkens auf
nüchternen Magen cin blasses Aussehen. "Sie bleiben
vorlaufig noch eine Woche hier.'" sagte der
Arzt zu mir. Ich hatte vorläufig erreicht, was ich
wollte, und konnte noch sieben der schönen Tage
verleben. ln der letzteu Woche wurden wir wieder
gewogen. Ich wog in Hernd und Hosen 157 Pfund.
Also hatte ich 43 pfund zugenommen. AIs diese
Woche vorbei war wurde ich gesund erklärt und
hekam die Reisebescheinigung nach Speyersdorf
bei Konigsberg. Ich schlief schlecht die letzte
acht, traumte vom Kasernendrill und vom Leben
an der Front. 28. Oktober 1915: ln jener Nacht fiel
der erste Schnee. [... ]
189
IM ERSATZBATAlLLON DES
lNFANTERIEREGlMENTS 41 lN
SPEYERSDORF UND MEMEL
Am Bahnhof bestieg ich den Zug Richtung Kéinigsberg.
Die Reise war langweilig, da es kalt und alles
versehneit war. lch fuhr den ganzen Tag und die
folgende Nacht. [… ] Das Ersatzbataillon des Infanterieregiments
41 war vor dem Orte Speyersdorf
gleich neben der Stralie in hölzernen Baracken untergebracht.
[… ] Der Feldwebel wies mir eine Baracke
an und sagte, daßich mieh um 9 Uhr bei der
Visite des Arztes untersuchen lassen müsse. lch ging
in die Baracke, wo mir ein Bett angewiesen wurde.
leh bekam Kaffee und Kommißbrot. AIs ich den
ersten Bissen Kommillbrot aß, glaubte ich, ein Stück
Erde im Mund zu haben. lch bekam eine große
Sehnsueht nach der guten Verpflegung bei den guten
Sehwestern in Fraustadt. Das war jedoeh vorbei,
und ich mußte mieh ins Unabänderliche fügen. Yom
Arzte erhielt ich 10 Tage dienstfrei und kam in die
Genesungskompanie. Naeh der Untersuchung ging
ich im Hofe spazieren. Es waren viele Soldaten da,
die zu halben Krüppeln geschossen waren und auf
ihre Entlassung warteten. Eben humpelte ein Soldat
an mir vorbei, der in jeder Hand einen Stock hielt,
um sich zu stützen. lch dachte: Der hat sicher beide
Füße durchgesehossen. lm Vorbeigehen sah er mir
ins Gesieht, blieb stehen und rief: »Menschenskind,
bist du nieht der Richert?« – »Ja, der bin ich«, antwortete
ich. »Na, kennst du mieh denn nicht mehr?«
sagte er, worauf ich verneinte. »Wir waren doch in
den Karpaten zusammen, bis mir am Berge Zwinin
beide Füße erfroren!« Nun erkannte ich ihn. Sein
Gesicht war jetzt fast doppelt so breit als darnals in
den Karpaten. Deswegen konnte ich ihn nicht gleieh
erkennen. Er erzählte mir, daß ihm nun alle 10 Zehen
abgenommen worden seien. Jedoch er freute
sich darüber und sagte: »Es ist mir lieber, oh ne Zehen
zu leben, als mit Zehen irgendwo an der Front
190
verscharrt zu werden. Für mich ist der Krieg vorbei,
und ich bekomme 70 Prozent Rente.« Wirklich, er
war zu beneiden, wenn er auch zeitlebens ein halber
Krüppel war. Ich traf an jenem Tage noch mehrere
Soldaten meiner Kompanie aus dem Felde. Mehrere
von ihnen humpelten oh ne Zehen umher. Einer
hatte einen Arm abgenommen, ein anderer einen
Arm und ein Bein steif. Sie schienen jedoch aile
g-lücklich, denn bald konnten sie für immer zu ihren
Eltern zurückkehren.
Am folgenden Tage traf ich Anton Schmitt aus
Oberdorf, den ich im Felde verband, als er von
😉 Schrapnellkugeln verwundet worden war. Er
mulite jeden Tag nach Königsberg, um sich seinen
Arm, der geheilt, aber doch steif war, elektrisieren
und massieren zu Iassen. (Er wurde vollständig wiederhergestellt,
kam später ins Feld, wo er fiel.)
Eines Tages traf ich auch den jungen ostpreußischen
Lehrer, der beim Angriff auf Livtira Gorna
am l.Juli 1915 einen Schuf quer durehs Gesieht
bekornmen hatte. An beiden Wangen hatte er rote
Punkte, Ein- und Austritt der Kugel. Da die Zunge
verietzt war, konnte er nieht mehr so gut spreehen
wie vorher. Er war Vizefeldwebel geworden, da er
das Einjahrige hatte. ln nächster Zeit sollte er Leutliant
werden. Er Iud mieh ein, einen Abend mit ihm
in Kéinigsberg zu verbringen. Wir amüsierten uns
recht gut. Es war jedoch für mieh das erste- und
letztemal, denn mein Portefeuille hielt das nieht
aus. leh hatte weiter niehts als 33 [sic!] lumpige
Pfennig Léihnung pro Tag. Und das reiehte nieht
einmal, um das Néitigste zu kaufen. So konnte ich
zusehen, wie andere Soldaten, die Verbindung mit
der Heimat hatten, Geld und Pakete mit Eûwaren
crhielten und sich's gut sein lieûen, wie sie Theater,
Kinos und Wirtschaften besuchen konnten, während
ich auf die lumpige Soldatenkost angewiesen
war und mit Ieeren Tasehen in den Mond gueken
konnte. Trotzdem fühlte ich mieh glücklieh, werm
ich mein Leben mit dem an der Front verglich, und
191
ich wünschte, dass es immer bis Kriegsende so bleiben
möge.
Ich war vielleicht eine Woche in Speyersdorf, als
das ganze Ersatzbataillon an der Bahn verladen
wurde. Wir fuhren über 1nsterburg, Tilsit, Heydekrug
nach Memel hinauf, wo die Kaserne desInfanterieregiments
41 sich befand. ln der Nacht kamen
wir dort an. [... ] Das Leben dort war doch angenehmer
als in den Baracken. Es war viel wärrner in den
Stuben und besser sauberzuhalten.
Memel ist eine Hafenstadt an der nordostlichen
Spitze Deutschlands, an der Ûstsee gelegen. Da ich
noch nie das offene Meer gesehen hatte, hatte ich
großes Verlangen danach, es zu betrachten. [... ] Ich
ging ohne Urlaub am Torposten vorbei durch die
Stadt nach dem Hafen. Yom Hafen ging ich auf die
Mole, auf welcher vorne an der Spitze ein Leuchtturm
aus Beton stand. [… ] Eben war stürmisches
Wetter, ich konnte mich nicht satt sehen an dem
Bild, das sich mir bot. Immerfort kamen rnehrere
Meter hohe Wellen herangerollt, die sich an der
Mole brachen und zum Teil darüber hinwegspritzten.
Es war, als ob eine Woge die andere jagte. Es
war, aIs ob das Wasser bis auf den Grund aufgewühlt
wurde. [... ]
Am nächsten Tag lief mich der Feldwebel rufen.
Er hatte in meinem Soldbuch gesehen, daf ich seit
Kriegsausbruch im Felde stand und noch keinen
Urlaub erhalten hatte. Ich bekärne 14 Tage Urlaub,
sagte er. »Ich kann denselben nicht annehrnen«,antwortete
ich, »denn ich weif nirgends hinzufahren«,
und klärte den Feldwebel über meine Verhältnisse
auf. »Donnerwetter!« sagte er. »Das ist allerhand.
Na, wir wollen sehen. Es liiI3t sich auch hier leben,
und ich werde Sie beim Dienst berücksichtigen!«
Dieser Feldwebel war ein Mann, wie sie in der deutschen
Armee nicht zahlreich herumliefen. ln den
folgenden T'agen mulite ich wenig Dienst mitmachen,
obwohl die 10 vom Arzt befohlenen dienstfreien
Tage vorüber waren. [… ]
192
Einmal war ich auf Hafenwache abkommandiert.
Ich muûte an dem Tore Posten stehen, das aIle ausund
in den Hafen gehenden Pers onen passieren
mußten. Der ganze Hafen war nämlich mit einem
Gitterzaun umgeben. Wenn die Hafenarbeiter zu
Mittag essen gingen, gab es viel Arbeit, um aIle Passe
nachzusehen. Ebenso, wenn sie wieder ZUT Arbeit
kamen. Es war meist ein ganz gemeines, grobes Volk,
das einen Dialekt sprach, den der Teufel nicht verstehen
konnte. Mehrere fuhren mich grob an, aIs ich
ihre Passe verlangte, denn ich hätte sie doch erst vor
einer Stunde gesehen, als sie zum Essen gegangen
waren. Ich hatte jedoch den strikten Befehl, keine
Person ohne Paß passieren zu lassen. Mir wäre es ja
ganz gleichgültig gewesen, aber ich wußte ja nicht,
ob ich von einem Vorgesetzten beobachtet wurde.
Da hätte ich gleich meine 3 Tage Loch weggehabt.
Ich konnte sie alle beschwichtigen bis auf einen, der
ein ganz gemeiner Mensch zu sein schien. Er wollte
mir unbedingt den PaH nicht vorzeigen. Da trat ich
etwa 2 Schritt zurück, rif mein Gewehr an die Backe
und forderte ihn noch mal auf, den Pa/3 vorzuzeigen
oder sich zu entfernen. Nun gab er nach, zeigte den
Paß und ging brummend hindurch. Am Abend wollten
einige liederliche Dirnen zu den auf den Schiffen
befindlichen Matrosen. Ich lief sie jedoch nicht
durch. Sie gingen zurück. Doch später sah ich, daf
sie über den Zaun kletterten und doch auf die
Schiffe gingen. Was wollte ich mach en? Ich tat, aIs
hatte ich nichts gesehen.
Am nächsten Morgen kam ein etwa 17jahriger
Junge zu mir und ließ sich in ein Cesprach mit mir
ein. Er wollte sich freiwillig zum Kriegsdienst melden.
lch riet ihm davon ab und malte ihm das Leben
an der Front derart vor, daßihm die Haare zu Berge
standen. »Nein, wenn es so ist, will ich lieber warten,
bis ich eingezogen werde.. – »Es wird dann noch viel
zu früh sein«, sagte ich. Er bedankte sich und ging
weg. Ich hatte das GefühI, ein gutes Werk getan zu
haben.
193
Am folgenden Tag war Löhnungsappell, ln Memel
erhieltenwir 53 Pfennig Kriegslöhnung statt 33.
Ais alles entlöhnt war, rief der Oberleutnant: »Musketier
Richert solI vortreten!« Ich hatte keine Ahnung,
weshalb, trat vor und stand still. »Es ist meine
Pflicht«, fing er an, »der Kompanie von Ihrer mutigen
und energischen Haltung auf Posten bei der
Hafenwache Mitteilung zu machen. Ich spreche Ihnen
meine voile Anerkennung aus. Sie sind närnlich
yom Offizier der Runde beobachtet worden, ais Sie
jenen rohen Lümmel von Hafenarbeiter zum Vorzeigen
des Passes zwangen.« Ich war ganz überrascht.
Nun, schaden kann esja nichts, wenn man bei
den Vorgesetzten eine sogenannte gute Iumrner
hat.
Eines Sonntagabends wurde ich zur Wirtschaftspatrouille
kommandiert. Wir waren ein Unteroffizier
und 2 Mann. Wir mußten die Gewehre mitnehmen
und den Helm aufsetzen. Der Unteroffizier war
ein ganz gemütlicher Mensch, der den Kopfvoll von
Spaûen hatte. Er benahrn sich gar nicht ais unser
Vorgesetzter, sondern ais Kamerad. Wir hatten den
Auftrag, nach der Polizeistunde in den Wirtschaften
Feierabend zu bieten und Soldaten, die keinenUrlaubsschein
hatten, aufzuschreiben und zu melden.
Wir besuchten mehr ais 20 Wirtschaften. Kaum
blinkten unsere Helrne in der Gaststube, ais der Win
oder die Wirtin uns zum Schanktisch rief, einem
jeden einen Humpen oder ein Cläschen Cognac hinstellte
und uns zum Trinken aufmunterte. Nach und
nach bekamen wir ganz gehorige Schwipse. Den SoIdaten,
die wir auf der Straße trafen und die keinen
Urlaubsschein hatten, sagte der Unteroffizier, sie
sollten nur hinter der Kaserne über die Mauer klettern
und sich nicht erwischen Iassen. Die Soldaten
waren sehr froh, denn aIs wir sie anhielten, glaubten
sie bestimmt, ins Loch zu fliegen. So kamen wir auch
in ein öffentliches Haus. Herrgott, wie die halbnackten
Dirnen zusammenfuhren, als wir eintraten.
Denn sie wußten, daß ihnen, wenn sie nach der Polizeistunde
194
Polizeistunde die Bude nicht geschlossen hatten und
erwischt wurden, das Haus geschlossen wurde. Unser
Unteroffizier tat, ais wolle er eine Meldung
schreiben. Die Dirnen baten und flehten, wollten
uns schmeicheln und küssen und alles mögliche. Der
Unteroffizier jagte ihnen eine ganz gehorige Angst
ein. Schließlich muI3te er doch lachen, zerriI3 die
angefangene Meldung und sagte, sie brauchten
keine Angst zu haben; worüber sie sich nicht wenig
freuten und gleich 2 Flaschen Bier hinstellten. Wir
hatten jedoch genug getrunken und gingen in die
Kaserne, um unseren Rausch auszuschlafen.
Am nachsten Tag hieß es, daI3 ein Transport Ersatzmannschaften
von unserem Ersatzbataillon nach
der russischen Front geschickt werden sollte. Das
wirkte wie eine Bombe. Jeder befürchtete, nach der
Front geschickt zu werden. Vor dem russischen Winter
hatten aile einen heiligen Respekt. Es war eben
erst Ende November. 1ch wußte bestimmt, daß ich
auch an der Reihe war, denn ich war ganz gesund
und hatte 110ch ein gutes Aussehen von der guten
Lazarettverpflegung.
Da kam plotzlich der Befehl: »Alles antretenl– Das
Ersatzbataillon soIlte ~O Mann nach Pillau senden,
zur 1. Ersatzmaschinengewehrkompanie des 1.Armeekorps.
»Wer freiwillig zu den Maschinengewehren
gehen will, soli sich meldenl– Ich war einer der
ersten, der vorsprang. Denn ich dachte: Sei es, wie es
will, es ist immer besser aIs an der Front. Und die
MG-Mannschaften brauchen nie einen Bajonettangriff
mitzumachen, das ist auch was wert! Also
wurde ich nach Pillau bestimmt.
195
BEI DER
ERSATZMASCHINENGEWEHRKOMPANIE
DES I. ARMEEKORPS lN PILLAU
Am folgenden Tag- fuhren wir ~() Mann mit der
Bahn nach Königsberg, von da nach Pillau. Das
Städtchen liegt an der Spitze einer [… ] Landzunge,
die vom Festland in die Ostsee hinausragt. Pillau ist
von drei Seiten mit Wasser umgeben: nach Nordwesten
von der Ostsee. nach Südwesten von der Einfahrt
ins Frische Haff und nach Osten yom Frischen
Haff selbst. PilIau selbst ist eine Seefestung. Gleieh
hinter dem Städtchen liegt auf einer kleinen Anhohe
das Fort Stiele.
[… ] Wir hatten vom Bahnhof etwa eine Viertelstunde
zu gehen bis zur Kompanie. Dieselbe bewohnte
einstückige, gemauerte Baracken. Davor
muJ3ten wir antreten. Der Kompaniefeldwebel namens
Hoffmann, ein Mann mit einem machtigen
Körperbau, Bulldoggenstirn und Stiernacken, hielt
eine Begrûfiungsrede, und was für eine! Ich glaube
nicht, daSS naeh Cayenne [1852-1938 berüchtigtste
Straflingsinsel Frankreichs in Französisch-Guayana]
gebrachte Verbrecher mit soleh unvernünf ..
tigen Worten empfangen werden würden. Dann
wurden wir in die Stuben verteilt, wo uns Spinde
und Betten zugewiesen wurden. Alles war in peinlichster
Ordnung und Sauberkeit. Daran konnte
man schon sehen, dan hier eine äulierst strenge Disziplin
zu Hause war, ahnlich wie in den Kasernen
var dem Krieg. Am folgenden Tag begann die Instruktion
über das Masehinengewehr. Das war nicht
sa einfach, bis man die Namen aller Teile und Teilchen
kannte und das Zusammenarbeiten aller Teile
beim SchieHen erfassen und dann selber vortragen
konnte. Das Excrzieren draulicn im Sehnee
war viel unangenehmer, auch waren die mit Steinen
gefüllten Munitionskästen sehr schwer zu
schleppen.
Die Unteroffiziere, die sehon im Felde gewesen
196
waren, behandelten uns viel bosser als jene, die immer
in Garnison geblieben waren und derien das
Schleifen und Qualen der Soldaten zur Cewohnheit
geworden IVar. Eine Zeitlang gehürte ich zur Gruppe
des Unteroffiziers Altrock, der ein dumrnes Luder
war, aber uns Ull1 so besser drangsalieren konnte. Es
war mir rnanchmal verleidet, doch trostete ich mich
darnit, daf ich hier doch nicht totgeschossen wurde.
Manchmal mubten wir das MG mehrere hundert
Meter im Kriechen durch den Schnee schleppen;
dabei kam der Schnee in die Armel. fast bis zu den
Achseln hinauf. Ebenso hatte man die Stiefel davon
voll. Die Hände waren so kalt, dali man das Eisen am
Gewehr fast nicht mehr anfassen und halten konnte.
Am kältesten IVar es, werm der Wind über die Ostsee
pfiff und wir am Strande exerzierten.
Die Verpflegung war ziemlich gut, besser als in
Memel. lu Mittag gab es oft Kartoffeln mit Solie und
2 Künigsberger Klopse (Fleischknödel), die ich
gerne aû. Jeder durfte nur eine Portion holen. Mehrere
Male gelang es mir jedoch, 2 Portionen zu erhaschen,
denn die Klopse schmeckten abends gut zum
KommiI3brot. Ich machte, daßich beim Essenernpfangen
einer der ersten war, aI3 dann schnell meine
Portion auf und schlof mich hinten an der Reihe an.
Einmal erwischte mich der Unteroffizier, der beim
Essenholen die Aufsicht hatte, und meldete rnich
dem Ungeheuer von Feldwebel Hoffmann. Das wird
was Schönes absetzen! clachte ich mir. leh warjedoeh
derart abgehartet, dan mi ch die Sache ziernlich
gleiehgültig lien, und fressen konnte mieh Hoffmann
ja nieht. »Richert soli auf die Schreibstube
kornmen!« hien es. Ich ging hin. »Sie Kaffer! Sie
stamrnen wohl aus der Polakei, daßSie an einer
Portion nicht genug bekommen. Sie wollen wohl ins
Loch fliegen?« Alles war in einem Ton gesproehen,
daß die Wande zitterten. Ais er fertig war, bat ich,
sprechen zu dürfen, und erzählte ihrn, daßich aus
dem von den Franzosen besetzten Teil des Elsasses
starnmte, daher keine Verbindung mit der Heirnat
197
hätte und einzig auf die Verpflegung in meiner Kaserne
angewiesen sei. »So, wenn das so ist, können
Sie meinetwegen 2 Züge holen!« Hoffmann schien
doch noch ein bilichen menschliches Gefühl im
Leibe zu haben! So konnte ich jeden Tag 2 Portionen
empfangen. Die eine Portion sparte ich gewöhnlich
für den Abend auf und wärrnte sie dann auf dem
Ofen.
Einmal wurde ein Film gegeben, über den ich
mich ärgerte. »Franktireurs- hieß er. Es wurden aile
möglichen Schliche und Kniffe gezeigt, wie die französische
Zivilbevölkerung einzelne oder mehrere
deutsche Soldaten in ihre Gewalt lockte und dann
ermordete. Diesel' Film diente dazu, den HaI3 gegen
die Franzosen noch wei ter aufzustacheln. Dabei
wuûte ich, daßes in diesem Krieg gar keine Franktireurs
gab. [… ]
Nun nahte das Weihnachtsfest heran. Ein schöner
Christhaum wu l'de in einem groI3en Saale aufgestellt;
zuerst wurden einige Weihnachtslieder gesungen,
dann das »Deutschland, Deutschland über alles-
und »Heil dir im Siegerkranz«. Solcher Blödsinn!
Der Hauptmann Grosse, ein Elsässerhasser,
hielt eine Rede, die wohl in die Kriegszeit paûte, aber
urn so weniger an Weihnachten. Dann erhielt jeder
eine kleine Bescherung.
Wir waren nun am Maschinengewehr vollstandig
ausgebildet, und der Dienst war nicht mehr so
streng. [… ] Manchmal hatten wir ScharfschieI3en
mit dem Maschinengewehr. Anfangs war ich etwas
aufgeregt, wenn das Geknatter losging. Beim guten
Funktionieren des Maschinengewehres konnten wir
in der Minute 2 Gurte, 500 SchuI3, hinausjagen. [… ]
Auf meiner Stube herrschte untel' den Soldaten
eine gute Kameradschaft. Mein bester Kamerad war
ein Ostpreuße namens Max Rudat, dessen Eltern
eine groI3e Landwirtschaft betrieben und der von
ihnen oft Paketchen erhielt, von denen el' mir immer
etwas abgab. Eines schönen Tages Mitte Januar 1916
mubten wir antreten. Die MG-Kompanie des 1nfanterieregimentes
198
44, welches an der nordrussischen
Front vor der russischen Festung Dünaburg lag,
hatte 16 Mann Ersatztruppen verlangt. 1ch hatte das
Pech, zu den 16 zu gehören. Mein Freund, der nicht
eingeteilt war, bat den Feldwebel, mit mir an die
Front gehen zu dürfen, was auch geschah.
Am folgenden Tag erhielten wir reichlich Verpflegung
auf die Reise. Ais ältester Soldat wurde ich
als Transportführer bestimmt. Nachdem wir Abschied
von unseren gIücklichen Kameraden genommen
hatten, ging es zur Bahn. Herrgott, wie wird das
wieder werden! j etzt, mitten im Win ter, in die eisige
Kälte Rußlands hinein! Jedenfalls hab' ich noch eine.
nen Kameraden, dachte ich. Damit trostete ich mich
ein wenig.
DIE REISE NACH DER NORDRUSSISCHEN
FRONT – MITTEjANUAR 1916
Wir bestiegen in Pillau den Personenzug und fuhren
nach Königsberg. [… ] Die Fahrt ging über 1nsterburg,
Gumbinnen. Bei Eydtkuhnen passierten wir
die preuHisch-russische Grenze. Gleich beim Eintritt
in Rußland war die Bauart der Hauser wieder armseliger.
[… ] Wir passierten die Festung Kowno, fuhren
über den Fluf Njemen, der ganz mit treibenden
Eisschollen bedeckt war. 1mmer weiter ging die
Fahrt über Radsiwilischki, Rakischki, Abeli nach Jelovka.
Wir kamen an, als es Abend wurde. Wir konnteri
mit noch vielen anderen Soldaten, meist Urlauhern,
in Baracken schlafen. Da nicht eingeheizt war,
Iroren wir, obwohl wir uns in unsere Decken hüllten.
(· ..)
199
BEI DER MG-KOMPANIE,
INFANTERIEREGIMENT 44
Am Morgen […] kamen wir in dem hohon Schnee
nur langsam vorwärts. Endlich, nach 2stündiger
Wanderung, erreichten wir das Gut Neugrünwald.
Von der Front tönten einzelne Kanonenschüsse herüber.
Ich meldete mich beim Kompaniefeldwebel
und teilte mit, daßdie 16 Mann Ersatz aus Pillau
angekommen seien. Der Kompaniefeldwebel namens
Kaminsky machte einen guten, freundlichen
Eindruck auf mich. »Na«, sagte er, »Lhnen wirds
hier schon gefallen.« Er kam mit mir hinaus, ich lief
die 16 Mann stillstehen, wie das eben Vorschrift war.
Der Feldwebel fragtejeden nach seinem Namen, wo
el' her sei und so wei ter. Dann wies er uns einen
Raum an, in dem ein Ofen und Soldatenbetten aus
Draht waren. Wir waren aIle über den Empfang bei
der Kompanie zufrieden, denn hier herrschte ein
viel freundlicherer, kameradschaftlicherer Ton als
in Pillau. Gleich mußten wir Essen empfangen. Es
war gut und reichlich. Die ersten beiden Tage
brauchten wir gar nichts zu tun als nur im Walde
Holz zum Heizen holen.
Das Gut Neugrünwald bestand aus einem groHen
Wohnhaus und mehreren Stàllen und Nebengebauden.
[… ] Die Reserveschützen, zu denen wir 16 gegenwartig
gehorten, waren in 2 Räumen untergebracht.
lm ErdgeschoH des Wohnhauses wohnte der
Bataillonsstab, in einem Nebengebäude eine Kompanie
»Schipper«, wie man die Soldaten ohne Waffen
nannte, die hinter den Fronten ReservesteIlungen
bauen mußten. lhr richtiger Name war Armierungssoldaten.
ln einem kleinen Nebengebäude war
eine Kompaniebadeanstalt eingerichtet. Drei Badewannen
standen bereit, in denen sich die Soldaten,
die aus dem Schützengraben kamen, reinigen konnten.
Ein Barbier muhte jedem, der es verlangte, unentgeltlich
die Haare schneiden und rasieren. Beque-
mer konnte man es wirklich nicht verlangen. [… ]
200
200
Am dritten Abend, mit dem Dunkelwerden, muß-
ten wir nach der Front, Arbeitsdienst machen. Der
Weg führte fast eine Stunde immer durch düsteren
Tannenwald. Vorne an einem Waldrand in einer
kleinen Mulde mußten wir warten. Hier hörte ich
wieder die ersten Kugeln pfeifen. »Na, Max, wie
gefaIlt dir diese Musik?« fragte ich meinen Freund
Max Rudat, der noch nie im Felde gewesen war.
»Offen gestanden, Nickel«, antwortete er, »ich finde
die Sache etwas unheimlich.«
Nachdem wir eine halbe Stunde gewartet hatten,
karnen von vorne einige Mann unter Führung eines
Unteroffïziers durch den Schnee. Nun mußten wir
schwere Stahlplatten von 2 m Lange und 1rn Breite
nach vorne tragen. Es war eine Schinderei, bis die
Platten auf die Schultern gehoben waren. Da man
ganz dicht zusammenstand, konnte man nur ganz
kurze Schritte machen. Wir mussten über freies Gelande
nach dem Schützengraben gehen. Der Schnee
reichte uns bis an die Knie. Wenn die Russen Leuchtkugeln
in die Hohe schossen, muliten wir stehenbleiben,
um nicht so gut gesehen zu werden. Dicht hinter
dem Graben legten wir die Platten nieder. Wir
schleppten 8 Stück nach vorne. Bei der letzten Platte
wurden wir wahrscheinlich von den Russen bemer
kt, denn viele Schüsse knaIlten, und die Kugeln
pfiffen dicht um uns. Jeder hätte sich gern fallen
lassen, nur war dies unmoglich. Da rief ich: »Achtung
– schmeisst weg!« Die Platte flog zu Boden,
während aIle links und rechts etwas zurücksprangen.
Dann steIlten wir die Platte hoch und knieten
uns dahinter. Klatsch, schlug eine Infanteriekugel
vorn in die Platte. Wie das klang! Nach einer Weile
hörte die Schieûerei auf, und wir trugen die Platte
nach varne. Dann ging's in schnellem Tempo zurück
nach Neugrünwald, denn aIle hatten nasse, kalte
Füsse und verlangten nach heiliem Kaffee.
Am folgenden Tage erhielt ein Mann vorne einen
Armschufi. Ein Sanitater brachte ihn zurück nach
Neugrünwald. Ich rnulite meine Sachen packen, um
201
vorn in der Stellung seinen Platz einzunehmcn.
Vorne am Wald rand gingen der Sanitater und ich
durch den Laufgraben nach der vorderen Stellung.
Ich war ganz erstaunt, ais ich die Stellung bei Tage
sah. Wirklich, so was harre ich noch nie gesehen! Der
Graben war auf beiden Seiten mit Tannenstangen
verschalt, am Boden lagen sogenannte Roste aus
Dachlatten, so daß man sich keine Stiefel dreckig
machte. Jeder lnfanterist hatte seine Schießscharte.
ln der vorderen Grabenwand waren Kästchen mit
Munition und Handgranaten angebracht. Der Graben
schien fast ganz verlassen, nur die Posten standen
in gedeckten Postenstanden und beobachteten
durch den Grabenspiegel, eine Art Periskop, die
russische Stellung. Die anderen Soldaten hielten sich
in warmen Unterständen auf, die schrag nach hinten
eingebaut waren. »Hier«, sagte der Sanitäter zu mir,
»wohnt Ihre Besatzung. Sie haben einen guten Unteroffizier..
lch ging in den Unterstand. Dichter
Tabakrauch füllte denselben wie dichter Nebel,
darin sah ich 4 Mann an einem Tisch Karten spielen.
Ein weiterer Soldat war eben mit Briefeschreiben
beschaftigt. ln dem Unterstand befand sich ein kleines
Ofchen, das vorn vielen Heizen stellenweise rotglühend
war. An der hinteren Wand befanden sich
zweimal 3 übereinandcr angebrachte Drahtbetten.
Mein erster Gedanke war: Hier ist's zum Aushalten.
Vor dem Unteroffizier stand ich still und meldenmich
zur Stelle. » Iach keine Flausen«, sagte er Zu
mir. »Stillstehen gibt's hier bei mir nicht. Sie machen
einfach Ihren Dienst. lm übrigen sind wir aIle Karneraden.
Wie heifit du–. fragte er mich weiter. »Richert
«, antwortete ich. »Ich meine, mit Vornamen «.
sagte er, worauf ich meinen Vornamen Dominik
nannte. [… ] »Gut, wir nennen dich einfach Nicki!
[… ] Nicki, willst du was essen?« fragte mich der
Unteroffizier weiler. »Habt ihr was?« meinte ich.
»Cewiss, nimrn nur da oben auf dem Brett, was di
willst.: Ich schaute hinauf und war nicht wenig CI
staunt: Mehrere Kornmiûbrote, Käse, Schrnalz
202
ersatz, Dauerwurst und Butter lagen da nebeneinander,
daneben standen 2 Kistchen Zigarren und Zigaretten.
»Nein, so was ist mir noch nicht vOl·gekommen,
seit ich Soldat bin«, sagte ich.
Nachmittags mulite ich Posten stehen. Ourdi den
Grabenspiegel betrachtete ich das Gelande vor mir.
Gleich neben dern MG-Stand ging ein Laufgrabeu
nach dem im Drahtverhau gelegenen Horchpostenloch.
Zwei breite Drahthinderriisse schützten die
Stellung gegen einen Angriff. Vor der russischen
Linie, die etwa 250 m entfernt lag, waren ebenfalls 2
Drahtverhaue. An mehreren Stellen sah ich dort
Rauch aufsteigen, auf unserer Seite dasselbe Bild.
Alles war ruhig, nur von Zeit zu Zeit horte man nah
oder Fern den Donner eines Geschützes und das
Krachen der einschlagenden Granaten. Hie und da
knallte auch ein Gewehrschuß. Jede Nacht muliten
wir Doppelposten stehen, 4 Stunden im Unterstand,
~ Stunden stehen und so weiter. Des Nachts war das
Postenstehen langweiliger, und es war empfindlich
kalt, so daf man sich immer bewegen und trampeln
muûte, um nicht zu frieren. [... ]
Am dritten Tage stand ich eben von 12 bis 2 Uhr
nachrnittags Posten. Urn mir die Zeit zu vertreiben,
dachte ich an die Heimat und an alles magliche.
Alles war ruhig. Nirgends fiel ein Schuû. Auf
c-inmal hörte ich eine Explosion, von deren Stärke
ic.h noch keine gehort hatte. Der Boden erbebte, und
ich wäre beinahe vor Schrecken zu Boden gefallen.
1la sah ich etwa 500 m links von mir VOl' der deutsrhen
Stellung eine mehr ais 100 m hohe Rauchwolke
hochschief3en, eine Unmenge Erdschollen flogril
umher. Die Russen hatten eine unterirdische
Mine springen lassen, um die deutsche Stellung dort
ill die Luft zu sprengen. lm selben Moment sauste es
hcran. Direkt VOl' mir irn Drahtvcrhau explodierten
vier schwere russische Granaten, groHe Löcher in
dCIl Drahtverhau reiHend. Nun folgte ein Artillerielc-
uer , in dern einern Hör en und Schen verging.Dazwischen
prasselte von der Stelle, an der die Spren–
203
gung erfolgt war, heftiges Infanterie– und MGFeuer.
Die russische Infanterie stürrnte vor und besetzte
den gewaltigen Sprengtrichter. Aber schon
setzte der deu tsche Gegenstoß ein, wobei ein Teil der
Russen entfloh; die anderen wurden gefangengenommen.
Das russische Artilleriefeuer hielt an. Vor,
hinter und hie und da im Graben selber krachten die
Granaten. Gleich bei den ersten Schüssen kam der
Unteroffizier mit der ganzen Besatzung aus dem
Unterstand gestürzt, da sie einen Angriffbefürchteten.
Wir duckten uns aile im Graben zu Boden, um
nicht von Splittern und Erdschollen getroffen zu
werden. Nul' der Unteroffizier hielt von Zeit zu Zeit
Umschau nach den Russen. Dabei traf ihn ein fingergroßer
Granatsplitter oberhalb des Ohres am
Mützenrand, so daßel' wankte und betäubt zu Boden
stürzte. Eine Wunde war nicht zu sehen, nul'
eine Beule. Ich hielt ihm schnell eine Handvoll
Schnee an die Stirne, und sofort kam el' wieder zu
sich. Er wu/3te im ersten Moment gar nicht, was
geschehen war. Nach einigen Minuten hatte el' sich
vollstandig erholt.
Gleich neben uns befand sich ein Unterstand, der
von 8 Infanteristen bewohnt war. Ein kurzer Laufgraben
führte nach der Eingangstür. Neben der Tür
war ein Fensterchen eingebaut. Gleich eine der ersten
Granaten schlug neben der Eingangstür ein.
Dadurch wurde der Laufgraben var der Tür mil
Erde zugeworfen, sa daßes den Infanteristen U[1–
mëglich war, die Tür, die nach au/3en aufging, ZlI
öffnen. Sie rissen von innen das Fensterchen weg.
warfen die Gewehre hinaus und krochen einer nach
dem anderen hinaus, um im Graben Aufstellung ZlI
nehmen. Ais eben der letzte durch die Fensteröflnung
kroch, schlug eine Granate oben auf den aus
Holz gebauten Unterstand. Durch den Druck gaI>
der Unterstand etwas nach und schob sich zusarn
men. Der Infanterist, dessen Oberkorper und
Hände auûerhalb der Fensteröffnung waren, wäh
rend seine Beine noch innen hingen, wurde einge-
204
klemmt und konnte weder VOl'noch zurück. ln Todesangsten
schrie er um Hilfe. Zwei seiner Kameraden
versuchten ihn herauszuziehen, was aber nicht
ge!ang. Durch in der Nähe einschlagende Granaten
waren die beiden gezwungen, im Graben besser gedeckte
Plàtze aufzusuchen. So hing der Arme ganz
allein in Todesängsten und suchte sich mit Handen
und Armen gegen die herumfliegenden Erdschollen
zu schützen. Endlich, nach etwa einer halben
Stunde, hörte das Artilleriefeuer auf. Nun konnte
an die Befreiung des armen Soldaten gegangen werden.
Da das Herausziehen nach innen und aullen
unmöglich war, blieb nichts anderes übrig, ais das
unter ihm befindliche Stück Tannenholz aufbeiden
Seiten durchzusagen und herauszunehmen. Nun
wurde der var Angst halbtote Soldat heruntergenomrnen,
wo sich alsbald herausstellte, dan er vollständig
unverletzt war.
Nun bat ich den Unteroffizier um Erlaubnis, zu
Max Rudat zu gehen, um nachzuschauen, ob ihm
«twas passiert sei. Der Graben war teilweise ebengeschossen,
so daf ich an mehreren Stellen kriechen
mubte, um von den Russen nicht gesehen zu werden.
Mehrere Soldaten waren verschüttet, und man
war eben daran, sie auszugraben. Auch sah ich drei
Gefallene im Graben liegen. Mehrere Leichtverwundete
hatten sich bereits aus dem Staub gemacht. Drei
Unteroffiziere, die in einem Unterstand Karten gespielt
hatten, wurden von einer Granate, die die
Decke durchschlug und in dem Unterstand explodierte,
vollständig in Stücke gerissen. Max Rudat
stand eben Posten neben seinem MG und machte ein
ganz sonderbares Gesicht. Der Schrecken war noch
nicht ganz von ihm gewichen. »Na, Max, wie hat's dir
diesmal gefallen>. fragte ich. »Frag nicht, Nickel«,
antwortete er. »Ich lag platt auf dem Grabenboden
und hätte mir var Angst bald in die Hosen gernacht.«
Dabei zeigte er mir mehrere frische Cranatlöcher
dicht neben ihm. Wir freuten uns, beide mit heiler
Haut davongekommen zu sein. [... ]
205
Eines Naehts stand ich Posten und unterhielt mieh
mit dem Offizierstellvertreter, der eben die Posten
revidierte. Der Mond beleuchtete fast taghel! c1ie
Gegencl. Um mieh warrn zu halten, trat ich von einern
Bein aufs andere. Plützlich drüben ein scharfer
Knall, ein heftiger Klang am rechten Ohr. Die Kugel
hatte meinen Stahlhelm an der rcchten Seite in
Stirnhohe gestreift und die graue Farbe weggerissen.
lch erschrak nicht wenig. Da c1ie hintere Wand
schrag und mit Schnee bedeckt war, hatte ein Russe
wahrscheinlich die Bewegung meines Kopfes auf
dem weilien Hintergrund bemerkt und wollte mieh
gleich ins Jenseits befördern. Von c1aab war ich viel
vorsichtiger.
Nach und nach schmolz cler Schnee, und der
Frühling steIlte sich ein. Das Leben im Schützengraben
wurde viel angenehmer. Beim Postenstehen am
Tage konnte man sich schön von der Sonne bescheinen lassen.
Eines Tages karn der Befehl, einen Handstreich
auszuführen, in die russischen Graben einzudringen
und festzustellen, was fur ein Regiment uns gegenüberliege.
Zu diesem Zweck wurden mehrere Wassereimern
ähnliche Cefäûe in unserem Graben aufgestellt
und der Inhalt angezündet, ais der Wind
nach cler russischen Stellung wehte. Es entwickelten
sich dichte, für das Auge undurchdringliche Rauchwolken,
die mit dem Luftzug langsam dem russischen
Graben zustrebten. Etwa 20 Mann Infanterie
liefen in c1en Rauchwolken nach der russischen Stellung
hinüber. Mit Drahtscheren bahnten sie sich
einen Weg durch die I–lindernisse und drangen iu
c1ie russische Stellung ein. Wir lauschten gespannt
hinüber, aber es fiel kein SehuJ3. Die Russen, die
wahrseheinlich die Rauchwolken fur Gaswolken
hielten, hatten an dieser Stelle den Graben geraumt.
Alle Infanteristen kamen heil wieder zurück. Sie
brachten ein russisches Cewehr und mehrere Stahlschutzschilde.
Ein Mann harre in einern Unterstancl
eine Brieftasche mit Militàrbüchlein gefunden,
206
warin man die Nummer des russischen Regiments
und der Division feststellen konnte.
Eines Tages im Mai schof die russische Artillerie
irnmer an dieselbe Stelle in unserem Drahtverhau,
bis schlieBlieh eine breite Lücke entstand. Wir dachten,
daß die Russen in der folgenden Nacht bestimrnt
eiueri Angriff rnaehen würden, und trafen
unsere Vorkehrungen. Hinter der Lücke wurden in
unserem Graben 3 faschinengewehre aufgestellt
und der Graben an dieser Stelle von Infanterie stark
besetzt. Von Zeit 'zu Zeit wurde eine Leuchtkugel
abgeschossen, die c1asCelände zwisehen den Stellungen
mit zitterndem Lichtschein überflutete. Aufeinmal
hief es: »Sie komrnen!« Ein prasselndes MGund
Infanteriefeuer unsererseits brach nun los. Die
Artillerie, die telephonisch benachrichtigt wurde
und deren Bedienungsmannschaften bereits an den
Geschützen stand en, legte ein starkes Sperrfeuer
zwischen die Stellungen. Ich konnte beim besten
Willen keinen Russen sehen, obsehon alles von den
Leuchtkugeln fast taghell erleuchtet war. Sie hatten
sich namlich ins hohe Gras geworl'en, als die Schielierei
losgegangen war. Da sah ich plötzlich einige von
ihnen aufspringen und in ihren Graben zurücklau-
Fen. Auf einmal wimrnelte alles von fliehenden Russen,
die in ihren Graben verschwanden. Nach einigen
Tagen las ich in der Zeirung: »Südlich von Illuxt
wurde ein starker russischer Nachtangriff mit
schwersten Verlusten für den Feind abgeschlagen.«
Nun, gar so richtig war die Sache nicht. Aber jede
Kleinigkeit mulite eben aIs groJ3er Sieg ins Land
hineinposaunt werden, um c1ieKriegsstimmung des
Volkes aufreehtzuerhalten.
lm Mai 1916 wurcle unsere MG–Besatzung einige
hundert Meter naeh rechts verschoben. Dort zog
sich die Stellung durch einen herrlichen Tannenund
Birkenwald. Wir fanden dort in einem Unrerstand,
der viel schlechter war als der vorige, Unterkunft.
Bei regnerischem Wetter mubten wir taglich
viele Eimer Wasser, die sich im Unterstand samrnel-
207
ten, ausschopfen und hinaustragen. Gegen Morgen
war so viel Wasser im Unterstand, d af es fast bis an
die unteren Drahtbetten reichte. Ein solehes Wohnen
war höchst ungesund. ln lauen Mainachten
schlief ich oft hinter dem Unterstand auf dem Waldboden,
wo ich einen Haufen trockenes Laub gesammelt
hatte. Um besser wohnen zu körinen, fafiten wir
den Entschluû, einen neuen Wohnunterstand zu
bauen. Wir hoben ein viereckiges Loch in der Groûe
eines kleinen Zimmers aus, fällten weiter zurück im
Wald starke Tannen, sagten Balken und starke Träger
und begannen mit dem Bau. Es war ein schweres
Stück Arbeit, aber da aile fest zusammenhielten, waren
wir bald fertig. Die Decke bestand aus 6 Schichten
kreuz und quer liegenden Tannenstämmen. Die
Zwischenraume waren mit Erde angefüllt. Natürlich
konnten wir nur nachts an der Decke arbeiten, und
auch da war es oft gefahrlich, da die russischen Posten
vor Langeweile in die Nacht hinausknaUten und
man deshalb immer in Lebensgefahr war, werm man
oben deckungslos arbeitete.
Nun ging es an die innere Ausstattung. Auf einer
Seite wurden 6 Drahtbetten hingestellt, immer zwei
übereinander. Einer von uns war Maurer von Beruf
und baute aus Backsteinen einen hübschen Ofen.
Aus Brettern wurde ein Tisch gezimmen, ebenso
Bänke, und hinter dem Tisch wurde eine Art Sofa
gemacht, mit trockenem Gras gepolstert und mit
neuen, aufgetrennten Sandsäcken überzogen. Da
ich etwas Geschick im Zeichnen und Malen hatte,
zeichnete ich mehrere Bilder, welche ich dann mit
dicker Birkenrinde einrahmte und im Unterstand
aufuing. Die Wände wurden mit der Rinde gefalltel
Tannen, die wir rundurn sorgfaltig abschälten, tapeziert.
Vor dem Fensterchen legte ein Kamerad, ein
Cartner, ein schönes Waldblumenbeet in Sternform
an. Ein anderer, ein Holzschnitzer, fertigte ein 1 1/2 m
hohes Maschinengewehr aus Holz. Es wurde inrnitten
des Blumenbeetes auf einem Großen Stein wie
ein Monument aufgestellt. Als alles fertig war, waren
208
wir mit unserer Arbeit sehr zufrieden, ebenso unser
Kornpanieführer, Leutnant Matthes, der ein guter,
gerechter Vorgesetzter war und uns für unsere Arbeit
auch sein Lob aussprach.
Unser Maschinengewehr war in einem Betonunterstand
mit Schießschlitz schufifertig aufgestellt,
bei welchem immer Posten stehen muûten, am Tage
ein Mann, nachts zwei. Die Gefahr war nicht grofi
hier. Wohl kamen jeden Tag einige Granaten
und Schrapnells sowie kleine Minen herübergeflogen,
doch gab es nur selten Verluste. Wir aile
wünschten, hier das Kriegsende abwarten zu dür-
Fen. Die Verpflegung war nicht mehr so gut wie bei
meiner Ankunft, doch konnte man es immer noch
aushalten.
Eines Tages wurden mehrere Minenwerfer, von
deren GrbHe ich bis jetzt noch keine gesehen hatte,
hinter unserem Unterstand aufgebaut. Die Minen
hatten ein Gewicht von 2 Zentner. Da unsererseits
ein Handstreich geplant war, sollten diese Minenwerfer
im Verein mit der Artillerie die russische
Stellung sturmreif schieûen, Wir selbst muûten mit
2 Maschinengewehren von unserem Unterstand aus
abwechselnd Sperrfeuer nach der russischen Stellung
abgeben, um die russischen Reserven zu hindern,
zur Verstarkung an die vordere Stellung zu
kommen. ln der Zeit von 20 Minuten gaben wir
Tausende von Schüssen ab. Die Pfahle desDrahtverhaus
wurden vollstandig in Fetzen geschossen,
ebenso fast aIle Drahte entzweigerissen. Mehrere
junge Birken stürzten um; sie waren von unseren
Kugeln wie abgesagt. Die Explosion der 2-Zentner-
Minen war furchtbar. Durch den machtigen Luftdruck
bogen sich Tannen und Birken pendelnd hin
und her. Nun ging eine halbe Kompanie Infanterie
von uns var. Nach einer Viertelstunde kamen aile
heil wieder zu rück mit 8 Russen, die zitternd vor
Todesangst in einem Unterstand aufgefunden worden
waren und ohne Widerstand gefangengenommen
wurden. Die Gefangenen waren sichtlich froh,
209
russische Artillerie an, unsere Stellung unter scharfes
Sehrapnell- und Granatenfeuer zu nehmen. Ich
stand eben hinter dem Betonunterstand mit noch
2 Kameraden und unserem Oberleutnant, ais eine
Granate kleineren Kalibers direkt über unseren
Küpfen auf dem Unterstand aufsehlug, platzte und
die Ladung nach allen Seiten schleuderte. Wir blieben
aile, obwohl wir VOl' Sehreek fast umgeflogen
waren, unverletzt. Nur ein Feldwebel von der Infanterie,
der eben den Graben entlangkam, wurde von
einem Splitter in den Baueh getroffen und starb im
Lazarett an der schweren Verwundung. Von einer
kleinen Mine wurde unserem Zugführer, einem
Leutnant, der Arm weggerissen. Ein guter Freund
von mir aus Memel namens Masur, der bei dem
Leutnant Ordonnanz war, wurde derart schwer verwundet,
daß er nach wenigen Minuten versehied. Er
wurde auf dem Friedhof unseres Regiments, der im
Wald hinter der Front angelegt war, bestattet.
Eines Tages imJuni wurde unsere MG-Besatzung
endlich abgelost, und wir kamen zurück nach Neugrünwald.
Es war doch schön, wenn man sich wieder
Frei auf der Erde bewegen konnte und nieht gezwungen
war, dauernd in Graben und Unterständen, fast
wie ein Maulwurf, zu leben. Ebenso fand ich es angenehm,
die Nächte durchschlafen zu körinen. Der
Dienst wurde uns so leicht wie moglich gemacht:
1 Stunde Exerzieren, 1 Stunde Unterricht und MG-Reinigen,
das war alles. Wir vertrieben uns die Zeit
durch Ringkämpfe und Turnen an einem Reck.
Oder wir lagen auf der faulen Haut und fingen
Lause, denn dieses Vieh hatte sieh wieder bei uns
heimisch gemacht.
Eines Tages wurde ich zum Gefreiten befördert.
Am folgenden Tage mußte ich nach Jelovka, um
mich beim Regimentskommandeur zu melden. Dort
erhielt ich das Eiserne Kreuz II. Klasse, ebenso mehrere
Soldaten und Unteroffiziere des Regiments.
Der Regimentskommandeur hielt eine äulierst kriegerische
210
kriegerische Rede an uns; wir sollten stolz auf diese
Auszeichnung sein. Das alles ließ mich jedoch sehr
kalt, denn am liebsten hätte ich den ganzen Kram
weggeschmissen und ware nach Hause gegangen.
Ais ich wieder bei der Kompanie ankam, wurde mir
vom Vorgesetzten und von den Kameraden derart
gratuliert und die Hand gedrückt, daßdieselbe anfing,
mir weh zu tun.
Nach 8 Tagen Aufenthalt in Neugrünwald ging's
wieder in Stellung. An einer Stelle kamen wir an
vielen Gräbern gefallener Russen vorbei, die noch
im Bewegungskrieg Ende 1915 gefallen waren. Die
Russengräber waren erkenntlich an den Mützen, die
halb verfault an den morschen Kreuzen hingen. An
einer freien Stelle neben der Bahn waren aueh mehrere
Graber von gefallenen deutsehen Jagern; das
erkannte man an den an den Kreuzen hängenden
Jigertschakos. Weiter vorne führte ein Laufgraben
nach der vorderen Stellung. Dort lösten wir eine
Besatzung ab, die nun 8 Tage zur Erholung naeh
Neugrünwald ging.
Das Maschinengewehr stand ebenfalls in einem
Betonunterstand. Der Wohnunterstand war auch
nicht übel, aber lange nicht so schön und stark wie
der von uns gebaute. Hier war es auch gefahrlicher
aIs an der früheren Stelle. Da der Wald neben der
Bahn entlang etwa 100 m abgeholzt war und wir an
der freien Stelle lagen, konnten die Russen unsere
Stellung sehen und sieh mit ihrer Artillerie genau
einsehießen. Jeden Tag kamen etwa 20 Granaten
vom Kaliber 12, die schon einen gewaltigen Druck
haben, angesaust. Gleieh nach dem ersten Einsehlag
liefen wir aIle in den MG-Betonunterstand. Eines
Tages las ich eben in dem Wohnunterstand in einem
Buch, die Kameraden spielten Karten, ais plötzlich
eine der 12-cm-Granaten oben auf un serem Unterstand
einschlug und platzte. Var der Explosion
drang sie bis auf die untere Lage der die Decke
bildenden Tarinenstämme. Der Druck schob mehrere
Stämme etwas auseinander, so dass mehrere
211
Schubkarrcn Erde in den Untersta nd stürzten. Mit
jahem Schreck flogen wir aile zu Boden, dann ging's
Hals über Kopf zur Tür hinaus in den Betonunterstand,
bis die Schiellerei wieder aufhorte.
Abends mit dem Dunkelwerden Qino–en wir dann '-.1 b '
das Granatloch oben auf dern Unterstand wieder
aufzufüllen: wir warfen die hinausgeworfenen,zerspliuerten
Holzstücke in das Loch und füllten es mit
Erde aus. Dann wurden Tannenäste geholt und darübergedeckt.
Bei dieser Arbeit erhielt ein Mann der
Besatzung, ein freundlicher Kerl, ein Uhrmacher,
einen Halsschuß, stürzte auf den Unterstand. Ich
konnte noch sehen, wie el' die Hand hob und mich
mit starren Augen anschaute, aIs wollte er mich bitten,
ihm zu helfen. Aber sofort sank sein Kopf hintenüber.
Er war tot. Wir aIle waren durch den plötzlichen,
unerwarteten Tod unseres Kameraden sehr
erschrocken und betrübt. Noch in der Nacht trugen
wir seine Leiche auf einer Tragbahre auf den Friedhof
des Regiments, wo er am folgenden Tage beerdigt
wurde.
Einige Tage später schlug wieder eine 12-cm-Granate
auf die Ecke des Unterstandes, denselben vollständig
wegfegend. Wieder wurde keiner von uns
verletzt, denn nach den ersten Einschlägen flüchteten
wir aIle in den Betonunterstand. Dann kam der
Befehl, neben den Gleisen im vorderen Graben einen
Großen, bombensicheren Betonunterstand zu
bauen, der bis zu 200 Mann aufnehmen konne. Das
war leichter gesagt ais getan. Wir mußten wie die
Infanteristen mithelfen. Zuerst wurde ein etwa 3 m
tiefes, 4 m breites und 40 m langes Loch ausgehoben.
Die Erde mußten wir in Sandsäcken 200 m weit
schleppen und im Wald ausleeren. Das war eine
Arbeit! Tausend und abertausend Sacke warenwegzuschleppen.
Ais das Loch fertig ausgehoben war,
fing die Arbeit des Betonierens an. Aufeiner kleinen
Feldbahn wurden Kies und Zement bis etwa 300 m
hinter die vordcre Linie gefahren. Am Ausladeplatz
wurde die Menge gemischt und, ebenfalls in Sandsäcken,
212
durch den Laufgraben nach vorne geschleppt.
Jeder Mann mulite tàglich 40mal hoJen
gehen. Man konntc hochstens einen halben Sandsack
tragen, da die Mischung sehr schwer und naß
war. Um die Decke herzustellen, wurden dießahnschienen
losgeschraubt, zwei Reihen quel" übereinandergelegt,
dann kam noch lm Beton obendrauf,
und der Unterstand war fertig. Um Licht und Luft
einzulassen, befanden sich in den Wänden mehrere
schmale Schießscharten.
So ging der Sommer 1916 langsam seinem Ende
entgegen, oh ne daf etwas Besonderes vorgefallen
ware. Tag und Nacht abwechselnd Postenstehen,
Essenholen, Holz herbeischleppen, Heizen und
Arbeitsdienst, das war 50 ziemlich alles. Die Verpf1egung
wurde immer schlechter, bereits gab es
2 fleischlose Tage die Woche. Die Verpflegung bestand
taglich aus 1y~Pfund Kommißbrot, morgens
und abends schlechtem schwarzem Kaffee – oft
ohne Zucker-, etwas Butter oder Käse, manchmal
etwas Wurst, Schmalzersatz, am meistenjedoch Marmelade,
auch einer Art grauen Schmalzes, die von
den Soldaten Hindenburg- oder Affenfett genannt
wurde. Am Mittag gab es pro Mann 1 Liter Suppe.
Alles war stets aIs Suppe gekocht. Nudeln, Sauerkraut,
Reis, Bohnen, Erbsen, Graupen, Dörrgernüse
(von den Soldaten »Stacheldraht« genannt), Hafer-
flocken, Kartoffelflocken und so weiler. Manchrnal
gab es grüne Klippfische; dieser Fraf war vollständig
ungeniessbar und roch wie Leichen, die einige
Tage an der Sonne gelegen hatten. An fleischlosen
Tagen gab es gewohnlich Nudelsuppe mit einigen
Rosinen darinnen. Von einem Stückchen gebrateuem
Fleisch, Salat oder ähnlichern nie eine Spur!
Im Oktoher 1916 wurden wir von einem Regiment,
das von der Westfront kam, abgelöst. Wir
marschierten nach Jelovka. Unterwegs hief es, daf
wir nach allen rnöglichen Fronten transportiert werden
würden. Aber bei Jelovka bogen wir nach Süden
ab und lösten etwa 20 km südlich unserer früheren
213
StelIung ein Regiment ab. Die Front lief über freies,
hügeliges Celande. [… ] Unsere sowie die russische
StelIung waren durch 3 breite Drahtverhaue geschützt.
Dort wurde unsere MG-Kompanie, die dem
Regiment unterstand, in 3 Kompanien eingeteilt,
welche jede einem Bataillon zugeteilt wurde. Ich
gehörte zur 2. MG-Kompanie und wurde Gewehrführer.
Das heilit: Ich machte, obwohl ich nur Gefreiter
war, Unteroffiziersdienst. lch hatte eine gute
Besatzung, alles junge, flinke Burschen, darunter
auch einen Unterelsässer, Emil Fuchs aus Erstein.
DieJ ungens hatten aile einen guten Appetit, und das
Brot wolIte nie reichen. Mit einem Mann der Besatzung,
dem 20jahrigen Seedorf aus Hamburg, muûten
wir immer lachen. Alle 2 Tage empfingjeder ein
3-Pfund-Brot. Seedorf schnitt mit dem Taschenmesser
Zeichen in das Brot, um es sich einzuteilen. Bis
zum ersten Einschnitt sollte es bis zum gleichen
Abend reichen, der zweiten für den nächsten Morgen
und so weiter. [… ] Nun af el' gewöhnlich am
ersten Abend bis zum Einschnitt für den nächsten
Morgen. Gewöhnlich hatte Seedorf den zweiten Tag
keinen Bissen Brot mehr. Obwohl die Lebensmittel
knapp waren, kam es nie vor, daßeiner dem anderen
ein Stückchen Brot stahl, das imrner offen auf einem
Brett im Unterstand lag.
MEIN ERSTER URLAUB
ENDE OKTOBER 1916
Nun war ich an der Reihe, in Urlaub zu fahren. Wie
schön wäre es gewesen, wenn ich wie die anderen
Soldaten nach Hause gekonnt hätte. Eine elsassische
Flüchtlingsfamilie aus Dürlingsdorf namens Mattler,
die gegenwartig in Eberbach im Neekartal (Baden)
wohnte, hatte mich brieflich eingeladen, werm
ich sonst nirgends hinfahren könrie, zu ihnen zu
kommen. Lange wulite ich nicht, was ich tun sollte.
214
Endlich entschlof ich mich zu fahren, denn ich war
zu gern einmal wieder einige Zeit, ohne das Militärjoch
im Nacken zu fühlen. Auch freute ich mieh auf
die weite Reise. Aiso nahm ich den Urlaubsschein
sowie etwas Verpflegung, nahm Abschied von meinen
Kameraden und walzte los. Ich marschierte
nach Jelovka und bestieg den Zug. [… ] Ein herrliehes
Gefühl der Freiheit und Sicherheit überkam
mich, ais wir immer welter von der Front fortrollten.
Endlich, nach langer Fahrt, erreichten wir bei Eydtkuhnen
die deutsehe Grenze. Alles muhte aussteigen
und sich in der dortigen Entlausungsanstalt lausefrei
machen lassen, denn ohne Entlausungsschein
durfte kein Soldat in Deutschland einfahren. Nun
ging es weiter über Insterburg nach Konigsberg.
Dort bestieg ich den Schnellzug, der mit Urlaubern
überfüllt war, in Richtung Berlin. Es ging weiter
über Braunsberg, Elbing. Bei Dirschau passierten
wir die grösste Brücke, die ich bisher gesehen
hatte, über die Weichsel. [… ] Mit Anbruch der
Nacht lief der Zug in Berlin, Schlesischer Bahnhof
ein. lch ging mit mehreren Urlaubern, mit denen
ich währerid der Fahrt Bekanntschaft gemacht
hatte, in die Stadt, um Berlin bei Nacht zu sehen.
Die Stadt war fast taghell erleuchtet. Wir besuchten
mehrere Restaurants, tranken Bier und lieûen uns
für teures Geld ein Nachtessen geben. Wir übernachteten
im Bahnhofswartesaal und schliefen sitzend,
indem wir die Köpfe auf die Tische legten.
Morgens in der Frühe tranken wir in einer Wirtschaft
heilien Kaffee und gingen nach dem Anhalter
Bahnhof. Natürlich muliten wir uns oft nach
dem Weg erkundigen. lch bestieg den Sehnellzug
nach Südwestdeutschland. Es ging über Luckenwalde,
Wittenberg, Halle, Merseburg, Naumburg,
Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach [… ] nach Frankfurt
am Main. Dort gab es einen längeren Aufenthait.
Die Reise von Berlin nach Frankfurt war sehr
schön und interessant. Fast immer ging es durch
Iruchtbare, dichtbevölker te Gegenden. Die Häuser
215
in Stadt und Land waren hübsch gebaut. Wie war es
doch schön hier, im Vergleich mit dem oden, langweiligen
Rußland! Ich konnte es kaum fassen, da/3
ich dort monatelang in Schützengräben in Unterständen
gelebt hatte.
[… ] Trotzdem ich in meiner Endstation Eberbach
von der Familie nur Herrn Mattler kannte, wurde ich
von allen freundlich aufgenommen. Wie freute ich
mich, endlich wieder einmal einige Tage leben und
wohnen zu können, wie es einem Menschen zusteht.
Am meisten freute ich mich über das gute Bett, denn
seitJanuar, also 9 Monate, hatte ich nie ausgezogen in
einem Bett geschlafen. Immer nul' auf den harten
Drahtbetten in den Unterstanden. Wenn schone
Tage waren, machte ich Ausflüge in die Umgebung.
Viel zu rasch gingen die Urlaubstage vorbei. Ich
wurde auch bekannt mit mehreren anderen elsässischen
Flüchtlingsfamilien, die aIle sehr freundlich zu
mir waren. Besonders die Flüchtlingsmadchen überboten
sich an Freundlichkeit mir gegenüber, und
mehrere ließen durchblicken, daß sie gerne der
Schatz eines elsàssischen Soldaten sein würden. Dies
alles mach te mir natürlich Spaß. Ich tauschte mit
mehreren Adressen aus und dachte, daß der Briefverkehr
vielleicht etwas Abwechslung in das langweilige
Schützengrabenleben bringen werde.
Die Familie Mattler wohnte über einer Wirtschaft,
wir aIle aßen dort. Die Kost war nicht besonders
reichlich, aber im Vergleich zum Feldküchenfra/3
herrlich. Das Brot war auch nicht besser aIs dasKornmißbrot,
auch nicht zu reichlich, denn Brot, Fleisch,
Butter waren schon rationiert und konnten nul' auf
Karten bezogen werden, soundso viel Gewicht auf
den Kopf. [... ] lm ganzen war ich 10 Tage in Eberbach,
dann folgte ein Tag Fahrt nach dem Rheinland
zu meinem früheren Kriegskameraden August
Zanger aus Struht. Meine Endstation war Schladern
an der Sieg. [... ] Zanger wohnte etwa eine halbe
Stunde von Schladern entfernt bei einer Familie
Gauche\. Zanger war sehr erfreut, mich wiederzusehen
216
[… ] Von der Familie Gauche!, bestehend aus
Mutter, Sohn namens Josef und Tochter Maria,
wurde ich aufs freundlichste aufgenommen. Bald
fühlte ich mich dort wie zu Hause. Die guten Leute
holten alles, was sie hatten, und tischten es mir auf.
Die Tochter Maria hatte Zanger bei seiner schweren
Verwundung 1915 gepflegt im Lazarett. Die beiden
verliebten sich und beabsichtigten, nach dem Kriege
zu heiraten (was sie auch taten). Da die Familie sehr
religios war, und um dem Gerede der Leute zu entgehen,
schlief Zanger nicht im Haus der Familie
Gauchel, sondern in einem Nachbarhause bei einer
Familie Batt, wo er ein Zimmer gemietet hatte. Nachdern
wir uns aile bis spat in die Nacht unterhalten
hatten, gingen wir zu Bett. Wir erzahlten uns von der
Heimat und unseren Erlebnissen, bis der Morgen
zum Fenster hereinsah.
Am folgenden Tage halfen Zanger und ich der
Familie Gauche! beirn Dreschen mit der Dreschmaschine.
Eine Arbeit, die ich auch nicht mehr gewohnt
war, obwohl ich das früher oft getan hatte. Am folgenden
Tag fuhren wir nach der Stadt Siegburg, wo
wir uns beide photographieren lielien und gleich
cinige Bilder über die Schweiz nach Hause adressierten
und abschickten. Am dritten Tag fuhren wir
nach dem etwa 20 km entfernten Eitorf, um das
(;rab des Schwob Josef aus meinem Heimatdorf aufzusuchen.
Es war sehr traurig für uns beide, einen
guten Kameraden aus der Heimat sa wiederzufinden.
Nachdem wir eine Weile am Grab gebetet haticn,
gingen wir ins Lazarett und erkundigten uns bei
der Schwester, die ihn gepflegt hatte, nach der Art
der Verwundung und seinen letzten Tagen. Nach
c-rhaltener Auskunft [... ] fuhren wir zurück. Nun
uoch eine Nacht in einem Bett schlafen, dann war's
wieder vorbei, für weif Gatt wie lange.
Nur sehr ungern verlief ich nach 3 Tagen Zanger
und die gute Familie Gauchel, aber das furchtbare
Muß ließ es eben nicht and ers machen. Wenn man
nur einen Tag zu spät bei der Kompanie ankam, flog
217
man 3 Tage ins Loch, in einen dunklen Unterstand,
und das woIlte ich nicht. Meinen Tornister hatten
die guten Leute mit allerhand Lebensmitteln sowie
einer Flasche Likör angefüUt, sa dal] ich für die Reise
gutausgerüstet war. [… ] Der Abschied ging mir sehr
zu Herzen, denn die Mutter Gauchel weinte, als ob
ich ihr Sohn wäre. Es war auch traurig, wufite man
doch nicht, ob man sich wiedersehen oder ob ich
drauben totgeschossen würde, denn ein Kriegsende
war noch nicht abzusehen. Zanger begleitete mich
nach der Bahn. [… ] ln Köln bestieg ich den Schnellzug
nach Berlin und fuhr 2 Tage lang nach der
Front, zuerst durch das Ruhrgebiet über Düsseldorf,
Hagen, Dortmund, [… ] Paderborn, Halberstadt,
Magdeburg, Brandenburg, Potsdam, Charlottenburg
nach Berlin. Ohne Aufenthalt ging es weiter
nach Rußland hinauf. Wir befanden uns nun im
Anfang November. Oben in Rußland war der Boden
mit einer leichten Schneedecke bedeckt. Es schauderte
mich, als ich den Schnee sah, die armseligen
Wohnungen, die düsteren Tannenwälder und die
schlechtgekleideten Bewohner. Und es schauderte
mich, als ich an das mir wieder bevorstehende langweilige
Leben im Schützengraben dachte.
WIEDER AN DER FRONT
Von der Endstation Jelovka konnte ich auf einem
Wagen meines Bataillons meine Truppe erreichen.
Ich meldete mich vom Urlaub zurück und mulite
gleich wieder die Führung meines Maschinengewehrs
übernehmen. lm Unterstand angekommen,
sagten mir die Soldaten sofort, daßFuchs Emil aus
Erstein gefallen sei. Er hatte von einem russischen
MG eine Kugel in die Stirn erhalten, als er nachts
Posten stand, und war sofort tot gewesen. Ich hatte
tiefes Mitleid mit ihm, denn er war ein Landsrnann
und guter Junge.
218
Eintonig vergingen die Tage. Schnee, Nebel, Nebel
und Schnee, das war so ziemlich die ganze Abwechslung.
Die Russen schickten jeden Tag einige
Granaten herüber, die jedoch nicht viel schadeten.
Eines Sonntags wurden vonjedem MG 2 Mann zum
Gottesdienst zurückgeschickt. Ich mullte die Leute
führen. lm Walde, etwa 1km hinter der Front, war
hinter einem Abhang eine große Baracke erbaut, die
als Gotteshaus diente. Sie füllte sich bis auf den letzten
Platz mit Soldaten, und der Feldgeistliche begann
mit dem Gottesdienst. Während der Wandlung
hörten wir plötzlich den Einschlag mehrerer
Granaten vorne an der Front. Die Explosionen wurden
immer zahlreicher; [… ] wir hörten die Sprengstücke
über die Baracke schwirren. Wir wurden alle
sehr unruhig. Nur der Feldgeistliche las die Messe zu
Ende, als werm alles still wäre. Wir verließen nun die
Baracke, das Schießen der Russen wurde immer
stärker. Unser Kompaniefeldwebel gab uns den Be-
Ichl, sofort zu unserem Maschinengewehr zurückzukehren.
Eben marschierten 2 Kompanien Infanterie,
die in Reserve gelegen hatten, nach vorne. Wir
Iolgten ihnen. Es fing nun an zu schneien, daßman
keine 100 m weit sehen konnte. Am Waldrand angekommen,
horte ich an den Einschlägen, daßdie russische
Artillerie hauptsächlich den die Mulde entlang
nach der Stellung führenden Laufgraben unter
Fcuer hielt. Da ich die Kirchgänger zu führen hatte,
überlegte ich einen Moment, wie wir am besten nach
der Stellung kommen konnten. Ich beschlob, über
den Hügel zu gehen, an dessenjenseitigem Abhang
die Stellung lag. Wir erreichten den Gipfel des Hügels,
ohne daßeine Granate in unsere Nahe gefallen
war. AIs das Schneien plötzlich aufhörte und wir von
den Russen wie auf einem Präsentierteller gesehen
wcrden konnten, warfen wir uns alle in den tiefen
Sdmee. Was nun? Laufgraben und Stellung waren
ganz mit schwarz en Granatrauchwolken bedeckt,
und immer neue Geschosse sausten heran. Wenn wir
von dem russischen Artilleriebeobachter oder vom
219
MG-Soldaten gesehen würden, waren wir sa gut wie
verloren. Liegenbleiben konnten wir nicht, nach der
Stellung hatten wir noch etwa 400 m zurückzulegen,
nach dem Laufgraben etwa 200. Also entschlossen
wir uns, nach dem Laufgraben zu eilen. »Auf,
marschmarsch!« rief ich. Sofort waren alle auf den
Beinen, und so schnell wir konnten, rannten wir
dem in der Mulde entlanglaufenden Laufgraben zu.
Ein russisches MG fing an zu rattern, schoß aber viel
zu hoch, denn wir horten die Kugeln über uns zischen.
Fast atemlos kamen wir im Laufgraben an.
AIs die Schießerei einen Moment aufhörte, suchten
wir sa schnell wie moglich in den weiter vorne neben
dem Laufgraben liegenden Sanitatsunterstand
zu kommen. Der Laufgraben war stellenweise beinahe
vallgeschassen. An einer Stelle lagen drei tote
Infanteristen; der eine war bis zur Unkenntlichkeit
verstümmelt. Wir waren glücklich, ais wir den stark
ausgebauten Sanitätsunterstand erreicht hatten.
Am Baden lag ein Gefallener. Ein Sanitäter erzahlte
uns, daß der Tate ein Urlauber sei, der am Morgen
die Stellung verlassen habe, um in Urlaub zu fahren.
AIs er den Laufgraben entlangging, schlugen
mehrere der ersten Granaten var ihm ein. Schleunigst
ging el' in den Sanitätsunterstand zurück, um
dort das Ende der :Schieberei abzuwarten. Da
schlug eine Granate hinter dem Unterstand ein,
und ein ganz kleines Sprengstück durchschlug das
Stück Tannenholz, das den unteren Teil der Fenstereinfassung
bildete. Es traf den Unglücklichen
mitten in die Stirn. Er war sofort tot von der Bank
gestürzt. Der Arme, der sicher in Gedanken schon
in der Heimat geweilt hatte, sollte seine Angehorigen
nicht wiedersehen.
Das Donnern und Krachen der Granaten hatte
wieder eingesetzt. Ais wieder eine Pause eintrat,
suchte je der von uns sa schnell wie moglich sein MG
zu erreichen. Aber schon wieder kamen Geschosse
herangesaust, und wir muûten uns hinlegen, um
nicht von Splittern und Erdschollen getroffen zu
220
werden. Endlich kam ich an meinem Unterstand an.
Meine Jungens hatten angsterfüllte Gesichter, denn
eine leichte Granate war oben auf dem Unterstand
geplatzt, ohne jedoch durchzuschlagen. Da hörte ich
auf einmal Infanterie- und MG-Feuer. Ich sprang
hinaus, nahm das Fernglas und sah, daß [bei der
russischen Stellung] hinter dem Gut Schiskowo alles
von russischer Infanterie wimmelte, die sich zum
Angriff anschickte. »Alles raus! » schrie ich in den
Unterstand hinein. DieJungens kamen. Das Maschinengewehr,
das in einer Nische gedeckt im Graben
stand, wurde in die SchieHstellung gehoben und geladen.
Ich schaute nach den Russen hinüber und sah
gerade noch die letzten in ihrem Graben verschwinden.
Über der Stelle platzten eine Menge deutsche
Schrapnells, welche die Russen zum Rückzug zwangen,
ehe sie noch recht zum Angriff geschritten waren.
Wir erhielten den Befehl, in höchster Alarmbereitschaft
zu bleiben. Dauernd sollten 2 Mann beim
MG bleiben. Die anderen durften sich im Unterstand
aufhalten, aber nicht schlafen. ln aller Ruhe
ging der Tag seinem Ende entgegen. Da noch immer
ein Angriff der Russen befürchtet wurde, wurden in
der Nacht viele Leuchtkugeln abgeschossen, sa daf
es fast immer hell war und ein Anschleichen der
Russen auf dem weillen Schnee unrnoglich war. Da,
nach Mitternacht, fing ein MG an zu schiefien, dazwischen
horte man das Knallen der Infanterie. Da
blitzte seitwärts hinter uns ein deutscher Scheinwerfer
auf, beleuchtete hin und her das Niemandsland
zwischen den Stellungen und lief schlieHlich sein
volles Licht in einer Mulde erstrahlen, die sich von
der russischen nach unserer Stellung hinzog und in
die wir von unserem MG-Stand nicht hineinsehen
konnten. Ich schof mehrere Leuchtkugeln ab,
konnte aber vor uns keine Spur von Russen entdekken.
Bald horte das Schießen wieder auf. Wie wir
dann erfuhren, hatte sich ein russischer Stoßtrupp
der Mulde entlang unserer Stellung genahert,
wurde jedoch gesehen und durch das Feuer zurück-
221
getrieben . Eine Patrouille ging nun vor und fand
sieben tote Russen sowie einen Schwerverletzten,
den sie mit zurückbrachten. Sie legten ihn auf ein
Drahtbett im MG-Unterstand, wo er wieder zu sich
kam. Er hatte jedoch vie! Blut verloren und war halb
erstarrt, so daßer am folgenden Morgen verschied.
Von da ab hatten wir Ruhe. Auber mit einigen
Granaten täglich wurden wir von den Russen nicht
mehr belastigt. Da ich Gewehrführer war, brauchte
ich nicht mehr Posten zu stehen. Trotzdem stand ich
meine Zeit, damitdieJungens es etwas besser hatten.
Da es die Nächte stark fror, mußten wir dauernd mit
etwas trockenem Sand gefüllte Säcke am Ofen im
Unterstand heiß machen und sie um den Mante! des
Maschinengewehrs binden, um zu verhüten, daß das
Wasser im Mantel gefror. Denn mit eingefrorenem
MG ist das Schießen unmöglich. Früher war dieses
Aufwärrnen nicht nötig, denn unter das Wasser
wurde Glyzerin gemischt, welches bekanntlich nie
einfriert. Nun mangelte es an Glyzerin, wie an den
meisten anderen Sachen. Mitdem Heizen war es auch
schlecht bestellt. Wir hatten nur gefrorenes grünes
Tannenholz, das schrecklich qualmte, aber nicht
brennen wollte. Man mußtesich oft fast die Lunge
auspusten, bis nur das bißchen Kaffee gekocht war.
Am Weihnachtstage ging ich eben hinten im
Walde an der Kantine vorbei, als mehrere Kisten
Keks (Zuckerbretla) abge!aden wurden. Das war
eine Seltenheit, denn sonst gab es in der Kantine
hauptsächlich Stiefe!wichse, Schuhfett, Briefpapier,
Bleistifte, Fe!dpostkarten, hie und da eine Büchse
Olsardinen und eingemachtes Obst zu kaufen. Ich
kaufte aile Taschen voll Keks und af fast aile hintereinander,
bis auf 5 Rollen, die ich meiner MG-Besatzung
brachte. Es wundert mich noch heute, wie mein
Magen dies alles aufnehmen konnte. Am Weihnachtsabend
bekamen wir immer zu 2 Mann eine
3/4-Liter-Flasche sauren Rheinwein ais Christabendbeseherung.
ln der Silvesternacht 1916 auf 1917 schlief ich
222
eben im Unterstand, ais ich von dem Kornpanieschreiber
geweckt wurde. lch schaute auf die Uhr,
es war eben Mitternacht. Draufien knallten die Posten
aus purer Langeweile das neue Jahr an. Wir
beide wünschten uns ein glückliches neues Jahr.
»Aber deshalb«, sagte ich zum Schreiber, »hättest du
mich nicht zu weeken brauchen.« – »Ich bin auch
nicht deshalb hier in die Stellung gekommen«, antwortete
er. »Ich bringe dir den Befehl des Kornpaniefelclwebels.
Du sollst sofort deine Sachen pakken
und dich hinten im Waldlager bei ihm melden..
lch war ganz baff, denn ich hatte keine Ahnung,
weshalb. Auch der Schreiber konnte oder
wollte mir keine Auskunft geben. Also packte ich
mein Hab uncl Gut zusammen und stolperte über
den hartgefrorenen, knirsehenden Schnee dem
Waldlager zu. Da sah ich VOl' mir einen Soldaten,
cler ebenfalls Sack und Pack bei sich hatte. »He, du,
wart mal!» rief ich. Er blieb stehen, und ich erkannte
in ihm einen Lothringer namens Beek,
ebenfalls von meiner MG-Kompanie. »Wo gehst du
hinr- fragte ich. »Zum Kompaniefeldwebel«, sagte
er. »Der Schreiber sagte mir, ich soli mieh bei ihm
melden.« Als wir beim Feldwebelunterstand ankamen,
waren sehon mehrere Elsässer da, die von einem
Bein aufs andere hüpften und teils mit Handen
um sieh sehlugen, um sieh zu erwärrnen. lch
meldete mich beim Feldwebel, der wach in seinem
Unterstand saß und sehrieb. Er kam mit hinaus,
wies uns einen leeren Unterstand an, der weder
Fenster noeh Türen hatte, und sagte, wir sollten
dort den Tag abwarten. Wir stahlen nun bei den
bewohnten Unterständen zerkleinertes Holz, um in
unserem offenen, inwendig hart gefrorenen Unterstand
ein Feuer zu machen. Wir saßen um das
Feuer herum, da wurcle geschimpft, geflueht und
aile möglichen Meinungen ausgetauseht. Ich sagte:
»Paßt auf, wir sind die längste Zeit beim Regiment
44 gewesen. Ich glaube, dan wir versetzt werden..
Und meine Ahnung wurde zur Wahrheit.
223
Am frühen Morgen Iief.\uns der Kompanieführer
antreten und teilte uns mit, daß die Division, zu der
das Regiment 44 gehore, nach der \Vestfront transportiert
würde. Auf hoheren Befehl müliten aile
Elsaß-Lothringer an der russischen Front bleiben
und anderen Regimentern zugeteilt werden. Ein allgerneines
Gebrurnme unserer seits erhob sich nun:
"Ah so, Soldaten 2.Klasse. Die haben wohl Angst,
wir laufen dort über« und sa weiter. Da sagte der
Kompanieführer: »Ich hatte euch ja gern behalten
bei der Kompanie. Ich war mit euch allen sehrzufrieden.
Aber ihr wißtja selbst, Befehl ist Befehl, und
da ist nichts dran zu ändern, Schließlich körint ihr's
für ein Glück ansehen, hierbleiben zu konnen, denn
an der Westfront ist die Lebensgefahr weit größer ais
hier.. Obwohl wir ihm in Gedanken recht gaben, lief
es keiner laut werden. Wir rnarschierten nun nach
]elovka, wo schon mehrere hundert Elsali-Lothringer
von unserer Division versarnmelt waren. Wie
da geschimpft wurde! Die Gesinnung aller war genau
dieselbe. Wenn die Preußen dahin gekommen
waren, wo sie hingewünscht wurden, wären wohl alle
beim Teufel gelandet. Am Nachmittag hielt der Regimentskommandeur
nochmals eine Rede und wiederholte,
daßes nicht and ers zu machen sei; es sei
Befehl von oben. Die Nacht verbrachten wir in Baracken.
Am folgenden Tag, dem 2.]anuar 1917, marschierten
wir los. Ein Oberleutnant zu Pferde ritt
nebenher. Der Marsch ging diesmal nordwärts, Irnmerzu
wurde laut gemurrt, oder es ertönten Iaute
Zwischenrufe. »Épinal«, schrie einer, ein anderer:
»Vive la France!« Sofort sprengte der Oberleutnant
nach der Abteilung in der Kolonne, wo der Ruf
ertönt war, und wollte wissen, wer geschrien hatte.
Da kam er aber schon an. Die einen sagten, sie hatten
nichts gehürt, wieder andere lachten ihm frech ins
Gesicht. »Vive la France! Vive l'Alsace!« wurde mun
vor und hinter dem Oberleutnant geschrien. Dieser
knirschte vor Wut, konnte aber nie herausfinden,
224
wer gerufen hatte. Denn alle hielten zusarnrnen wie
eine Klette. »Su lang as es Plüta und Knepfla git, su
frecka die Schwowa irn Elsaß net- [»Solange es Blüten
und Spätzle gibt, so lange fressen die Deutschen
im Elsaf nicht«], sang wieder einer am rückwàrtigen
Ende der Kolonne. Da gab der Oberleutnant den
Befehl zum Singen. Kein Laut wurde vernehrnbar.
»Wenn mir jetzt noch einer die Schnauze auftut, der
soll mal sehen!« schrie nun der Oberleutnant, der
sehr gereizt war, da seine Befehle nicht beachtet
wurden. Plötzlich fing einer der Elsässer an zu singen:
,,0 Straßburg, 0 Straßburg, du wunderschöne
Stadt!« Wie auf Kornmando fielen aile ein, und
machtig scholl das schone Elsässerlied durch die eisige,
klare Winterluft. Der Oberleutnant, der einsah,
dan er nichts ausrichten konnte, ritt mm hinter der
Kolonne her. Wir rnarschierten durch herrliche
Tannenwalder. Bei einem einzelnstehenden Cehöft
wurde haltgemacht. Etwa 200 Mann muûten dableiben;
dabei befand auch ich mich, ehenso aile Elsässer
der MG-Kompanie, denn wir blieben imrner beisammen.
Wir marschierten nun direkt unter der Führung
eines Feldwebels in Richtung Front.
BEIM RESERVEINFANTERIEREGIMENT
260, RUSSISCHE NORDOSTFRONT
2 JANUAR BIS 14.APRIL 1917
Auf einem Gutshof war ein Regimentsstab des Reserveinfanterieregiments
260 einquartiert. Dorthin
wurden wir geführt und unter die einzelnen Kornpanien
verteilt. Ich verlangte, in die MG-Kompanie
eingeteilt zu werden. Auf einen Telephonanruf karn
der Bescheid, daßbei der MG-Kompanie 260 kein
Platz frei sei. Also wurde ich mit noch etwa 12 Mann
der 9. Kompanie zugeteilt. Obwohl die Nacbt angebrochen
war, wurden wir noch zurn Kompaniefeldwebel
der 9. Kompanie, der irn Wald in einern schö-
225
nen Unterstand die Kompanieschreibstube eingerichtet
hatte, geführt. Er war ein freundlicher Mann,
und wir waren mit dem Empfang recht zufrieden. Er
fragte uns gleich, ob wir etwas essen woLlten, und lief
uns Brot und Konservenfleisch geben. Übernachten
muliten wir in einem leeren Unterstand, in dem alles
wie Stein und Bein gefroren und weif bereift war.
Trotzdem wir ein Feuer anrnachten, konnten wir
lange nicht warm bekommen. Der Abschnitt, den
das Regiment 260 besetzt hielt, schien ziemlich gefährlich
zu sein, denn man hörte die ganze Nacht
dröhnende Minen- und Granatenexplosionen.
Als wir die folgende Nacht bereits schliefen,
wurde ich vom Kompanieschreiber geweckt. Vorne
in der Stellung war von der Gruppe des Unteroffiziers
Blau der Gefreite verwundet worden; ich sollte
nun seine Stelle besetzen. [… ] Die Nacht war bitter
kalt. Laut knirschte der gefrorene Schnee beijedem
Schritt. Es war mir doch etwas unheimlich, so alleine
in der Nacht in diesem unbekannten Graben.
Manchrnal blieb ich stehen und lauschte. 1ch konnte
nicht mehr weit von der Stellung sein, das Knallen
der Posten ertonte ganz in der Nähe. Plötzlich ein
sekundenlanges Sausen, ein Blitz, ein Krach; gar
nicht weit von mir hatte eine gröûere Granate eingeschlagen,
sa daßder emporgeschleuderte Schnee
auf mich niederrieselte und die Erdschollen zum
Teil über mich hinwegflogen. Unwillkürlich fing ich
an zu laufen, um von der gefàhrlichen Stellewegzukommen.
Plotzlich teilte sich der Laufgraben in
3 Graben. [... ] Endlich, nach einigen hundert Schritten,
erreichte ich die vorderste Stellung. [... ] Fast
aile Posten machten Bewegungen, um sich etwas
warm zu halten. Sie aile hatten die Kopfschoner von
unten über das Kinn und die Nase bis an die Augen
hochgezogen, so daßnul' ein fingerbreiter Spalt offenblieb,
um durchsehen zu können.
Endlich, nach langem Umherfragen, fand ich den
Unterstand des Unteroffiziers Blau. 1ch meldete
mich zur Stelle. Der Unteroffizier fragte mich, wie
226
lange ich Soldat sei, was für ein Landsmann und so
weiter. Nach einer Weile war wieder Zeit, die Posten
zu wechseln. –Ablösung!« schrie der Unteroffizier,
der Grabendienst hatte, zum Unterstand herein.
»Richert, Sie konnen gleich aufziehen«, sagteUnteroffizier
Blau zu mir. Ich nahm das Gewehr des verwundeten
Gefreiten. Der Unteroffizier kam mit und
führte mich zurn Postenstand. Ich stand nun mutterseelenallein
in der fremden Stellung. Vor mir
konnte ich trotz der Dunkelheit die halbeingeschneiten
Drahthindernisse erkennen. Die weitere Aussicht
verlor sich in Nacht, Schnee und Nebel. Nach
und nach fing ich an zu frieien, denn die Nacht war
bitter kalt. 1ch trat vom Postenstand hinunter,
sprang von einem Bein aufs andere und schlug mit
den Händen um mich. Dann stieg ich wieder hinauf.
Auf einmal horte ich drüben einen dumpfen Abschuß
Ich kannte den Ton, es war der einer Mine.
Da ich nicht wuûte, wo dieselbe hinfallen würde,
sprang ich in den Graben hinunter und lauschte
gespannt. Plotzlich hörte ich dire kt in Richtung gegen
mich, zuerst leise, dann laut: Tseh-tseh-tseh. Das
war die Mine, die im Bogen zischend die Luft durchschnitt.
Das Blut erstarrte mir fast vor Schreck in den
Adern. Ich hatte gerade noch Zeit, mich platt in den
Craben zu werfen, aIs mit entsetzlichem Krach die
Mine kaum 2 m hinter mir, oben auf der Deckung,
cxplodierte. Rauch, Schnee, Erdschollen und Splitter
flogen umher. Ich hatte mindestens einen Schubkarren
von Erde auf mir liegen. 1ch schüttelte sie ab,
sprang auf und horchte, denn ich erwartete eine
zweite Mine. Meinen Postenstand durfte ich nicht
verlassen. Da kam Unteroffizier Blau gelaufen, der
g'eh6rt hatte, daßdie Mine dicht bei mir eingeschlag'cn
haben mulite. »Sind Sie verletzt?« rief er. Ais ich
verneinte, sagte er: »Sie müssen sich, wenn Sie den
Abschuf hören, sofort ins Fuchsloch begeben!– –
»Was für ein Fuchslochi- fragte ich. Da zeigte er mir
dicht neben dem Postenstand, von der Grabensohle
nach vorne eingebaut, ein Loch, welches mit Holz
227
verschalt war und bequem einen Mann aufnehmen
konnte. Bum, wieder ein Abschuß drüben. Der Unteroffizier
kroch in das Fuchsloch. Da ich keinen
Platz mehr darin hatte, legte ich mich wieder auf den
Grabenboden. Da kam die Mine schon angesaust;
dies mal flog sie etwas wei ter über uns hinweg. Blau
ging nun wieder in den Unterstand. Es kamen noch
mehrere Minen angeflogen,je doch keine mehr so in
die nächste Nähe. Zuletzt stand ich überhaupt nicht
mehr Posten und blieb einfach irn Fuchsloch liegen.
Endlich kam die Ablösung. Wir mußten stündIich
ablösen, der bitteren Kälte wegen. Ich ging nun in
den Unterstand, der von einer Kerze erleuchtet war,
zog die Stiefel aus, die steinhart gefroren waren, um
die Füße etwas am Ofen zu wärrnen. Der Kopfschoner,
den ich draußen über Mund und Nase gezogen
hatte, war vor dem Mund derart vereist, daû sich ein
fast faustgroßer Klumpen Eis und Reif gebildet
hatte. AIs ich etwas erwärrnt war, legte ich mich auf
ein Drahtbett, um zu schlafen. Wie schnell waren die
2 Stunden urn, bis ich wieder an der Reihe war!
Kaum daßich meinte, eingeschlafen zu sein, hief es
schon wieder Ablösung. Sechsmal mußte ich jede
Nacht Posten stehen. Natürlich ging es den anderen
Soldaten nicht besser. Die Nachte schienen uns
schier endlos.
Manchmal, wenn ich so alleine in der kalten Nacht
stand, dachte ich, für was oder wen ich hier eigentlich
stand. Von Vaterlandsliebe oder ahnlichem war
bei uns Elsässern überhaupt keine Spur, und manchmal
erfaßte mich eine furchtbare Wut, wenn ich
daran dachte, welches bequeme Leben die eigentlichen
Urheber dieses Krieges führten. Überhaupt
hatte ich einen heimlichen Zorn gegen aIle Offiziere
vom Leutnant aufwarts, die aile besser wohnten, bessere
Verpflegung hatten und obendrein noch eine
schöne Bezahlung erhielten, während der arme Soldat
»fürs Vaterland und nicht fürs Geld, hurra,
hurra, hurra«, wie es in einem Soldatenlied heiBt,
das ganze Kriegselend mitmachen mußte. Dazu
228
hatte man noch den Offizieren gegenüber überhaupt
keine eigene Meinung. Man hatte überhaupt
nichts zu sagen, nur blind zu gehorchen.
Eines Tages wurden wir derart mit Minen überschüttet,
daßman nicht wußte, wo man sich verkriechen
sollte. Da liefen wir aIle in den betonierten
Sanitatsunterstand. Links und rechts davon schlugen
die gewaltigen Flügelminen ein. Der Unterstand
war mit Soldaten voUgestopft wie eine Heringsbüchse
mit Heringen. Plötzlich ein furchtbares Getose
über unseren Köpfen, eine Mine war dire kt auf
dem Unterstand geplatzt. Rundum, wo der aus Eisenbeton
bestehende Deckel auf den Mauern auflag,
zeigten sich Risse. Durch die gewaltige Erschütterung
hatte sich der meterdicke Deckel losgelost.
Angstlich schauten wir uns an. Wieder ein KnaU, daß
wir fast aile zu Boden Hogen. Wir hatten wieder
einen Volltreffer auf den Unterstand erhalten. Diesmal
war der gallZe Zementdeckel etwa eine Handbreit
zur Seite gerutscht. Da sagte ich zu meinem
Kameraden Karl Herter, mit dem ich bereits gut
befreundet war: »Karl, hier bleibe ich nichtl. – »Wo
willst du denn hin?« fragte er. »Wir warten den
nächsten Einschlag ab. Wenn du willst, kannst du
mitkornmen.. AIs die nachste Mine explodiert war,
gingen wir beide zum Unterstand hinaus, liefen im
Laufschritt die SteUung entlang bis zu einem Graben,
der nach dem vorne in den Drahthindernissen
gelegenen Horchpostenloch führte. Da hinein begaben
wir uns. Wir waren nun vollständig sicher, denn
die Minen Hogen aUe über uns hinweg. Wir konnten
sie schön betrachten, wenn sie in einem hohen Bogen
über uns hinwegHogen. Nun fing die deutsche
Artillerie an, Antwort zu geben. Bum-bum-bumbum,
krachten die Abschüsse hinter uns in den Waldern.
Mit lautem Zischen sausten sie über uns hinweg,
um bei der russischen Stellung einzuschlagen.
Durch den Grabenspiegel, der sich im Horchpostenloch
befand, beobachteten wir drüben die Einschlage.
Es war ein sehr aufregendes, interessantes
229
Schauspiel, so daßwir beide die Kälte vergaûen. Die
russische Artillerie, die wohl zeigen wollte, daßbei
ihnen auch noch Munition vorhanden war, schickte
nun auch eine Menge Granaten, untennischt von
Schrapnells, herüber. Überall ein Donnern und
Dröhnen, daßeinem Hören und Sehen verging.
Gegen Abend flaute das Feuer ab. Wir gingen zurück
in die Stellung. Stellenweise war der Graben fast
ebengeschossen. Wir warteten, bis es dunkel war,
dann wurde der Graben wieder gangbar gemacht
und einigermalien repariert. Mehrere Unterstande
waren zusammengeschossen, jedoch war nur einer
von 6 Soldaten besetzt gewesen, von denen vier getbtet
und die beiden anderen schwer verwundet waren.
Es war eine traurige und schwere Arbeit, im
Dunkel der Nacht die beiden Schwerverwundeten
und die 4 Leichen unter gefrorener Erde und zerschlagenen
Tannenstämrnen hervorzuholen.
Die Russen wurden an diesem Frontabschnitt immer
frecher. Wo nur Rauch aus einem Unterstand
aufstieg, schossen sie mit Minen und Granaten. Von
da ab durften wir bei Tage nur noch mit Holzkohlen
heizen. Diese wurden in den groûen Waldern hinter
der Front gebrannt und mit der Feldbahn nach der
Front geschafft. Alle 2 Tage erhielt jede Gruppe
einen Großen Sack davon. Eines Morgens schickte
mich der Unteroffizier Blau zum Kohlenempfangen.
Die Säcke lagen auf einem Haufen bei der Mündung
des Laufgrabens in die Stellung. [… ] Ich war
eben im Begriff, meinen Sack über den Rücken zu
heben, als ein Schrapnell herangesaust kam und
über uns zerplatzte. Die ganze Ladung schlug kaurn
1m vor uns in die Grabenwand. lm selben Moment
fühlte ich ein heftiges Brennen im Rücken. Wir
sprangen alle Hals über Kopf in einen in der Nähe
befindlichen alten Unterstand. Dort fragte ich einen
Soldaten, ob er nichts an meinem Rock auf dem
Rücken sehe. Er entdeckte ein erbsengroßes Loch.
lch sagte, daß ich einen kleinen Splitter abbekommen
hätte, fühlte aber, daß es gar nicht schlimm war.
230
Ich zog den Rock aus. Der Splitter war durch das
Stückchen Leder gedrungen, das auf dem Rücken
die Hosentrager zusarnmenhält, wodurch seine
Durchschlagskrafterheblich geschwàcht wurde. Der
Splitter, der nicht ganz die Größe einer Erbse hatte,
saß nur unter der Haut und wurde von einem Soldaten
mit den Fingernägeln herausgedrückt. Ich war
froh, als die »Operation« vollendet war, denn mich
fing es an, auf dem nackten Rücken gewaltig zu
frieren. [… ]
Die Verpflegung wurde immer schlechter und weniger.
Sehr oft, wenn man halberfroren yom Postenstehen
so gegen Morgen mit einem machtigen H unger
in den Unterstand kam, war kein Stückchen
Brot, noch viel weniger sonst etwas zum Beißen da.
EIN HANDSTREICH GEGEN DIE
RUSSISCHE STELLUNG-JANUAR 1917
Eines Tages kam der Befehl: »Morgen gegen Abend
hat die 9. Kompanie nach heftiger Artillerievorbereitung
anzugreifen, in die russische Stellung zu
dringen und Gefangene mitzubringen, zur Feststellung,
welche Truppen uns gegenüberliegen. Wenn
möglich, sind die russischen Minenwerfer zu zerstören
!- «Ais ich dies hörte, fiel mir das Herz fast in die
Hosen, denn ich gehorte zur 9. Kompanie. Ich
dachte, wie schrecklich es sein müsse, wenn man bei
dieser Kalte schwerverwundet und hilflos zwischen
den Stellungen liegenbleiben und langsam erfrieren
mulite. Wie schon wàre es gewesen, wenn ich bei der
MG-Kompanie gewesen wäre! Dann hätte ich diesen
Angriff nicht mitzumachen brauchen!
Die nächste Nacht mußten wir mit Drahtscheren
Gange durch unsere drei Drahtverhaue schneiden,
urn schnell vorwartszukommen beim Angriff. Wir
wurden bei dieser Arbeit zum Glück von den Russen
nicht bemerkt. Langsam schlich der folgende Tag
231
dahin. Wir alle waren sehr niedergeschlagen, denn
keiner wußte, wie es ihm beim Angriff ergehen
würde.
Am Nachmittag fingen die deutsche Artillerie und
Minenwerfer furchtbar die russische Stellung zu beschießen
an. Bald entstanden breite Lücken in den
russischen Drahthindernissen. Das ArtiIleriefeuer
hörte wieder' elauf. Gegen Abend mußten wir uns
fertigmachen.jeder mußte sich 3 Handgranaten an
das Koppel hangen und die Seitengewehre aufpflanzen.
So standen wir im Graben, mit vor Aufregung
klopfenden Herzen, und warteten. Alles war in
diesem Moment still. Ganz plötzlich setzte starkes
deutsches Artilleriefeuer ein. »Vorwarts!« schrien
die Kompanie- und Zugführer. Wir aIle kletterten
zum Graben hinaus, liefen durch die Gang–e im
Drahtverhau, so schnell es der hochliegende gefrorene
Schnee erlaubte, nach der russischen Stellung
hinüber. Als wir uns dem Graben naherten, legte die
deutsche Artillerie an unserer Angriffsstelle das
Feuer weiter zurück, während links und rechts die
Granaten in und um die vordere russisehe Stellung
platzten, um die Russen daran zu hindern, uns in die
Flanke zu sehießen. Am russisehen Graben angekommen,
wurden einige Handgranaten hineingeworfen,
dann hineingesprungen. Die wenigen Russen,
die den Graben besetzt hielten, waren vollständig
überrascht. Einige setzten sich zur Wehr. Dabei
wurden 2 Mann unsererseits niedergesehossen und
drei verwundet. Die Russen wurden wie Hunde niedergeknallt,
ebenso einige, die fliehen wollten. Die
armen Teufel dauerten mich. Der Rest, etwa 30
Mann, ergab sich. Wie die Armen Angst hatten! Wir
ließen sie ihre Habseligkeiten in den Unterständen
zusammenpaeken, um sie mit in Gefangensehaft zu
nehmen. Auf beiden Seiten der Einbruchstelle standen
mehrere Soldaten mit Handgranaten bereit, um
sie im Falle, daß die Russen uns im Graben angreifen
wollten, ihnen über die Schulterwehren entgegenzuschleudern.
Jedoeh kein Angriff erfolgte. lch hatte
232
nur den Wunsch, wied el' in unserer Stellung zu sein.
Lang-sam fïng es an zu dunkeln. Die deutsche Artillerie
legte wieder stärker los. Das war für uns das
Zeichen, im Schutze des Artilleriefeuers zurückzugehen.
Die russische Artillerie fing nun ihrerseits an,
die deutsche Stellung unter Feuer zu nehrnen, so
daß das Zurückgehen auch gefahrlich zu werden
schien. "Wir deuteten den Russen an, sich bereit zu
halten. Alle kletterten wir nun zum russischen Graben
hinaus, nahmen die Gefangenen in die Mitte,
und los g–ing's.Da stieg eine russische Leuchtkugel
hoch. Wir wurden von den Russen gesehen. Mehrere
Schüsse knallten. Ein Mann bekam einen Armschuß,
einer der Russen einen Beinschuß. Trotzdem
wurden aIle mitgeschleppt, ebenso die 3 in der russischen
Stellung Verwundeten. ln unserem Graben
angekommen, suchte jeder so schnell wie möglich in
cinen Unterstand zu kornmen, denn die russisehe
Artillerie schickte immer noch einige Granaten herüber.
AIs das Feuer aufhörte, mußte die Kompanie
im Graben antreten. Es fehlten 8 Mann. Zwei waren
im russischen Graben gefallen, drei waren dort und
einer war auf dem Rückweg verwundet worden,
macht sechs. Niemand wußte, wo die beiden anderen
geblieben waren. AIs es am nächsten Morgen
hell wurde, sahen wir einen tot zwischen den Stellungen
auf dem Schnee liegen. Von dem letzten fehlte
jede Spur.
38 GRAD KÀLTE- JANUAR 1917
ln der folgenden Nacht wurde unser Bataillon abgelöst.
Wir marschierten etwa 8 km zurück und wurden
in g–roßen Unterständen untergebracht. Nun
setzte eine Kalte ein, wie ich sie noch nie erlebt hatte.
Das Thermometer sank auf 38 Grad unter Null.
Morgens beim Sonnenaufgang war es am kältesten.
Es war so kalt, daf die Luft flimmerte. Ein Bächlein,
233
etwa 1m tief, mit stark fliefiendem Wasser war bis
auf den Grund gefroren, so dali wir gezwungen waren,
Schnee- und Eisklumpen im Kochgeschirr auf
dem Ofen zu schmelzen, wenn wir Kaffee kochen
wollten oder zu sonstigen Zwecken Wasser haben
muûten. Das Brot und die anderen Lebensmittel, die
auf Schlitten hergebracht wurden, war en hart wie
Stein.
Wenn ein Mann den Kopfschoner nicht über die
Nase gezogen hatte, war die Nasenspitze binnen
5 Minuten weißgelb, alles Blut daraus gewichen. Dabei
wurde die Nase vollständig gefühllos. Da kam
der Befehl, daßeiner den anderen beobachten
sollte. Auch erhieltjeder eine Schachtel Frostsalbe,
um sofort die erfrorenen Stellen einzuschmieren
und zu verbinden. »Mensch, du hast ja eine weiße
Nasel- hörte man oft einen zurn anderen sagen. Die
Nase wurde dann sofort mit der Frostsalbe eingeschmiert
und verbunden. Am schnellsten erfroren
Nase, Ohren, die Haut auf den Backenknochen, Fingerspitzen,
Zehen und Fersen.
Nachdem wir einige Tage Ruhe hatten, mufiten
wir täglich nach vorn zum Stellungsbau. Das war
nicht so einfach bei dieser bitteren Kalte. Wir muûten
fast immer Zementplatten durch die Laufgräben
nach der Stellung schleppen, die zum Bau von Unterständen
dienten. Auf dem Hin- und Herwege
zogen wir weifie Schneehemden mit Kapuze über
unsere Uniform, um von den Russen nicht so gut
gesehen zu werden.
[… ] Als unsere Ruhezeit vorbei war, ging es Ende
Januar wieder 1km nordwarts in Stellung. An dieser
Stelle war der russische Graben kaurn 50 m von unserem
entfernt. Daß keiner von uns den Kopf zeigen
durfte, war selbstverständlich. Des Nachts mulite immer
die Hälfte der Mannschaften Posten stehen, um
im Falle eines Überfalls bereit zu sein. Also mubte
jeder bei dieser bitteren Kälte 8 Stunden draulien
stehenjede Nacht. Da wurde gefroren! Selten, daf
einer einige Minuten stillstand. Immer wurde ge-
234
getrampelt und um sich geschlagen. Wenn man abgelost
wurde und sich etwas im Unterstand erwärrnt
hatte, waren eine halbe bis dreiviertel Stunde vorbei.
Dann legte man sich den Rest der Stunde aufs harte
Drahtbett. Kaum daßman eingeschlafen war, muûte
man wieder raus. Es war strengstens verboten, des
Nachts abzuschnallen oder die Stiefel auszuziehen.
So konnte man nur auf dem Rücken liegen und hatte
die gefüllten Patronentaschen auf dem Magen. Die
Gewehre wurden am Bett aufgehangt, so daßman
sie bei Alarm sofort bei der Hand hatte. Jede Woche
wurde mindestens zweimal Alarm gegeben, da mit
die Offiziere feststellen konnten, wie lange es dauerte,
bis der Graben besetzt war.
Eines Morgens wurde ich zum Brotempfang geschickt.
Ich legte das Zelttuch über die Schulter,
steckte die Hände in die Manteltaschen und ging
nach der etwa 300 m entfernten Empfangsstelle. Ich
nahm so viele Brote ins Zelt, wie ich tragen konnte.
Da sah ich, daßich meine Handschuhe im Unterstand
liegengelassen hatte. Ich nahm nun mit den
bloben Händen die Ecken des Zeltes zusammen,
schwang das Brot aufden Rücken und lief, so schnell
ich konnte, dem Unterstand zu. Herrgott, wie mir
die Finger anfingen zu frieren! Ich konnte kaum das
Zelttuch noch halten. Endlich erreichte ich den Unterstand,
Iief Zelt und Brot zu Boden fallen. Mehrere
Fingerspitzen waren bereits erforen und weibgelb.
Sofort schmierten meine Kameraden meine
Hände mit Frostsalbe ein und verbanden sie. ln den
Fingern hatte ich fast gar kein Schmerzgefühl, aber
die Arme hinauf und besonders in der Brust
schmerzte es mich derart, daßich mich auf den
Drahtbetten herurnwälzte. Nach etwa einer Viertelstunde
war der Schmerz wieder fast ganz weg. Ich
nahm den Verband von den Händen und sah, daf
das Blut in die Fingerspitzen zurückgekehrt war.
Anfang Februar 1917 wurden wir wieder abgelöst
und kamen in das Dörfchen Kekeli in Quartier. Kekeli
bestand aus einigen zerstreuten Holzhütten, die
235
mit Stroh gedeckt waren. Nun konnten wir einige
Nächte durchschlafen. Jeden Tag muûten wir vor
dem Dörfchen an einer Stellung, welche mit Schnee
gemacht wurde, arbeiten. Nach etwa einer Woche
ging es wieder nach vorne. Wir kamen wieder in
dieselbe Stellung wie zuvor. Da kam wieder der Befehl,
einen Handstreich gegen die russische Stellung
zu machen. Es wurde gefragt, wer sich freiwillig
melden wolle. Die Freiwilligen bekamen nach der
Ausführung des Handstreichs das Eiserne Kreuz.
Zu meinem nicht geringen Staunen meldeten sich
12 Mann. Am folgenden Tage, morgens bei Tagesanbruch,
stellten sich die zwölf im Graben auf, kletterten
auf Kornmando hinaus und waren in ein paal'
Sprüngen in der russischen Stellung. Das Ganze
ging so schnell, daß von seiten der Russen kein einziger
Schuh fiel. Wir lausehten gespannt hinüber. Da
fielen einige Schüße. Nach etwa 2 Minuten fingen
unsere Maschinengewehre an zu rattern und fegten
links und rechts von der Einbruchstelle knapp über
die russische Stellung. Nun kletterten unsere Soldaten
aus dem russischen Graben und liefen, so schnell
sie konnten, in unsere Stellung zurück. Es waren nur
noch elf. Keiner wuûte, wo der zwolfte geblieben
war. Wir nahrnen an, daßer absichtlich drüben geblieben
sei, mn in Gefangenschaft zu kommen. Die
Angreifer hatten, wie sie sagten, nur einen Russen
niedergeschossen. Sie brachten des sen Brieftasche
und abgerissene Achselklappen mit.
Die Stellung, in der wir lagen, war zu dieht am
Feind und zu gefàhrlieh. Deshalb sollten wir in der
Lange von 1km etwa 300 m zurückgenommen werden,
wo bereits eine schöne Stellung mit Unterstanden
ausgebaut war. ln der letzten Nacht, die wir in
der vordercn Stellung zubraehten, muflten wir Kistchen
mit Sprengstoff nach vorne tragen. Dieselben
wurden von den Pionieren in die Unterstände verteilt,
mit einern Draht verbunden, und dann wurden
die Eingange und Fensterchen zu den Unterständen
mit gefülltten Sandsäcken zugebaut. Am Morgen bei
236
Tagesanbruch verliefien wir die vor dere Stellung
und bezogen die weiter zurückgelegcne, neu erbaute
Stellung. Punkt 12 Uhr mittags sollte die
Sprengung stattfinden. Gespannt schauten wir aIle
nach vor ne. Plötzlich eine Explosion, daß die Erde
zitterte. [… ] Sofort wurde cine Patrouille durch den
Laufgrabcn nach vorn geschickt, um nachzuschen,
ob alle Unterstände zerstört waren. [… ]
Nun ging das Leben seinen gewühnlichen Gang
weiter: Postenstehen, schleehte Verpflegung und
quälende Lause. Ende März 1917 wurden wir abge-
löst, um wieder einige Tage in Ruhe zu kommen.
Das Wetter war etwas gelinder, doch lag der Schnee
noch massenhaft. Wir mußten nun im Schnee herumexerzieren.
Ich hatte als Gruppenführer den Unteroffizier
Schneider, der trotz seiner 29 Jahre bereits
Doktor der Chemie war, dem aber das Militarleben
absolut nicht zusagte. Unser Bataillonskornmandeur,
ein sehr strenger Mann, ritt im Bataillon
herum und sehaute den Bewegungen der Gruppen
zu. Als er eben bei uns anhielt, gab Unteroffizier
Schneider einige verkehrte Befehle. Als hätte er das
größte Verbrechen begangen, schrie ihn der Bataillonskommandeur
an: »Wie kommt es, daßso ein
Rindvieh wie Sie zum Unteroffizier befördert
wurde? Sie gehören ins Rekrutendepot, um den
Dienst von vorne zu lernen! Sie, der Cefreite«, sagte
cr dann zu mir, ȟbernehmen sofort den Befehl
über die Cruppel- Ieh trat nun vor. Da ich eine
kräftige Stimme hatte und die Kommandos in meiner
4jahrigen Militärzeit natürlich genau kannte,
war es ein leichtes, die Gruppe zu führen. Ich lief3sie
einige Schwärmbewegungen maehen, einige Male
Stellung nehmen und dann wieder sammeln. Der
Bataillonskommandeur, der zugesehen hatte, ritt
heran und sagte: »GUI, der Gefreite. Wie lange sind
Sie sehon Soldat?« – »Seit Oktober 1913!« antwortete
ich. »Wie lange sind Sie sehon im Feld?« – »Seit
Kriegsausbruch, mit etwa 4 bis 5 Monaten Untcrbrechung.
« – »So, wie kommt es dann, daß Sie noch
237
nicht Unteroffizier sind?« – »Ich bin Elsässer und
habe deshalb schon viermal die Regimenter wechsein
müssen. Ais Neuling wird man dann gewühnlich
ais Rekrut behandelt.«
Dann ritt der Bataillonskommandeur weg und
rief unseren Kompanieführer, Leutnant Kerrl, der
ein guter Vorgesetzter war und mich gut leiden
konnte, zu sich. Ich sah, daßbeide oft nach mir
sahen, also von mir sprachen. Ais wir eben aufhörten
mit dem Exerzieren, brachte die Regimentsordonnanz
eine Meldung zu unserern Bataillonskomrnandeur.
Als diesel' dieselbe gelesen hatte, rief er: »Das
ganze Bataillon hier rumkomrnen !- Alles lief hin
und stellte sich im Kreis um den Bataillonsführer.
»Soldaten«, fing el' an, »der Krieg auf dieser Front
ist soviel ais beendet. ln Ruûland ist eine Revolution
ausgebrochen. Der Zar ist abgesetzt. Die Garnison
von Petersburg, 30000 Mann, hat sich den Revolutionären
angeschlossen.« [Es war die Februarrevolution
yom 23. Februar 1917, der am 17. Marz 1917 die
Abdankung von Zar Nikolaus II. folgte.]
Wir aIle horchten mit offenem Munde, dann
konnten wir in unsere Quartiere gehen. Alle möglichen
und unrnöglichen Vermutungen wurden ausgetauscht.
Den einen grau te schon, die dreckigen
Feldbahngeleise nun abreilien zu müssen; andere
meinten: »jetzt geht's los nach Petersburg und Moskau..
Fast aIle freuten sich, daßdas Schützengrabenleben
nun bald ein Ende haben sollte. lch selbst war
jedoch noch nicht so ganz von der Sache überzeugt,
sagte aber nichts weiter. Vorne an der Front ertönten
die einzelnen Kanonenschüsse genau wie vorher.
Also war's mit der Revolution nicht so schlimm.
Einige Tage spater wurde der wahre Sachverhalt
bekannt. Wirklich, der Zar war abgesetzt worden,
aber nul' weil cr Frieden schlielien wollte. Der Krieg
jedoch wurde unter dern Befehl des Diktators Kerenski
[damals Mitglied des Provisorischen Exekutivkomitees
des Arbeiterdeputiertenrates, yom Juli
1917 bis zur Oktoberrevolution russischer Ministerpräsident]
238
aufs neue fortgesetzt. Das klang ganz,
ganz and ers ais die erste Meldung.
Anfang April 1917 wurde unser Regiment ganz
abgeWst. Wir marschiertcn zurück und wurden in
dern ganz von Juden bewohnten Städtchen Subbat
2 Tage einquartiert, Hier sah ich seit meinem Urlaub
irn Oktober 1916 wieder die ersten Zivilisten. Lebensmittel
waren keine zu kaufen, aber sonst allerhand.
Und in den Teestuben gab es no ch einigerrna-
Ben guten Tee zu trinken, der statt mit Zucker mit
Sacharin versülit wurde. Dann marschierten wir
nach der Bahnstation Abeli. Dort wurden wir verladen.
Kein Mensch wubte, wohin, Wir fuhren zurück
über Radsiwilischki, Rakischki über Schaulen nach
janischki. Dort verlieben wir den Zug und wurden
3 Tage in Massenquartieren untergebracht; dort
schliefen wir auf den Zimrnerböden. Es gelang mir
auf Schleichwegen, 12 Eier und 1 Pfund Speck zu
kaufen. Das gab wieder mal zwei vernünftige Mahlzeiten.
Als die 3 Tage um waren, fuhren wir mit der
Bahn nach Schaulen zurück. lch soIlte mit noch einern
Gefreiten zum Unteroffizier befordert werden.
ln Schaulen angekommen, hief es: »Alle Elsaû-
Lothringer aussteigenl- lch ahnte gleich, weshalb.
Wir muûten auf dem Perron antreten. Der Kompanieführer
kam zu mir, übergab mir einen Brief, den
ich meinem zukünftigen Kornpanieführer geben
sollte. Es sei ein Empfehlungsschreiben, mich und
die übrigen Elsässer der 9. Kompanie betreffend.
Ich dankte, dann nahm der Kornpanieführer Abschied
von uns. Von unseren Kameraden konnten
wir nicht Abschied nehmen, denn sie durften nicht
.iussteigen. Bei unserern Abmarsch winkten wir ihlien
ein letztes Lebewohl zu. [… ] die Division wurde
nach dem franzosischen Kriegsschauplatz transpor-
1 iert, und wir Elsässer durften nicht mit. Wir wurden
ill Schaulen in einer früheren Lederfabrik für 2
'Lige einquartiert. Wir waren etwa 1200 Mann. Es
war hier wieder dieselbe Schimpferei wie bei unserer
Versetzung vom Regiment 44 zum Regiment 260.
239
Mich wunderte sehr, was eigentlich in dem Empfehlungsschreiben
meines früheren Kornpanieführers
stand. Auf dem Briefumschlag stand nur: »An
den Kompanieführer«. Ich dachte: lch kann den
Brief ebensogut in einem unbeschriebenen Briefumschlag
abgeben. SAriß ich ihn einfach auf und las.
Dieser Brief war der reine Lobgesang auf mich,
dann auf den Soldaten Runner Harry, der aus Rufach
stammte, und die übrigen Soldaten der 9. Kornpanie.
Es freute mich doch, daß wir bei unserem
Kompanieführer so gut angesehen waren. lch teilte
den Inhalt des Briefes nur meinem Kameraden
Runner Harry mit. Am nächsten Tag ging ich mit
Runner in die Stadt, um zu sehen, ob etwas Eßbares
zu kaufen wäre. Wir konnten leider nichts finden als
Tee in den Teestuben. Es fiel uns auf, daß viele
Soldaten in eine abgelegene Gasse gingen, ebenso
von dort kamen. ln der Meinung, daßdort etwas zu
kaufen wäre, gingen wir beide auch hin. Wir betraten
ein Haus, in dem es ein und aus ging wie in einem
Bienenstock . .la, da war wirklich was zu kaufen, aber
was! Wir waren in ein öffentliches Haus geraten, in
dem etwa 8 Dirnen ihr Unwesen trieben. Var jeder
Tür stand eine ganze Reihe Soldaten, einer nach
dem anderen ging hinein. Wir beide kehrten um,
denn wir schämten uns unserer Landsleute. Die Soldaten
waren närnlich aIle Elsasser.
Am folgenden Tag ging es wieder mit einer Feldbahn
nach der Front, etwa 60 km nordwärts. ln der
Nähe von Jakobstadt verlieben wir die Bahn und
wurden auf verschiedene Regimenter verteilt. lch
wurde mit noch etwa 200 Mann dem Regiment 332
zugeteilt. Ein Feldwebel führte uns nach der Front.
Wir hatten etwa 15 km zu marschieren. Der Feldwebel
hörte auch allerhand und war froh, aIs er uns
beim Regimentsstab abgeben konnte.
Wir wurden sofort den Bataillonen zugeteilt und
hingeführt. Wir mußten antreten. Da kam der Major
Zillmer, ein etwa 65jahriger Mann, um seine Begrü-
Bungsrede zu halten. Bis jetzt war noch kein Elsässer
240
im Regiment, daher kannte sie der Major nur vom
Horensagen. Und nach allem, was er sprach, schien
er noch wenig Cures über die Elsaß-Lothringer gehört
zu haben. Zuerst ging er var uns durch und sah
jedem einzelnen auf die Mütze. »Es geht noch. Ich
dachte schon, es seien mehrere Soldaten 2. Klasse
dabei.« Das war der erste Satz, den er sprach. (Die
Soldaten 2. Klasse, »Schwerverbrecher«, dürfen
nämlich keine Kokarden an der Mütze tragen.)
Dann fuhr er fort: »Was seh' ich? Einige von euch
tragen sogar das Eiserne Kreuz l- Darüber schien er
so verwundert, ais ob er etwas ganz Unrnogliches
cntdeckt hatte. Am Iiebsten hatte ich den alten Halunken
niedergeschlagen. Verdient hätte er es!
Nun wurden wir den Kompanien zugeteilt. lch
kam zur 5. Kompanie, obwohl ich zur MG-Kompanie
verlangte. Der Kompaniefeldwebel, den ich vom
crsten Augenblick nicht leiden konnte, empfing uns
ähnlich. Hier bist du geliefert, dachte ich bei mir. lm
stillen nahm ich mir vor, bei der nächsten Gelegenheit
zu den Russen überzulaufen, denn bei dieser
Bande schien mir das Aushalten unrnöglich.
lN STELLUNG BEIM REGIMENT 332
Am folgenden Tage mußte ich mit mehreren Kameraden
in die Stellung nach vorne. Der Weg führte
rneist durch eine sumpfige Gegend. Durch den
Sumpf waren stellenweise lange Brücken aus Tannenstämmen
gebaut, um das Passieren zu errnöglichen.
EndIich kamen wir in der Stellung an. Sie
bestand hier nicht aus einem in die Erde gegrabenen
Schützengraben, sondern aus einem aufgeworfenen
Erdwall. ln die Tiefe graben war unmoglich, denn in
der sumpfigen Gegend wäre der Graben sofort voll
Wasser gewesen. Die oben auf die Erde gebauten
Unterstànde waren auch nur schwach gebaut und
hatten bei einer Artilleriebeschießung wenig Dek-
241
kung geboten. Die Stellung schien je do ch sehr ruhig,
und wie mir Soldaten erzahlten, kamen nur selten
einige Schrapnells herübergef1ogen.
Wir mußten uns beim Kompanieführer, Leutnani
Pelzer, vorstellen. Der Leutnant, der eine heisere
Stimme hatte und sehr welk und schlecht aussah,
betrachtete uns, wie man ungefahr ein widerwärtiges
Stück Vieh betrachtet, und befahl dem uns begleitenden
Feldwebel, uns in die Gruppen zu verteilen.
Vorher gab ich den Empfehlungsbrief meines
früheren Kompanieführers ab; der Leutnant offne
te den Brief, las ihn und sagte einfach: »Sie können
gehenl« Ich schob ab und kam in die Gruppe des
Unteroffiziers Stein.
Es schien hier eine strenge Disziplin zu herrschen,
denn beim Postenstehen mußte man wie verrückt
immer geradeaus nach den Russen hinübersehen,
und wenn ein Offizier den Graben passierte, mulite
man stillstehen und immer nach vorne sehend melden:
»Cefreiter Richert, auf Posten Numero
soundso, yom Feinde nichts Neuesl- Dabei waren in
dieser Stellung die Russen gar nicht zu fürchten,
denn zwischen uns und ihnen strörnte der großc
Fluf vorbei, die Düna, die an diesel' Stelle etwa
400 m breit war. Bei Tage war ein Herüberkommen
. ganz unrnöglich. Nach etwa 10 Tagen wurden wir
abgelëst und wohnten in Baracken, die am Rande
eines Tannenwaldes etwa 3 km hinter der Front errichtet
waren.
HUNGER
Plötzlich gab's pro Mann und Tag statt wie bisher
1:2 nur noch 1 Pfund Brot. ln Deutschland und den
eroberten Gebieten war der Bestand der Lebensmittel
aufgenommen worden; dabei stellte sich heraus,
daß das Brot unmöglich bis zur neuen Ernte ausreichen
konne. Daher wurde uns taglich ein halbes
242
Pfund abgezogen. Kartoffeln hatten wir bereits seit
4 Monaten über haupt keine mehr zu sehen, noch
viel weniger zu essen bekommen, da im Herbst 1916
die Kartoffelernte sehr schlecht ausgefallen war.
Nach und nach stellte sich bei allen Soldaten ein
derartiger Hunger ein, daßman sich nicht mehr zu
helfen wußte.
Die Verpf1egung bestand morgens und abends
aus schlechtem, schwarzem Kaffee, aus Kaffee–Ersatz
gebraut, ohne Zucker, 1 Pfund Brot pro Tag,
das jeder gleich am Morgen zum Kaffee gegessen
hatte. Dann gab es noch abwechselnd Butter, Marmelade
oder eine Leberwurst, ein graues Fett, »Affenfett
« genannt, jedoch nur wenige Gramm pro
Kopf – was hingereicht hätte, eine junge Katze zu
ernähren, aber nicht junge, ausgehungerte Soldaten.
Dabei gab esjetzt drei fleischlose Tage pro Woche.
Das Mittagessen bestand aus 1 Liter dünner Suppe,
hauptsachlich Grieß- oder Dörrgemüsesuppe. Die
Feldküche fuhr mit dem Essen nach vorne in die
Stellung. Uns, dem Reservezug, wurde die Suppe
auf einem Wagelchen in einem Kübel hergefahren.
Wenn die Zeit herannahte, daß der Wagen kommen
sollte, gingen ihm die meisten Soldaten entgegen,
denn jeder wollte der erste sein in der Hoffnung,
außer seinem Liter, wenn noch etwas Rest im Kübel
war, davon zu erhaschen. Der Kübel selbst wurde
mit Loffeln sauber ausgekratzt. Manchmal, wenn
sich die ersten an den Wagen anhängen wollten, um
zuerst dazusein, hieb der Fahrer plotzlich auf die
Pferde los und sprengte im Galopp nach derAusgabestelle,
so daß jene, die die ersten sein wollten, nun
die letzten waren. Trotzdem gab es noch 50 blödsinnige
Patrioten, die immer noch an einen deutschen
Sieg glaubten.
Da nun Frühling geworden war, sprossen in den
Cemüsegarten der zerstörten Hauser, in Hecken
und an Wegrändern viele Brennesseln. Sie wurden,
kaum daßman sie fassen konnte, gerupft, in Salz
243
wasser gekocht und mittags unter die Suppe gemengt
und vertilgt. Ebenso wurde der Löwenzahn
(Kettenstüdasalat) sowie die Blätter der Melden [spinatähnliche
Unkräuter, häufig ais Gemüse verwendet]
gesammelt, gekocht und gegessen. Alles, was
kreuchte und fleuchte, wurde gegessen. Einmal gelang
es mir, eine Wildkatze von einer Tanne herunterzuschieHen.
Sie schmeckte ausgezeichnet. Ich
hatte früher nie gedacht, daßich sa tief sinken
würde, Katzenfleisch zu essen.
Wir muhten nun jeden Abend nach der Stellung
gehen, um neue Drahthindernisse zu bauen
und Reservegräben auszuheben. Bei Tagesanbruch
marschierten wir wieder zurück in die Baracken.
Auf dem Rückweg ging jeder, wie er wollte, in
Gruppen von 2, 3 bis 10 Mann. Da lief vor uns ein
Igel über den Weg. Etwa 8 Mann sprangen in den
Graben, um den Igel zu fangen. Jedoch jeder, der
den Igel anfassen wallte, stach sich an den Stacheln
und lief ihn mit einem Aufschrei 'Nieder los. Sa
stießensich die Soldaten im Graben herurn, keiner
wollte sich die Beute entgehen lassen, und doch
konnte sie keiner erhaschen. Ich sprang nun ebenfalls
in den Graben und sah den Igel, der natürlich
zusammengerollt war, zwischen den Beinen der
sich herumstoßenden Soldaten liegen. Schnell
scharrte ich den Igel hervor, nahm die Mütze vom
Kopf und rollte ihn mit dem Fußhinein. Der Igel
war mein! Die Hälfte briet ich, während ich die andere
Hàlfte ais Suppe kochte. Das war für mich das
reins te Festessen.
Eines Morgens, ais wir von der Arbeit kamen, sah
ich in einer Wasserlache etwa 100 Frosche, die eben
laichten. Ich ging mit einem Kameraden, einem
Cartner aus Straßburg, hin, um sie zu fangen. Sofort
reinigten wir sie. Die Preußen, die zusahen, mußten
sich fast erbrechen vor Ekel, denn in PreuGen werden
keine Frösche gegessen. Nun fingen wir beide
an, sie in einer Pfanne auf dem Ofen zu braten. Der
Gärtner hatte am Tage vorher ein halbes pfund Butter
244
von zu Hause erhalten, und Froschschenkel, in
Butter gebraten, verbreiten bekanntlich einen sehl'
angenehmen Duft. Einer nach dem anderen der
Preulien kam herbei, von dem herrlichen Geruch
herbeigelockt, und guckte verlangend in die Pfanne.
»Du, ich mochte auch mal kostenl- Jene, die sich
beim Putzen der Frosche am meisten geekelt hatten,
hatten nun die ganze Pfanne leer gegessen. Wir
beide sagten aber einfach, sie sollten sie selber fangen
und kochen. Von da ab war kein Frosch mehr in
der ganzen Umgebung sicher.
Wir hofften, daßdie Verpflegung wieder etwas
besser werden würde. Leider hatten wir uns getäuscht.
Es war wirklich fast nicht mehr zum Aushalten.
Nie, nicht ein einziges Mal konnte man sich satt
essen. [… ]
Eines Tages war Bataillonsappell. Wir muliten aile
antreten. Da kam der Regimentskommandeur hergeritten.
Er nahm die Parade ab. Von einem schneidigen
Parademarsch war natürlich keine Rede, denn
erstens war der Parademarsch nicht geübt, und zweitens
fehlte die Kraft, die schlappen Beine rauszuwerfen.
Nachher muGte das ganze Bataillon im
Halbkreis um den Regimentskommandeur antreten.
»Kameradenl- fing er an. »Wir hungern, dies ist
eine Tatsachel- (Dabei hatte er ein richtiges Vollmondgesicht
und ein mächtiges Fettkissen im Nakken.)
»[a, wir hungern«, fuhr er fort, »aber England
hungert auch, unsere Unterseeboote schaffen's, selten
gelingt es einem Schiff, England zu erreichen,
ohne versenkt zu werden. Frankreich ist ebenfalls
erschopft und leidet unter dem Lebensmittelmangel!
« (Dabei erhielt ich zwei Tage vorher einen Brief
aus der Heirnat, in welchem mir meine Schwester
mitteilte, daßdort Lebensmittel in Hülle und Fülle
vorhanden seien, und von Not keine Spur!) »Es ist
gerade wie in einem Ringkampf«, redete er weiter,
»bei dem der Gegner zu Boden gerungen ist,jedoch
noch eine Schulter hochhält. Diese Schulter rnuf
noch niedergerungen werden, deshalb müssen wir
245
aushalten. Denn wir wollen, müssen und werden
siegen!« Dieser Dickkopf hat gut reden, dachte ich.
Mehrere patriotische Soldaten glaubten natürlich
dem Regimentskommandeur. Wenn sie nachher
von dem bald ausgehungerten England und Frankreich
sprachen, langte ich die Brieftasche hervor
und gab ihnen den Brief meiner Schwester lU lesen.
»Donnerwetter l- meinte mancher. »Wenn das 50 ist,
geht's mit uns zuletzt doch noch schief!«
lm Mai 1917 marschierte unser Regiment zurüek.
Wir wurden von einer Feldbahn etwa 150 km weiter
nach Süden transportiert. Bei dem Städtchen Nowo–
Alexandrowsk verlieBen wir die Feldbahn und marschierten
auf einer sehr guten, breiten Stralie an die
Front [… ] nach der vordersten SteIlung, wo wir das
darin befindliche Regiment ablösten. Die Soldaten
sahen auch aile elend und abgemagert aus; das
zeigte uns, daßauch hier der Hunger herrschte.
Meine Kompanie lag in einem kleinen Waidchen,
welches auf einer Landzunge zwischen zwei Seen,
rechts der Meddumsee, links der Ilsensee, lag. Die
russische Stellung befand sich etwa 150 m vor uns.
[... ] Die Stellung war hier sehr stark ausgebaut. Die
ganze Linge des Schützengrabens lief ein Gang in
5 m Tiefe entlang, welcher durch mit Treppen versehene
Eingänge aIle 15 m mit dem Schützengraben
verbunden war. lm großen und ganzen war die Stellung
nicht sehr gefahrlich. Wahl flogen jeden Tag
einige Granaten und Schrapnells hinüber und herüber.
Aber sie richteten wenig Sehaden an. lch
wurde nun wieder Gruppenführer und brauchte
nicht mehr Posten zu stehen. Bloß jede Nacht hatte
ich eine Stunde Grabendienst, um die Posten zu
revidieren. Mehrere Male traf ich in besonders
schwülen Nächten Posten an, die var Schwäche ohnmachtig
geworden waren und neben dem Postenst.
and im Graben lagen. Die ganzlich erschöpften
Soldaten kamen 14 Tage bis 3 Wochen in ein irgendwo
hinter der Front eingeriehtetes Erholungsheim,
um wieder etwas zu Kräften zu kommen.
246
Ich versuchte nun nochmals, lUI' MG-Kompanie
meines Bataillons zu kommen, ging zum Kompanieführer
der MG-Kompanie und erzählte ihm mein
Anliegen. Der Kornpanieführer, ein Freiherr von
Reiliwitz, war sehr freundlich zu mir und sagte, er
wolle mich von meiner Kompanie anfordern. [... ]
Nach 2 Tagen kam der Bataillonsbefehl: »Cefreiter
Richert von der 5. Kompanie ist zur 2. fG-Kompanie,
Infanterieregiment 332 versetzt l–
Ich freute mieh nicht wenig, nahm Abschied von
meinen Kameraden und ging zur MG-Kompanie.
Der Feldwebel nahm mich freundlich auf und
fragte, ob ich Telephondienst machen könne. Obwohl
ich noch wenig mit dem Telephon zu tun gehabt
hatte, bejahte ich und wurde Te!ephonist. [… ]
Wir waren 3 Telephonisten, jeder hatte täglich 8
Stunden Dienst, der natürlich sehr leicht war. Man
saß im Unterstand und wartete, bis das Te!ephon
klingelte, und gab dann die Befehle per Telephon
weiter. Auch kamjeden Tag der Heeresbericht vom
Groûen Hauptquartier. Dieser muûte niedergeschrieben
und in einem Kasten an einer Tanne aufgehangt
werden, damit sich die Soldaten an den
aufgebauschten Siegesmeldungen »satt essen«
konnten. Das Leben war hier sehr angenehm. Wenn
nur der Magen mehr Arbeit gehabt hättel Es war
wirklich einJammer mit der Verpflegung. Zuwenig
zum Leben, zuvie! zum Sterben! Einmal bekam ich
1 pfund Brot von der Familie Gauche! aus dem
Rheinland geschickt. Das Paket war wohl irgendwo
liegengeblieben, denn es war 14 Tage auf der Reise.
Die Mutter Gauche! hatte das Brot wohl im warmen
Zustand eingepackt, denn ais ich das Paket öffnete,
sah man vom Brot innen und außen nichts ais grünen
Schimmel. Trocken dasselbe zu genießen war
unmoglich, wegwerfen konnte ich es nicht. Aiso versuchte
ich, eine Suppe zu kochen, nahm Wasser ins
Kochgeschirr, tat etwas Salz hinzu und schnitt das
Brot hinein. Durch das Kochen löste sich viel von
dem Schimmellos; diesen schopfte ich ab. Dann aß
247
ich die Suppe. Es war mir fast unm öglich, sie zu
geniessen. Aber' mit Todesverachtung würgte ich sic
hinuntcr.
Gleich am Rande des Secs breitetc sich ein großes
– nun natürlich verwildertes – Ackerfeld aus. Stellenweise
befanden sich einige zusammenstehende
Roggenahren dort, die nun reif ware n. Ich schnitt
mit dem Taschenmesser einen Brotbeutel voll Ahren
ab, rieb die Körner aus, blies die Spreu weg,
nahm einen runden Stein und zerdrüekte die Korner
auf einer Steinplatte. Daraus koehte ich wieder
Suppe. Natürlich hatte ich schon bessere gegessen.
Acht 'rage lang mach te ich es sa, bis keine Roggenahre
mehr in der Umgebung zu finden war.
üft suchte ich au ch Himbeeren, um etwas in den
Magen zu bekomrnen. Gleich hinter dem Unterstand
erhob sich ein runder H ügel, an dem es viele
Himbeersträucher gab. Die vordere Seite des Hügels
lag frei gegen die Russen; deshalb sammelte ich zuerst
nul' hinter dem Hügel. Da es heiß war, zog ich
meinen Rock aus. ln meinem Eifer kam ich um den
Hügel herum, ohne es zu beachten, daßich nun
nicht mehr in Deckung war. Plotzlich sauste eine
Granate heran und sehlug etwa 3 m links von mir in
den Hügel. Die Russen hatten mich in meinem wei-
Ben Hemd gesehen. leh erschrak natürlich heftig bei
dem plëtzlichen Einschlag und lief, so schnell ich
konnte, um den Hügel herum, um in Deckung zu
kommen. Beim Laufen blieb ich mit den Füben an
den Dornen hängen, stürzte zu Boden, so daß fast
alile Himbeeren aus dem Koehgeschirr herauskollerten.
Mit einem fast leeren Koehgesehirr ging ich in
den Unterstand zurück.
Auf dem See gleich neben dem Unterstand lag ein
kleiner Kahn mit 2 Rudern. Darauf fuhren ich und
der andere Telephonist, der eben dienstfrei hattc,
auf den See hinaus, um mit Handgranaten zu fischen,
trotzdern dies streng verboten war. Manehmal
gelang es uns, mehrere schöne Fische zu fangen.
Wir nahmen eine Handgranate, entzündeten sie
248
und warfen sie etwa 3m vom Kahn ins Wasser. Von
der Explosion horte man nul' einen dumpfen
Schlag. Das Wasser wurde jedoch derart in Bewegung
gesetzt, daß der Kahn anfing zu schaukeln. Die
Fische, die sich in der Nahe befanden, wurden teils
getület, teils nul' betäubt. Einmal fuhren wir in UI1–
seunscrern Eifer zu weit in den See hinaus, wo elnicht
mehr durch den Wald gedeckt war und ihn
die Russen genau einsehen konnten. Wir beide waren
eben beschäftigt, mehrere betäubte Fische einzufangen,
als eine Granate etwa 30 m vor uns ins
Wasser schlug. lm selben Moment bog ich mich weit
über den Rand des Kahnes, wahrend mein Kamerad
auf der anderen Seite stand, um das Gleichgewicht
zu halten. Bei dem Einschlag der Granate
bückte sich mein Kamerad, der Kahn fing an zu
schaukeln, und beinahe wàre ich kopfüber in den
See gestürzt. [… ] Uns war für einige Zeit die Lust
am Fisehen vergangen.
Unweit von unserem Unterstand befand sich im
Gebüseh eine aire Müllgrube, die nicht mehr gebraucht
wurde. Da mußte wohl im Frühling eine
Kartoffel hineingeraten sein, denn eine schöne
Staude wuchs da. Ich wollte sie zuerst ausreilien,
dachte aber, daß wahrscheinlich noch keine oder
nur kleine Kartoffeln daran seien, und Iief sie stehen.
Damit sie den Blicken der anderen Soldaten
entzogen sei, steckte ich rundum dichte grüne Reiser.
Ich wollte die Staude ausreifen lassen, um wieder
mal einige Kartoffeln essen zu können. Seit über
einem halben.J ahr hatte ich keine einzige Kartoffel
gesehen, noch viel weniger gegessen! Eines Tages
mulite ich eine Meldung zum Bataillonsstab bringen,
der gleich hinter dem Wald in einem Bauernhaus
wohnte. Vom Waldrand bis zum Haus zog sich ein
Kartoffdacker. [... ] Schon mehrere Male war nachts
gestohlen worden, so daß jede Nacht Infanterie Wache
stehen und um den Acker patrouillieren mußte.
lch ging in meinen Unterstand zurück und sagte
meinen beiden Karneraden: »Heute nacht gibt's
249
Kartoffelnl– – »Wie, wasj'- riefen sie wie aus einem
Munde, »[a, ganz sicherl– antwortete ich. »Laût
mich nur machen.« AIs es dunkel "l'tude, ging ich in
Richtung des Bataillonsstabes. Der Posten patrouillierte
schon um den Acker. Jedesmal werm der Posten
bei seinem Rundgang sich dem Waldrand naherte,
blieb ich still hinter dem Gebüsch knien. Zuletzt
trennte mich nur noch ein Busch von dem Weg,
den der Posten passierte. Ich lief ihn vorbeigehen
und kroch dann, ais er am unteren Ende angelangt
war, auf allen vieren in den Acker und fing an, mit
den Händen die Knollen hervorzuwühlen.]edesmal
wenn der Posten vorbeiging, lag ich mäuschenstill
zwischen den Stauden, um dann gleich, werm die
Gefahr vorbei war, mit der Wühlerei von vorne zu
beginnen. So füllte sich nach und nach mein Sandsack,
und ich schätzte meine Beure auf 25 pfund.
[… ] Bei meinem Unterstand angekommen, horchte
ich erst, ob die beiden Telephonisten alleine seien.
Dann offnete ich die Tür zum Unterstand und warf
den Sack hinein. [… ] Wie da ein]ubellosbrach! AIs
hätte jeder das große Los gewonnen! Sofort wurde
ein gehoriges Quantum gewaschen, geschalt und in
Salzwasser gekocht. Das Wasser wurde abgeschüttet
und die Kartoffeln mit dem Griff des Seitengewehrs
zerstolien. Die beiden wollten nun gleich drauflosessen.
Ich aber sagte: »Nur langsam!«, ging an meinen
Tornister, holte die eiserne Portion hervor, offnete
die Büchse und mengte das Fleisch unter die Kartoffeln.
Da das Essen der eisernen Portion ohne Erlaubnis
mit 3 Tagen Arrest bestraft wurde, waren meine
Kameraden über meine Dreistigkeit sehr erstaunt
und sagten: »Was ist nun, wenn Appell ist?« – »Nur
ruhig. Ich telephoniere morgen einfach dem Kornpaniefeldwebel,
daß mir meine eiserne Portion gestohlen
worden sei. Ich hoffe, daß el' mir eine andere
mit der Feldküche zuschickt.« Meine Kameraden
mußten nun herzlich lachen, und seelenvergnügt
aben wir nun dieses seltene Essen.
Eines Tages bekam ich sehr starke Zahnschmerzen.
250
Da sie mehrere Tage anhielten, meldete ich
mich krank und bekam vom Bataillonsarzt eine
Bescheinigung, die Zahnstation in Nowo–Alexandrowsk
aufzusuchen, um meine kranken Zähne ziehen
zu lassen. lm Wartezimmer saûen etwa 12 Soldaten,
die wortlos vor sich hinstierten. Ein Soldat mir
gegenüber kam mir bekannt vor. Ich konnte ihn
jedoch unmoglich erkennen. Es fiel mir bald auf,
daf el' mich ebenso betrachtete wie ich ihn. Ich
wollte eben fragen, ob er nicht Elsässer sei, ais er
aufstand, auf mich zukam, mir die Hand zum GruJ3e
hot und sagte: »Dü bisch doch der Richert vo St.
Ulrich!« Nun erkannte ich ihn. Es war der Schwob
.Josef aus Hindlingen. »Dü bisch 0 feist worda wia
ich!« meinte er dann. Und wirklich, Schwob war
schrecklich abgemagert. DeshaIb konnte ich ihn
nicht gIeich erkennen. Daß ich bei solcher Verpflegung
auch nul' noch ein wandelndes Knochengerüst
war, kann sich wohljeder denken. Wir erzählten uns
von der Heimat, was eben jeder von dort wulite. [... ]
Ohne daßich die Zahne gezogen hatte, gingen wir in
clas Stadtchen in der Hoffnung, etwas zum Beiûen
kaufen zu konnen. Jedoch nichts war aufzutreiben
als ein Glas Bier in einer Kantine. Gerne hätte ich
1I0ch eins getrunken, aber jeder Soldat bekam nur
cin Glas, damit es weiter reichte. Uns beide wunderte
nur , wovon die armen Einwohner, die hohlwangig
und zu Skeletten abgemagert herumliefen, wohl
cigentlich Iebten. [... ]
Mitte August 1917 wurde ich als TeIephonist abgelOst
und soIlte auf dem Gute Tabor einige Tage
verbringen. [... ] Dort war die Schreibstube der
Kompanie untergebracht sowie die Reserveschützen,
die Fahrer und die Pferde. Da der Kompanie–
Ieldwebel namens Laugsch ein guter Mensch war,
hatten wir nur wenig Dienst. Ein bißchen MG–Exerzieren
und MG-Reinigen. Eines l'ages sagte der
Feldwebel zu mir, der Kompanieführer habe aus der
Stellung telephoniert; der Gefreite Richert solle sich
sofort bei ihm melden. Der Feldwebel wie auch ich
251
hatten keine Ahnung, weshalb. Neugierig machte
ich mich auf den Weg nach der SteUung, wo ich den
Kompanieführer in seinem Unterstand traf. Ich
meldete rnieh zur Stelle. Der Kornpanieführer sagle
lachelnd: »Sie müssen ein guter Soldat sein, Richert!
« Da ich niche wulite, worauf el' hinauswollte,
gab ich zunachst keine Antwort. »Es ist etwas für Sic
angekommen«, sagte er, »von der 9. Kornpanie, Infanterieregiment
260, der sie früher angehorren,
nieht wahr?« Ieh bejahte. Da langte er eine Sehaehtel
von einem Brett herunter, nahm ein Kreuz aus
Bronze mit dunkelblau und gelbem Bandchen heraus
und sagte, indem er mir den Orden an der Brust
befestigte: »Ich verleihe Ihnen im Namen der 9./260
hiermit das Braunsehweigische Kriegsverdienstkreuzl-
Dann drückte er mir die Hand. Ich war
natürlich überrascht, denn vor 4 Monaten mußte ich
das Regiment 260 verlassen und hatte nicht den
geringsten brieflichen Verkehr mit der Kornpanie,
aulier mit meinem früheren Karneraden Karl Herter.
Der Kompanieführer meinte, ich sei wohl die
längere Zeit beijener Kornpanie gewesen oder hätte
mich durch irgendeine Heldentat ausgezeichnet.
Ich antwortete, dan ich nur 31/2 Monate bei jener
Kornpanie gewesen sei und nichts Besonderes geleistet
hätte ais meinen Dienst gemacht, wie es sich eben
gehbrte. Ieh verlief nun den Kornpanieführer und
ging nach Tabor zurück. Unterwegs badete ich mieh
noeh in einem See. Der Feldwebel sowie aile Soldaten
schauten mich wie ein Wundertier an und
gratulierten mir zu der erhaltenen Auszeiehnung.
Da das Regiment 332 ein preußisches Regiment
war, gab es keine Auszeichnung ais das Eiserne
Kreuz, das ich 1916 bereits erhalten hatte. Mancher
neidische Blick der jungen Leutnants traf mich, da
dieselben nur mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet
waren. Wenn sie gewuHt hatten, was ich von
diesem Klimbim hielt, hatten sie mich nieht so beneidet,
denn für einen Laib Weißbrot hàtte ich das
Kreuz samt Bändchen feilgeboten. Die einzige
252
Freude, die ich hatte, war die, dan ich bei der 9./260
so geachtet war. [… ]
Icb mußte nun wieder in Stellung, ein neues MG
übernehmen. Einige Kilometer südlich von uns
hörte man eines Tages dauernd Kanonendonner,
untermischt von dcm Rattern der Maschinengewehre
und dern Knallen der Infanterie. Wir waren
alle gespannt, was eigentlieh los sei. Da kam der
Befehl: "Der 2. Zug, Gewehr 3 und 4 unter Führung
des Leutnants Herbst soU sich sofort fenigmaehen
und sich beim Bataillonsstab rnelden.« leh führte
Gewehr 3, Unteroffizier Kurz Gewehr 4. Wir machten
uns fertig und trugen unsere Maschinengewehre
sowie die Cerate zurück. ln der Deckung erwarteten
uns die beiden Fahrzeuge. Dort erhielten wir für
3 Tage Verpflegung: pro Tag wieder 11/2 Pfund
Brot, 1/2 Pfund ais Kampfzulage. Dann bekamen wir
den Befehl, uns auf der groJ3en Straûe entlang nach
der Front zu begeben. [… ] Das schien wieder gut zu
werden! Wir erreiehten die grone Straûe, die dureh
sehier endlosen Wald führte. Gerade VOl' uns, in
nieht allzu wei ter Entfernung, hörte man den Kanonendonner
und den Einschlag der Granaten. Auf
einrnal ein kurzes Sausen, ein Knall, etwa 100 m vor
uns war ein Schrapnell mitten über der Stralie geplatzt.
Gleieh darauf ein zweites, das kurz vor uns
platzte. Pferde wie Mannschaften fingen an, unruhig
zu werden. »Gewehr frei!« schrie der Leutnant.
Wir rissen die Gewehre vom Wagen herunter,
ebenso das dazugehörige Ceràt. lm selben Moment
sauste es über uns, und eine Granate sehlug etwa
100 m hinter uns in die Stralienboschung ein. Die
Fahrer maehten nun kehrt und sprengten im schärfsten
Galopp zurück. Wir wären gern seitlich der
Straûe vorgegangen, dies war jedoch unrnöglich, da
der Wald links und r echts aus dichtem, undurehdringliehem
Gebüsch bestand. Jecler nahrn Bun das
ihm zustehende Material. Schütze 1 und 2 das Gewehr,
Sehütze 3, 4,5 die Munitionskasten, während
ich als Gewehrführer den Wasserkessel, den Großen
253
Spaten und den Dampfablaßschlauch zu tragen
hatte. Die Straße lag nun dauernd unter demrussischen
Artilleriefeuer. Oft muûten wir uns in den
Straßengraben werfen, um etwas besser gedeckt zu
sein, oder wir sprangen hinter die Stàmme der auf
dem Stralienrand stehenden Baume. Nirgends war
ein Unterstand oder eine sonstige Deckung zu sehen.
Da kamen einige Leichtverwundete von vorne
gerannt. Wir fragten, was eigentlich hier los sei. Sie
waren jedoch so verangstig; und atemlos vom Lau–
Fen, daßsie uns im Vorbeilaufen nur unzulänglichen
Bescheid gaben. EndIich gingdie Straße durch einen
Einschnitt; in der linken Boschung war ein Stollen
gegraben. Wir lieûen Maschinengewehr und Cerate
draußen liegen und flüchteten in den Stollen. Hier,
in Sicherheit, fühlte man sich wohl und behaglich
und konnte wieder verschnaufen. Leutnant Herbst,
der im Großen und ganzen ein vern ünftiger Mensch
war und wohl au ch nicht gern den Heldentod sterben
wollte, sagte: »So, aufjeden FaUbleiben wir hier,
bis die Schießerei aufhört.. Das war uns allen aus
dem Herzen gesprochen.
Nach etwa einer Stunde hörte das Beschießen der
Straûe auf. Wir nahmen unsere Sachen und erreichten
endlich [... ] unsere Stellung, die sich im Walde
auf einem Hügel in der Nahe von mehreren Unterständen
befand. Es war eine Reservestellung. Wir
sollten, Falls die Russen durchbrechen sollten, sie
hier aufhalten. Schnell bauten wir Schielistände für
unsere Maschinengewehre, die wir dann schul3fertig
aufstellten. Nun richteten wir uns in 2 Unterstanden
ein. Das Artilleriefeuer tobte mit unverrninderter
Heftigkeit weiter. Mehrere Granaten schlugen rund
um unsere Unterstande ein, jedoch ohne uns zu
schaden. Vorne prasselte nun plotzlich sehr starkes
Infanteriefeuer, welches etwa eine halbe Stunde anhielt.
Viele Leichtverwundete kamen an uns vorbei
und berichteten, daßdie Russen in die vordere deutsche
Stellung eingedrungen seien. Mehrere Kompanien
Infanterie gingen nun nach vorne, um durch
254
einen Gegenangriff die Russen wieder aus der Stellung
zu werfen. Alle ließen die Kopfe hangen, mehrere
sagten zu uns: »Ihr MG-Schützen habt wieder
Schwein! Könnt hier in sicherer Deckung bleiben,
während wir uns kaputtschieûen lassen rnüssenl–
Nach etwa einer Stunde fing die deutsche Artillerie
furchtbar zu schiefien an. Die Russen, die an
dieser Stelle viel Artillerie zusammengezogen hatten,
blieben die Antwortjedoch nicht schuldig. Starkes
Infanteriefeuer sagte uns, dali der Gegenangriff
im Gange sei. AIs die Schießerei aufhörte, wurden
viele russische Gefangene an uns vorbei zurückgeführt,
von den en viele dem langsamen Hungertod
geweiht waren. Viele der Gefangenen schJeppten zu
viert in Zelten deutsche sowie russische Schwerverwundete
zurück. Nun trat wieder Ruhe ein.
Am folgenden Tag erhielten wir den Befehl, zu
unserem Regiment zurückzukehren. Wir waren aile
froh, ohne Verluste die Sache überstanden zu haben.
Bei unserer Kompanie angekommen, wurde
uns von mehreren Soldaten erzahlt, daßwir hier
wegkommen würden, wohin, hatte niemand eine
Ahnung. Ich ging nun zu meiner Kartoffelstaude,
die immer noch einsam in der alten Müllgrube stand
und anscheinend von niemandem entdeckt worden
war. Ich riß sie aus, 4 Kartoffeln hingen dran. Ich
wusch und kochte sie in Salzwasser. Welch ein Genubl
Sie schmeckten mir besser als vor oder nach
dem Kriege das beste Festessen. Denn seit Monaten
hatte ich keine Kartoffeln gegessen, abgesehen von
den beim Bataillonsstab gestohlenen.
TRUPPENVERSCHIEBUNG NACH DER
RIGA-FRONT
Am 26. August 1917 wurde unser Regiment von anderen
Truppen abgelost. Nach 2 Marschtagen erreichten
wir Jelovka. Unsere Kompanie wurde auf
255
dem Gute Neu-Mitau, etwa eine halbe Stunde von
Jelovka entfernt, einquartiert. Auf dem Gute
wohnte auch ein Divisionsstab. [... ] Bei dem Gute
befand sich ein Obstgarten, von dessen Graße und
Schonheit ich noch keinen gesehen hatte. Die
Baume hingen zum Brechen voll von den edelsten
Sorten von Apfeln und Birnen. Die frühen Sorten
waren fast reif. Es war uns strengstens verboten, in
den Garten einzudringen und Obst zu holen. Das
Obst sollte aIs Tafelobst für die Herren Offiziere
dienen. Natürlich muûten diese Herren zu ihrem
graßen Gehalt, besserer Verpflegung auch nochTafelobst
haben. Der gewohnliche Soldat hat ja nichts
weiter zu tun, ais zu hungern, hurra zu schreien, sich
von Läusen quälen und sich fürs »heiûgeliebte Vaterland–
totschießen zu lassen. Dafür bekam er au-
Ber Verpflegung und Kleidung noch 53 deutsche
Reichspfennig Löhnung pro Tag. lst das nicht herrlich?
Immer gut einquartiert, und wenn's zurn Schlafen
ging, legte man sich einfach auf den Rücken und
deckte sich mit dem Bauche zu. ja, » … lustig ist 's
Soldatenlebenl– hab ich früher mal singen horen.
Der viereckige Obstgarten war rundum mitMaschendraht
von 2 m Höhe umgeben. An jeder Ecke
stand bei Tage ein Husar mit geladenem Karabiner
Posten. Bei Nacht gingen noch Patrouillen um den
Garten herum. Und wenn der Kuckuck kommt, will
ich doch Apfel haben! dachte ich. Zuerst ging ich, aIs
es dunkel wurde, zu einem der Husarenposten und
sagte: »Hör mal, Kamerad, ich mochte mal Apfel
essen. Seit 2 Jahren habe ich keinen mehr im Muncl
gehabt!« Aber da war nichts zu machen. Der Husar
sagte: »Es geht nicht. Wenn ich erwischt würdc.
würde ich in den Schützengraben fliegen, und ich
mochte nicht deinetwegen den schönen Druckposten
beim Divisionstab verIieren.« Ich gab ihm rech t .
Aber Äpfel wollte ich doch haben. Ich ging zu mci
nem Fahrzeug, nahm den Sandsack, in welchem ici1
meine Habseligkeiten eingepackt hatte, Ieerte ihu
aus, schnallte die am Fahrzeug befestigte Draht-
256
schere los und ging im Bogen um den Posten herum.
Die acht war dunkel, dadurch wurde mein Vorhaben
begünstigt. ln der Mitte zwischen den beiden
Posten legte ich mich auf etwa 30 Schritte vom Cartenzaun
auf den Baden und wartete, bis die Patrouille
varbeiging, kroch nach dem Zaun, na hm die
Drahtschere, und knips–knips-knips schnitt ich einen
Spalt in den Oraht, drückte ihn auseinander
und schlüpfte hinein, Dann machte ich das Loch
wieder ZU. Um bei meiner Rückkehr die Stelle wiederzufinden,
Iegte ich meine Mütze an den Baden.
Leise ging ich nun in den Garten, griff an den tiefhangenden
Ästen, ob die Äpfel und Birnen weich
waren, oder hob Fallobstaufund bif hinein. [... [-lch
füllte meinen Sandsack bis abenan, band ihn mit
einer Schnur zu, um mich dann aus dem Staub zu
machen. [... ]
Am folgenden Morgen marschierten wir nach Jelovka,
wa wir auf der Bahn verIaden wurden. Wir
fuhren den ganzen Tag bis spät in die Nacht hinein.
Kein Mensch wuûte wohin. AIs wir nachts durch
einen grbßeren Bahnhaf fuhren, kannte ich den
Namen Mitau sehen. Ich wulite, daßMitau südlich
von Riga in Kurland liegt. Nachdem wir noch etwa
2 Stunden gefahren waren, muliten wir aussteigen
und sofort weitermarschieren. Gegen Morgen
wurde etwa 2 Stunden haItgemacht. Dann ging's
weiter, den ganzen Tag hindurch, nur mit einigen
kurzen Ruhepausen.
DIE RIGA-OFFENSIVE, DÜNAÜBERGANG
BEI ÜXKÜLL – 2. SEPTEMBER 1917
Nachts kamen wir in einen groûen Wald, in dem
schon viele Soldaten lagen. Hier erfuhren wir, daf
die russische Front var uns durchbrochen und eine
Offensive ergriffen werden sollte. Das waren wieder
nette Aussichten! Uns allen grau te var dem morgi-
257
gen Tag. Zwei unserer Bataillone des Regiments sollten
im Walde in Reserve bleibe n , währcnd das anclere
den Durchbruch rnirrnachen soilte. Alles war
gespannt, welches Bataillon angreifen musse. Es
dauerte nicht lange, da waren wir im klaren. »Das
2. Bataillon, fertigmachen!« Welches Pech, ich gehorte
dazul Wir machten uns fertig und lappten im
dunklen Wald nach vorne. Nun wurde es etwas heller,
der Wald horte auf, das Celande ging bergab.
Vor uns lag dichter, weiI3er Nebel. Von drüben kam
hie und da eine Granate angesaust oder knallte ein
Cewehrschuû, sonst war alles ruhig. Plotzlich standen
wir vor einem Schützengraben, der mit deutschen
Soldaten ganz vollgestopft war. Wir mußten
darüber hinwegspringen und stieI3en nach wenigen
Schritten auf einen anderen Schützengraben, der
nur schwach besetzt war: Darin mußten wir Aufstellung
nehmen. Irnmer neue Soldaten kamen hinzu,
bis der Graben ganz voll war. Wir muûten nun an
verschiedenen Stellen den Graben etwa 3 m breit
anfüllen und die Erde feststampfen. Wozu, wußte
ich nicht. Ich glaubte ein leises Rauschen und Glucksen
zu hören und fragte einen der Soldaten, der
bereits vor uns im Graben war, was das eigentlich sei.
»Das ist die Düna«, sagte er. »Sie ist an dieser Stelle
über 400 m breit. Die russische Stellung liegt auf
demjenseitigen Ufer.« – »Und hier müssen wir angreifen?
« sagte ich. »Das wird was abgeben!« Dern
Soldaten grau te ebenfalls vor dem kornmendeu
Morgen.
Langsam graute der Morgen. Fast nirgends fiel
ein Schuß. Das war die Ruhe var dem Sturm! Ais cs
heller wurde, konnte ich das Wasser der Düna, das
hier mit ziemlicher Schnelligkeit floû, sehen. Die
russische Stellung auf dem jenseitigen Ufer war
noch nicht sichtbar, denn ein weiber Nebel ver hinderte
den weiteren Ausblick. Alles war gespannt, wax
nun kommen würde. Mit einem Schlag fîng die deut
sche Artillerie, die sehr zahlrcich hier zusammcngc:
zogen wordcn war, zu schiefkn an. Die Geschosse
258
sausten über uns und explodicrten jenseits des Flusses
mit dröhnendern Krach. Eine Menge Minenwerfer,
rneisr schwere, die 2-Zcmner-Minen schiclien,
griffen nun ebenfalls in den Tanz cino Es war übcrall
cin Krachen, Sauscn und Drühnen, dal:\ mir die Ohren
antïngen zu schmerzen. AIs die Sonne aufging,
verschwand uach und nach der Nebcl, 50 daß ich die
russische Stellung amjenseitigen Ufer sehen konnte.
Sie war ganz in schwarzen Rauch gehüllt, immer und
überall zuckten Blitze, und gewaltige Rauchwolken
schossen in die Höhe. Ebenso lag dichter Granatenrauch
über einigen Stellen des wei ter zurückliegenden
Waldes, wo allem Anschein na ch die russischen
Batterien standen, die ebenfalls von unserer Artillerie
gehörig eingeseift wurden. Die russische Artillerie
fïng nun ebenfalls an ZLl schießen, so daf wir
gezwungen waren, uns im Graben niederzuducken.
Ein Volltreffer tötete und verwundete mehrere Soldaten
unweit von mir. Plotzlich horten wir dicht vor
I/IlS einen gewaltigen Einschlag, dichter, schwarzer
Rauch wehte über uns, und eine Unmenge Erdschollen
prasselte auf uns nieder. Ich schaute dann
über die Deckung nach vorne, wo ich das Granatloch
xchen konnte. Es hatte die Cröûe eines Zimmers und
rührte jedenfalls von einer der 28-cm–Granaten her.
Da, wieder ein Sausen, irn selben Moment der
Iurchtbare Einschlag. Diesmal hinter uns. Die folgCllden
groûen Granaten schlugen alle im Walde
hinter uns ein. Immerfort dauerte das Tromrnel-
feuer der deutschen Artillerie und Minenwerfer an.
In diesem Cetose karn der Befehl: »Alles fertigmarhen!
« Wir schauten uns an. »Wir konnen doch un-
möglich durch den Fluf schwimrnenl– meinten
einige meiner Nachbarn. Da hörten wir hinter uns
Geschrei, als ob Pferde vorgetrieben würden. Ich
srhaute rückwarts und sah, daH der Brückentrain
angefabren kam. lm schnellen Tempo fuhren die
mit groI3en Blechkähnen bcladencn Wagen über die
Stellen im Graben, die wir vorher auffüllen muHten,
bis zum Fluß hinunter. Viole Pioniere liefen im Lauf-
259
schritt hinterher, und im Nu waren die Kähne abgeladen
und ins Wasser geschoben. Nun hieß es bei
uns: »Alles raus und zu den Kahnenl « Schnell wurden
wir eingeteilt und bestiegen immer 20 Mann je
einen Kahn. Sechs Pioniere ruderten, und los ging's
über den Fluß. Es war sehr unheimlich auf dem
Wasser. Wir duckten uns aile in die Kähne. Über uns
die sausenden Geschosse, unter und um uns das
gurgelnde Wasser. Wo ich hinschaute, wimmelte der
ganze Fluf von Kahnen, die so schnell wie moglich
dem jenseitigen Ufer zuschwammen. Einzelne russische
Granaten schlugen zwischen den Kähnen in
den Fluß und warfen große Wassersäulen in die
Hohe. Oberhalb von unserem Kahn bekam ein anderer
Kahn einen Volltreffer und sank in wenigen
Sekunden. Die unverwundeten Insassen kampften
ganz kurze Zeit mit den Wellen und waren dann aile
verschwunden. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.
Als ich dies sah, schnallte ich das Sturrngepäck
los, offnete die Koppel und legte alles neben mich in
den Kahn, um im Falle, daßuns dasselbe Schicksal
ereilen soIlte, besser schwimmen zu können, Ich
fürchtete, aus der russischen Stellung Infanterieund
MG-Feuer zu bekommen,jedoch auber einigen
Infanterieschüssen blieb drüben alles ruhig. Wir naherten
uns nun dem Ufer. Unsere Artillerie legte ihr
Feuer nun weiter vor. Knirschend fuhr unser Kahn
auf den Sand. Alle spl'angen hinaus, und wir waren
froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Kahn um Kahn legte an, und bald standen
Hunderte von Soldaten gedeckt hinter dem etwa 3 m
hohen, steilen Ufer. Wir landeten etwa 200 m weiter
flubabwärts von unserer Abfahrtsstelle. Die Strömung
hatte uns, wie aIle übrigen Kahne, mitgerissen.
Das Ufer, auf dem die russische Infanteriestellung
lag, sowie der Drahtverhau war alles durch das
Trommelfeuer in Fetzen geschossen. Nun muliten
wir den russischen Graben stürmen. Das war eine
leichte Arbeit. Nicht der geringste Widerstand trat
uns entgegen. Der Graben war großtenteils
ebengcschossen,
260
zerfetzte Leichen der russischen Infanteristen
lagen herum. Hie und da hockte noch ein
unverwundeter Russe in einer Grabenecke und
streckte zitternd bei unserem Erscheinen die Arme
in die Höhe, um sich zu ergeben. Hinter der russischen
Stellung zerstreut lagen ebenfalls gefallene
russische Soldaten, die wohl auf der Flucht getroffen
wurden. Ich schaute nach demjenseitigen Ufer hinüber
und sah, daßdie Pioniere bereits eine Schiffbrücke
vortrieben. Immer noch sausten einzelne
russische Granaten heran, die bei uns im Fluf oder
am jenseitigen Ufer platzten. Wir mußten nun in
Schützenlinien gegen den etwa 600 m vor uns liegenden
Wald vorgehen. Vorläufig waren wir noch
durch eine kleine, langgestreckte Erhöhung gedeckt.
AIs wir jedoch über die Höhe vorgingen, hörteri
wir vom Waldrande her das Rattatata mehrerer
russischer Maschinengewehre. Die Kugeln zischten
lins unheimlich um die Ohren, und schon stürzten
c-inige Mann getroffen zu Boden. Meine Besatzung
sprang aufmein Kommando in ein in nachster Nähe
gdegenes Granatloch. Mit dem Großen Spaten
machte ich schnell eine Stellung für das MG, so daf
der Lauf knapp über dem Erdboden hinaussah. Die
Russen schossen wie rasend, so dan noch mancher
von uns beim Eingraben getroffen wurde. Schnell
wurde nun unser MG geladen. Ichjagte in der Zeit
von 3 Minuten 4 Gurte, 1000 Schuli, hinüber. Ich
liel3 den Waldrand, von wo das Geknatter herüber-
1 önte, aufsitzen [cI.h. D. R. visierte ihn über Kimme
und Korn an] und streute hin und her. jedoch das
Schießen der Russen hörte nicht auf. Inzwischen
hatte sich unsererseits alles eingegraben, so daß die
russischen Kugeln nicht mehr viel schaden konnten.
1lie Russen hatten sicher am Waldboden versteckte
MG-Unterstande gebaut, so daf wir ihnen nichtbeikommen
konnten. Nun kam uns die deutsche Artille–
rie zu Hilfe. Der Wald rand wurde mit einem Granat–
und Schrapnellfeuer überschüttet. Unter dem
Schutze des Artilleriefeuers gingen wir vor und er-
261
reichten den Wald ohne weitere Verluste.Wir drangen
in denselben ein und stief:\en bald auf cine r ussische
Batterie Feldartilleric, die vollständig zusamrnengeschossen
war. Etwas weitcr "orne trafen wir
eine unversehrte Batterie aus 4 Geschützen, aus denen
die Russcn den Verschluf mitgenornmen hatten.
Der Wald bestand hier nu r aus verkrû ppelten
Kiefern, die in dem sandigen Boden wenig Nahrung
fanden. Auf einem schlechten Sandweg stief:\en wir
auf 2 machtige Geschütze [… ], die uns am frühen
Morgen jenseits der Düna solche Angst eingejagt
hatten.
Langsam senkte sich der Abend nieder. Wir muliten
im Walde übernachten. Starke Feldwachen WUfden
zur Sicherung ausgestellt. Nachdem wir etwas
Kommihbrot und Büchsenf1eisch gegessen hatten,
legten wir uns auf den Waldboden und schliefen
ein, denn jeder war todmüde. Am frühen Morgen
kamen die Feldküchen und brachten uns Essen,
Brot und Kaffee. Der Koch erzählte, daßdie Pioniere
die 400 m lange Schiffbrücke in 3 Stunden
fertiggebaut hatten. Ais wir gegessen hatten, kam
der Befehl: »Fertigrnachen, es geht weiter!« Mir sowie
allen anderen graute, denn wir wuûten nicht,
was der Tag bringen würde. Nachdem wir eine
Weile marschiert waren, hörten wir vor uns MGund
lnfanteriefeuer, also eine neue Verteidigungsstellung
der Russen.
[... ] Nach etwa 10 Tagen Aufenthalt muGten wir
uns wieder marschfertig machen. Der Marsch ging
etwa 15 km hinter der Front entlang nach der Ortschaft
Sunzel. Wir wurden in einer vollstandig ausgeraubten
Épicerie einquartiert. Die Zimrner wurden
vollgepropft mit Soldaten, was eben reinging.
Auch hier ernährten wir uns hauptsächlich von Kartoffeln.
Ich fühlte, daßmeine Kräfte in lerzter Zeit
sehr zugenommen hatten. Auch hatte ich wieder,
wie auch die anderen Soldaten, ein viel bcsseres Aussehen.
Aufeiner Höhe vor der Ortschaft muliten wir
eine star ke Stellung bauen. Weit vorgeschobene
262
Feldwachcn sicherten uns. Von den Russen sah man
keine Spur. Die meisten hatten sich allem Anschein
nach weit zurückgezogen. Wie wir hörten, sollten wir
uns nachstcns auch wei ter zurückziehen. Die Ortschaft
Sunzel, in der ein wundervolles Schloß stand,
sollte, wie aIle zwischen den Linien Iiegenden Gebàude,
verbrannt oder gesprengt werden. Auf die
armen Bewohner wurde gar kcine Rücksicht genomrnen.
Eines Tages mußte ich mich beim Kompaniefeldwebel
melden. »Richert«, sagte er, »Sie sind wieder
an der Reihe, in Urlaub zu fahren. Sie bekommen
Ihre 18 Tage; wenn Sie woIlen, konnen Sie noch
2 Tage warten, dann fahre ich auch mit.« Es war
mir natürlich angenehm. »Herr Feldwebel«, sagte
ich, »könnte ich nicht 28 Tage landwirtschaftlichen
Urlaub haben?« Da mullte der Feldwebel, der ein
freundlicher, rechtschaffener Mann war, lachen.
»Aber Richert«, sagte er, »Sie fahren doch jedenfalls
wieder zu der Flüchtlingsfamilie nach Baden
hinunter, und die haben vielleicht hochstens einige
Blurnentöpfe voll Erde zu bebauen.. Lachend gab
ich ihm recht, zeigte ihm mein Soldbuch, in dem
mein Beruf, Landwirt, geschrieben war, und sagte:
»Mit etwas gutem Willen lielie sich das schon machen.
Auch ist es erst das zweiternal, daßich seit
Kriegsausbruch in Urlaub fahre.. – »Cut, Richert«,
sagte Dun der Feldwebel, "Sie kriegen 28 Tage, ich
werde dafür sorgen l– Ich bedankte mich und ging
weg.
MEIN ZWEITER URLAUB
Nach 2 Tagen marschierten wir beide los. Oft muliten
wir die Karte des Feldwebels zur Hand nehmen,
um den rechten Weg zu finden. Endlich erreichten
wir das Gut, wo unser Regiment am zweiten Tag der
Offensive beim Angriff schwere Verluste erlitten
263
hatte. Die Toten waren alle in einem Massengrab am
Waldrand bestattet. [… ] Wir hatten no ch 3 Stunden
zu marschieren, bis wir den ersten Bahnhof erreichten.
Dort war au ch eine Entlausungsanstalt. Jeder
Urlauber mußte im Besitz eines Entlausungsscheines
sein, ehe er abfahren durfte. Da es bald Abend
war, hatte die Anstalt bereits den Betrieb eingestellt.
Wir sollten erst am nächsten Nachmittag entlaust
werden. Das paßte dem Feldwebel nicht, denn zu
gern wäre er so bald wie möglich bei seiner Frau und
seinen Kindern gewesen. Mir war's so ziemlich einerlei,
da ich doch nicht nach Hause fahren konnte.
Ganz zufällig traf der Feldwebel einen Gefreiten aus
seiner Heimat an, der Schreiber in der Entlausungsanstalt
war. lhm klagte der Feldwebel sein Leid.
»Das ist 'ne Kleinigkeit«, meinte der Schreiber, »die
Scheine hab' ich schnell besorgt«, ging in sein Büro
und brachte sie uns nach wenigen Minuten. Wir
bedankten uns und bestiegen den Zug, der eben zur
Abfahrt bereitstand. Auf dem Papier waren wir
beide nun entlaust, aber in Wirklichkeit hingen wir
beide derart voll von diesem Ungeziefer, daJ3 das
Beihen überhaupt kein Ende nahm. Diese lieben
Tierchen hatten sich halt unheimlich vermehrt während
der Offensive.
Wir fuhren die ganze Nacht, bis wir die deutsche
Grenze bei Memel passierten. Nun ging die Fahrt
durch OstpreuGen. Es war sehr schones Herbstwetter,
und die Landbevölkerung war eben mit dem
Ausmachen der Kartoffeln beschäftigt. Den gefüllten
Säcken nach zu urteilen fiel die Kartoffelernte
sehr gut aus. [… ]
ln Königsberg nahm der Feldwebel Abschied von
mir, denn er stammte aus der Provinz Posen und
mulite eine andere Strecke fahren als ich. [… ] lm
Abteil saG eine altere Dame mit ihren beiden hübschen
Töchtern. Wir Iielien uns in ein Cespräch ein
über alles mögliche. Sie fragten mich, woher ich
käme. Ich sagte: »Von der Riga-Front.« Dann fragten
sie mich, ob ich die Offensive von Riga auch
264
mitgemacht hätte, was ich bejahte. Die drei waren
durch die übertriebenen Siegesmeldungen in den
Zeitungen ganz begeistert. lch erzählte ihnen nun
meine Erlebnisse wàhrend der Offensive und sagte
ihnen meine Ansicht dar über, wie den Bewohnern
alles gestohlen wurde und dali, meiner Ansicht nach,
die Offensive nicht den geringsten Einfluli auf das
Kriegsende habe. Und ich bedauerte die 500000
Einwohner der Stadt Riga, die nun dem Hunger
überliefert seien. Mit offenem Munde hörten die
drei zu. Ihre Begeisterung hatte einen machtigen
Stof erlitten. Sie erzählten nun ihrerseits, wie knapp
die Lebensmittel seien und alles nur auf Karten zu
haben sei, so daJ3 die Leute, die die Mittel nicht
hesalien, sich für teures Geld auf Schleichwegen Lebensmittel
zu beschaffen, fast nicht mehr existieren
körmten. Trotzdern waren alle drei von einem deutsehen
Sieg überzeugt, denn überall ständen unsere
Truppen tief im Feindesland. Ich antwortete, daßes
sehr schwer für Deutschland sein werde zu siegen,
denn England habe noch nie einen Krieg verloren,
und sie sollten auch Amerika nicht vergessen. Die
Damen waren aber von ihrer Meinung nicht abzuhringen.
Nach einer Weile schlief ich ein. AIs ich
wieder erwachte, krochen mehrere groGe Lause auf
den Hosen umher, die wohl durch den Hosenschlitz
herausspaziert waren. lch genierte mich vor den
Darnen und beobachtete sie, ob sie vielleicht die Viecher
bemerkt hatten. Sie sprachen jedoch ganz
harrnlos weiter, und ganz unauffällig zerrieb ich die
Lause mit den Handen. ln Küstrin verlieûen die
Darnen den Zug. Ich ging in ein anderes Abteil, in
<lem mehrere Soldaten salien. Dort traf ich auch
«inen Berliner von meinem Regiment, dessen Frau
gcstorben war und derdeshalb 14 Tage Urlaub erhalrcn
hatte. Die übrigen Soldaten waren Rheinländer.
ln Berlin verlielien wir den Zug. Auf dem Schlesischen
Bahnhof wirnmelte alles von Menschen. Mir
lielen sofort die schmalen Gesichter der Frauen und
Mädchen auf, die fast aIle bleich und elend waren
265
und dunkle Ringe um die Augen hatten. Hier ist
auch Krieg, daehte ich, der Hungerkrieg!
lch ging mit den drei Rheinländern in die Stadt.
Wir besichtigten den Kaiserpalast, die Siegessaule,
den Eisernen Hindenburg und vieles andere. Gegen
Abend stellte sich der Hunger ein, und keiner von
uns hatte etwas zu beißen. Wir gingen in ein hellerleuchtetes,
groDes Restaurant und bestellten Bier.
Herrgott, war das ein fades Cetränk l Hier war wirklieh
Hopfen und Malz verloren! Wir verlangten etwas
zu essen. »Habt ihr Karten?« fragte der Kellner.
»]a, was für Karten? Wo sollen wir die denn herhaben?
« – »Brot-, Fleisch- und Kartoffelkarten«, sagte
nun der Kellner. »Ohne diese ist es uns unrnoglich,
lhnen etwas zu servieren.« Die Rheinlander fingen
nun an zu schimpfen: »So geht'sl Wenn man sich
lange genug an der Front herumgesehlagen hat,
kann man im eigenen Land noch verhungern!« Wir
gingen wei ter und versuchten in drei weiteren Wirtschaften
unser Glück. Bier konnte man haben, soviel
man wollte. Aber zu essen gab es nichts. Ein freundlicher
Berliner Zivilist bezahlte jedem von uns 2 Glas
Bier und sagte, er würde uns in ein Restaurant Iühren,
in dem wir sicher etwas zu essen bekämen. Gesagt,
getan; wir bestiegen die Elektrische und fuhren
etwa 1/2 Stunde lang durch die sehr schon erleuehtete
Stadt. Endlich stiegen wir aus. Der Berliner führte
uns in ein Restaurant, in dem es Rehrücken mit
Kartoffeln gab. Wildbret war närnlich das einzige
Fleisch, das man ohne Karten kaufen konnte. Die
Portion bestand aus etwa 6 kleinen Kartoffeln, einem
kleinen Stückehen Rehfleisch, darüber ein Eßlöffel
voll Sauce. Es sehmeckte uns vorzüglich, aber
zu sehnell war der Teller leer. Obwohl ich nicht
unter die VielfraDe zu zählen war, hätte ich doeh
ruhig meine 8 bis 10 Portionen gegessen, aber es
durfte nieht mehr ais eine Portion pro Pers on ausgegeben
werden. Der gutmütige Berliner bezahlte alles.
Wir bedankten uns und gingen noch in der Stadt
spazieren. Oft wurden wir von Dirnen angehalten
266
oder im Vorbeigehen mit dem Ellenbogen angesto–
Ben, indem sie mit einem Blick deuteten, mit ihnen
zu kommen. Wir bedankten uns jedoeh für diese
gemeine Gesellsehaft und gingen nach dem Anhalter
Bahnhof, den wir endlieh nach vielem Herumfragen
erreichten.
lch entschlof mich, den Umweg nach dem Rheinland
zu machen, denn ich fand das Durchfahren der
mir unbekannten Gegenden sehr interessant. Gegen
Abend des nächsten Tages erreichten wir Kain. Hier
nahmen die Rheinlander Abschied von mir. Ich fuhr
dann weiter dem Rhein entlang bis Koblenz, von da
die Mosel entlang nach Trier, eine wuriderschone
Fahrt. ln Trier stieg ich aus. Ich wufite, daßdort das
Ersatzbataillon meines Regiments lag. Ich hoffte
närnlich, eine neue Uniform zu bekommen, da die
meine ganz abgetragen war. Die Mannschaften holten
eben das armselige Mittagessen. 1eh ging zum
Unteroffizier vom Dienst und bat, auch eine Portion
holen zu dürfen, da ich eben von der Front kärne.
lch hatte Glück. Dann fragte ich naeh der Bekleidungskammer
und ging hin. 1ch wurde jedoch von
dem Kammersergeanten gehörig angeschnauzt, aIs
ich ihm mein Begehren vortrug. »So könnte mir
jeder komrnen l– meinte er. Ich fragte den Sergeanten
nach der Wohnung des Bataillonsführers, ging
hin, und der Bursche meldete mich. »Soll reinkommenl-
horte ich den Major sagen. Ieh ging hinein.
Der Major aHeben Mittag. Hier konnte man von der
Kriegsnot wenig sehen. »Was wellen Sie?. fragte er
Illich nicht sehr freundlich. »Herr Major«, antwortete
ich, »ich komme eben von der Front in Urlaub
und mach te hier beim Ersatzbataillon meines Regiments
um einen neuen Anzug bittenl– Der Major
hetrachtete mich und meinte, ich kanne zu Hause
wahrend meines Urlaubs Zivilkleider tragen. Worauf
ich antwortete: »Herr Major, ich bin ganz auf das
Tragen der Uniform angewiesen. Meine Heimat
Iiegt in dem von den Franzosen besetzten Teil des
Elsasses und ist deshalb für mich unerreichbar.« –
267
"Gut, Sie sallen eine neue Uniform bekomrnen«,
sagte darauf der Major, schrieb einen Zettel, den ich
beim Kammersergeanten abgeben sollte. lch ging
hin und erhielt einen neuen Anzug nebst Mütze. Ich
kaufte dann in einem Laden neue Wickelgamaschen,
die ich anzog. Nun war mein Àul3eres wiederhergestelIt.
Ich dachte: Bei mir ist's auch oben hui
und unten pfui, denn da wimmelt es von Läusenl Ich
besah die Sehenswürdigkeiten der Stadt, von denen
mir am besten das alte Rörnertor gefiel. Ich bestieg
wieder den Zug und fuhr die Saar entlang nach
Saarbrücken, Kaiserslautern, bei Ludwigshafen
über den Rhein nach Mannheim und Heidelberg.
Dort war der letzte Personenzug nach Eberbach
schon abgefahren; also mußte ich in Heidelberg
übernachten.
Mit Mühe und Not konnte ich im Bahnhofsrestaurant
Kartoffelsalat mit 2 dünnen Würstchen bekornmen.
Ein Mann vom Roten Kreuz fragte mich, ob ich
in Heidelberg übernachten wolle, was ich bejahte.
»Komrnen Sie mit!« sagte er und führte mich in ein
in der Nähe des Bahnhofs gelegenes Hotel und wies
mir ein Zimmer mit einem schonen, sauberen Bett
an. Dann fragte er, wann ich geweckt werden wolle,
und ging. lch zog mich aus und legte mich samt den
Läusen ins Bett. Gatt, welch ein Gefühl, wieder nach
einem vollen Jahr ausgezogen in einem guten, weichen
Bett liegen zu këmnen! Hier kam mir das arrnselige
Leben an der Front erst sa richtig var Augen.
Da ich von der Fahrt sehr ermüdet war, schlief ich
bald ein. Nachsten Morgen in aller Frühe wurde ich
von dem Rote-Kreuz-Mann geweckt, stand auf, zog
mich an. Da dachte ich: Ich will doch mal sehen, ob
ich keine von meinen Einwohnern im Ben verloren
habe. Und wirklich, sa etwa IOder lieben Tierchen
krabbelten im Bett umher. lch wall te sie zuerst fangen.
Ach was, dachte ich dann, mein Nachfolger
darf auch was zu spüren bekommen. Ich fuhr nun
nach Eberbach zur Familie MattIer, bei der ich sehr
freundlich aufgenommen wurde. lch bat sofort, hei-
268
Bes Wasser zu machen, um mich baden zu können.
So wurde ich wieder läusefrei.
Ich verlebte sehr angenehme Tage. Nur mit den
Lebensmitteln war's ein Elend. Man konnte sich nie
san essen. Da ich kein Taschentuch mehr hatte, ging
ich in ein grüßeres Geschàft, um 2 Stück zu kaufen.
»Bitte den Bezugsschein«, sagte der lnhaber des Geschäftes.
Ich wußte gar nicht, was eigentlich sei. Da
klärte mich der Ladeninhaber auf: Er dürfe nichts,
gar nichts ohne Bezugsschein verkaufen, da ihm
sonst das Geschaft geschlossen werden würde. Die
Bezugsscheine seien auf dem Bürgermeisteramt erhältlich.
Aber nach vielem Reden ließ sich endlich
der Herr herbei, mir ohne Bezugsschein die 2 Taschentücher
zu verkaufen. Ich rnulite ihm aber versprechen,
reinen Mund zu halten.
Das Jahr 1917 war ein sehr gutes Obstjahr. Überall
sah ich auf der Reise, dan Apfel- und Birnbaume voll
behangen waren. Der Nachbar der Familie Mattler,
der eine Mosterei betrieb, fragte mich, ob ich ihm
nicht helfen wolle. Er sei mit Arbeit überhàuft und
bezahle mir 2 Mark pro Tag. Dafür war ich nicht zu
haben; erstens war ich das Arbeiten nicht mehr gewöhnt,
und zweitens war ich in Urlaub gefahren, um
mich etwas zu erholen, und nicht, um meine abgeschwachten
Kräfte total zu erschëpfen. [… ]
Drei Tage VOl' Urlaubsende nahm ich Abschied
von der Familie und fuhr nach dem Rheinland hinunter.
ln Wetzlar hatte ich einen langeren Aufenthalt.
ln der ahe des Bahnhofs war ein großes Gelangenenlager.
Die Gefangenen waren in Baracken
untergebracht. Hohe Stacheldrahtzäune umgaben
die Höfe, in denen sich die Gefangenen bewegen
konnten. Da ich Zeit hatte, ging ich hin, um mir die
Cefangenen anzusehen. Wie arm diese Menschen
aussahen! Bleich, abgemagert, mit halb erloschenen
J\ugen standen diese armen, bedauernswerten Menschen
umher. Sie schienen vor Hunger ganz stumpfsinnig
und gleichgültig zu sein. Alle Rassen waren
hier vertreten: Franzosen, Belgier, Engländer,
269
Schottlànder mit ihren kurzen Hoschen, Italiener ,
Serben, Rumänen, Russe n, Indier, Araber und Negel'.
Sie aile hatten ihre Heimat verlassen müssen,
um dem furchtbaren Kriegsgottso schwere Opfcr zu
bringen.
Bei August Langer und der Familie Gauche! verlebte
ich noch drei sein angenehme Tage; dann ging
es wieder nach der Front. Ich fuhr diesmal nach Riga
und war überrascht, ais ich die Stadt sah. So schon
hatte ich sie mir nicht vorgestellt. Wunderschone
Straûen wechselten mit herrlichen Platzen ab. Auch
sah ich dort herrliche Kirchen. Ich wäre gerne langer
gelieben. Mein Urlaub war jedoch abgelaufen,
und ich muJ3te schleunigst meinen Truppenteilaufsuchen,
um nicht bestraft zu werden. Ich ging in ein
Auskunftsbüro, wo mir gesagt wurde, daß das Regiment
332 seine SteUung gewechselt habe und jetzt an
der Livländischen Aa sei. Ich kënne mit der Bahn bis
nach Rodenepois-Kussau fahren, einer Ortschaft,
die aus lauter in einem schönen Wald versteckten
Villen und Restaurants bestand. Von dort hätte ich
nur noch einige Kilometer zu laufen. Cegenwartig
war die Ortschaft, ein Lieblingsausflugsort der Rigaer
Bevolkerung, ganz von den Einwohnern verlassen
und hauptsachlich von deutschen Offizieren bewohnt.
Ich erkundigte mich, wo das Regiment 332
liege. Ich mußte der Hauptstraûe Riga – Petersburg
folgen [… ] eben der Straûe standen oder lagen
eine Unmenge Feldküchen und sonstige Fahrzeuge,
welche die Russen auf ihrem Rückzug im Stich gelassen
hatten. Ich ging nun auf einer Brücke über die
Aa, das war ein Flü/khen von etwa 30 m Breite.
Endlich traf ich Soldaten meines Regiments, die mir
den Aufenthaltsort meiner Kompanie bezeichnen
konnten. Unterwegs trafich den Berliner Infanteristen,
der mit mir in Urlaub gefahren war. Er erzàhltc
mir, daßseine Frau bei seiner Ankunft bereits beerdigt
gewesen sei. Auch sei el' nul' 6 Tage in Berlin
geblieben. Er sei dann freiwillig zum Regiment zurück,
da er in Berlin sonst halb verhungert wäre.
270
Der Kompaniefeldwebel, die Fahrer, Reserveschützen
und die Pferde meiner Kornpanie karnpierten
in Wawer Nord, einem kleinen, arrnseligen
Weiler, der nul' aus einigen Hutten bestand. Ich
meldete mich vorn Urlaub zurück. Am folgenden
Tage mulite ich mit noch mehreren Karneraden an
dem Bau cines Unterstandes für den Kornpanieführer
mithelfen. Ich war eben daran, aus Tannenstammen
eine Lehne neben der in den Unterstand führenden
Treppe zu machen, ais über mir eine Stimme
sagte: »Salü, Nickel!" Überrascht sah ich auf und
erkannte ZI.l meiner nicht geringen Freude den Emil
Winninger aus meinem Heimatdorf. Ich ging hinauf
zu ihm, und in dem nahen Wäldchen unterhielten
wir uns über die Heimat. Jeder erzählte dem andel'en
Neuigkeiten, die er von dort wußte. Dem Emil
Winninger war dieses elende Hungerleben auch
sehr verleidet, und wir entschlossen uns, zu den Russen
überzugehen, da mir von zu Hause mitgeteilt
wurde, daßmehrere Bekannte aus der Heimat, die
als deutsche Soldaten in russische Gefangenschaft
gekommen waren, sich nun in Frankreich befanden,
also daß die von den Russen gefangenen Elsaû–Lothringer
nach Frankreich transportiert würden. Emil
lag einige Kilometer wei ter vorne auf einer vorgeschobenen
Feldwache. Er zeichnete eine Skizze auf
cin Blatt Papier, damit ich den Weg nicht verfehlen
soUte.
Ich ging mm zum Kompaniefeldwebel und bat um
lJrlaub für den nächsten Tag, um meinen »Cousin«
hesuchen zu dürfen. Sofort schrieb er mir den Urlaubsschein,
den ich dann beim Kompanieführer
unterschreiben lassen mulite. Ich kaufte in der Kan–
tine eine Flasche Rheinwein, um uns Mut anzutrinken,
und 100 Zigaretten, um sie den Russen bei
unserer Ankunft zu verteilen, damit sie uns nichts
tun sollten.
Bei Anbruch der Nacht wurde ein groGes Feuer
im Hofe angezündet, an welchem sich die Soldaten
wärrnen konnten, denn obwohl es erst Ende Oktober
271
war, waren die Nächte bereits kalt. lch trat nun mit
einem guten Kameraden, Alfred Schneider aus
Metz, auf die Seite ins Dunkel und erzählte ihm mein
Vorhaben. Nachher nahm ich Abschied von ihrn.
Wie ich später erfuhr , wurden WiT von einern Feldwebel,
der weiter zurück eben austrat, beobachtet,
und der tciltc scincn Vcrdacht dem Kornpaniefeldwebel
mit.
Mein Nachtquartier war oben über einern StaIl
untel' dem Strohdach, in einem früheren Hühnerstail,
den ich mit mehreren Kameraden teilte. Ais ich
glaubte, daß alle eingeschlafen waren, stand ich leise
auf, zündete eine Kerze an, zog noch ein zweites Paar
Unterhosen an, ebenso ein zweites Hemd und
steckte ein Paar Strümpfe in meine Rocktasche. Dies
hatte ein Rheinlander namens Geier beobachtet,
dies erfuhr ebenfalls der Feldwebel. AIs ich morgens
in der Frühe eben die Leiter herabsteigen wollte, urn
hinunter und zu Winninger Emil zu gehen, karn der
Kompanieschreiber Krebs und sagte: »Richert, du
sollst heu te hierbleiben!« Sofort merkte ich, daß etwas
nicht in Ordnung war, sagte aber ganz harmlos:
"So bleibe ich eben hier..
Mein Kamerad Alfred Schneider, der morgens
nach Libau abreiste, um MG–Ersatzteile zu holen,
erzahlte mir am folgenden Tag bei seiner Rückkehr:
»Du, Richert, sie müssen etwas von deinem Vor haben
gemerkt haben, denn ehe ich nach Libau abreiste,
mubte ich zum Feldwebel auf die Schreibstubr
gehen. Man fragte mich, was du mir anjenem Abend
heimlich gesagt hast. Ich log ihm natürlich etwas
vor«, sagte el', der ein heller Junge war. »Der Feldwebel
fragte weiter: >Weshalb hat Richert Abschied
von dir genommen?< Ich habe ihm lachend geantwortet,
daß du wußtest, daß ich nach Libau reisen
muBte, und da hättest du scherzhaft Abschied gcnommen
im Falle, daßsich ein Eisenbahnunglück
ereignen sollte.« Schneider hatte seine Sache gut
gemacht. Trotzdern merkte ich am Blick des Kom p<l
niefeldwebels, daß el' mir nicht recht traute und
272
imrner einen Verdacht auf mich hatte. Ich stellte
mich so harrnlos wie möglich und machte meinen
Dienst genau wie frûher.
Eines Tages war Lühnungsappell. Die Mannschaften
waren in zwei Gliedern angetreten. {ch stand in
der Reihe der Unteroffiziere vorne dran, da ich Gewchrführer
war. Nach dem Lühnungsappell sagte
der Kornpaniefeldwebel: »Ich habe einige Worte an
die Kompanie zu richten: Wenn ein Mann oder ein
Vorgesetzter mer ken sollte, daf ein Mann oder ein
Vorgesetzter sich verdächtig macht, zum Feinde
überzugehen, so hat er es sofort auf der Schreibxt.
ube zu melden!– Ich wulite natürlich sofort, daf
diese Rede an meine Adresse gerichtet war, brachte
«sjedoch fenig, so harrnlos wie moglich auszusehen,
ais ob mich die ganze Sache nicht das geringste anginge.
Der Feldwebel, der mich mit einem verstohlelien
Blick beobachtete, wufite nun selbst nicht, woran
er war.
Das Leben gingweiter seinen gewöhnlichen Gang.
Die hauprsachlichen Dinge waren Arbeitsdienst,
Hunger, Lause. Nahe den Hütten von Wawer Nord
hcfanden sich einige Kartoffeläcker, die wohl schon
20mal umgegraben worden waren und immer noch
durchsucht wurden in der Hoffnung, noch einige
Kartoffeln Zll finden.
Canz plotzlich [am 15. Dezernber 1917] verbrein–
te sich das Gerücht:
WAFFENSTILLS'IAND MIT RUSSLAND!
Und wirklich, das Cerücht entsprach der Wahrheit.
Unser Regiment sollte die Stellung verlassen, um in
Riga auf unbestimmte Zeit cinquartiert Zli wcrden.
Dicse Nachricht wurde von allen freudig begrüût.
Sofort musstte ich mit cinern Leutnant und noch
3 Mann abmarschiercn, um in Thorensberg, ciner
xüdlich von Riga gelegenen Vorstadt, für die Korn–
273
panie Quartier zu machen. Wir bestiegen in Redenepois-
Kussau den Zug, der uns nach Riga brachte.
Dort übernachteten wir in einern Hotel. Am folgenden
Morgen landen wir für Mannschaften und
Pferde der Kompanie gute Quartiere in einer gra-
Ben Lederfabrik in Thorensberg, welche den Betrieb
eingestellt haue – wie aile anderen in Riga
befindIichen Fabriken infolge des Mangels an Rohmaterial.
Gegen Abend langte die Kompanie an; die
Mannschaften waren mit uns Quartiermachern zufrieden.
Die Mannschaften wohnten in den frühel'en
Buros, die ausgeräurnt wurden und in die wir
nun Drahtbetten stellten. Die Unteroffiziere und
Feldwebel wohnten in der Villa des Direktors, in
welcher ebenso die Kompanieschreibstube eingerichter
war. Der Kornpanieführer, Freiherr von
Reiûwitz, wohnte in einem Schlölichen auûerhalb
der Fabrik.
DAS LEBEN IN RIGA
Die Stadt Riga liegt an der Düna und ist eine der
groI3ten Handelsstädte Ruûlands. Sie zählt 500000
Einwohner [da 1897 für die Stadt samt Patrimonialgebiet
von amtlicher Seite knapp 283 000 Einwohrier
gezahlt wurden, erscheint diese Angabe stark übertrieben],
die hauptsachlich aus Letten, aber auch aus
vielen Deutschen bestehen. Beinahe samtliche Einwohner
beherrschen die deutsche Sprache. Die Bewohner
waren, bis auf die ärrnsten Bevölkerungsschichten,
sehr modern und hübsch gekleidet, so
daf sie eigentlich gar nicht für Ruliland paGten. Di«
Letten sind im Durchschnitt ein schörier , kràftiggcbauter
Volksstamm, die Mädchen und Frauen fast
durchweg hübsch und reizerid anzusehen.
Der Dienst in Riga wurde uns leicht gemacht. Mol'
gens 2 Stundcn Untcrricht, nachmittags MG–Rei-
migen und Sport. Jede Wochc gab es zwei kleine
274
Ausrnàrsche mit Gefechtsübungen. Das Leben
war im groGen und ganzen angenehm, wenn
nur die Verpflegung besser gewesen ware. Man
konnte sich kein einziges Mal salt essen. Bei der Bevölkerung
wuchs die Not auch von Tag zu Tag, und
die ärmeren Leute konnten kaum noch ihr Leben
fristen. Verdienst für die Arbeiterschaft war fast
keiner mehr da, aile Betriebe lagen still. Oft beklagten
sich die Einwohner bei uns, daû wir sie so ins
Klend gebracht hatten, und warurn wir Livland und
Fstland nicht besetzt hatten. Denn von den beiden
nördlich von Riga befindlichen und an Landwirtschaft
reichen Provinzen hatre Riga mit Lebensmitreln
versorgt werden körmen. Für dies alles konnten
wir Soldaten doch nichts! Von dern früher besetzten
Teil Rulilands konnte soviel wie gaI' nichts in
die Stadt geliefert werden, denn das Land war
durch die deutsche Besetzung derart ausgesogen,
daß die Bewohner für sich selbst kaum existieren
konnten. Durch die Not wurde ein großer Teil der
lsevölkerung von einer grenzenlosen Wut gegen die
1ïcutschen erfaßt, so daf mehrere Male deutsche
Soldaten in abgelegenen Straûen ermordet wurden.
N lin durften wir nachts nie ohne geladene Pistole
.iusgehen. Die Vorstadt Thorensberg ist durch die
hier etwa 600 m breite Düna von der Stadt Riga
gc\rennt. Da deutscherseits ein Aufstand in der
Stadl befürchtet wurde, war oft der Verkehr von
der Vorstadt in die Stadt verboten und der einzige
Ubergang über die Düna, eine von den Deutschen
rrbaute Holzbrücke, von Militär gesperrt. Da
wurde manchrnal geschimpft, denn vielen Leuten
wnr es dadurch unrnöglich gemacht, nach Hause zu
kommen.
Die Stadt Riga, die einige Kilometer landeinwärts
VOIl der Mündung der Düna in die Ostsee liegt,
konnte von den großeren Schiffen erreicht werden.
VI)I' dern Kriegc war diese Stadt die drittgrofite Hanc
klsstadt Ruhlands, g–cgenwartig war der ganze Hand!'
1 lahmgelegt; nur einige Militärtransportschiffe,
275
Vorposten- und Küstenwaehboote verkehrten im
Hafen. Die Ausladerampe, an welcher dic Schiffe
anlegten, war 3 km lang. Am unteren Ende des Hafens
lag der Güterhahnhof; dort wurden die Waren
früher yom Sehiff in die Eisenbahnwaggons verladen.
Die Cebäude des Güterbahnhofs waren von
den Russen vor ihrem Rückzug niedergebrannt worden.
Die weiter oben über die Düna führende Stra-
Ben- und Eisenbahnbrücke, eine der großten und
schönsten Brüeken, die ich bis jetzt gesehen hatte,
war von den Russen gesprengt worden. Tag und
Nacht wurde gearbeitet, um die abgestürzten, aus
Eisen konstruierten BrückenteiIe, die Tausende von
Tonnen Gewieht hatten, mittels Masehinen zu heben.
[... ] (leh konnte nicht begreifen, daß man die
dieksten Eisentrager mittels Stichflammen wie
Waehs durchsehneiden konnte.) Der Winter hatte
sieh inzwischen eingestellt, und alles starrte in
Sehnee und Eis. Die Düna war ganz zugefroren. [… ]
An Weihnaehten wurde ein kleines Fest von der
Kompanie organisiert. Ein schöner Christbaum
wurde in einem Großen Fabriksaal angezündet, und
von den Mannsehaften wurden einige Weihnachtslieder
gesungen. Naehher gab es eine kleine Christbeseherung
für jeden Mann.
Am folgenden Tag wurde ich zum Unteroffizier
befördert. lch zog nun in die Villa, wo ich in einem
Zimmer mit Ofen einquartiert wurde, in dem sehon
2 Unteroffiziere wohnten. AIs Schlafstätten dienten
Drahtbetten,jedoeh ohne Strohsaek und Matratzen,
so daf man aueh nachts angekleidet sehlafen mulitc.
Trotzdem fühlte man sieh hier sehr glüeklich, denn
es war keine Lebensgefahr vorhanden, man konnt«
troeken und warm wohnen und sehlafen. Überhaupt
hatte man fast vcrgessen, da!3 noch imrncr
Krieg war. lch hatte nun ais Unteroffïzier 2 Mark
Löhnung pro Tag. Auch hatte ich, wiejeder Untel'
offizier, einen Mann ais Putzer, der meine Kleider ill
Ordnung hielt, Stiefel putzte, morgens das Zimmci
fegte, einheizte und den Kaffee und das Essen holte.
276
Mein Dienst war ungefahr derselbe wie ais Gefreiter
da ich vorher auch ~chon Gewehrführer war. Sonn~
tags nahm ieh imrner bis lUhr morgens Urlaub, um
das deutsehe Stadttheater besuchen zu körmen. Es
wurden fast immer herrliche Stüeke gespielt; am
hesten gdiel mir »Die Reise um die Weil in 80 Tagen
«. [Ob D. R. sich hier miûverständlich ausdrückt?
Von einer Bühnenfassung des Erfolgsromans von
Jules Verne ist niehts bekannt. Hingegen wurde der
Stoff bereits 1914 in den USA verfilm t; rnöglicherweise
meint der Autor dieses Kinostüek.] Oft besuehte
ich au eh ein Kino, von denen die Stadt viele
aufs modern ste eingerichtete besaß.
Da es Sonntagabend weder Kaffee noch sonst etwas
von der Kompanie gab, ging ich gewöhnlich ins
Soldatenheim, wo man mit Mühe und Not einen
'l'eller Bohnen-, Linsen- oder Erbsensuppe erhaschen
konnte, f1eisehlos natürlieh, zu 50 Pfennig.
1)er Andrang im Soldatenheim war derart groß, daf
man fast nicht hineinkommen konnte. An einem
Sehalter erhielt man für 50 Pfennig einen Teller und
cine Marke, die man an der Suppenausgabestelle
abgeben mulite. Den Loffel mu!3te man bei sieh haben.
Man stellte sich nun der Reihe nach auf. ln
Schlangenwindungen füllten die Reihen der hungrigen
Soldaten fast den ganzen graßen Saal aus.
Manchrnal reiehte die Suppe nicht für aile, die letz–
(Cil bekamen ihre 50 Pfennig wieder zurüek und
konr~ten mit leerern .Magen weitergehen. So erging
(ES mir aueh einmal. Uber eine Stunde war ich in der
Rcihe gestanden. Endlich war ich fast an der Ausga-
Ilestelle angelangt und freute mieh sehr auf den
Teller heißer Suppe, da es drauûen bitter kalt war.
Nur noeh 2 Mann waren vor mir. Da hieb es: »Die
Suppe ist allel– Mit leerern Mau–en konnte ich gchen
nachdem ich meine 50 Pfennig' zurüekerhalten
hutte.
ln den Cafés und Restaurants der Stadt konnte
man nichts zu essen erhalten. Nur schleehtes Kriegshier
oder Tee. Die Bevölkerung litt immer mehr am
277
Lebensmittelmangel. Aus Not und Arbeitslosigkeit
gaben sich viele Mädchen und jüngere Frauen der
— hin, um auf diese traurige Art ihren Lebensunterhalt
zu verdienen. Viele andere waren bereits
vom russischen Militär bodenlos verdorben und
setzten nun ihr Treiben mit den deutschen Soldaten
fort. Manche Soldaten, die dieser Leidenschaft verfallen
waren, sparten sich von dem bißchen Brot und
sonstigen Lebensmitteln ab, um es ihren Matressen
zu bringen. Der Gefreite an meinem Gewehr namens
Westenberg hatte auch solch eine Nulpe kennengelernt
und brachte ihr von den wenigen Lebensmitteln,
die er von der Kompanie erhielt und 50
notwendig für sich gebraucht hatte. Daß er bei diesem
Hungern und schlechten Lebenswandel zum
Skelett abmagerte, ist selbstverstandlich. lch warnte
ihn of t, fand aber nur taube Ohren, so sehr hielt ihn
seine Leidenschaft gefangen.
Ein guter Kamerad, Unteroffizier Kurz, hatte
auch ein Mädchen kennengelernt und sich bis über
beide Ohren in sie verliebt. Dauernd erzahlte er mir
von seiner Lola, rühmte ihre Schönheit und Bravheit.
Eines Tages traf ich die beiden. Lola war wirklich
ein sehr hübsches Mädchen und machte den
besten Eindruck. [... ] Eines Tages erzählte mirUnteroffizier
Kurz freudestrahlend, daß er das Ziel seiner
Wünsche erreicht habe. Zu diesem Zwecke nahm
er Nachturlaub bis zurn Wecken. Am folgenden
Morgen hatten wir Exerzieren auf einem vor der
Stadt gelegenen Sandplatz. Unteroffizier Kurz kam
erst, ais wir auf dem Sandplatz ankamen, und meldete
sich beim Freiherr von Reißwitz, der an Weihnachten
zum Rittmeister befördert worden war, zur
Stelle. Der Rittmeister, der selber ein sehr ungebundenes
Leben führte und von den Mannschaften im
geheimen »H-—-bock« genannt wurde, lachte nur
und sagte: »Gut, übernehmen Sie Ihr Maschinengewehr.
Sie scheinen anstrengende Nachtarbeit gehabt
zu haben. Sie sehen blaf aus.« Zwei Tage spater
fühlte Kurz, daf er geschlechtskrank war. Er
278
schämte sich, sich krank zu melden, und hoffte, daß
ihn der Sanitàtsoffizier heilen konne. Gerade das
Gegenteil trat ein, sein Zustand wurde immer
schlechter. Schließlich mu8te er sich doch krank
melden und kam ins Seuchenlazarett, von den Soldaten
»Ritterburg– genannt. Die Krankheit hatte
ihm bereits das Blut verdorben, und zeitlebens hatte
er die Folgen zu tragen.
Es wurden überhaupt viele Soldaten geschlechtskrank,
sa daf jede Woche Appel! durch den Arzt
stattfand. Jeder Soldat bekam außerdem eine
Schachtel mit Inhalt, um dem Krankwerden vorzubeugen.
Die meisten Soldaten gewohnten sich nach
und nach dieses Lumpenleben ais etwasSelbstverständliches
an. Oft horte ich von der Grabenstra8e
reden, Dort sei was los! Ich ging auch einmal, mit
einem meiner Kameraden, dem aus Ostpreuhen
stammenden Unteroffizier Kizmann, nach der so
viel gerühmten GrabenStraße. Wirklich, da war etwas
los. Ein bffentliches Haus nach dem anderen.
Wir beide gingen hinein. ln einem großeren Zimmer
saf an den Tischen den Wänden entiang alles voll
von Soldaten, die Tee tranken. Drei ganzlich heruntergekommene
Burschen spielten auf ihren Musikinstrurnenten
Tanze. Etwa 8 Dirnen drehten sich ~it
Soldaten im Tanze, dabei die gemeinsten Körperbewegungen
ausführend. Fast aile Dirnen sahen infolge
ihres liederlichen Lebenswandels sehr schlecht
<tus, markierten trotzdem heuchlerische Lebhaftigkeit
und suchten die Soldaten nach Möglichkeit zu
verführen. ln einer Ecke stand ein Verschlag; dahinter
saf eine alte Megare und schaute durch den
Schalter dem Treiben zu. Wenn ein Soldat mit einer
Dirne hinaufgehen wollte, ging er zum Schalter,
legte 2 Mark hin und bekam ein Kärtchen. Dieses
zeigte er der Dirne, die ihm gefiel und die dann mit
ihm hinaufgehen muûte. Dieses Treiben fanden wir
beide menschenunwürdig. Es war mir gleich aufge–
Iallen, daf eine der Dirnen gar keinen so schlechten
Eindruck machte; auch spiegelten sich auf ihrem
279
Gesicht tiefes Leid und Kümrne mis. Kizmann sagte
zu mir: »Dieses Mädchen ist nur ungern hier!« 1ch
antwortete: »Ich habe sie auch beobachtet und habe
den glcichen Eindruck.. Da wir unsere Glaser gcleert
hatten, bestellten wir bei ihr neuen Tee. Sie
brachte uns denselben, au ch ein Glas für sich, was in
diesen Häusern Sitte zu sein schien. Sie setzte sich
zwischen uns.
Wir beide fïngen ein Cespräch mit ihr an, sie
sprach ein sehr gutes Deutsch. Ich sagte ihr offen,
dan sie gar nicht hierherpasse, und fragte sie, wie es
denn komme, daf sie in diese Gesellschaft geralen
sei. Sofort auf meine Frage fing sie an zu weinen und
drehte dem alten Scheusal, das durch den Schalter
die Vorgange im Saale beobachtete, den Rücken, um
so ihr Gesicht und ihre Tranen zu verbergen. Sie
erzählte uns nun, immerfort leise schluchzend: »Ich
hätte eher an alles mögliche gedacht, ais dall ich in
meinem Leben in eine solehe Lage komme. Ich
stamme aus Petersburg und habe mich VOl' einem
Jahr mit einem russischen Offizier, der hier in Riga
stationiert war, verheiratet. Um bei meinem Ianne
zu sein, mieteten wir eine Wohnung in Riga und
lebten sehr glücklich.« Sie brachte vor Weh fast kein
Wort mehr heraus. Ais sie sich etwas gefal3t hatte,
fuhr sie fort: »Plotzlich setzte die deutsche Offensive
ein. Ehe wir uns zur Flucht entschlieben konnten,
war die Stadt von den Deutschen umzingelt, und
mein Mann wurde in Gefangenschaft abgeführt. Da
wir die früher im Umlauf gewesenen russischen Rubel
verbraucht hatten, waren wir nur noch im Besitze
einer Summe Kerenski-Geldes [unter Ministerpräsident
Alexander Kerenskis kurzer Regierungszeit,
Juli bis November 1917, in Umlauf gebrachtes
Geld], das nach dem Einrnarsch der Deutschen wertlos
war. So stand ich allein da, oh ne Geld, nur noch
für einige Tage Lebensmittel. Ais diesc aufgebraucht
waren, verkaufte ich aile entbehrlîchen GegensUinde,
die nur wenige waren, da wir eine moblierte
Wohnung gemietet hatten. Jeden Tag lief ich
280
in der Stadt herum, um irgendwo ais Stütze,Dienstmädchen
oder Stundenfrau unterzukommen. Um-
sonst,überall erhieJt ich den narnlichen Bescheid: Es
sei unmüglich, Dienstpersonal zu haltcn, da nicht
einrnal für die Herrschaften Lebensrnittcl aufzutreiben
seien. Mit jeder, selbst der gemcinsten Arbeit
wärc ich zufrieden gewesen. Da ich die Miete nicht
bezahlen konnte, mulite ich die Wohnung, in der ich
50 glücklich mit meinem Mann gelebt hatte, verlassen.
So stand ich auf der Srralie, ohne Wohnung,
ohne Geld, der Verzweiflung nahe. Ich wollte mich
VOl' Verzweiflung von der Dünabrücke hinunterstürzen,
doch fehlte mir der Mut. So geriet ich, ais
letzten Rettungsanker, hierher. Oh habe ich schon
gedacht, es wäre besser, ich würde auf dem Boden
der Düna ruhen, ais so leben zu müssen. Da ich nicht
so heruntergekommen bin wie diese schrecklichen
Menschen, mit denen ich vor EkeJ kaum zu leben
imstande bin, werde ich von den Soldaten am meisten
begehrt. Sie konnen nicht glauben, welche
Überwindung es mich jedesmal kostet, hinaufzugehen
und diesen Schimpf über mich ergehen zu lassen!
« Wieder fing sie an zu schluchzen und fuhr fort:
»Oh, was würden meine guten Eltern oder mein
Mann sagen, wenn sie wüliten, in welchen Verhältnissen
ich jetzt lebe! Dabei soli ich ein fröhliches,
übermütiges Gesicht zeigen, um m6glichst viel für
das alte, schlechte Weib zu verdienen, die mir schon
mehrrnals gedroht hat, mich hinauszuwerfen, wenn
ich ein 50 trauriges Gesicht mache!– – »Schrecklich!«
sagten wir beide. »Cibt es denn keine Möglichkeit,
aul3erhalb dies es abscheulichen Hauses ein Fortkommen
zu tinden?« – »Ich zerrnartere mir ständig den
Kopf«, antwortete sie, »finde aber keinen Ausweg.«
Die arme Frau dauerte uns sehr. Helfen konnten wir
weiter nicht, aIs daf wir ihr jeder von uns 2 Mark
schenkten, welche sie dankend annahm. Nun wurde
sie wieder von cinem Soldaten zum Tanze geholt, der
dann gleich mit ihr hinaufstieg. Auf der Treppe
schaute sie uns mit einem todtraurigen Blick an.
281
»Siehst du, Richert«, sagte mein Freund, »was hinter
dieser zur Schau getragenen Frohlichkeit steckt.
Diejunge Fran dauert mich wirklich. Und da gibt es
noch Menschen, die sagen, der Krieg sei eine Strafe
Gottes. Gott habe den Krieg gewollt' Dies sagen aber
nur jene, die eben keine rnilitarpflichtigen Männer
und Söhne haben und durch den Krieg finanzielle
Vorteile erzielen.. [… ]
Wir verließen die Stätte des Lasters und gingen in
unser Quartier zurück. Unterwegs unterhielten wir
uns immer noch über das Schicksal der bedauernswerten
jungen Frau. Ja, was ein solch schrecklicher
Krieg alles mit sich bringt! Hunger, Todesangst,
Nasse, Kälte, Draußenliegen, Lause, Trennung von
der Heimat für die Frontsoldaten, die oft furchtbaren
Schmerzen der Verwundeten, die Angst der Daheimgebliebenen
um ihre Sohne und Gatten, die
Tranen und Schmerzen um die Gefallenen, dann
die Tausende von solchen oder ahnlichen Fällen wie
der von der bedauernswerten Frau. Wirklich, dit'
Schuldigen an solchem Elend hatten es verdient, mit
allen erdenklichen Mitteln langsam zu Tode gemartert
zu werden.
Wie ich erfuhr, waren am Güterbahnhof Züge mit
Kartoffeln angekommen. lch hatte nur dell
Wunsch: Wenn ich doch nur einen Sack holen
konnte! Beim Dunkelwerden ging ieh hin, gab dein
an einem kleinen Nebentor des Bahnhofspostens
stehenden Soldaten 5 Mark und bat ihn, einen Sad.
Kartoffeln holen zu dürfen. »Machen Sie doch, was
Sie wollen, Herr Unteroffizier«, meinte er gutmütig.
»Ich sehe Sie einfach nichtl– Vorsichtig ging ich
unter den auf den Geleisen stehenden Waggolls
durch und kam zu den Kartoffeln, die waggonwei«:
auf Haufen lagen. Ein Soldat patrouillierte um dell
Kartoffelhaufen herum. Ich mußte warten, bis er am
jenseitigen Ende des Haufens war. Schnell hob ich
den Sack, der schätzungsweise 1 Zentner wog, aul
den Rücken und verlief sa schnell wie moglich den
Bahnhof. Kaum war ich in einer dunklen Seiten
282
straße, als mehrere Zivilisten mich anhielten und
baten, ihnen doch die Kartoffeln zu verkaufen. Ieh
wollte davon jedoch nichts wissen, denn ich wollte
Iür eine Zeitlang Vorrat haben, und was ein Sack
Kartoffeln wert ist, weiß nur der, der sie lange entbehrt
hat. Alle paar Schritte wurde ich gebeten und
gequalt, die Kartoffeln doch zu verkaufen! Schließlich
wurde mir der Sack zu schwer. Auch hatte ich
noch eine halbe Stunde bis zu meinem Quartier zu
gehen. Zudem fürchtete ieh, in den hellerleuchteten
Straßen mit dem Großen Saeke aufzufallen, von Offi-
I.ieren angehalten zu werden, denen ich dann die
Ilerkunft der Kartoffeln verraten müßte. Ich war
eben in diese Gedanken vertieft, aIs ieh wieder von
oiner jungen Frau angesprochen wurde. »Nun, Soldat,
mbchten Sie mir nicht Ihre Kartoffeln verkau-
Ien?« – »Was würden Sie mir dafür bezahlen?«
Iragte ich. »20 Rubel«, antwortete sie. »Cut«, sagte
ich, »Sie können die Halfte davon um 10 Rubel habcn..
Ich mußte mit der Frau in die Wohnung kommen,
die ganz in der Nàhe lag. Die Frau wohnte im
2. Stock. Ihrem Benehmen, ihrer Kleidung und der
Zimmereinrichtung nach schien sie eine bessere
Dame zu sein. lch schüttelte die Hälfte der Kartoff"
feln in eine Kiste. Die Frau lud mich dann ein, auf
dem Sofa Platz zu nehmen, und sehickte sich an, Tee
zu bereiten. Bis das Wasser koehte, setzte sie sich
dicht an meine Seite, drückte ihr Knie an das meine
und sagte mit einem verheißungsvollen Augenaufsdilag
zu mir: »Mein Mann ist im Feldel– leh wußte
nun ganz genau, auf welche Weise sie die Kartoffeln
hczahlen wallte , tat aber, aIs hätte ich sie gar nicht
vcrstanden, und meinte: »So hat Ihr Mann dasselbe
Pech wie ich! Nun,jetzt, da der Friede nahe ist, wird
er bald heimkomrnenl– Wir unterhielten uns noch
cille Weile, sie wagte nichtmehrauf das zuerst begonne–
ne Thema zurückzukommen. Nachdem ich meine
Tasse Tee getrunken hatte, sagte sie zum Absehied,
ich könne ihr so viele Säcke Kartoffeln bringen, wie
ich wolle, sie gebe mir für jeden Sack 20 Rubel.
283
Ich verließ nun mit meinern halben Saek Kartoffeln
und den 10 Rubel das Haus, merkte mir genau
dic Hausnummer und den Namen der Straße und
ging nach der nächsten Trambahrihal testelle. Dort
warf ieh rneinen Saek in den Wagen und fuhr nach
der Düna hinunter. Von dort hatte ieh noeh eine
VierteIstunde zu laufen. Auf der Dünabrücke ging
schwankend cine altere Frau an mir vorbei, die imrnerfort
leise stöhnte. Ich fragte, was ihr fehle.
»Hunger!« antwortete sie mit müdem, todtraurigem
Blick. Sie hatte eine großere Handtasche bei sich. Ich
stellte meine Kartoffeln auf die Straße und füllte
ihre Tasche voll, vielleicht 10 Pfund. Die Frau wurde
nicht fertig, mir zu danken. Ich sagte: »Lassen Sie
nul', es ist schon gut!« und ging weiter in mein Quartier.
Ich kochte in jener Nacht noch ein Kochgeschirr
voll, das ich dann mit meinen beiden Zimmerkameraden
aß.
Ich hatte mir vorgenommen, in der folgenden
Nacht Kartoffeln am Bahnhof zu holen und zu der
Frau zu bringen, denn 20 Rubel pro Sack war ein
lockender Verdienst. Ich nahm Urlaub bis 12 Uhr,
um möglichst viele Säcke abschleppen zu körinen.
AIs ich an das Bahnhofstor kam, stand derselbe Soldat
wie in der vorigen Naeht Posten. Ich verspraeh
ihm für jeden Saek, den el' mieh passieren ließe,
3 Mark. Er war sofort einverstanden. Ich ging gleicb
an den Kartoffelhaufen, lud einen Sack auf den
Rücken und wollte ihn wegtragen. Kaurn war ich
einige Schritte gegangen, als ieh an der Schulter
gefaßt wurde. »Halten Sie mal!" befahl eine Stimme.
Ich blieb stehen und ließ den Sack zu Boden fallen.
»Was haben Sie hier?" fragte mich der Pionier Unteroffizier,
denn ein solcher war es, in Begleitung
von 2 Mann, die sogenannte Kartoffelpatrouillc.
»Kartoffeln«, antwortete ich. Ich mußte nun mit ihnen
nach dem Wachlokal gehen. »Ich mub Sie bci
Ihrer Kompanie melden«, meinte der Unteroffizier.
»Hör mal, Kamerad, ich will Ihnen was erzählen«,
sagte ich. »Daß man nicht zum Vergnügen Kartoffeln
284
hungern, wissen Sie auch. Es blieb mir nichts andel'es
übrig, ais auf diese Weise meine Lage etwas zu
verbessern. Werm Sie mich melden, werde ich vielleicht
bestraft. Dies ware das ersternal in meiner bis
jetzt über vierjahrigen Militärdienstzeit. AuHerdcrn
liegt meine IIeimat in dem von den Franzosen besetzten
Teil des Elsaû, sa dan es mir unrnöglich ist,
von dort Geld oder Pakete zu bekommen. Denken
Sie sich mal in meine Lage, Kamerad!« schlof ieh.
»]a, das ist allerhand«, meinte nun der Pionier Unteroffizier.
»Wissen Sie was? Nehmen Sie einfach
den Sack mit, aber lassen Sie sich nicht erwischen!«
Dann gab er mir die Hand zum Abschied. lch ging
zu meinem Sacke, hob ihn wieder auf die Schultern,
gab im Vorbeigehen dem Posten 3 Mark, trug den
Sack wieder zu der Frau und ging dann mit meinen
20 Rubel ins Kino. (… ] Ich getraute mich nicht
rnehr, nochrnals auf Kartoffelraub zu gehen. Meine
Kartoffeln, die ich im geheizten Zimrner liegen hatte
und die gefroren waren wie Stein, waren in 2 Tagen
dureh und durch faul, sa daf nichts mehr davon zu
genießen war.
Die Gedanken aller Soldaten waren nur darauf
gerichtet, Lebensmittel auf jede erdenkliche Art zu
heschaffen. Einmal hatte ich die Aufsieht beim Karioffelschàlen
in einem Raurn, neben dem die Feldküche
stand. Etwa 20 Soldaten waren damit beschäftigt,
einen Großen Korb voll Kartoffeln zu schalen.
AIs die Schalerei zu Ende war, fehlte über die Hälfte
der Kartoffeln. »Hört, Soldaten! Was ihr da treibt,
ist übertrieben!« sagte ieh. »Raus mit den Kartoffeln,
oder ich bin gezwungen, cure Taschen zu untersuchen!
« Alle machten die unsehuldigsten Gesichter,
keiner wollte eine Kartoffel haben. Ieh untersuchte
ihre Taschen, und, 0 Wunder, ich Iand keine einzige.
lch untersuchtc den ganzen Raum, keine Karroffel
kam zum Vorschein. Ich konnte nicht klug
werden aus der ganzen Geschichte und lieLldie paar
Kartoffeln zur Feldküche bringen. Der Koch war
285
mit dem geringen Quantum nicht zufrieden, aber da
war nichts zu machen. [… ] Am folgenden Tage
sagte mein Putzer zu mir, wenn ich nichts sagte, teile
er mir den Verbleib der Kartoffeln mit. Ich war sehr
gespannt und versprach zu schweigen. »Iri dem
Schälraum befindet sich eine Treppe, die mit Brettern
verschalt ist. ln den Bretten. befindet sich ein
Loch in der Grôlie einer mittleren Kartoffel. Da
hinein werden die Kartoffeln gesteckt. Damit Sie
nichts merkten, stellten sich beim Schalen mehrere
Mann davor. Ais Sie dann weggegangen waren,
wurde eines der Bretter losgelôst und die Kartoffeln
herausgenommen und verteilt.« Ich muHte nun
doch über die Schlauheit der Soldaten lachen. Sie
hatten das oft wiederholte Sprichwort befolgt: »Not
kermt kein Gebot.« Und ich konnte ihnen nicht zürnen.
Einmal kam ich abends zufällig in das Wohnzimmer
meiner Besatzung. Ich staunte nicht wenig,
denn die Leute waren eben dabei, einen groHen
Kochkessel voll Fleisch zu verzehren. »Dormerwetter!
Wo habt ihr denn das Fleisch her?« Sie sahen
einander an und lachten und luden mich ein mitzuhalten.
Ich konnte immer noch nicht verstehen, woher
das Fleisch kam. Auf dem Tisch saf ein Westfälinger,
der ein ganz unangenehmes Gesicht mit roten
Triefaugen hatte. Mit beiden Händen hielt er ein
Stück Fleisch, biß ab und kaute mit vollen Backen.
Ich mulite an die Kannibalen denken, ais ich ihm so
zusah. »Weißt du, Richert«, sagte er, »ich habe gestern
abend in den Straßen mit der Pistole einen
graßen Hund geschossen.« Damit zeigte er mit dem
Finger in den Kessel. Also Hundefleisch allen sie.
Also so tief sind die Soldaten schon gesunken, dall sie
Hundefleisch verzehren!
Wenn ich alleine bei meiner Besatzung war, wollte
ich nicht haben, daf mich die Leute mit »Herr Unteroffizier
« ansprachen. Nur wenn Offiziere in der
Nähe waren, muliten sie es natürlich tun. Der Rittmeister
hôrte einmal, daf ich mit einem Soldaten per
286
du sparch.Sofort ließ er mich auf die Schreibstube
kommen und kanzelte mich gehorig ab. Ich müsse
meine Autorität bewahren, meinte er. Ich dachte:
Wenn dich nur der Teufel hole, mit deinem verfluchten
Autoritätswahnl [… ] Eines Sonntag nachts
veranstaltete die Kompanie ein Fest im Lettischen
Vereinshaus. Es ging recht fidel zu. Es gab pro Mann
6 Glas Bier, um Mitternacht 2 Würstchen mit Kartoffelsalat,
nachher in der Feldküche gekochten Tee
mit viel Rum. Acht Musikanten der Regimentsmusik
spielten zum Tanz auf. Mädchen waren in Mengen
vorhanden, und bald wirbelte alles, was einigerma-
Ben tanzen konnte, in dem Großen Saal herum. Da
ich früher gerne tanzte, Iief ich diese Gelegenheit
nicht vorübergehen und walzte gehorig drauflos.
Schmunzelnd schaute der Rittmeister dem Treiben
zu. Ais ich an ihm vorbeiging, sagte er zu mir: »Sie
tanzen auch, Richert? Ich dachte immer, Sie seien so
ein Marienjunge!« – »Ach, Herr Rittmeister, lustig
in Ehren kann doch keiner verwehren!« antwortete
ich und dachte im stillen: Riech dran, H—-bock! [… ]
Oft hief:\ es, daf unser Regiment nächstens nach
der Westfront transportiert werden würde. Uns allen
grau te davor. Doch die Zeit verging, und immer
hlieben wir noch in Riga.
Am Sonntag, dem 18. Februar 1918, hatte ich wieder
Nachturlaub bekommen und kam mit mehreren
Kameraden um l Uhr morgens aus dem Deutschen
Theater nach Hause. Gleich legte ich mich schlafen.
Schon um 3 Uhr wurde ich yom Kompaniefeldwebel
l.augsch geweckt, ebenso mein Zimmerkamerad
Kizmann. »Horen Sie«, begann der Feldwebel, »die
Friedensverhandlungen mit den Russen sind gescheitert
und abgebroehen. Wir müssen eine neue
Offensive machen. Ihr beide sollt mit dem Leutnant
1 Ierbst mit der Bahn sofort bis zur Endstation Hin-
I.enberg fahren und dort an der Aa für die Kornpanie
Quartiere machen, die zu Fuf:\dahin marschiel'en
und bei Anbruch der Nacht dort ankommen
wird.«
287
Brrr! Mir lief eine Cansehaut urn die andere über
den Rücken. Jetzt bei dieser Kalte und diesem hohen
Schnee eine Offensive machen! Unsere Führer
schienen verrückt geworden zu sein. Nun hatte das
schône Leben in Riga ein jähes Ende gefunden. Wir
packten unser Hab und Gut in den Tornister,
schwangen denselben auf den Rücken und gingen
zur Bahn. Mir grau te furchtbar var der Zukunft,
denn ich wuBte nicht, daf die Russen keinen Widerstand
leisten würden. Mit Tagesanbruch hielt der
Zug in Hinzenberg. ln dem sehr schônen, an der Aa
gelegenen Schlosse Semneck machten wir Quartier
für Pferde und Mannschaften. Ais der Abend kam,
wurden wir yom Divisionsstab, der sich in dem
Schloß einquartierte, einfach rausgeschmissen. Alle
Hauser und Hütten in der Umgebung waren mit
Mannschaften und pferden vollgestopft, nirgends
war ein freies Plätzchen. Da fanden wir im Wald
einige alte Unterstände ohne Tür und Fenster, das
lnnere steinhart gefroren, aber schneefrei. Die
Kompanie, die eben todmüde vom Marsche ankam,
schimpfte furchtbar auf uns schlechte Quartierrnacher.
Aber in Wirklichkeit konnten wir doch nichts
dafür. Die Pferde wurden dicht zusammengestelh
an die Baume gebunden und mit Decken zugedeckt.
Die Mannschaften setzten sich in den kalten Unterständen
sa dicht wie môglich zusammen und deckten
sich mit Decken und Zelten zu. Gegen Morgen
gab's derart kalte Fülie, daf mehrere aufstanden,
Tannenreiser sammelten und Feuer machten. Wir
aIle hatten große Sehnsucht nach unseren Drahtbetten
in Riga. Bei Tagesanbruch wurden von der Feldküche
Kaffee und Brot empfangen. Wie kôstlich 50
ein Trunk heißen Kaffees schrneckre: Wir wurden
alle wie neu belebt. Wir mußten nun antreten, die
Pferde wurden var die Maschinengewehrwagen gespannt,
und vorwärts marsch ging's einer ungewissen
Zukunft entgegen.
288
Im folgenden uieggelassenen Kapuel ("Die Offensive gegen
die B olscheunsten-Besetzung der baltischen Prouuueti Liuland
und Estland«) schildert Dominik Richert seine Erlebnisse
toährend des deutschen Vormarsches im Osten ab
18. Februar 1918. Die Offensive stiejJ kaum auf WideTstand;
die notwendigen Truppenbewegungen konnten nahezu
gefahrlos mit der Eisenbalm ausgefiihrt werden. Der
Vonnarsch begann, nachdem Trotzhi die am 3. Dezember
1917 in Brest-Litowsk begonnenen Friedensuerhandlungen
(Waffenstillstandsvereinbarung am 15. Dezember)abgebTOchen
halte (JO. Februar 1918). Damit und mit dem
etuia zur selben Zeit erfolgten Einriicken der Roten Annee
in Kiew toaren die deutschen A nnexionspläne im Osten, die
unter arulerem die baliischen Staaten betrafen, stark ge–
[ährdet. Zioar spracli die deutsche wie die sowjetische Seite
tiom Selbstbestimmungsrechi der dort lebenden Volker, doch
uiaren solche Belncndungen nur leere Floskeln. Aus der
Sicht der deutschen Führung – unter maJ3geblicher Beteiligung
der Obersten H eeresleitung – ging es wesentlich um
Besetzung und Sicherung baltischer Prouinzenticr ein e1"-
toeueries deutsches H errschaftsgebiet. Ofjïziell stellte man
-Biugesuche» aus der deutschfreundlichen. baltischen
Oberschiclu, in denen urn die »Befreiung von bolscheunstischeri
Horden« gebelen uiurde, als GTUnd des vormarsches
dar. Auch Richerts Kompanie unrd ein entsprechender Regimentsbefehl
uerlesen; dies lôst bei Dominik Richert {olp;
rnde Überlegungen aus: .
Überhaupt warfen die Deutschen beijeder Geleg–
enheit mit dem Wort »befreien– nur so um sich.
Mich wundert nur, daß sie nicht schrieben, sie wollren
Frank reich von den Franzosen und England von
den Engländern »befreien«.
Dominik Richert erjährt in diesen Wochen eine Art von
Ceioali, die sieh von der gewohnten unterscheidet. Er findet
rinen ermordeten M enschen, dem offensiehtlich seine
Wohlhabenheit zum Verhiingnis gcuiorden ist, und stOpt
au] weinende Flüchtlinge, die Angst haben, des Mordes
beschuldig: zu. weyden. Er sieht Erhängt« in den StmjJen,
die, une man ihm erzahlt, uiahllos als abschreckendesBeispiel
getôtet ioorden sind. Seine Sympathie gilt elier den
289
Verfolgten als denen, die die Deutschen um Hilfe gerufen
haben. Auf die gewohnte Weise boykottiert cr das, was ihm
unmenschlich erscheint, und erweist sien auch in dies en
Wochen wieder ais »guter M ensch«. So rettet er eine junge
Lehrerin, die als »bolscheunstiscn gesinnt« denunziert toorden
ist, ocr der Verhaftung. Angeblich von ihm [estgenommen,
wird sie tatsachlicb in das Dor] ihrer E ltern gebracht,
wo sie var Verfolgung sicher ist. Ais Dominik Richert ausgeschickt
wird, Wajfen einzusamrneln, laftt er einige Bauern,
die merklicli an ihrenjagdgewehren hangen, die Wat
fen uerstecken.
Angesichts des deutschen Drucks kapitulierte schlieftlich
die sowjetische Regierung endgültig und unterzeichmete mn
3. Miirz 1918 den Friedensuertrag von Brest-Litotosk.
Kurz darauf wird Richerts Truppenteil (1. Regiment 332)
an die Westfront uerlegt. Dort haue mittlenoeile (am
21. Miirz 1918) die letzte grofie Offènsive der deutschen
Armee begonnen.
Schon am folgenden Morgen wurden wir von einem
Landwehrbataillon abgelôst und marschierten in
mehreren Tagesrnärschen zurück nach Wenden, wo
wir in die Bahn verladen wurden. Es hieß, daf wir
nach einem deutschen Truppenübungsplatz kärnen,
dann an die Westfront. Also hatten wir nochmals die
schône Aussicht, den süûen Heldentod fürs heißgeliebte
Vaterland sterben zu »dürfen«.
DIE REISE VON RUSSLAND NACH
FRANKREICH
Nachdem Pferde, Wagen und Mannschaften verladen
waren, fuhr der Zug in Richtung Riga. lch sah
auf der Straûe, unweit der Bahn, Viehherden, die
von Soldaten südwärts getrieben wurden. Aiso hatte
die »Befreiung– der lettischen und estländischen
Bauernschaft schon begonnen. Balcl hatten wir Riga
erreicht und winkten der Bevôlkerung zu. Fast aIle
290
erwiderten unser Winken, aber wie! Sie winkten:
»Nur fort mit euch!«. Südlich von Riga war der
Schnee stellenweise schon geschmolzen; man war es
gar nicht mehr gewohnt, schneefreies Land zu sehen.
Wir fuhren durch OstpreuHen, Westpreußen,
Brandenburg. Viele arme, sandige Gegenden gibt es
da. Wir passierten Berlin, aIs eben die ersten Siegesmeldungen
aus dem Westen eintrafen. Diese
Nachricht schien der halbverhungerten Bevôlkerung
neuen Mut gebracht zu haben, denn überall
wurde uns gewaltig zugejubelt; Zug um Zug, mit
Soldaten und Kriegsmaterial vollgestopft, rollte von
Rußland nach dem Westen hinüber. Man glaubte,
die in Rußland frei gewordenen Armeen kônnten
die englisch-franzôsische Front durchbrechen und
den Sieg doch noch erringen. Da sich die Nacht
niedersenkte, schlief alles ein in den Waggons. Etwa
um Mitternacht hielt der Zug auf einem schlechtbeleuchteten
kleinen Bahnhof. »Alles aussteigen!«
pferde und Wagen wurden ausgeladen, angespannt,
und dann fuhren wir nach einem Dorf. Das Dorf
hief Schweinitz und lag neben dem Großen Truppenübungsplatz
Altgrabow unweit von Magdeburg.
[... ] Morgens war Exerzieren, nachmittags dienst-
Frei. [... ] Alle Abende, au Ber Karfreitag, wurde in
den beiden Wirtschaften des Dorfes getanzt. Die
meisten Madchen waren infolge der dauerriden Einquartierungen
bodenJos verdorben und liefen den
Soldaten wie Hunde nach. Viele Eltern, Geschwister
und Bräute kamen aus allen Teilen Deutschlands,
um ihre angehôr igen Soldaten zu besuchen. Für
viele war dies das letzte Wiedersehen.
Am Ostersonntag war plôtzlich Alarm: ln einer
Stunde sollten wir auf dem 5 km entfernten Bahnhof
Nedlitz verladen sein. Anspannen, alles kunterbunt
auf die MG-Wagen geworfen, schneller Abschied,
und schon ging's im Galopp Nedlitz zu. ln
einigen Minuten war alles auf den bereitstehenden
Zug verladen. Auf der Weiterfahrt fuhren wir durch
das Ruhrgebiet und über Kôln nach Belgien. [...]
291
Viele Bauersleute waren auf den Feldern beschäftigt.
Wir winkten ihnen ZU. Fast aile machten das
Zeichen des Halsabschneidens und zeigten Richtung
Front. AIs wir uns Laon näherten, explodierten neben
dem Zug 4 Fliegerbomben, der erste Grun der
Westfront. [… ] Wir sollten in Laon ausgeladen werden,
muHten aber eine Station vorher aussteigen, da
Laon untel' dem Feuer schwerster franzosischer
Granaten lag. Wir marschierten nach La Fère; in
dern halbzerschossenen Stadtchen übernachteten
wir. Von vorne tonte das Feuer der Geschütze. Alle
Gesichter sahen ernst aus.
Am folgenden Morgen ging es der Front ZU,
durch die Gegend, in der 1916 die gro13e Som me-
Schlacht gewütet hatte. ln 60 km Umkreis stand
fast kein Haus mehr, alles nur Trümmer und Ruinen.
Die Fclder waren gaIlZ mit nun verwachsenen
Cranatlôchern bedeckt. Dazwischen Kreuze der
Gefallenen. Wer eS nicht selber sah, kann sich von
dies en Zerstôrungen kein Bild machen. Manche
dieser Dôrfer waren vollständig verschwunden;
nur eine Tafel stand da, auf der englisch geschrieben
stand: »This is —« und der Name des
Dorfes. Nun erreichten wir die Somme bei dem
ehemaligen Dorf Brie und karnpierten dort in den
von den Engländern errichteten Wellblechbarakken.
Wir gingen nach der Somme hinunter, welche
hier ziemlich breit und morastig, aber nicht tief ist.
Eine Brücke führte hinüber. Die Brücke war von
den deutschen Pionieren wied el' instand gesetzt
worden. Westlieh der Brücke sah ieh die ersten toten
Engländer liegen, von vorne tônte unablassig
das Donnern und Drôhnen der Geschütze. Auf allen
Gesichtern bei uns stand das Grauen vor der
Zukunft zu Jesen. »Helden- nennt man uns, ein
wunderbarer Narne, der aber selten, sozusagen
nie, Wirklichkeit ist.
Wir trafen aueh auf die Leiche cines Fliegers, die
nehen dem vcrbrannten Flugzeug lag, welches auf
eincr Schulterwehr [einern befestigten Schützengrabertrand]
292
beim Anprall zertrümrnert worden war.
Die Leiche bot ein entsetzliches Bild. Der Fliegcr war
verbrannt, von seinen Kleidern war keine Spur
mehr zu sehen als die Schuhe und ein Streifen der
Hosen und Unterhosen. Hunderte von Müeken sa-
Hen auf dem teilweise verkohlten Kôrper. Am MG
konntcn wir sehen, dal) es sich um keinen deutschen
Flieger handelte. Da sah ich am verkohlten Arm das
Kettchen mit der Erkennungsmarke. [… ] Das Kettchen
war an der Ste Ile, wo es zusammengelôtet war,
gesch.molzen, so dan ieh es samt Erkennungsmarke
an mich nehmen konnte. lch konnte nichts entziffern
als »Canada« und »protestantisch«. Offenbar
handelte es sich urn einen kanadischen Flieger, der
Tausende Kilorneter von seiner Heimat einen graGlichen
Tod gefunden hatte. Ostlich der Brücke lagen
neun zum Teil gesprengte englische Tanks, die bei
dem Ansturm der Deutschen nicht mehr über die
von den Granaten zerstôrte Brücke zurückfahren
konnten. Es waren die ersten Tanks, die ich im
Kriege sah. Auf der Rückseite des einen war die
Stahlplatte eingedrückt. ln den Spalt geklemmt befand
sich ein Stück von einem deutschen Koppel
sowie ein Fetzen feldgrauen Tuches. lm lnnern lag
eine abgerissene linke Hand, die ganz vertrocknet
aussah und an deren zweitkleinstem Finger ein Ehenng
steckte. lch konnte mir die Sache nicht and ers
crklaren, als dan deutsche Soldaten beim Übergang
über die Somme hinter den Tanks Deckung gesucht
hatten und von zu kurz einschlagenden deutschen
Granaten getôtet worden waren.
Wir gingen nun über die Brücke;jenseits dasselbe
Bild wie diesseits: Cranarlôcher und alte Graben.
Etwa 60 tote Englander waren hier zusammengetragen
worden und harrten der Beerdigung. Überall
zerstreut Iand man einzelne toteEnghinder liegen.
Mehrere hatten Coldzähne, die man in dem oft weitgeôffneten
Mund gut sehen konnte. ln grüJ3eren
Granatlôchern fanden wir die Trümrner von 4 englischen
FeIdgeschützen; bei zwei derselben lag die
293
ganze Besatzung tot und teilweise zerrissen daneben.
Bei jedem Geschütz Iag eine Menge Kartuschen
[Geschof3hüIlen], an welchen man sehen konnte, daf3
die Englander von diesel' Feuerstellung viel geschossen
hatten. Die nächste Nacht verbrachten wir wieder
in den Weilbiechbaracken, ohne diesmai von
den Fliegern behelligt zu werden.
Am foigenden Morgen marschierten wir weiter
der Front zu. Nichts aIs Trürnmer, teilweise fast ganz
verschwundene Dorfer. ln der Nähe des Stadtchens
Harbonnières übernachteten wir in einem aus Pappein
bestehenden Wäldchen. ln der Nähe lagen
einige tote Engländer, deren Uniformen und Gesichter
teilweise ganz zerfressen waren. Neben ihnen
befanden sich 2 Cranatlôcher; der Boden um dieselben
war grün und gelb bespritzt. Also handelte es
sich hier um das von den Deutschen gebrauchte,
soviel gefürchtete Grün- und Gelbkreuzgas.
[… ] Neben einer zerstorten Fabrik befand sich ein
englisches Munitionslager, wie ich noch keines gesehen
hatte. Tausende und Abertausende von Granaten
aller Kaliber, von den granten bis zu den kleinsten,
standen da. Das Lager war von vielen Erdwällen
kreuz und quel' durchzogen, so dan alles in ungefähr
1 Ar grof3e Vierecke eingeteilt war. So würde
nicht das ganze Lager explodieren, wenn Flieger
Bomben darauf würfen, sondern nur die in einem
Viereck befindlichen Granaten.
Wir blieben 2 Tage in dem Wäldchen liegen. Den
ersten Abend ging ich in das Städtchen Harbonnièl'es,
um in einer Kantine eine Flasche Wein zu kaufen.
Das Stad tchen war fast ganz unversehrt, jedoch
konnte ich keine Einwohner sehen. AIs ich in das
Wäldchen zurückkehrte, stand eben die Kornpanie
angetreten dort. Der Rittmeister las einen Divisionsbefehl
vor. lch blieb hinter einem Fahrzeug stehen
und horchte. Der Inhalt des Befehls lien mir fast die
Haare zu Berge stehen: Morgen abend soIlte es nach
der Front gehen. Wir sollten uns an einer bestimmten
Stelle eingraben und übermorgen früh, nach
294
furchtbarer deutscher Artillerievorbereitung, die
englischen Stellungen angreifen und durchbrechen
und den Westrand des Dorfes Cachy erreichen.
Mehrere Divisionen sollten den Angriff ausführen,
über 800 deutsche Kanonen sollten die englischen
Stellungen mit Zerstôrungsfeuer belegen. Auch
würden 4 deutsche Tanks eingesetzt werden, um der
Infanterie den Weg zu bahnen. Angreifen gegen
eine zahlreiche, wohlgenährte, mit allen môglichen
und unmoglichen Mordinstrumenten ausgerüstete
Armee, das war allerhand! Jedenfalls war diesel' Befehl
das Todesurteil für viele arme Soldaten. Keiner
wuf3te, was ihm bevorstand, und die Stimmung war,
wie sich wohl jeder ausrnalen kann, eine sehr gedrückte.
AIs die Kompanie weggetreten war, ging
ich hinter dem Wagen VOl'und traf zu meiner nicht
geringen Freude und Überraschung den Joseph
Hoffert aus meinem Heimatdorf. Er war als Offizierstellvertreter
bei einem Landwehrregiment und
gegenwartig in dem einige Kilometer entfernten
Dorf Rosières. Hoffert hatte zufällig einen Soldaten
meines Regiments getroffen. Er sah, dan er auf der
Achselklappe die Nummer 332 trug. Da wir uns oft
schrieben, hatte er meine Adresse, glaubte mein Regiment
jedoch noch in Ruûland. Sofort war er mit
dem Soldaten zu meiner Kompanie gekommen, wo
wir uns nun trafen. Wir erzählten uns von der Heimat
die Neuigkeiten, die jeder von dort über die
Schweiz zugeschickt bekommen hatte. Hoffert war
auch im Besitze einer Photographie, auf welcher die
jungen Burschen und Madchen unseres Heimatdorfes
zu sehen waren. [… ] Herrgott, wie staunte ich!
Sie waren noch Kinder, aIs ich sie zum letztenmal vor
4 Jahren gesehen hatte, und jetzt erwachsene Jünglinge
und jungfrauen. Wir blieben bis tief in die
Nacht zusammen. [… ] Beim Abschied sagte ich, er
solle meine Eltern und meine Schwester von mir
grüf3en, falls ich nicht mehr heimkehren sollte. Mir
war in diesem Moment das Weinen näher aIs das
Lachen. Nach nochmaligem Handedruck schieden
295
wir . Ich ging zur Kompanie zurük und legte mich
im Wäldchen sehlafen. Ein sehr starker Regen
durchnälite uns, da wir es unterlassen hatten, die
Zelte aufzubauen. Am folgenden Tag war wieder
das schônste Wetter, so daf wir unsere Kleider troeknen
konnten. ln der Hohe spielten sich mehrere
heftige Luftkampfe ab, bei denen 2 Flugzeuge brennend
abstürzten. Diese Flieger sterben einen dreifachen
Heldentod: Zuerst totgesehossen, dann verbrennen
sie, und zum Schlul3 zerschellen sie noch am
Boden.
Von der Front drohnte dauernd, bald stärker,
bald schwàcher, das Artilleriefeuer. Langsam ging
der Tag zur Neige. »Fertigrnachenl- kam der BefehI.
Man packte seine Sachen zusammen. Jeder
hatte denselben, ernsten Gesichtsausdruck. Nun
wurden die MG-Besatzungen neu eingeteilt. leh bekam
als Riehtschützen den Gefreiten Alex Knut aus
Berlin, den Schützen Lang aus Wermelskirehen und
noeh zwei Rheinländer, deren Namen ich vergessen
habe. Zugführer war Feldwebel Bar aus Berlin. AIs
die Sonne sank, ging es los, jedes Fahrzeug 40 m
Abstand yom vorderen. Mehrere englische Flieger
kreisten über der Stral3e. Plôtzlich das bekannte,
pfeifende Sausen! Mit einem Satz lag alles, auber
den Fahrern und Pferden, in den Straûengräben.
Kraek, bum, krack! Die Bomben explodierten neben
der Straûe. ohne Schaden anzurichten. Nul' die
pferde wurden scheu, so daf die Fahrer sie kaum
bemeistern konnten. Nun fing es an zu dunkeln. Da
die Gegend fast ganz eben war, konnten wir vorne
das Blitzen der Schrapnells sehen. Vor uns waren
auch Brande ausgebroehen, die den Himmel blutrot
färbten. Wir kamen nun an Großen Geschützen vorbei,
die auf Eisenbahnwaggons aufmontiert waren
und von Zeit zu Zeit Sehüsse abgaben. Wir näherten
uns nun dem Dorfe Marcelcave, in dem die Brande
ausgebroehen waren. Mit furchtbarem Heulen kam
alle paar Minuten ein schweres englisches Geschoß
in das Dorf geflogen, dasselbe bei der gewaltigen
296
Explosion für einen Moment beleuchtend. Vor dem
Dode wurde nun haltgemaeht, die Maschinengewehre
von den Wagen, die mm umkehrten, herun-
Icrgenommen. ln diesem Moment hätte ich weif
Gott was darum gegeben, wenn ich n ur Fahrer gewesen
wäre, um umkchren zu konnen. Nun ging es los
durch die DorfstraHe. Wir gingen gewehrweise, mit
etwa 20 m Abstand. Wie sah das Dorf aus! Viele
Hàuscr waren fast ganz weggeschossen, andere an
der Vorderfront aufgerissen, so daf Bettstellen und
andere Môbel heraushingen. Das Dorf befand sieh
seit etwa einem Monat in der Hand der Deutschen.
Dasauste wieder eine der schweren Granaten heran;
unwillkürlich duckte sich alles. Sie sehlug abseits von
der Srraße ins Dorf. Nach wenigen Minuten kam
wieder cine, welche in ein an der Straûe stehendes
Haus cinschlug und durch die Kraft der Explosion
alles auseinanderwarf. Ein Lothringer, der eben vorlx-
beilaulen wollte, wurde von den Trümmern zusam-
mengeschlagen und zugedeckt. Alles rannte nun
vorwärts, ohne sich um den Soldaten zu kümrnern.
Jeder wollte so schnell wie moglich aus dem Dorfe
und de-rn Bereich der Granaten kommen. Jenseits
dcs Dorfes folgten wir noch etwa 2 km der Stralle.
Auf allen Seiten auf den Feldern fielen einzelne
Granaten, jedoch karn keine in unsere nächste Nähe.
Nun ging der Mond auf und beleuchtete mit seinem
hellen Schein die Gegend. Hinter einem Erdwall sah
ich mehrere Gefallene liegen, die teilweise die
Hände gespensterhaft in die Höhe streekten. Vorne
an der Front stiegen dauernd Leuchtkugeln in die
Höhe , knallten einzelne Gewehrschüsse, oder man
hörte das Rattern der Maschinengewehre. Die deutsche
Artillerie schickte nur vereinzelte Geschosse
hinûber, die zischend über uns sausten. Die englische:
Artillerie belegte die Gegend bald hier, bald
dort mit il prasselnden Feuerüberfällen. Plôtzlich
setzte auf eine bestimmte Stelle Trommelfeuer ein,
welclws nach 2 bis 3 Minuten ebenso plôtzlich auf–
hörte [ … ] Bald hieß es: »Halt!- Wir mußten uns
297
nun eingrabe n. Ich grub mit rneiner Besatzung
2 etwa 1,20 m tiefe Lecher, dann setzten wir uns
hinein. Die Soldaten hatten von der Arbeit Durst
bekommen und fingen an zu trinken. Jeder hatte
nämlich 2 Feldt1aschen volt Kaffee (1 y~Liter) rnitbekornrnen.
Ich sagte ihnen, nul' sparsarn mit dem
Kaffee urnzugehen, denn morgens gebe es wahrscheinlich
noch rnehr Durst.
Nach und nach schliefen wir in den feuchten Lüchern
ein; man karn sieh so ziernlieh begraben vor.
Durch das Surren eines englischen Fliegers erwaehte
ich, konnte ihn jedoch trotz des Mondenscheines
nicht sehen. Auf einmal sehwebte eine große, an
einem Fallschirm befestigte Leuchtkugel über uns,
welche unsere Umgebung hell erIeuchtete. »Alles in
den Lôchern bleiben!« Auf einrnal sausten 4 Bomben
herunter. J edenfalls hatte der Flieger die dunklen
Lôcher und die Frisch aufgeworfenen Erdhügel
entdeckt. Nun verlor sich das Surren des Flugzeuges
naeh der englischen Front. Gleich sagte ieh zu meiner
Besatzung: »Achtung, Karneraden, bald kommt
etwas angeflogen!« Ich ermahnte sie noehrnals, treu
zueinander zu halten, und keiner solle den anderen
im Stiehe lassen. lm Falle, daf einer von uns sehwer
verwundet werden sollte, würden wir das MG und
den ganzen Kram liegenJassen und, wenn irgend
moglich, den Verwundeten zurückschaffen, denn
Maschinengewehre gabe es genug; jeder habe aber
nul' einrnal sein Leben zu verlieren. Alle waren mit
dem Vorschlag sofort einverstanden. Wir plauderten
noch weiter. Plôtzlich ein kurzes Sausen, ein
Blitz, ein Knal!, schon regnete es Splitter und Erdschollen.
Eine Granate hatte wenige Meter von uns
zwischen den Lochern eingeschlagen. Gleich kam
die zweite, die dritte, die vier te; ein ununterbrochenes
Sausen und Drôhnen war urn uns herurn. Irnmerfort
polterten uns grüf)ere und kleinere Erdschollen
auf den Stahlhelm oder das Sturrngepack.
Zusammengekauert hockten wir in den Lôchern,
um beijedem in nächster Nähe einschlagenden Geschof
298
zusammenzufahren. Von Zeit zu Zeit kam auch
ein sehr schweres GeschoH angeflogen, welches fast
senkrecht von oben herabfiel und die anderen Granaten
an Sprengkraft weit übertraf. lch hob einen
Moment den Kopfund sah, daf das Feld ringsurn in
dichten Granatrauch gehüllt war. Plotzlich hôrte ich
»G-a-a-s!« rufen. Alle wiederholten den Ruf. Jeder
warf den Stahlhelm zu Boden, riß die Gasrnaske aus
der Büchse und setzte sie vors Gesicht. Nach und nach
hôrte das Feuer fast ganz auf. Wir nahmen die Masken
herunter und erkundigten uns gegenseitig, ob es
Verluste gegeben habe. Drei Iann, die zusarnrnen in
einem Loch lagen, wurden von einem Volltreffer in
Stücke gerissen. Auûerdern waren 2 Mann durch ins
Gesicht geflogene Splitter verwundet; sie rnachten
sich spornstreichs rückwärts aus dem Staub. Unsere
Kornpanie war somit gut davongekommen. Die Lükken
in den MG-Besatzungen wurden sofort von den
Reserveschützen, die sich bei den Zugführern aufhalten
mußten, wieder besetzt.
Langsam graute nun der Morgen. Ein leichter
Nebel breitete sich aus, so daf man nur etwa 300 bis
400 m weit sehen konnte. Der Rittmeister, der sich in
ziemlicher Aufregung befand, ging nochmals bei
den Besatzungen durch, uns aufmunternd, unsere
Pflicht vol! und ganz zu tun. AIs er eben zu uns
sprach, kamen einige Granaten angesaust, die in der
Nàhe platzten. Der Rittmeister sprang zu uns ins
Loch, um gedeckt zu sein. »Herr Rittmeister«, sagte
ich, »ich werde aus der Sache nicht recht klug. Wo
liegen wir? Wo ist die englische Front? Wer liegt VOl'
uns?« Da nahrn der Rittmeister seine genaue Karte
hervor, auf welcher die Gegend sowie der Plan der
Stellungen aufgezeichnet waren. Unsere Division
war auf 500 rn Breite eingesetzt. VOl' uns lagen die
anderen Regimenter der Division eingegrabcn. U [1-
ser Bataillon befand sich in der letzten Angriffsstaffel.
Wir sollten an einer Waldecke vorbei und dann
direkt in gerader Richtung auf das Dorf Cachy vorgehen.
Nun wußte ich Bescheid.
299
24. APRIL 1918, GROSSKAMPFTAG – DER
ANGRIFF BEI VILLERS–BRETONNEUX
6.30 Uhr morgens. Alles ruhig, nur selten einArtillerieschub.
Diese Ruhe wirkte unheimlich. Es kam
mir vor, aIs ob beide Parteien nochmals Atem und
Kraft schëpfen wollten, um sich dann aufeinanderzustürzen
und zu zerfleischen. Punkt 7 Uhr eroffnete
die deutsche Artillerie das Trommelfeuer. Mit
einem Schlag sehossen die über 800 Geschütze ihre
eisernen Grül3e hinüber und immer in einem fort;
eine voIle Stunde lang donnerten und krachten die
Geschütze. Über uns warein ununterbrochenes Sausen
der Geschosse. Von drüben horte man momentweise
das Bersten der Granaten. Es war fast unmôglich,
sich gegenseitig zu verstandigen. Man mußte
sich die Worte ins Ohr schreien. Die Englander waren
auch nicht faul und überstreuten das ganze Gelande
mit Granaten. Um 8 Uhr sollte der allgemeine
Angriffbeginnen. Langsam und doch viel zu schnell
rückte der Zeiger der Uhr dem verhängnisvollen
Moment zu. 5 Minuten var 8 Uhr hob ich den Kopf
und schaute über das Feld. Alles wie ausgestorben.
Nur 2 bis 3 Kôpfe konnte ich entdecken und die
Einschläge der englischen Granaten. Da hôrte ich
hinter mir das dumpfe Rattern starker Motoren. Es
waren die 4 deutschen Tanks, Sturmwagen genannt.
Es waren die ersten deutschen Tanks, die ich zu
sehen bekam. Sie waren ganz anders aIs die franzosischen
und englischen, ein zugespitztes Stahlhäuschen,
an dem man weder die Triebketten noch sonst
etwas sehen konnte. Die gepanzerten Maschinengewehre
schauten auf allen Seiten heraus. Zwei der
Tanks waren auch mit 2 kleinen Geschützen ausgerüstet.
Als Erkennungszeichen trugen sie an beiden
Seiten ein großes Eisernes Kreuz.
»Fertigmachenl- Mit klopfendem Herzen mach te
sich jeder fertig. »Vorwärts, marsch!« Wir ergriffen
nun unser Cerät, verlieflen das schützende Loch und
gingen vorwärts. Das Artilleriefeuer dauerte mit
300
verrninderter Heftigkeit an; dazwischen hôrte man
nun das Pras seIn des Kleingewehrfeuers. Der Angriffwar
in vollem Gange. Wohin man schaute, wimmelte
alles von deutschen Soldaten, die vorwärtsstrebten.
Infanterie, Maschinengewehre, leichte
und mittlere Minenwerfer, alles bewegte sich vorwärts,
Ein ganzer Schwarm deutscher Flieger flog
niedrig über uns, um mit Bomben, Handgranaten
und MG-Feuer zum Gelingen des Angriffs beizutragen.
AIs wir uns der Waldecke naherten, lagen schon
verschiedene Tore auf dem aufgewühlten Gelände,
Plotzlich wurden wir mit einem Hagel Granaten
und Minen überschüttet, so daß alles in die Granatoder
die von den Mannschaften gegrabenen Lôcher
sprang. Wir duckten uns so tiefwie môglich, um von
den herumschwirrenden Splittern und Erdschollen
nicht getroffen zu werden. »Hier kônnen wir nicht
bleiben!« schrie ieh, indem ich mich erhob, um
schnell Umschau nach einer passenden Deckung zu
halten. lm selben Moment fiel eine Mine in ein etwa
3 m von mir entferntes Loch, in welchern 3 Infanteristen
kauerten, Ihre zerrissenen Korperteile wurden
nach allen Richtungen geschleudert. Ich sagte nun
zu meiner Besatzung: »Ich springe vor. Einer beobachtet
mich. Wenn ich bessere Deckung gefunden
habe, halte ich den Großen Spaten in die Hô he, und
ihr kommt dann so schnell wie môglich zu mir geranntl–
Gesagt, getan. Ich fand etwa 50 m weiter ein
großes Granatloch, das gute Deckung bot. lch
sprang hinein und hielt den Spaten hoch. Sofort
kam meine Besatzung hergelaufen. So ging es weiter
von Loch zu Loch. Ais ich eben über einen Kleeacker
sprang, platzte über mir ein Schrapnell; rundum
klatschten die Kugeln in den Boden. Wie durch ein
Wunder blieb ich unversehrt. Ich schaute an meinem
Korper hinunter, denn ich meinte, irgendwo
hluten zu müssen. Anfangs war ich aufgeregt, doch
nun überkam mich trotz der ununterbroehenenExplosionen
eine kalte Ruhe, die sich schon früher in
den gefahrlichsten Momenten bei mir einstellte.
301
Wir kamen nun an dem Waldrand vorbei, von
dem die vordersten deutschen Angriffswellen gegen
die auf dem freiem Felde sich hinziehenden englischen
Stellungen losstürmten. Eine Menge toter Infanteristen
lag am Baden, teilweise durch das Artilleriefeuer
schrecklich zugerichtet. Viele Leichtverwundete
rannten an uns vorbei zurück, ebenso gefangene
Engländer [… ] Die Englander mußten sich
an einem bestimmten Punkte sammeln, wo der
ganze Boden mit khakibraunen Uniformen bedeckt
war. Diese armen Trôpfe muûten dort irn stärksten
Feuer aushalten. Nun waren wir am ersten englischen
Graben angelangt und sprangen hinein. Viele
abgeschossene Infanteriepatronen lagen da, an denen
wir sahen, daf sich die englische Infanterie tapfer
verteidigt hatte. lm Graben lagen zwei tote Engländer
übereinander. Oben auf dem Felde einer, der
in den letzten Zuckungen lag. Etwa 3 m hinter dem
Graben lag wieder einer, der dauernd flehentlich
»Cerman Fri-itz« rief. Ich hob den Kopf und winkte
ihm, doch zu uns zu kriechen. Er deutete nach seinem
Rücken, und da sah ich, daß er eine Kugel
dorthin erhalten hatte; dadurch waren seine Beine
gelahmt. Gern hatte ich ihn in den Graben geholt,
aber ich wagte nicht hinauszugehen, denn die Engländer
streuten nun dauernd mit Maschinengewehren
das Feld ab, deren Kugeln massenweise über uns
zischten. Wir hakten nun 3 Traggurte zusammen,
und ich warf dem Engländer das eine Ende zu. Er
hielt sich mit den Händen daran fest, und sa zogen
wir ihn langsam zum Grabenrand, um ihn dann auf
die Grabensohle zu legen. Ich gab ihm dann noch
einen Tornister, den ich einem der Gefallenen abschnallte,
unter den Kopf und ließ ihn von meinem
Kaffee trinken. Var Schmerz und BlutverIust wurde
er nun ohnmächtig. Einem der toten Engländer
schaute ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, das
ich an mich nahm.
Da kam ein MG-Schütze eines anderen Regiments
den Graben entlang und fragte mich: »Herr Unteroffizier
302
darf ich mich ihrem Maschinengewehr anschließen?
« Ich hôrte gleich an der Aussprache, daß
er ein Elsasser war, und meinte: »Wo kommst du
denn her?« Er antwortete: »Ich lag mit meiner Kompanie
in der ersten Angriffsstaffel am Waldrand.
Die Engländer, die uns bemerkt haben müssen,beschossen
nun den Waldrand schrecklich mit kleinen
Geschützen. Meine ganze Besatzung ist im Liegen
gefallen. Iir selbst wurde von Sprengstücken mein
Sturmgepack, die Feldflasche und der Brotbeutel in
Fetzen gerissen.« Damit zeigte er mir die Sachen, die
vollstandig zerfetzt waren. »Hôr, Kamerad «, sagte
ich, »wenn du schlau bist, dann bleibst du hier im
Graben liegen.«
Inzwischen hatte sich der Graben mit vorgehenden
Soldaten ganz angefüllt. Einige Leutnants
machten einen Heidenlarrn, um uns weiter vorzujagen.
Ich kletterte zum Graben heraus, suchte eine
Deckung und winkte wieder mit dem Spaten. Meine
Besatzung kam hergelaufen. Da sah ich, daß einer
meiner Rheinlander einen Schrei ausstieI3, den Munitionskasten
fallen ließ und zu mir gelaufen kam. Er
hatte einen Schuß durch die Schulter erhalten. Sofort
wurde er verbunden, dann rannte er zurück in
den englischen Graben, den wir vorhin verIassen
hatten. Var uns, auf etwa 80 m Breite, legten nun die
Englander ein furchtbares Sperrfeuer. ln einer Linie
schlugen immerwahrend Granaten ein, um das
Vordringen der letzten Angriffsstaffeln unmôglich
zu machen. Und durch mußten wir! Ich bekam nun
von meinem Zugführer einen Reserveschützen hergeschickt,
um die Lücke des verwundeten Rheinländers
auszufüllen. Ich bemerkte, daß zwischen den
Einschlägen der Granaten in der Sperrfeuerlinie immer
kleine Pausen eintraten, die Zeit, die wohljedes-
IIIal das Laden der Geschütze erforderte. Sofort
hatte ich meinen Plan fertig. Wir gingen bis in die
Nähe der Einschlage vor und legten uns dann hin.
»Hort, Karneraden!« sagte ich. »Wir warten einen
bestimmten Moment ab. Kaum daI3 vor uns wieder
303
eine Lage Granaten krepiert ist, springen wir so
schnell wie môglich durch.« [... ] Kaum daß wieder
eine Lage geplatzt war, erhoben wir uns und rannten,
so schnell es unser Gerat gestattete, vorwärts.
Schon sausten wieder die folgenden Granaten
knapp hinter uns hinweg und explodierten wenige
Meter hinter uns. Schleunigst trachteten wir weiter
von der gefahrlichen Zone wegzukammen. Die Leichen
vieler Gefallener lagen auf dem zerrissenen
Celànde der Sperrfeuerzone. Viele derselben wurden
noch im Tode hin- und hergeschleudert und
zerfetzt. Plôtzlich zischten uns eine Unmenge Maschinengewehrkugeln
um die Ohren. Sofort warfen
wir uns zu Baden, lieBen unser Gerat liegen und
krochen auf dem Bauche nach dem nahen Großen
Granatloch, in dem schon etwa 12 bis 15 kauerten.
Wir legten uns platt über die Kôpfe, Schultern und
Rücken der im Loch befindlichen Soldaten, so daf
die untersten fast erstickten. Wir konnten jedoch
nicht weg, denn knapp über unserem Rücken zischten
die MG-Geschosse. Plôtzlich ein Einschlag in
nächster Nähe, Wir wurden fast ganz mit Erde zugedeckt.
Alle waren zu Tode erschrocken. Ich hob den
Kopf und sah, daf sich zwischen dem neuen Granatloch
und unserem nur noch etwa einen halben Meter
breit Erde befand. Ein Meter weiter, und särntliche
18 Mann wären zerfetzt gewesen. Sofort sprang ich
mit meiner Besatzung in das frische Loch; aIs das
Feuer einen Moment etwas nachlieû, krochen wir zu
unserem Cerät und schleiften es in unser Loch. Das
Maschinengewehr stellten wir vorne hin, um schußfertig
zu sein. Unser Loch füllte sich bald mit Infanteristen.
Auch unser Sanitätsunteroffizier war da.
Da kam ein Infanterist von vorne zurückgelaufen,
der einen Schuf durch eine Zehe erhalten hatte. Da
wir zusammengepreßt wie die Heringe das Loch anfüllten,
sagte der Gefreite Alex Knut, der immer ein
äulierst gutmütiger Mensch war: »Ich will eio wenig
Platz machen«, und kroch nach einem andercn, in
der Nahe befindlichen Granatloch. AIs immer mehr
304
Infanteristen in unser Loch kamen, sagte ich zu einem
meiner Schützen: »Schau mal nach, ob jenes
Loch frei ist.Wir gehen dann hinüber.. Er krach hin
und rief: »Es liegt nur ein Toter drin. Cott, es ist der
Alex!« Sofort kroch ich hinüber. Der arme Alex
hatte einen SchuH über dem linken Auge in die Stirn
erhalten, der in der linken Schlafe den Ausgang
gefunden harre. Alex war noch nicht tot, aberbesinnungslos.
Wir legten ihn zurecht, und ich verband
ihm mit seinem Verbandspackchen den Kopf. Ich
rief ihn beim Namen, er horte und sah nichts mehr,
Nun fing er an zu rocheln. Das Rôcheln wurde immer
schwacher, dann durchlief ein Zittern seinen
Kôrper, er streckte sich und war tot. Wir machten
auf einer Seite des Granatlaches etwas Erde weg,
legten ihn hin und deckten ihn zu. Wie es uns bei
dieser Arbeit zurriute war, läût sich leicht denken.
lch nahm dann sein Seitengewehr, steckte es in
Form eines Kreuzes durch die Lederscheide und
steckte es auf sein Grab.
Das Feuer der Geschütze, Maschinengewehre und
so weiter wütete seit dem Morgen in gleicher Heftigkeit.
Während wir den arrnen Alex begruben,
glaubte ich in dem Cetose den scharfen Knall einer
Pistole in nächster Nahe zu horen. AIs ich in das
Granatloch, in welchern das MG stand, zurückkroch,
sah ich, daß einer der Rheinländer einen Handschuß
erhalten hatte. Eben war einer der Schützen dabei,
die Hand zu verbinden. Der Verwundete sagte, er
habe den Dampfablaßschlauch vorn amMaschinengewehrmantel
befestigen wollen und habe in diesem
Moment den Schuf erhalten. lch glaubte es ihm
nicht, denn sein scheuer Blick sagte mir, daf er sich
mit der Pistole selbst durch die Hand geschossen
hatte, um zurück ins Lazarett zu kommen. Er
schnallte Sturmgepack und Kappelzeug ab und lief,
so schnell er konnte, zurück. Er hatte ganz recht
gehabt, getraute es mir aber doch nicht zuzugestehen.
Nun hatte ich 2 Verwundete und einen Toten
an meinem Maschinengewehr. Es wurde mir ganz
305
unheimlich. Infolge der ungeheuren Verluste war
der Angriff zum Stehen gekommen. Alles hatte sich
in die unzähligen Cranatlocher verkrochen. Unaufhôrlich
donnerten die Granaten hernieder. Das
ganze Feld war dauernd in sehwarzen Granatrauch
gehüllt. Auf einmalliefen Offiziere und Ordounanzen
bei den besetzten Lôchern herum und schricn:
»Divisionsbefehl: Der Angriff muf weiter vorgetragen
werden!« Wir waren aIle entsetzt. Sehon sprangen
einzelne Gruppen vor, die aus den Lôchern
getrieben wurden. Unser Rittmeister erhob sich in
unserer Nähe aus einem Loch und schrie den Befehl,
vorzugehen. Was blieb uns anderes übrig! Wir
hatten wieder einen Reservesehützen erhalten. Also
ging ich mit meinen 4 Mann aueh vor. Furehtbar
setzte das englisehe Feuer ein, so daf wir gezwungen
waren, uns au fs neue in Cranatlôchern zu verkriechen.
Ein Gefreiter von der Infanterie, den ieh seit
Riga gut kannte, kniete im Vorgehen neben meinem
Loche nieder, um sich eine Zigarette anzuzünden.
Plôtzlich stürzte er kopfüber zu Boden und rührte
sich nieht mehr. Wir bauten unser Masehinengewehr
mit dem Spaten schu13fertig ein, so daßnur der
Lauf über die Erde hinwegsah. Dann duckten wir
uns im Loch nieder. Da erblickte ich 2 Infanteristen,
die mit angsterfüIlten Gesichtern, 50 schnell sie
konnten, zurückrannten. Ich erhob mich und sah,
daf das ganze Gelände voIl von zurücklaufenden
Infanteristen überstreut war. leh schrie: »Was ist
denn los?« – »Tanks!– bekam ich zur Antwort. Der
Bataillonsführer, Hauptmann Berthold, suehte die
Infanteristen mit erhobener Pistole zum Stellungnehmen
zu zwingen, was einige befolgten; andere
rannten weiter. Viele der Fliehenden wurden von
dem rasenden fG-Feuer der Tanks niedergernàht.
Ich sah nach vorne und sah mehrere englisehe
Tanks, die, immer feuernd, gegen uns kamen. lm
Unterricht hatten wir immer gelernt, daf 2 Kugeln
Stahlkernmunition an dieselbe Stelle eines Tanks
dessen Eisenwand durchschlagen würden. Der englische
306
Tank fuhr in gerader Richtung auf unser
Loch zu, immerfort mit dem Maschinengewehr
schießend. »Kameraden.jetzt gilt's! Stahlkernmunition!
« sehrie ieh. Sofort reiehte mir einer der
Schützen den Gurt, ich Lud, zielte genau auf die
Mitte der Vorderseite des Tanks und Iieli den Gurt,
250 Schuß, durehlaufen. Der tank fuhr weiter, ich
schof noeh drei Gurte Stahlkernmunition, also
1000 Schuß auf dieselbe Stelle. Alles nützte nichts.
leh rif mein Glas ans Auge und sah, daß der Tank
an der besehossenen Stelle ganz weif aussah. Aber
anhaben konnten wir ihm nichts. »Volle Deckung!«
schrie ich. So kauerten wir aIle im Loch, den Moment
abwartend, bis der Tank kommen und uns
totschießen würde. Da hôrte ich hinter uns mehrere
Abschüsse und das Rattern eines Motors. Ich hob
den Kopf und sah einen deutsehen Tank daherkommen,
der immerfort mit seinen kleinen Kanonen
Schüsse abgab. Da sehaute ich naeh vorne und
sah, daf der englische Tank mit mehreren klaffenden
Lôchern unbeweglich auf dem Felde stand. Wir
waren gerettet! Der deutsche Tank brachte noch
zwei englische zum Stehen, dann fuhr er in die englischen
Linien und jagte etwa 200 englische Infanteristen
mit Maschinengewehrfeuer aus den Lôchern.
Den Engländern blieb niehts anderes übrig, aIs mit
erhobenen Händen zu uns überzulaufen. Drei
Mann, die an uns vorüberliefen, winkte ich in unser
Loch. Sie keuchten yom Laufen und zitterten vor
Todesangst. Sie woUten uns ihr Geld geben, was wir
natürlich nicht annahmen. Der deutsche Tank
wurde nun von der englisehen Artillerie derart
besehossen, daf er fast in den Rauehwolken der
Granaten verschwand und plôtzlich stehenblieb.
aeh einigen Minuten fing er wieder an zu waekeln
und fuhr an uns vorüber zurück. Die englischen
Flieger flogen mit unglaublicher Kühnheit etwa in
Haushohe über uns und warfen Bomben und
Handgranaten naeh den von uns besetzten Lôchern.
Ich sah 4 Flieger abstürzen. Einer fiel nur
307
etwa 40 m neben uns zu Boden, sich mit dem Motor
in die Erde bohrend, sa daß das Schwanzende in die
Hôhe ragte. Der Flieger, der tot zu sein schien und
angeschnallt sein m uûte, hing mit dem Oberkorper
aus dem Sitzloch heraus. Gleich nach dem Absturz
fing das Flugzeug Feuer und verbrannte bis auf das
Eisengerippe.
Der Reserveschütze Martz, ein Unterelsässer,
beobachtete eben nach vorne, als eine Gasgranate
direkt vor uns einschlug und das dichtgeballte Gas
ihn im selben Moment umgab. Ein Atemzug, und
schon stürzte er betäubt zwischen uns nieder. lch
selbst fühlte beim Atmen das Gas in die Nase bis
zum Halse eindringen und stieß es dann mit einem
festen Atemstof wieder hinaus, hielt den Atem an
und riß die Gasmaske aus der Büchse, um sie blitzschnell
aufzusetzen. Nun fühlte ich, daß doch
etwas Gas in die Brust gedrungen sein mußte,
denn es fing mich an zu krabbeln, und ich bekam
Brechreiz. ln Nase und Rachen brannte es derart,
daß mir die Augen überliefen. Auch mußte ich husten
und hatte Mühe, in der Maske Luft zu bekommen.
Dies alles war in wenigen Sekunden geschehen.
Sofort riß ich die Gasmaske des betaubten
Martz hervor und setzte sie ihm auf. Dann krach
ich auf allen vieren zum Zugführer, da ich wufite,
daß bei ihm der Sanitätsunteroffizier war mit dem
Selbstretter (Sauerstoffapparat). Sofort kam er mir
nachgekrochen, wir setzten dann dem armen
Martz den Selbstretter auf, und nach einer Viertelstunde
kam er wieder zu sich, war aber wie gelähmt.
Nun kam unser Rittmeister zu uns ins Loch gekrochen.
»Na, Richert«, sagte er, »noch gesund?« – »Ich
selbst wohl«, antwortete ich, »aber Alex Knut tot,
2 Mann verwundet. Besatzung Herrmann ist's viel
schlimmer ergangen; ein Volltreffer tôtete aIle
6 Mann.. Der Rittmeister war sehr aufgeregt, denn
es war das ers te große Treffen, das der mitmachte.
Früher, ehe el' zu unserer Kompanie kam, war er
308
beim Generalstab und sollte nächstens wieder dahin
kommen. Mir fielen nun die englischen Zigaretten
ein, die ich in der Tasche hatte. lch bot dem Rittmeister
zuerst an, dann den Soldaten. Wie fein so eine
englische Zigarette schmeckte im Vergleich zu den
deutschen, die nichts aIs hundsmiserabler Tabakersatz,
hauprsachlich Buchenlaub, enthielten! Nach
etwa einer halben Stunde sagte der Rittmeister: »Richert,
geben Sie mir noch eine englische Zigarette,
ich will dann zum Reservezug.« lch gab ihm gleich
zwei. Er kletterte aus dem Loche und lief rückwärts.
Es war so um 4 Uhr nachmittags. Das ArtiIleriefeuer
hatte ziemlich nachgelassen, doch platzten immer
noch Cranaten auf dem Felde. Wir atmeten nun
erleichtert auf. »Wenn wir nur aus diesem Schlamassel
heraus warenl– war der allgemeine Wunsch.
Meine Soldaten hatten aIle den Kaffee leer getrunken
und lechzten vor Durst, während ich kaum eine
halbe Flasche getrunken hatte. Auf ihre Bitte gab ich
jedem einen Schluck.
Langsam wurde es Abend, und bald bedeckte tiefe
Dunkelheit dieses Elend. Was würde die Nacht bringen?
Ich selbst rechnete mit einem Gegenangriff der
Englander. Ich hatte nul' den einen Wunsch, inGefangenschaft
zu kommen. Dort wär' man doch wenigstens
seines Lebens sicher. [… ] Die Englander
unterhielten seit Anbruch der Dunkelheit ein
furchtbares Sperrfeuer etwa 400 m hinter uns, um es
den Verstärkungen unrnôglich zu machen, vorzukommen,
und um überhauptjede Rückwàrtsverbindung
zu verhindern. Da ich keinen meiner Schützen
zum Essenholen bestimmen woUte, fragte ich, wer
freiwillig gehen wollte. Alles still. Ich sagte: »Cut, wir
essen unsere eiserne Portion]– Auch hatte jeder ein
Stück Kommißbrot im BrotbeuteJ. Wenn wir nur
mehr zum Trinken gehabt hatten. Also blieben aile
im Loche.
[… ] Die wenigen Infanteristen, die noch vor uns
zerstreut in den Cranatlôchern lagen, mußten nun
zurückkommen und in der Linie, in der wir lagen,
309
Stellung nehmen. So bildete sich wieder eine feste
Front. Das andere Maschinengewehr des Zuges
muJ3te sich 3m neben uns einbauen. [… ] Irnmerfort
sausten die englischen Granaten heulend über
uns, um hauptsächlich in der Sperrfeuerlinie zu
platzen. Ich schlief mm im Loch ein. Ein Mann
mulite dauernd wachen und hie und da nach vorne
beobachten. Plôtzlich wurde ich von einem prasselnden
Granatenhagel aufgeschreckt. Aha, dachte
ich, Vorbereitungsfeuer für den Gegenangriff. Wir
hatten noch ziemlich Glück, denn bei uns platzten
nur wenige Granaten. Sie zischten knapp über
uns hinweg, um etwas weiter hinten einzuschlagen.
Tz-tz-tz, zischten eine Unmenge MG-Geschosse
über uns, so daf keiner von uns wagte, den Kopf
zum Beobachten zu heben. AIs das MG-Feuer nachließ,
schoß ich eine Leuchtkugel ab und beobachtete
das vor mir liegende Celände. lch glaubte, daß sich
an mehreren Stellen etwas bewegte, und schoß noch
einige Leuchtkugeln ab. lm selben Moment horte
ich schon links und rechts rufen: »Sie kommen! Sie
kommen! Alarrnl- Und wirklich. Nun wimmelte alles
vor uns von Engländern. Die ersten waren vielleicht
noch 150m entfernt. Angstlich gebückt
sprangen sie von Loch zu Loch. Was sollte ich machen?
Schießen? Wenn ich genau einrichtete, würden
mindestens 30, 40, 50 dieser arrnen Menschen
getroffen. lch faßte rasch den EntschluJ3, nicht zu
schießen und mich bei ihrem Herankommen zu ergeben.
lch sprang ans Gewehr, lud einen Gurt,
drückte auf die Deckfeder, nahm mit der linken
Hand eine Prise Erde und streute sie unauffällig in
den Mechanismus des Maschinengewehrs; dann
drückte ich los. Die im Lauf befindliche Patrone
ging los, dann war Schluß. Die Gleitvorrichtung war
durch das bißchen Erde an den Bewegungen gehindert.
»Was machen wir nun?« fragten angstlich die
Schützen. »Hände hoch, wenn sie kommenl- sagte
ich. »Pistolen raus!« kommandierte ic:h nun. »Irn
Falle, daß sie uns massakrieren wollen, verteidigen
310
wir uns mit den Pistolen, sa lange cs geht.« Dann
schnaUten wir das Koppelzeug ab und warfen es
hinter uns ins Loch. Da kam der Feldwebel Bar gekrochen:
»Richert, Nicki, Mensch, warurn schießt
du nicht>. – »Hernmung«, antwortete ich. »Wir haben
abgeschnallt.« – »Es wird das beste sein«,
meinte der Feldwebel, schnallte ebenfalls ab und
warf sein Koppelzeug auf das unsere. Von 100
Leuchtkugeln war die Nacht nun taghell erleuchtet.
Viele rote Leuchtkugeln, die das Sperrfeuer der
deutschen Artillerie anforderten, stiegen nun kerzengerade
in die Hôhe. Viele leichte und schwere
Maschinengewehre und lnfanteristen hatten das
Verteidigungsfeuer aufgenommen. Nun sausten
die deutschen Granaten massenhaft über uns und
schlugen bei den Engländern ein. Die Englander,
die groJ3e Verluste erlitten, verkrochen sich nun in
den Cranatlôchern, und wir mußten unser Koppel
wieder umschnaUen. ln diesem Moment hatte ich
eine Wut gegen die Engländer, weil sie uns nicht
geholt hatten. Trotz der Dunkelheit reinigte ich
nun das MG, damit niemand sehen konnte, daf sich
etwas Erde darin befand. Dann lud ich und ließ
einen Gurt durchrattern. Nachher schliefen wir bis
gegen Morgen im feuchten Loche.
25. APRIL 1918
Bei Tagesanbruch fingen die Engländer wieder wie
toll zu schießen an, was etwa eine Stunde anhielt.
Nachher war alles ziemlich ruhig. Ein wunderschôner
Frühlingstag brach an, hell und klar schien die
Sonne hernieder. Welch ein Gegensatz: Die Natur
erwachte zu neuem Leben, und diese arme, betôrte
Menschheit schlachtete sich gegenseitig· ab. LI nd alle
wollten doch 50 gerne leben! Aber dem Starrsinn
einiger Großer mußten sich Hunderttausende fügen.
Da war nicht daran zu rütteln. Verweigert man
311
den Gehorsam, so wird man einfach erschossen. Gehorcht
man, kann man auch erschossen werden, hat
aber au ch Aussicht durchzukommen. Also gehorcht
man, werm auch ganz mit Widerwillen.
Gegen 10 Uhr morgens kam ein Mann der Kornpanie
angekrochen und meldete, daf der Rittmeister
soeben schwer verwundet aufgefunden worden
sei. Er sei seit gestern abend nach etwa 4 Uhr allein
und verlassen in dem Schilf eines Wasserabzuggrabens
gelegen. Wer sich freiwillig melde, ihn zurückzubringen,
würde um einen Grad befôrdert und
erhalte das Eiserne Kreuz. Von meinem Maschinengewehr
meldete sich der Schütze Lang, vom anderen
Maschinengewehr des Zuges Gefreiter Beck. »Wenn
ich heil zurückkornme«, sagte Lang, »kornme ich
jedenfalls nicht mehr nach vor ne l– – –Selbstverständlichl–
sagte ich. Also krochen die beiden zurück.
Der Rittmeister mulite gestern abend verwundet
worden sein, aIs el' sich von uns nach dem Reservezug
begeben wollte.
Gegen Mittag stellte sich ein qualender Durst ein.
Meinen Kaffee hatte ich zum Teil getrunken, zum
Teil den Schützen verteilt. Da sahen wir nicht weit
von uns ein mach tiges Granatloch. Ein Schütze
krach mit dem Kochgeschirr hin und fand, wie er
richtig vermutet hatte, in dem tiefen Loch etwas
Wasser, das sich dort zusammengezogen hatte. Er
verschwand im Loch, um gleich wieder mit dem
Kochgeschirr zu erscheinen und zurückzukriechen.
Aber was für eine Brühe brachte er da! Den reinen
Lehmbrei. Wir legten nun ein Taschentuch über ein
anderes Kochgeschirr, um so das Wasser durchsikkern
zu lassen und etwas zu reinigen. Dann schlürfte
jeder einige Schlucke dieser ekelhaften Brühe.
lch betrachtete nun, durch das eingebaute MG
gedeckt, die Gegend. Rundum aufgerissene Erde
und Cranatlocher. Dazwischen hingestreckte Leichen
der Gefallenen. Vor uns das verbrannte Flugzeug,
etwas weiter der zerschossene englische Tank
und in etwa 1 km Entfernung das zerschossene
312
Dorf Cachy, das wir gestern erobern und dessen
Westrand, also den jenseitigen, wir hatten besetzen
sallen. Also war unser Angriff mißlungen, obwohl
wir etwa 800 m in die englischen Stellungen eingedrungen
waren und, wie es hieß, 2000 Gefangene
gemacht hatten. lch war nun überzeugt, daß an der
englisch-franzosisch-amerikanischen Front nicht
mehr viel zu rütteln war. Halbrechts, etwa 2 km vor
uns, lag das Stàdtcheri Villers-Bretonneux, das nur
noch einen Ruinenhaufen bildete. Ich schaute nun
nach allen Richtungen mit dem Glas nach der englischen
Front hinüber. Nicht das geringste Lebenszeichen
konnte ich entdecken aIs die in die Hôhe
steigenden Rauchwolken der deutschen Granaten.
Über uns spielte sich ein heftiger Luftkampf ab, an
dem über 30 Flieger teilnahmen. Drei derselben
stürzten ab, zwei brennend, wahrend der dritte
pfeilschnell niederstürzte.
Da wurden wir von der Besatzung des anderen
Maschinengewehrs angerufen, ob wir denn nichts
mehr zu trinken hatten. Sie würden bald VOl' Durst
vergehen. Da antwortete ein Mann meiner Besatzung,
daß in dem Großen Granatloch sich wohl wieder
etwas Wasserangesammelt haben würde; wir
hatten vorhin schon davon geholt. Schütze Schroback,
ein frecher Berliner Junge, kroch nun hin und
verschwand im Loch. Bald kam er wieder herauf,
mit gefülltem Kochgeschirr, und wollte mit ein paar
Sprüngen das Loch seiner Besatzung erreichen. lm
selben Moment sauste eine Granate knapp über unsere
Kôpfe und zersprang kaum 2 m hinter unserem
Loch. Erschrocken duckten wir uns, so tief wir konnten.
Dann hob ich den Kopf und sah, daß Schroback
bewegungslos etwa 2 m jenseits des neuen Granatloches
lag. Da ich nicht wußte, ob er tot oder bloß
betäubt war, krach ich hin, um nachzusehen. Hier
war keine Hilfe mehr mëglich, Schroback hatte mehrere
Granatsplitter in den Bauch erhalten, so daß die
Gedärrne hervorsahen. Schroback war tot.
Ganz unerwartet legte unsere Artillerie ein Sperr-
313
feuer zwischen die beiden Linien, so daf wir durch
die massenweisen Cranateinschläge, den Rauch und
umherfliegende Erdschollen wie durch eine Mauer
von den Engläridern getrennt waren. Nach und
nach flaute das Feuer wieder ab. Etwa um 4 Uhr
nachmittags schlug plotzlich eine zu kurz gehende
deutsche Granate kaum 3 m neben uns ein. Gleich
kam eine zweite, die direkt neben dem Loch der
anderen Besatzung einschlug und die Leute mit
Erde fast zudeckte. Wie uns das aufregte! Mehr, ais
werm 20 englische Geschosse eingeschlagen hatten.
Gleich kam noch eine und wieder eine. »Schnallt
euer Sturmgepäck auf den Rücken, nehmt Gasmaske
und Stahlhelm! Wir kriechen zurück! Denn
von den eigenen Granaten will ich nicht totgeschossen
werden!« sagte ich zu meinen Leuten. Dann
krochen wir auf dem Bauche rückwärts, Aber immer
mehr Granaten kamen, so daf wir gezwungen waren,
etwa 200 m weit zurückzukriechen. Nun hockten
wir in einem Granatloch, während unser Maschinengewehr
vorne stand. Inzwischen waren särntliche
vorne liegenden Soldaten zurückgekrochen,
ohne daf die Engländer etwas gemerkt hatten. Mir
war's doch nicht recht, daB wir ohne unserMaschinengewehr
zurückgekrochen waren. Ich sagte zu
meinem Gefreiten Fritz Keßler, der in der Nacht
zum Maschinengewehr gekommen war: »Kornmst
du mit, Fritz, das Maschinengewehr holen?« –
»Warurn nicht!– antwortete er. "Wir hingen uns einen
Traggurt um und wollten eben das Loch verlassen,
ais der Bataillonsadjutant Leutnant Knapp vorbeikroch
und fragte, wohin wir denn eigentlich wollten.
Ich sagte ihm, daf wir unser Maschinengewehr
holen wollten, das wir infolge der Beschießung
durch die eigene Artillerie vorne hatten stehen lassen.
Er ermahnte uns, vorsichtig zu sein. Dann
rutschten wir, alle auf dem Bauche, vorwärts. Es war
schwer, über den aufgewühlten Boden zu kriechen.
Auch mußte wir vielen Leichen gefallener Soldaten
ausweichen. Endlich erreichten wir unser Gerat. Zuerst
314
ruhten wir in dem Loche aus, dann stellten wir
das Maschinengewehr rückwärts auf die Erde. Ich
befestigte 2 Munitionskästen auf dem Schlitten,
dann hakten wir die Traggurte ein und schleiften
die Last, immer kriechend, hinter uns her. Müde
und schweißtriefend kamen wir endlich bei den zurückgebliebenen
Leuten an. Leutnant Knapp kroch
eben wieder zurück, an unserern Loch vorbei und
sah, daf wir unser Maschinengewehr wieder im Besitze
hatten. Er fragte nach meinem Namen und
machte dann an dessen Sei te [in seinem Dienstbuch]
ein Kreuzzeichen. Damit meinte er, ich bekäme das
Eiserne Kreuz 1. Klasse.
Langsam wurde es Abend, dann dunkle Nacht.
Ich hoffte, in diesel' Nacht von anderen Truppen
abgelost zu werden, Doch Stunde um Stunde verging,
wir warteten vergebens. Die Englander schossen
wieder ein gewaltiges Sperrfeuer hinter uns. Sie
schienen keinen Munitionsmangel zu haben. Nun
fing es langsam, dann irnmer starker zu regnen an.
Den Mantel anzuziehen hielt ich nicht für angebracht,
denn im Falle, daß wir fliehen müûten, wäre
der Mantel hinderlich gewesen. Nach und nach wurden
wir alle bis auf die Haut durchnäôt, und im
Loche bildete sich eine klebrige Brühe. Wir fingen
an zu zittern vor Nasse, aber herumzulaufen, um uns
zu erwärrnen, getrauten wir uns nicht, da immer
einzelne Granaten einschlugen und die EngIander
mit dem Maschinengewehr das Fe!d oft abstreuten.
Endlich schlief ich ein. Von der Besatzung mußte
immer ein Mann wach bleiben. Auf einmal weckte
mich der wachhabende Soldat und sagte: »Die Ablôsung
ist dal– Sofort stand ich auf und dachte: Gott sei
Dank! Aber noch graute mir vor dem Rückweg über
das offene Celande, da wir das weiter zurückliegende
englische Granatfeuer passieren mußten. Die
Ablosung trieb uns zur Eile an, denn sie wollten sich
in das schützende Loch begeben. Ich gab nun den
Befehl: »Munitionskasten, Gewehrschlitten bleiben
hier. Nur das Gewehr wird mitgenommen und ab-
315
wechselnd getragen!« Darüber waren meine Soldaten
sehr erfreu t, da sie die schweren Sachen nicht zu
schleppen brauchten. Da es ziemlich finster war und
immer noch regnete, stolperte man oft über Tote
oder stürzte in die Cranatlôcher. Durch Zurufe hielten
wir uns zusammen. Überall huschten Gestalten
zurück, denn die Trümmer der ganzen Division
wurden abgelôst. Da horte ich ziemlich weil von uns
eine jammernde Stimme: »Karneraden, um Gottes
willen, nehmt mich mit! lch habe eine Frau und drei
kleine Kinder zu Hause.« Der arme Verwundete,
der hilflos dalag, hatte wohl die zurücklaufenden
Soldaten bemerkt. Ich sagte zu meiner Besatzung:
»Diesen nehmen wir mitl– AIs ich nichts mehr horte,
riefich: >;Woliegt denn der Verwundete>– – »Hier lkam
die Antwort. Ich bückte mich mit einem Soldaten,
um den armen Verwundeten aufzuheben. lm
selben Moment schlugen 4 englische große Granaten
dire kt neben uns ein, so daf wir durch den Luftdruck
und den Schrecken fast zu Boden geflogen
wären, Wir liefen durch die herniederprasselnden
ErdschoIlen so schneIl wie moglich, um aus dem
Bereich der gefahrdeten SteIle zu kommen. Den
armen Verwundeten hatten wir liegenlassen. Wir
waren auseinandergesprengt, nur ein Mann war
noch bei mir. Durch Zurufe fanden wir uns wieder
vollzählig. Da hôrte ich seitwärts rufen: »2. MGKompanie,
lnfanterieregiment 332, hier sarnmelnl-
Es war die Stimme des Leutnants Strohmayer. Wir
gingen hin. Der Leutnant, der moralisch ganz kaputtgegangen
war, kommandierte nun, ais sich die
Reste der Kompanie gesammelt hatten: »In dieser
Richtung zurückgehen!«, und marschierte paraIlel
zur Front statt zurück. »Herr Leutnantl– sagte ich.
»Wir müssen nach dieser Richtung zurück. Der
Brand, den wir hier sehen, ist im Dorf Marcelcave,
und dahin müssen wir l– Der Leutnant, der sich fast
nicht mehr zu helfen wußte, sagte: »Ach, machen Sie
doch, was Sie wollen l- lm nächsten Augenblick lag
alles am Baden, 4 sehr schwere Granaten hatten in
316
nachster Nähe eingeschlagen. »Niernand verwundet?
« rief ich. »Nein «, kam es zurück. »Die Kompanie
hôrt auf das Kommando von Unteroffizier Richert!
« schrie ich nun. »Alles geht sa schnell wie
moglich in Richtung des Brandes zurückl Verbindung
wird durch Zurufen aufrechterhaltenl– [... ]
Leutnant Strohmayer tappte wie ein Betrunkener
hinter mir her. Obwohl noch oft Granaten in unserer
Nahe einschlugen, kamen wir aIle heil zurück.
Auf dem yom Regen aufgeweichten Felde war nur
ein langsames Fortkommen moglich, denn der klebrige
Dreck hing sich sehr an die Stiefel.
Endlich erreichten wir die Straße in Richtung
Marcelcave, der wir nun folgten. »Fritz, Fritzl– horte
ich im Straßengraben rufen, und noch einige Worter,
die ich nicht verstand. Sofort dachte ich, daß hier
ein verwundeter EngIander liegen müsse, sagte
»Tommy– und ging in den Graben. Richtig, da lag
ein Englander mit verbundenem Bein; er hatte sich
anscheinend bis hierher geschleppt und konnte nun,
infolge Ermüdung und Schwäche, nicht mehr weiter.
Ich gab einem meiner Soldaten mein Sturmgepack
zu tragen, deutete dann dem Engländer, auf
meinen Rücken zu kriechen, und kniete VOl'ihm
nieder. Der Tommy verstand mich sofort, krach auf
meinen Rücken, hielt sich mit den Armen um meinen
Hals, während ich mit meinen Armen seine
Knie seitwarts faûte. Der Engländer war nur ein
ganz schmachtiger Bursche, der meiner Ansicht
nach kaum 100 pfund wog. Trotzdem wurde mir
bald heiß untel' meiner Last. Da hôrte ich hinter uns
Wagengerassel. AIs der Wagen nahe bei uns war,
legte ich den Englander auf den Boden, falite das
Pferd am Zügel und hielt den Wagen an. »Was ist
denn los>. fragten die beiden auf dem Bock sitzenden
Sanitàter. »Ich habe hier einen Verwundeten,
den ihr mitnehmen kônnt.. Sie sagten, sie hatten
keinen Platz mehr, der Wagen sei bereits mit
Schwerverwundeten überfüllt. lch antwortete, daf
der Verwundete nul' einen Beinschuß habe und si-
317
cher noch vorne auf dem Bock Platz habe. Nun
nahm ich den Englander und hob ihn auf den Wagen,
wo er von den Sanitätern in Empfang genommen
wurde. Erst jetzt sahen sie, daf es sich um einen
Engländer hande!te. Ich lief nun der Kompanie
nach, die ich bald wieder eingeholt hatte. Ais wir uns
Marcelcave näherten, flogen vie!e englische Granaten
über uns, die teils im Dorf, teils am Dorfrand
platzten. »2. MG-Kompanie, halt!« schrie ich. »Wir
müssen das Dorf nach rechts umgehen, um dem
Granatfeuer auszuweichen! « Nun ging es wieder
über das dreckige, nasse Ackerfeld. Nun konnte
man doch wenigstens sehen, wo man hintrat, denn
langsam grau te der Morgen. Wir näherten uns einem
zerschossenen Wald. Plôtzlich horten wir vor
uns einen so starken Knall, daf sich fast alle unwillkürlich
zu Boden warfen. Eine schwere deutsche
Batterie, die gedeckt im Wald stand, hatte eben eine
Salve abgeschossen. [… JJenseits des Dorfes erreichten
wir die weiter zurückführende Stralie, die noch
immer im Feuerbereich der englischen Artillerie lag.
Wir schritten schneIl aus, um endlich in Sicherheit zu
kommen, und passierten noch ein Dorf, in dem die
meisten Hauser unversehrt waren. Dann kamen wir
durch ein Waldstück, darin kampierten derKompaniefeldwebel,
Fahrer und Pferde der Kompanie. Sofort
empfingen wir heißen Kaffee, Essen, Schnaps
und Rauchmaterial. Aber wie sahen wir aus! Drekkig,
naf von oben bis unten. Nun sagte der Feldwebel:
»Ihr scheint was durchgemacht zu haben! Wie
ich schon gehôrt habe, ist der Rittmeister an seinen
schweren Verwundungen gestorben.« ]eder Gewehrführer
mußte nun die Verluste in seiner Besatzung
angeben. Wir breiteten dann unsere Zelte an
einer von der Sonne beschienenen Stelle aus, zogen
die nassen Rôcke aus, schlüpften in die Mäntel, legten
uns hin und waren bald eingeschlafen. Denn die
letzten 48 Stunden hatten aIle nur wenig geschlafen
und waren infolge der Aufregung total erschopft.
Am Nachmittag schlugen plotzlich 2 sehr schwere
318
englische Granaten vor uns am Waldrand ein. Herrgott!
Waren wir denn hier noch nicht in Sicherheit?
Gleich daraufkam es wieder angeheult. Diesmal krepierten
die Granaten nur etwa 100m vor uns. »]ungens
«, sagte ich zu meiner Besatzung, »nehrnt Stahlhelm
und Gasmaske, wir sind hier genau in der
Schußrichtung. Wir wellen nach rechts rüberlaufen.
« Safort liefen wir weg. Eine der nächsten Granaten
schlug in die Fahrzeuge ein, ein MG-Wagen
wurde vollig zertrümmert. Die folgenden 2 Granaten
flogen über den Wald hinweg und tôteten
2 pferde und einen Artilleristen, der die Pferde auf
der Weide hütete. Lange kam kein Schuß mehr, und
wir gingen zur Kompanie zurück. Man hatte jedoch
standig ein unsicheres Gefühl, denn jeden Augenblick
konnten neue Granaten heranfliegen. Die beiden
getoteten pferde wurden von den Soldaten abgehautet,
das Fleisch abgeschnitten und Gehacktes
gemacht, das mit Salz vermengt vertilgt wurde.
Gegen Abend sah ich den Bataillonsme1der durch
den Wald nach der Kompanie kommen. Da er mich
gut kannte, winkte er mir und sagte: »Was meinst
du: Heute abend müßt ihr die ReservesteIlung vorne
beziehen.« – »Was?« sagte ich. »Wie kommen doch
erst heut' morgen zurück!« – »Sicher«, sagte der
Melder. »Ich habe hier den Befehl.. Wie mir davor
graute, wieder nach vorne zu gehen, kann ich keinem
Menschen beschreiben. Die Reservestellungen
waren am meisten dem Granatfeuer ausgesetzt. Und
vorne donnerten unaufhôrlich die Geschütze. Ich
ging zum Feldwebel Bar und zum Unteroffizier Peters
und erzählte ihnen, was uns bevorstand. Beide
waren starr vor Schrecken. Wir sannen auf ein Mitte!,
uns drücken zu kônnen. Davonlaufen konnte
man doch nicht, und mitgehen wollten wir nicht. Da
sah ich zufallig neben der Feldküche einen Eimer,
der halbvol! von miserablem Schnaps dastand. Sofort
sagte ich zu den beiden: »Ich weif einen Ausweg!
« holte mein Kochgeschirr und tauchte dasselbe
unauffallig in den Schnapseimer. Ich hatte fast
319
2 Liter im Kochgeschirr. Wir gingen nun ins Gebüsch,
wo wir uns mit Widerwillen derart betranken,
daf wir bald nicht mehr stehen und gehen konnten.
Wir torkelten wieder zur Kompanie, wo wir uns auf
den Boden legten. Nun mußte die Kompanie antreten.
Der Feldwebel verlas den Befehl. AIs wir drei
nicht aufstandcn, mcrkte der Feldwebel gleich, was
los war, sagte aber nicht viel. Der Leutnant Strohrnayer
jedoch, der nun die Führung der Kornpanie
übernommen hatte, wurde nicht fertig, unsauszuschimpfen.
Da erhob sich der Unteroffizier Peters,
ergriff einen Großen Spaten und taumelte gegen den
Leutnant. Den Spaten erhebend, schrie er: »Werm
der Herr Strohmayer noch so einen därnlichen Befehl
geben wie letzte Nacht, schlag ich Ihnen den
Schädel ein!« Der Leutnant griff nach der Pistole,
wich aber immer dem Peters aus, der dann stolperte,
hinfiel und liegenblieb. Während nun die Kompanie
wegrückte, lagen wir drei Helden schlafend im
Walde. Am anderen Morgen erhoben wir uns mit
schwerem Kopf. Der Kompaniefeldwebel meinte,
das sei doch nicht schon von uns gewesen. Worauf
ich antwortete: »Das war zuviel verlangt!« Und er
gab mir vollstandig recht. Nun rückte die Kom panie
von vorne an. Sie hatte Glück gehabt, es waren nur
ein Toter und 3 Verwundete zu beklagen.
Wir blieben nun den ganzen Tag bis in die Nacht
hinein im Wald. Da hief es, wir kärnen nach Harbonnières
ins Quartier. [... ] ln Harbonnières war alles
mit Soldaten überfüllt, denn die Trümmer unserer
Division lagen dort einquartiert, dazu noch eine Division,
die eben erst aus Ru/3land gekommen war.
Endlich fanden wir eine leere Küche. lm Zimmer
nebenan hôrte ich Stimmen. Ich ging hinein. Es waren
Chauffeure der Kraftwagenkolonne. Ich fragte,
ob sie nicht etwas zu essen für mich und meine beiden
Karneraden hatten. Sie gaben mir frech Antwort.
Ein Wort gab das andere, und ais ich sie »faule
Etappenschweine– nannte, wären sie balel handgreiflich
geworden. Doch meine Pistole und das
320
Hinzukommen der beiden anderen Unteroffiziere,
Peters und Schulz, hielt sie zurück. Wo nun schla-
Fen? Auf dem kalten Backsteinboden der Küche
paûte uns nicht. Da nahrnen wir den alten Küchenschrank,
legten ihn um, nahmen die Bretter heraus
und legten uns hinein. Wir mu13ten uns auf die Seite
legen, denn unser »Bett« war zu schmal. AIs wir cine
Weile geschlafen hatten, muûte ich schiffen gehen,
nahm meine Taschenlampe und ging zur Hintertür
hinaus. Da sah ich ein kleines Cebaude, ähnlich einer
Waschküche. Auch vermeinte ich, im Inneren desselben
ein laures Schnarchen zu hôren. Ich ging leise
zur Tür, die eine Glastür war, drückte auf die
Klinke. Die Tür war verschlossen. Da sah ich, daû
eine Ecke des Glases ausgebrochen war, und leuchtete
mit der Taschenlampe hinein. Vor Freude
prallte ich fast zurück. Auf dem Tisch, gerade der
Tür gegenüber, lag ein Sto13Brot aufgeschichtet,
daneben standen mehrere 3-pfund-Büchsen mit Leberwurst,
auch eine SchachteJ Zigarren und Zigaretten.
Das war sicher die Verpflegung der Kraftwagenkolonne.
Leise ging ich nun zu meinen beiden
Kameraden zurück und weckte sie. »Wir müssen
ausziehen«, sagte ich. »Bist wohl verrücktl- war die
Antwort. Da erzahlte ich ihnen meine Entdeckung.
Schon hatten sich beide erhoben. Leise machten wir
uns fertig und gingen auf den Fuûspitzen nach der
Tür. Ich langte durch das Loch im Glas und schob
den RiegeJ zurück. Langsam ôffnete ich die Tür,
ging auf den Fuûspitzen hinein und reichte den beiden
3 Brote, 2 Schachteln zuje 100 Zigaretten hinaus
und nahm dann 3 Büchsen Leberwurst. Nun verschwanden
wir, wie wir gekommen waren. Der
Schlàfer, der ruhig weiterschnarchte, wird auch
nicht wenig erstaunt gewesen sein, ais el' das Fehlen
der Sachen am nächsten Morgen entdeckte. Nach
längerern Suchen fanden wir endlich Unterkunft in
einer Spreukammer. Beim Schein der Kerze wurde
nun von unserer Beute gegessen.
Am nachsten Morgen gingen wir auf die Suche
321
nach unserer Kompanie. Endlich fanden wir sie in
einem Schuppen einquartiert. Meine Besatzung war
etwas verdrieJ3lich, weil ich sie im Stich gelassen
hatte. AIs ich aberdas Kommi13brot und eine Büchse
Leberwurst hervorlangte, waren aile zufrieden und
langten wacker zu, bis Brot und Leberwurstverschwunden
waren. Dann gab ichjedem noch 10 Zigaretten.
Untertags kam auch der Schütze Lang wieder zu
mir, der geholfen hatte, den Rittmeister zurückzutragen.
Er erzählte, daß der Rittmeister sie noch
erkannt hätte. Sie hatten ihn zuerst auf ein lelt ge–
Iegt und kriechend geschleift. Weiter zurück, in einer
Mulde, hatten sie dann eine Tragbahre gefunden,
auf der ein Toter lag. Diesen hatten sie auf den
Boden gelegt, den Rittmeister auf die Bahre gehoben
und ihn so zum Arzt nach Marcelcave getragen.
AIs der Arzt kam, hatte der Rittmeister den letzten
Atemzug getan. Lang hatte sich mit seinen drei Kameraden
nun hinten herumgedrückt, bis die Kornpanie
abgelôst wurde.
Am Nachmittag wurde die Kompanie zum Begrabnis
des Rittmeisters kommandiert, der auf dem
Soldatenfriedhof in Harbonnières, wo schon Tausende
der armen Opfer des europaischen Militarismus
begraben lagen, beerdigt. Natürlich wurde
eine Rede gehalten, worin hauptsachlich die Worte
figurierten: Vaterland, Heldentod, Ehre, der hei13e
Dank des Vaterlandes ist ihm gewi13,und 50 weiter.
ln Wirklichkeit ist das alles Lug und Trug, denn
meiner Ansicht nach fallen nur fürs Vaterland die
gemeinen Soldaten bis hinauf zum Feldwebel. Die
hôheren Grade sind doch bezahlt und sterben fürs
Geld.
Nach dem Begräbnis kam Joseph Hoffert mich
aufsuchen, da er nicht wu13te,wie es mir vorne ergangen
war. lch erzählte ihm nun, daßder Feldwebelleutnant
Orschel, der vor dem Kriege in unserem
HeimatdorfGrenzaufseher gewesen war, sich in der
1.MG-Kompanie meines Regiments befinde und
322
daß ich ihn schon oft gesprochen hätte. Sofort gingen
wir nun beide hin, um ihn aufzusuchen. Bald
fanden wir die 1.MG-Kompanie. Dort erhielten wir
den Bescheid, daß Orschel durch eine Granate
schwer verwundet worden sei, noch einen Tag gelebt
habe und dann gestorben sei. Er werde eben auf
dem Soldatenfriedhofbeerdigt. Das war für uns eine
traurige Nachricht. Wir gingen zum Friedhof, aber
Orschel war bereits beerdigt. Sein Grab befindet sich
an der Seite des Grabes von meinem Rittmeister,
dem Freiherrn Gôtz von Rei13witz.lmmer neue Opfer
wurden auf den Friedhof gebracht, die zum Teil
entsetzlich aussahen.
Nun wurden die Verluste der Division beim Angriff
bekannt; sie hatte 65 Prozent ihres Bestandes
verloren. Von 32 Offizieren meines Regiments, die
den Angriff mitgemacht hatten, waren 22 gefallen.
Von der 44 Mann starken Minenwerferkompanie
meines Bataillons waren nur 4 Mann übriggeblieben,
die anderen 40 tot oder verwundet. Meine
Kompanie hatte noch ziemlich Glück gehabt, denn
mehr aIs die Hälfte der Mannschaften kam wieder
heil zurück.
Am folgenden Tage war Regimentsappell. Die
Trümmer des Regiments 332 muliten auf einer
Wiese neben dem Stadtchen antreten. Dann kam der
Divisionskommandeur, General von Adams, geritten,
ein Mann, der ein sehr unangenehmes Gesicht
hatte und von allen wegen seiner brutalen Rücksichtslosigkeit
gehaßt wurde. »Stillgestanden, Augen
rechts!« Alles mußte nun diesen Menschen ansehen.
»'n Mojen, Kinder!« begrüßte er uns. Ich dachte: Du
verfluchter Iassenmôrder brauchst uns »Kinder«
zu nennen! Viele mußten nach dem beim Angriff
gegebenen Befehl (sDer Angriff muß weiter vorgetragen
werden! «) durch die Rücksichtslosigkeit dieses
bezahlten Halunken sterben, oh ne lie! und
Zweck. Nun folgte eine Ansprache, die ganz von
Nationalismus, Militarismus, Heldentod und 50 weiter
triefte. Wenn wir auch das gesteckte Zeil des
323
Angriffs nicht erreicht hatten, hatten wir doch den
Briten gezeigt, was deutscher Mut und Draufzan- L l b
gertum zu leisten vermôgen. ln Wirklichkeit ist von
Mut überhaupt nichts zu finden. Die Todesangst
übersteigt aile anderen Gefühle, und nur der furchtbare
Zwang treibt die Soldaten vorwarts. Ich hatte
mal sehen wollen, wenn zum Beispiel die Erlaubnis
gegeben worden wäre, diejenigen, die nach Hause
gehen wollten, dürften gehen und diejenigen, die an
der Front bleiben wollten, konnten dableiben. Ich
glaube, nicht ein Mann wäre freiwillig an der Front
geblieben. Alle hatten auf das Vaterland gepfiffen
und nur danach getrachtet, ihr Leben in Sicherheit
zu bringen und wieder zu leben, wie es eben einem
Menschen zusteht.
AnschlieBend an den Appel! war Ordensverleihung.
Etwa 60 Mann des Regiments wurden mit
dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet. Auch
zwei Eiserne Kreuze 1. Klasse wurden verliehen, natürlich
an zwei Offiziere, denn zu deren ho hem Gehalt
geharen natürlich auch hohe Auszeichnungen.
Nachher konnten wir wieder in unser Schuppenquartier
gehen. ln der Nacht hôrte ich das Surren
mehrerer englischer Flieger über dem Städtchen.
Ich kannte sie sofort an dem hohen, singenden Ton
der Motoren. Jeden Augenblick erwartete man das
Sausen und Platzen der Bomben. Weglaufen hatte
keinen Zweck; am besten war es, man blieb liegen,
wo man war. Bekam man einen Volltreffer, war's
vorbei. Schlug die Bombe nicht in nächster Nähe ein,
konnte sie nichts schaden. Plotzlich das bekannte
Sausen und Pfeifen der Bomben. Alles zog den Kopf
in die Schultern, dann mach te es krack-krack-krack.
Zum Glück fielen die Bomben nicht in unsere ahe.
Am folgenden Morgen hôrten wir, daß mehrere
Mann und pferde getôtet worden seien. Bisjetzt war
Harbonnières, das etwa 15 km hinter der Front lag,
von ArtilleriebeschieBung verschont geblieben. Da,
am Nachmittag des 30. April, saustcn plotzlich
2 schwerste Granaten heran, die mitten in dem
324
Städtchen mit furchtbarem Krachen explodierten.
Alles befand sich sofort in einer un beschreiblichen
Aufregung. Gleich kamen wieder zwei der Ungeheuer
angesaust, die Verwirrung noch vergrôliernd.
»Sofort alles fertigmachen!« kam nun der Befehl.
Schnell wurden die Sachen gepackt, die Pferde var
die Wagen gcspannt, und los ging es weiter zurück.
ln den Straßen wimmelte es von Soldaten, Offizieren,
pferden und Wagen, alles wollte sich so schnell
wie môglich in Sicherheit bringen. Immer wieder
kamen die Dinger angeflogen, hier ein Haus auseinanderwerfend,
dort ein gewaltiges Loch in die Graben
reißend. Endlich hatten wir das Stadtchen und
die Gefahr hinter uns. Es war eine reine Vôlkerwanderung
auf der rückwärts führenden Straße.
,,2. MG-Kompanie begibt sich nach Framerville!"
kam der Befehl. Das Dorf Framerville liegt etwa
5 km rückwarts von Harbonnières und ist seit der
Sommeschlacht 1916 halb zerstôrt. Es liegt am
Rande der Gegend, in der die Sommeschlacht gewütet
hatte. Von Framerville bis Le Fère – 70 km – ist
kein bewohntes Haus mehr stehengeblieben. Alles
zerschossen und von den Deutschen im Rückzug
1917 gesprengt worden. Unsere Kompanie wurde
im Schloß von Framerville einquartiert. Das Schloß
war jedoch halb zerstôrt, nirgends mehr Türen und
Fenster, .und bei Regenwetter war man gezwungen,
in den Zimrnern die Zelte aufzuschlagen. Das Dorf
wurde nun mit Militär überfüllt. Die Engländer, die
dies zu wissen schienen, sandten fastjede Nacht ihr
Fliegergeschwader, das uns mit Bomben belegte.
Man konnte fast nicht ruhig schlafen
325
DAS DIVISIONSSPORTFEST – 8. MAI l 918
Unsere Division veranstaltete nun ein Turnfest, um
die Soldaten wieder aufzumuntern und ihre Moral
zu heben. Jeder, der glaubte, etwas leisten zu kënnen,
konnte sich melden. Ich meldete mich zum
Handgranatenwerfen, Weitsprung mit Sprungbrett
und Hindernisrennen. Am Abend vorher ging ich
mit mehreren Kameraden nach dem Festplatz, um
die Hindernisbahn kennenzulernen und Versuche
machen zu kônnen. [… ] Das Ganze war doch ziernlich
anstrengend, da man infolge der Unterernahrung
und des unregelma13igen Lebens nicht bei voller
Kraft war.
Um 9 Uhr morgens sollten die sportlichen Vorführungen
ihren Anfang nehmen. [... ] Der Sportplatz
war so angelegt, daf er durch ein Waldchen
gedeckt war, und so konnten die englischen Fesselballons
diese Massenansammlung nicht sehen. Standig
kreiste ein deutsches Flugzeuggeschwader um
den Platz herum, um etwaige Angriffe englischer
Flieger abzuwehren. [... ]
Zum Hindernisrennen hatten sich viele gemeldet.
Immer zu vieren ging es los, und die Sekunden wurden
festgestellt, die jeder brauchte. Ich lief mit der
4. Gruppe. [... ] Da ich schon am vorhergehenden
Abend die vorteilhafteste Übergangsmethode für
die Bretterwand ausprobiert hatte, war ich in wenigen
Sekunden drüben, wahrend die anderen viel
langer brauchten, um rüberzukommen. Wie der
Wind lief ich mm dem Ziel zu und hatte bei der
Ankunft nur 2 Schrittlängen voraus. Ich war ganz
erschëpft und legte mich hin, um auszuruhen. [... ]
Nun kam der Weitsprung, dann kam der Hochsprung.
Nachher das Handgranatenwerfen. Das Ziel
war 45 m entfernt und bestand aus einem mit alten
Soldatenkleidern behängten Strohmann. Natürlich
wurde nicht mit scharfen Handgranaten geworfen,
sondern mit Übungshandgranaten. lch brachte
meine Handgranate dicht zum Ziel und hatte Hoff-
326
nung auf einen der ausgesetzten Preise. Nachher
kam Sack1aufen, bei dem man sich fast zu Tode
lachen mulite. Ferner waren 2 glatte Stangen eingegraben,
an denen man versuchte hochzuklettern.
Der am hôchsten kam, erhielt den ersten Preis.
Nachher wurden zuerst 2, dann 3 und 4 Pferde
nebeneinander gestellt und im Hechtsprungdarübergesprungen.
Daran konnten sich natürlich nur
die besten Turner beteiligen. Die Übungen waren
aile sehr interessant, und fast vergaß man, daß man
sich mitten im Kriege befand. Nachher wurden die
Preise verteilt. lch bekarn yom Hindernisrennen den
6. Preis, eine Flasche – etwa % Liter – Cognac. Yom
Handgranatenwerfen bekam ich den 8. Preis, ein
schones Zigarrenetui mit guten Zigarren. Nach und
nach leerte sich der P1atz, und alles ging wieder in die
Quartiere. Unterwegs wurde man durch den rollenden
Kanonendonner daran erinnert, daß noch immer
Krieg war. [... ] ln Framerville befanden sich
etwa 100 gefangene Franzosen und Englander, die
allerlei arbeiten mußten. Die Franzosen konnten die
Engländer nicht leiden und beschu1digten sie, durch
ihre Schuld sei der Krieg noch nicht zu Ende. leh gab
den Franzosen oft Zigaretten, wofür sie sich sehr
bedankten.
Nun wurde bekanntgegeben, daßjeder, der Blei,
Kupfer, Messing, Zinkb1ech und so weiter nach einer
bestimmten Sammelstelle im Dorfe bringe, pro Ki10–
gramm soundso viel erhalte. Was nun für eine Zerstorung
losging, làlit sich nicht beschreiben! Alle
Türklinken und Fensterriegel aus Messing wurden
losgeschraubt oder abgeschlagen. Alle kupfernen
Kochgeräte und alles, was aus Kupfer bestand,
wurde ebenfalls weggenommen. Ganze Zinkblechdächer
wurden abgedeckt und nach der Sarnmelstelle
geschleppt. Manche Soldaten erhielten für ihren
Raub mehrere 100 Mark. Nun ging es an die
Glocken im Kirchturm. Da waren einige Spezialisten,
die nichts taten, aIs in den von den Deutschen
besetzten Gebieten herumzustreifen und die Kir-
327
chenglocken hinunterzuwerfen. Ich sagte zum Leutnant
Strohmayer, der neben mir stand und ebenfalls
zuschaute: »Ich finde das doch gemein, sich am Kirchengut
zu vergreifen!« – »Was wellen Sie?« sagte
nun Strohmayer. »Not kennt kein Cebot.. Ja, »Not
kermt kein Cebot«, damit entschuldigten sich die
Deutschen.
Eines Tages mubten wir uns, jede Besatzung für
sich, eingraben, jedoch so, daf wir von verne nicht
gut gesehen werden konnten. J ede Besatzung sollte
schufifertig sein. Ais wir fertig waren, ging der neue
Kompanieführer, den ich noch nicht kannte, vorn
an den Gewehren durch und fand, daf meine Besatzung
am unsichtbarsten war. Die ganze Kornpanie
mulite nun herkomrnen und ein Beispiel nehmen,
wie man sich eingraben soIlte. Ich bekam yom
Kompanieführer zwei gute Zigarren und hatte nun
eine sogenannte gute Nummer bei ihm.
Nachdem wir etwa 12 Tage in Framerville zugebracht
hatten, karn neuer Ersatz aus Deutschland,
und es hieû: »Morgen abend geht es wieder in Stellungl–
Uns war allen bange davor. Direkt neben dem
Dorfe befand sich ein Flugplatz, auf dem etwa
14 Flugzeuge stationiert waren. Diese lieferten zum
Teil den Engländern Luftkämpfe, zum Teil wurden
sie nachts ais Bombardierungsflieger verwendet.
Am Nachmittag des Tages, an dem wir abends in
Stellung sollten, ging ich mit dem Gefreiten Fritz
Keûler nach der Fliegerkantine, um einen Verrat
Zigaretten zu kaufen und mit nach vorne zu nehmen.
lm Dahingehen sahen und horten wir, daf
2 grofie Schrapnells in grofier Hôhe über uns platzten.
So weit nach hinten hatte noch nie ein Artilleriegeschofi
gereicht. »Fritz«, sagte ich, »paf auf, hier
gibt's Senge!« (Senge ist ein Soldatenausdruck, gilt
sovi.el wie Hiebe.) »Wohl moglich«, meinte Fritz,
»aber wir verschwinden ja hier heute abend, und
vorne müssen wir uns jedenfalls an ganz was anderes
gewohnen.« Wir kauften unsere Zigaretten und gingen
gemütlich in Richtung der Kompanie. Es war ein
328
herrlicher Maientag, die Luft so klar, warrn und
würzig, daf es eine Freude war zu leben. »Wie schôn
es jetzt wäre auf der Welt«, meinte Fritz, »und wir
blodsinnigen Menschen bringen uns gegenseitig
ums Leben.« lm selben Moment warfen wir uns
beide zu Boden. Wir hôrten einen Moment das gurgelnde
Sausen zweier grofier Granaten, im selben
Moment die furchtbaren Explosionen. Eine der Granaten
hatte mitten in den Flugzeugen eingeschlagen,
so daf die Trürnmer derselben nach allen Seiten
flogen. Die andere hatte im Hof eines Hauses
eingeschlagen, in dem die Regimentsmusik eines Artillerieregiments
einquartiert lag. Wie wir nachher
horten, wu l'den mehrere Mann getotet und verwundet.
Hals über Kopf verlief alles das Dorf. lm Laufschritt
liefen wir beide zu unserer Kompanie. Die
Pferde waren schon angespannt. Meine Schützeri
hatten meine und Kefilers Sachen zusammengepackt
und auf das Flugzeug geladen. Nun ging es irn
Laufschritt zum Dorf hinaus. Hinter uns hôrten wir
die drohnenden Einschläge der schweren Cranaten.
ln einem Hohlwege warteten wir den Abend ab.
WIEDER AN DIE FRONT
Dann ging's los, der Front zu. Wir fuhren auf eine"!"
sehr guten, breiten Straûe, die nach Amiens führte
und RôrnerStraße genannt wurde. Ais es etwas zu
dunkeln anfing, sah ich in der Ferne vor uns viele
Schrapnells blitzen. Also war hier auch was los.Unbehelligt
kamen wir bis an das Dorf Warfusée-Abancourt.
Dort muliten wir die Maschinengewehre und
Cerate von den Wagen herunternehmen und
schleppen. Zwei Führer von der Front erwarteten
uns. Wir gingen nicht durch das Dorf, da es oft im
Feuer der englischen Artillerie lag. Wir wurden von
den Führern zu einer Mulde entlang um das Dorf
geleitet. ln der Mulde standen mehrere deutsche
329
Batterien eingebaut. Da es noeh nicht dunkel war,
standen noch einige englische Fesselballons hoch,
die bis in die Naeht hinein beobachteten. DieBatteriefûhrer
schimpften und fluchten mit uns, wir seien
schuld, wenn die Engländer den Stand ihrer Balterien
entdeckten.
Nun wurde es dunkle Nacht, und wir hatten
Mühe, uns zusammenzuhalten. ln die sem fremden
Gelände war man grad so dumm wie ein Kalb, das
zurn erstenmal den Stall verläfit. Alle paar Sehritte
stürzte man in eines der vielen Cranatlocher. Die
Soldaten, die untel' der Last sehr schwitzten, fingen
an, mißmutig zu werden und zu mun–en. Von den
vorne hochgehenden Leuchtkugeln wurde man oft
geblendet. lm Hintergrunde der englisehen Front
sah man oft eine Unmenge zuckender Blitze, dann
hôrte man sekundenlanges Sausen und das Explodieren
der Schrapnells und Granaten. Es waren die
von uns so sehr gefürchteten englischen Feuerüberfalle,
die nie langer als 2-3 Minuten anhielten, um
dann nach wenigen Minuten an einer anderen Stelle
des Feldes niederzuprasseln. Nun waren wir um das
Dorf herum und erreichten wieder die Straûe. AIs
wir dieselbe eben überqueren wollten, befanden wir
uns plôtzlich mitten in einem englischen Feuerüberfall.
Blitzschnell lag alles im Straûengraben. Ich
drückte mich an die Bëschung und hielt die beiden
Wasserkästen sowie den gronen Spaten über den
Kopf, um mich so gut wie môglich gegen die Splitter
zu schützen. Wie das sauste und krach te um uns
herum! jeden Augenblick glaubte man getroffen zu
werden. Das ist ein Gefühl in solchen Momenten, das
sich nur der vorstellen kann, der schon in derselben
Lage war. Mehrere Granaten schlugen auf der
Straße ein, welche eine Menge Steine losrissen, die
auch in der Luft umherschwirrten und niederprasselten.
Plôtzlich, so schnell, wie es gekommen war,
hôrte das Schieûen auf. Erleichtert atmeten wir auf,
und alles fragte, ob jemand getroffen worden sei.
Wie durch ein Wunder blieben aile unverletzt.
330
Nun ging es wieder weiter, und wir erreichten die
in Tiefengliederung besetzte Front. Tiefengliederung
heiht: in 600-800 m Tiefe der Front entlang
überall zerstreute Soldaten, Infanteristen, leichte
und schwere Maschinengewehre, die die MG-Nester
besetzt halten, Minenwerfer, Granatwerfer und 50
weiter. Die Soldaten liegen in Cranatlochern oder
selbstgegrabenen Lochern. Einen durchgehenden
Schützengraben hier zu halten wäre fast unmoglich
gewesen, denn derselbe würde bald entdeckt und
von der feindlichen Artillerie derart beschossen werden,
daß kaum ein Mann am Leben bliebe. Dureh die
Tiefengliederung ist die feindliche Artillerie gezwungen,
ziel- und planlos das ganze Feld abzustreuen,
wobei es natürlieh auch Verluste gibt, da
hier weder Unterstand, Drahtverhau noch sonst
eine gute Deckung vorhanden ist. Überall fragten
die in den Lochern kauernden Soldaten, was für ein
Regiment wir seien, oder ob sie denn nicht bald los
und zurück kônnten. Alle hatten sehon die Tornister
aufgeschnallt, um sofort, wenn der Befehl kärne,
zurücklaufen zu kônnen. Wir mußten uns oft zu
Boden legen, da die Englander das Feld mit Maschinengewehren
abstreuten. jedoch ohne Verlus te erreichten
wir das MG-Nest Eule. Kaum dan wir eingetroffen
waren, krochen die Soldaten, die das Nest
besetzt hatten, aus dem Loche und verschwanden
rückwärts in der Dunkelheit. Wir waren froh, nun
im Loch doch etwas gedeckt zu sein.
lM MG–NEST EULE
Das MG–Nest Eule war einfach ein Granatloch, das
viereckig ausgehoben und an dem vorne der Stand
für das MG eingegraben war. ln der Dunkelheit
konnte man sich unmoglich orientieren. Auch
wurde uns nicht gesagt, ob wir zuvorderst an der
Front lagen, wie weit die Englander entfernt waren,
331
Ich schof eine Leuchtkugel in die Hôhe.
Aber was sah ich? Rundum von Granatlochern übersätes
Ackerfeld, sonst gar nichts. Gerade ais ob wir
alleine hier seien. Und doch lagen rund um uns
Tausende Soldaten in den Lochern. Wir hatten noch
das Pech, den neuen Kompanieführer in unser Loch
zu bekommen. Nun war es natürlich mit der Gemütlichkeit
zu Ende, denn diese Brüder wissen immer
etwas zu kommandieren oder zu schikanieren. Das
andere MG des Zuges unter Führung des Unteroffiziers
Krärner lag nur etwa 4m neben uns und zahlte
auch zum MG-Nest Eule. Gegen Morgen schlugen
mehrere Granaten in nächster Nahe ein, die uns
nicht wenig in Aufregung brachten, denn ein Volltreffer
kennt nichts ais Fetzen. Und die Aussicht, in
Fetzen gerissen zu werden, ist natürlich hôchst unangenehm
und regt auf.
Als es hell war, hob ich einen Moment den Kopf,
um mich zu orientieren. Ich sah nichts ais daszerschossene
Feld und konnte nicht feststellen, wo die
vordere deutsche Front war, ebensowenig, wo die
Engländer salien. Etwa 100 m links von uns lief die
Straûe, etwa 800 m var uns lag das Stadtchen Villers-
Bretonneux, das nur noch einen Ruinenhaufen bildete.
Weiter links lag das zerschossene Dorf Cachy,
das wir beim Angriff am 24. April hatten erobern
sollen. Auch sah ich mehrere zerschossene Tanks
auf den Feldern liegen. Hinter uns sah ich das zerschossene
Dorf Warfusée-Abancourt. Das war alles.
Eine Menge englischer Fesselballons stieg in die
Hôhe; wir zählten 28 Stück.
Unser Kompanieführer meinte nun, wir sollten
für ihn eine bessere Deckung graben. Wir soUten
etwa vom Loch 4 bis 5 Staffeln [Stufen] tiefer graben
und dann eine Art Backofen ausheben, worin er
wohnen wolle. Am liebsten hätte ich diesem Halunken
den groûen Spaten über den Kopf gehauen. Ob
wir Deckung hatten, kümmerte ihn nicht. Wenn nur
sein kostbares Leben gesichert war. lch sagte: » Herr
332
Leutnant, meiner Ansicht nach ist es unmoglich, bei
Tage zu graben, denn wenn wir E~de .aufwerfen,
lenken wir sofort das englische Artilleriefeuer auf
uns.. Das schien ihm doch einzuleuchten. lm Loche
lagen viele neue Sandsäcke, die wahrscheinlich von
der vorhergehenden Besatzung herrührten. Nu~
verlangte der Leutnant, wir sollten die Säcke bel
Tage füllen und nachts in die G~anatlacher ~usleeren.
Was sollten wir machen? Wir mußten emfach.
Aiso füllten wir die Säcke.
Am Tage spielten sich oft schreckliche Luftkärnpfe
ab; es war schauerlich-schôn zuzusehen. Auf
dem Felde standen viele rohe Holzkreuze, die von
den Kameraden der Gefallenen auf deren Cräber
gestellt worden waren. Gleich hinter unserem Loche
befanden sich auf einem angefüllten Granatloch
drei solcher Kreuze. Wenn man nicht so abgehärtet
gewesen ware, hätte man es wohl als unangenehm
empfunden, so nahe an Toten zu kampieren. ln der
folgenden Nacht wieder dieselben Feuerüberfälle
und MG-Feuer. Von jedem MG muûte ein Mann
zum Essenholen gehen. Diesen Leuten grau te auch
davor, ihr Leben wegen dem bi.ßchen Hundefr~ß
aufs Spiel setzen zu müssen. Wir leerten nun die
Sandsäcke in die Cranatlocher, zum Tiefergraben
war's zu dunkel. Ich hatte am Tage uns gegenüber
noch eine Telephonstange an der Straûe stehen sehen.
lch lieh mir nun die Sage beim Nachbargewehr,
ging mit zwei anderen hin, sägte die Stange um und
zersägte sie in Stücke von ungefahr 1'12 m Lange.
Dann trugen wir das Holz nach dem MG-Nest. D~rt
gruben wir die Hôlzer etwa einen halben Meter tief
in einem Viereck in den Boden des Loches. Ich holte
mehrere dünne WeUbleche, die von den Englandern
herrührten und auf dem Felde herumlagen, legte sie
über die Holzer, dann schaufelten wir etwas Erde
obendrauf und hatten so Deckung gegen Splitter
und Regen. Auch über dem Loche des Leutnants
befestigten wir eines der Bleche. Am folgenden
Tage machten wir den Backofen des Leutnants fer-
333
tig. Nun lag dieser Mensch ständig in seinem Loch.
Er sprach nicht viel, dazu war er zu stolz. DieBataillonsmelder
brachten ihm die Bataillons–, Regimentsund
Divisionsbefehle. Wenn wir nur dies en Menschen
los waren l dachte ich.
Abends, mit dem Dunkelwerden, mußten wir
seine Befehle den anderen Maschinengewehren
überbringen, was immer mit Lebensgefahr verbunden
war. Am vierten Abend unseres Hierseins rief er
mich in sein Loch hinunter. »Richert«, sagte er, »es
ist ein Regimentsbefehl gekommen, wonach jede
Nacht ein Maschinengewehr nach vorne, sich beim
Infanteriekompanieführer dort melden und zwischen
12 und 2 Uhr 1500 Schuf Storungsfeuer auf
die Stra13enkreuzung hinter der englischen Front
abgeben soll, denn man vermutet, daß dort ein reger
englischer Verkehr herrscht des Nachts. Es ist am
besten, Richert, Sie machen diese Nacht den Anfang.
« – »Das fehlt noch«, sagte ich, »es sind über
400 rn zurückzulegen bis zur vordersten deutschen
Infanterie; daß man unterwegs standig in hochster
Lebensgefahr schwebt, wissen der Herr Leutnant so
gut wie ich. Außerdem kann man im Dunkel Hals
und Bein brechen in diesen Cranatlochern, Ich
woIlte nur, daß der, der den Befehl gegeben hat, ihn
selbst ausführen rnüûtel- – »Richert, werden Sie
nicht ausfallend. Befehl ist Befehl. Mir wär's auch
lieber, Sie kônnten hierbleiben. Aber da ist nichts
anderes zu machen. Gehen Sie in Gottes Namen,
und kehren Sie heil wieder zurück.. Meinen Schützen,
die das Cespräch gehôrt hatten, standen die
Haare zu Berge. Jeder hatte Angst, von mir den
Befehl zu erhalten mitzugehen. Da sagte ich ihnen
leise etwas. Sofort waren aIle getr6stet. »Alsofertigmachenl–
sagte ich laut, so daf es der Leutnant in
seinem Loche hôren konnte. »Den Schlitten lassen
wir hier, ich trage das Maschinengewehr, Keßler die
Hilfslafette [provisorisches Untergestell für das MG]
und einen Kasten Munition, Thomas die beiden anderen
Munitionskästen, macht zusammen 1500
334
Schuß, die verlangte Zahl, Fertig! Also in Gottes
Namen Iosl– Wir kletterten zum Loch hinaus und
gingen einfach in das nur 4 m entfernte Loch zu der
Besatzung des faschinengewehrs Krärner. Sofort
erzahlte ich ihm die Sache. »Du wärst ja jeck, wenn
du gingst! Diese Saukôpfe kônnen uns am A—–– —–—!
Die solin selber hinjohn«, sagte Kramer. Wir zogen
die 1500 Schuf aus den Gurten, und ich warf sie in
ein Granatloch und scharrte sie zu. Dann schwärzte
ich mit einer Kerze den Rückstoûverstarker vorne
am Lauf des Gewehrs, so daf er aussah, als obgeschossen
worden wäre. N un blieben wir fast 3 Stunden
im Loch bei Dnteroffizier Krämer. »Morgen
nacht kornrn' ich dran«, sagte Krarner. »Wir setzen
uns einfach ins erste beste Granatloch.« – »Oh«,
sagte ich, »du kannst ruhig in deinem Loch bleiben,
denn dieser Feigling von Leutnant hat doch nicht
den Mut, von seinem Loch die 5 Schritte über die
Deckung zu machen, um nachzusehen, ob ihr wirklich
gegangen seid.« Alle paar Minuten wurde das
Feld von englischen Maschinengewehren abgestreut,
und zing-zing-zing zischten die Kugeln über
die Locher. Ais einen Moment Ruhe eintrat, sagte
ich: »So, jetzt springen wir in das Loch zurück, für
das Weitere laût mich sorgen. Mit dem Leutnant
werde ich schon fertigwerden.« Also na hm ich das
MG, Keßler und Thomas die leeren Munitionskàsten,
und dann sprangen wir in unser Loch; dabei
keuchten wir, als ob wir uns halbtot gelaufen hatten.
Wir warfen das Gerät hin. Da erhob sich der
Leutnant. »Seid ihr alle zurück?« – »[a«, sagte ich.
»Aber ich sage dem Leutnant freiheraus, daß ich
dies nicht mehr machen werde. Ein Wunder ist es
zu nennen, daß wir alle drei wieder heil zurückgekommen
sind, denn mehrmals zischten uns die Maschinengewehrkugeln
haarscharf um die Ohren,
und im Dunkel hätte man sich gut verlaufen kônnen,
um bei den Englandern zu landen«, log ich.
»Na, die Hauptsache ist, daf ihr wieder zurück seid.
Ich fürchtete schon, es sei Ihnen was passiert.. Ich
335
dachte: Wenn der wüûte] Meine Besatzung, die mir
immer treu ergeben war, hielt mm noch grbHere
Stücke auf mich, da ich ihr Lcben – und natürlich
auch mcins – soviel wie irgend môglich nicht der
Gefahr aussetzte.
Es war sehr langweilig, dauernd irn Loche zu hokken,
und sprechen konnten wir au ch nicht, was wir
wollten, wegen des Leutnants. AIs ich eines Tages
bemerkte, daf ich überzeugt sei, der Krieg für
Deutschland sei verloren, rief mich der Leutnant zu
sich ins Loch. »Richert«, sagte er eindringlich, »was
führen Sie da für cine Sprache! Sie sind überhaupt
mit den Mannschaften viel zu kameradschaftIich. Sie
sollten ihnen gegenüber besser Ihre Autorität aIs
Vorgesetzter zeigen und überhaupt nichts sagen,
was die Siegeszuversicht der Soldaten storen
~annte.« – »Ich kann doch auch nicht gegen meine
Uberzeugungen sprechen, Herr Leutnant«, antwortete
ich. »Herr Leutnant sehen doch so gut wie ich
und jeder andere, dali, wenn 50 deutsche Granaten
hinüberfliegen, 300 englische aIs Antwort zurückkommen.
Unsere Flieger wagen sich selten über unsere
Front hinaus, während die englischen Flieger
massenweise über uns herumschwirren. DaH die
englisch-franzôsische Front Fest ist, hat doch unser
Angriff yom 24. April zur Genüge gezeigt. Und,
Herr Leutnant«, fuhr ich fort, » ich bin jetzt fast
5 Jahre Soldat und weiß, was ich von einem strengen,
unvernünftigen Vorgesetzten halte; ich bin überzeugt,
daf man mit Gerechtigkeit und Karneradschaft
mit den Mannschaften weiterkommt und im
Ernstfall mehr zu leisten vermag. Und werm ich zum
Beispiel mal verwundet würde, wäre ich sicher, daf
mich meine Leute nicht im Stich lassen würden. Was
sicher eher eintreffen würde, wenn ich ihnen gegenüber
roh sein und sie meine Macht zu sehr und
rücksichtslos fühlen lassen würde.« – »Sie mbgen in
dieser Hinsicht recht haben«, meinte nun der Leutnant,
»aber Sie dürfen die Siegeszuversicht der
Mannschaften nicht beeinträchtigen.« Worauf ich
336
antwortete: »Das ware uns bald allen gleich, wie der
Krieg endet, werm wir nur unser Leben behalten
und so bald wie moglich in unsere Heimat zurückkehren
konnten.. Nun wurde der Leutnant doch
halb wütend. »Was sagen Sie hier? Ihnen ist gleich,
wie der Krieg end et? Bedenken Sie doch die Folgen,
die eine Niederlage unsererscits für uns nach sich
ziehen würde!« – »Herr Leutnant«, antwortete ich,
»der Krieg kann enden, wie er will: Wenn ich das
Kriegsende erlebe, bin ich immer bei den Siegern.«-
»Wieso denn?« fragte nun erstaunt der Leutnant.
»Canz einfach«, gab ich zur Antwort. »Ich bin Elsässel'.
Gewinnt Deutschland, bleibt das Elsaf deutsch,
und wir befinden uns bei den Siegern. Gewinnen die
anderen, dann wird das Elsaf franzôsisch, und wir
befinden uns wieder bei den Siegern!« – »Wirklich«,
sagte nun der Leutnant, »daran hätte ich jetzt nicht
gedacht. Aber selbstverständlich wäre Ihnen ein
deutscher Sieg doch lieber als ein Sieg der Gegner!«
Worauf ich zur Antwort gab: »Herr Leutnant, ich
bin Landwirt und muß meine Scholle sowieso bebauen.
Ob ich nun meine Steuern hier oder dort
bezahle, ist mir so ziemlich einerlei.. – »Hôren Sie,
Richert, Sie führen hier eine Sprache, die sich nicht
für Sie schickt. Sie sind gegenwartig deutscher Unteroffizier,
und ihre Gesinnung soll deutsch sein. Sie
konnen gehen!« Ich stieg die 4 Stufen hinauf und
legte mich zu meiner Besatzung ins Loch. Leise fragten
mich meine Soldaten, was es eigentlich gegeben
habe. Woraufich ihnen das Gespräch mit dem Leutnant
leise erzählte, Sie mußten alle lachen.
Da es unmoglich war, am Tage außerhalb des Loches
auszutreten, war man gezwungen, seine Notdurft
im Loche zu verrichten. Zu diesem Zwecke
hatten wir eine leere Konservenbüchse, die zum
Hineinschiffen diente. Der Urin wurde dann einfach
hinausgeschüttet. Sonst beim Austreten wurde
etwas Erde auf den Spaten gemacht und der Stuhl
ebenfalls rausgeschmissen. Das war im groGen und
ganzen kein menschenwürdiges Leben mehr. Aber
337
anders war es nicht zu machen. Eines Tages war
eben der Leutnant aus seinem Loche gekommen,
um zu schiffen. AIs er fenig war, platzte plôtzlich ein
Schrapnell über uns. Eine Kugel durchschlug das
dünne Wellblech und traf den Leutnant über dem
Iinken Auge an der Stirn. Mit einem Aufschrei
stürzte er vor Schreck und Betaubung rückwarts
hinunter. Dabei ergoD sich der in der Büchse befindliche
Urin über sein Gesicht und die Brust. Ich
sprang schnell zu ihm hinunter, denn ich wuûte
nicht, ob er schwer verwundet sei. Schon erhob er
sich, bleich vor Schrecken. Die Schrapnellkugel
hatte nur eine runde Vertiefung in seine Stirn geschlagen
und war dann herausgefallen. Das Blut lief
dem Leutnant über das Gesicht hinab. Ich verband
nun seine Stirn mit seinen beiden Verbandspackchen.
Ais es Abend wurde, lief der Leutnant flink
wie ein Hase zurück. Er hatte eine bessere Zukunft
vor sich ais wir. Meine Schützen muliten nicht wenig
lachen, weil er sich selbst beim Fallen seinen Urin in
das Gesicht gegossen hatte. Die Hauptsache war, daû
wir diesen Menschen los waren, Ich lief dann in der
Nacht zu dem etwa 100 m weiter zurückliegenden
MG-Nest Geier zurück, da dort der Leutnant Clemens
sich ais Zugführer aufhielt. Dieser übernahm
nun die Führung der ganzen Kompanie. Leutnant
Clemens war ein guter Vorgesetzter und bei der
ganzen Kompanie beliebt. Er gab mir gleich, ais ich
ihm die Meldung von der Verwundung des Kornpanieführers
überbrachte, zwei gute Zigarren. Nachher
lief ich wieder nach meinem MG–Nest. Diese
Nacht schossen die Engländer besonders viel, und
ich war gezwungen, mich zweimal niederzuwerfen,
um mich gegen die MG-Geschosse zu decken. Auch
die Artillerieü berfälle der Englander wu rden immer
hàufiger, und das waren oft bange Minuten, wenn
rundum die Granaten einschlugen und die SchrapneUs
über uns blitzten. Man wurde oft ganz geblendet.
Doch hatten wir bis jetzt Clück. Noch war keiner
von meiner Besatzung, seit unserem Aufenthalt in
338
der »Eule «, verletzt wordcn. ln der folgenden
Nacht, nach der Verwunduug des Kornpanieführers,
war der Schütze Thomas in einem ruhigen
Moment oben auf dem Felde beirn Austreten, Plôtzlich
fing ein englisches Maschinengewehr zu rattern
an, Thomas erhielt eine Kugel durch den Stiefel,
welche ihm die kleine Zehe schrag der Linge nach
wegriE. Mit einem Schmerzensschrei kam cr so
schnell wie moglich ins Loch gestürzt, denn die heruntergeschobenen
Hosen hinderten ihn, Schritte zu
machen. Wir richteten ihn auf. »Auwehl– schrie er.
»Mi hat's!« – »Wo derinr– fragte ich. »Arn Bein, am
FuE!« antwortete er in hochster Aufregung. Ich
nahm nun meine Taschenlarnpe und sah amzerschossenen
Stiefel, wo sich die Wunde befand.
Schnell schnitt ich mit dem Taschenmesser den Stiefel
vom FuD, zog ihm den Strumpf ab und verband
seine Wunde, während mir einer der Schützen mit
der Taschenlampe leuchtete. Thomas hatte heftige
Schmerzen, da die Sehne der Zehe zerrissen und der
Zehenknochen zersplittert war. »Wenn ich nur zurück
war'!« Diesjamrnerte Thomas die ganze Nacht.
ln der Nacht getraute er sich nicht zurückzuhumpeln,
um nicht bei der Finsternis in die unzähligen
Granatlôcher zu stürzen. Gegen Morgen banden wir
Thomas' Hernd, das in seinem Tornister war, 50 gut
wie moglich um seinen Fuß und befestigten es mit
Schnüren. Beim ersten Morgengrauen humpelte
Thomas, so schnell es ihm moglich war, rückwärts,
wo er bald in Dunkelheit und Morgennebel auf Nirnmerwiedersehen
verschwand.
Wir aile hatten großes Verlangen, abgelost zu werden.
Doch wir schienen fast vergessen zu sein. Am
Nachmittag sausten plotzlich 4 schwere englische
Granaten heran, die etwa 100!TI vor uns platzten.
Sofort befürchtete ich, daf dieses Schieûen uns gelten
würde, denn das MG–Nest Eule lag auf einer
kaum sichtbaren Erhohung des ebenen Celändes.
Die Englander konnten annehmen, daf sich hier ein
MG-Nest befinden mußte. Nach wenigen Minuten
339
kamen wieder 4 Granaten, die kaum 30 m vor uns
platzten. Polternd stürzten die emporgeschleuderten
Erdschollen auf unser bißchen Deckung und in
unser Loch. Auch hatte ich Hoffnung, daf die Batterie
vielleicht das Feld in einer geraden Linie abstreuen
würde. Bald, nur zu bald, kamen wir zur
Überzeugung, daß die Granaten uns galten. Mit ne rvenerschütterndem
Sausen flogen die nachsten Granaten,
wahrscheinlieh Kaliber 21, knapp über uns,
um mit sehreekliehem Krachen gleieh hinter unserem
Loch zu explodieren. Die nächste Salve krepierte
nun VOl' uns. Die Batterie hatte sieh auf uns
eingesehossen. »Richertl– schrie aus dem Loche nebenan
der Unteroffizier Krämer. »Diesrnal sind wir
verlorenl– – »Noch nicht«, rief ich zurück. »Vielleicht
hôren sie bald wieder aufl– Aber ich hatte
mich getauschr. Salve um Salve kam genau alle
5 Minuten. Die Granaten schlugen var, neben und
hinter uns ein, 50 daß unser Loch bereits ein Viertel
mit den niederstürzenden Erdschollen angefülIt
war. Bleich, zitternd lagen wir im Loch zusammengekauert.
Wir zündeten jeder eine Zigarette an, die
unsere Nerven etwas beruhigen solIte. Jedesmal,
wenn die 5 Minuten verstrichen waren, horchten wir
gespannt. Dann hôrten wir zu unserem namenlosen
Schrecken in weiter Ferne, bum-bum-bum-bum, die
Abschüsse, dann sekundenlang niehts mehr, und
schon kamen die Geschosse herangesaust. UnwilIkürlich
schmiegte sich jeder so dicht wie moglich an
den Boden, denn jedesmal glaubten wir bestimmt,
einen Volltreffer zu bekommen. »Diesmal hat uns
wenig gefehlt«, rief Krärner herüber. »Eine hat
direkt neben unserem Loch eingeschlagen.« Zitternd
lagen wir da. Nach der nächsten Salve flog uns
ein zerfetztes Bein ins Loch. Einige 1nfanteristen,
die unweit von uns ein Loch besetzt hielten, hatten
einen Volltreffer erhalten, der jedenfalls alle zerrissen
hatte. Auch kam uns ein Geruch in die Nase wie
svon verweenden Leichen. Ich erhob mieh und sah
bald die Ursache dieses Geruches. Eine der Granaten
340
hatte in das hinter uns befindliche Grab eingeschlagen
und die bereits in Verwesung übergegangenen
Leichen zum Teil zerfetzt und hinausgeworfen.
Es war in unserem Loch fast nicht mehr zum
Aushalten. Gleich neben uns lagen einige Fetzen
dieses ekelerregenden Menschentleisches. Schon
wieder kam eine Ladung, alles dicht um uns. Wir
waren halb verzweifelt. Weglaufen ging nieht, denn
sobald man sich gezeigt hätte, wäre man mit MGFeuer
überschüttet worden. Nach der nàchsten
Salve hôrten wir graß Jiches Wehgeschrei. Eine Granate
hatte wieder in ein Loch geschlagen, das von
Infanteristen besetzt war, die teils tot, teils schwer
verwundet waren. Den armen Verwundeten ging
trotz ihres Jammerns kein Mensch zu Hilfe. Endlich,
nach etwa 2 Stunden, hôrte das Granatfeuer auf.
Erleiehtert atmeten wir auf. Die Zigarette, die ich
nach der ersten Salve angezündet hatte, war bald
erloschen, und ich hatte sie, ohne es zu wissen, in der
Aufregung fast bis ans Ende zerkaut. Nun sausten
viele deutsche Granaten über uns. Ich hob den Kopf
und konnte schôn die Einschläge drüben bei den
Englandern sehen. ln diesern Moment gannte ich es
ihnen, au ch etwas auf den Pelz gebrannt zu bekommen.
Wie ich so dem Einschlagen der deutschen
Granaten zuschaute, sah ich plôtzlich einen englischen
Fesselballon brennend abstürzen. Ich nahm
mein Glas und sah einen deutschen Flieger, der in
der Ferne ganz klein aussah, nach dem nächsten
Fesselballon hinf1iegen. Sobald er ihn erreicht hatte,
fing dieser ebenfalls an zu brennen und stürzte ab.
Dasselbe Schicksal erlitt ein dritter Fesselballon.
Dann kehrte der deutsche Flieger, vollständig umgeben
von Schrapnellwôlkchen, wohlbehalten nach
den deutschen Linien zurück.
Mit dem Anbruch der Dunkelheit machten wir
uns sofort daran, die übelriechenden Fetzen der Leichen
in das Grab zu werfen und zuzuschaufeln. Da
wir keines der Kreuze entdecken konnten, war es
uns unmôglich, das Grab zu kennzeichnen. Neben
341
uns hôrten wir au ch sprechen und arbeiten. Es waren
Infanteristen, die ihre gefallenen Kameraden
begruben. Sie sagten uns, daf drei besetzte Lôcher je
einen Volltreffer erhaiten hatten, wodurch ihre
Kompanie I 2 Tote und einen Schwerverletzten
habe. Rund um das MG-Nest EuJe befanden sich die
frischen, gewaltigen Granatlôcher, und man hielt es
kaum für rnoglich, daf von den beiden Besatzungen
alle heil geblieben waren.
Mit der Nacht kamen au ch wieder die Feuerüberfälle
der Engländer. AIs ich eben den Essenholer
wegschicken wollte, kam der Kompaniemelder und
sagte, daf wir in einer halben Stunde von einem
anderen Regiment der Division abgelôst würden.
Diese Meldung machte uns natürlich grof:\e Freude.
Und doch grau te uns, den deckungslosen Rückweg
machen zu müssen. Wir schnallten unsere Tornister
auf den Rücken, schraubten das Maschinengewehr
vom Schlitten und warteten. Endlich huschten Gestalten
an uns vorüber. Es waren lnfanteristen, die
weiter nach vorn ablôsen muûten. Ratatatata, prasselten
wieder die englischen Maschinengewehre. Alles
warf sich zu Boden, um sich nach dem Schießen
wieder zu erheben und eiligst nach vorne zu gehen.
Unsere Geduld wurde auf eine harte Probe gestelIt.
Endlich hôrten wir halblaut rufen: »Wo ist denn das
MG-Nest Eule?« – »Hier !– riefich als Antwort. Bald
erschien die uns ablôsende Besatzung, welche uns
sehr drangte, das Loch zu räurnen. Die Patronengurte
ließen wir liegen, nahmen nur das Maschinengewehr,
die leeren Kasten sowie den Großen Spaten,
den Dampfablaf:\schlauch und die entleerten Wasserkasten
mit zurück. So schnell es unser Cerat erlaubte,
strebten wir rückwärts, Zweimal waren wir
gezwungen, uns wegen MG-Feuers hinzuwerfen.
Ins Granatfeuer gerieten wir erst, als wir die in der
Mulde eingebauten Batterien passierten. Jedoch
wurde keiner verletzt. AIs wir die grofie Straße hinter
dem Dorf erreichten, hôrte ich rufen: ,,2. MGKompanie
332, hierherl– Wir gingen hin; die ganze
342
Kompanie war bald versammelt. Wir folgten etwa
2 km der Straße und wurden dann nach links über
die Felder geführt.
E DLlCH WIEDER lN RUHE
Bald tat sich var uns eine tiefe Schlucht auf. Hier lag
die Kompanie, Fahrer, Pferde und alles. Wir empfingen
unser Essen und streckten uns im Gebüsch
aus, um mal wieder ruhig schlafen zu kônnen. AIs
ich erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel.
Nun konnte man sich doch orientieren, wo man
sich befand. Die Schlucht war vielleicht 20 m tief,
unten etwa 30 m breit, und die beiden Bëschungen
waren teilweise mit dichtem Gebüsch bedeckt. Am
unteren Ende der Schlucht flof trage die Somme,
daneben lag das Dorf Morcourt, auf einer Anhôhe
links das Dorf Méricourt und etwa 3 km hinter uns
das gr6fiere Dorf Proyart. Alle diese Dôrfer waren
zum Teil zusammengeschossen und von den Einwohnern
verlassen. ln der Schlucht kampierten
auch noch 2 Bataillone lnfanteristen mit Bagage. Bis
jetzt war die Schlucht noch nicht von den Engländern
beschossen worden. Trotzdem machten wir in
der der Front zugekehrten Bôschung Hôhlen, um
im Falle einer Beschieûung oder Bewerfung mit
Fliegerbomben uns verkriechen und decken zu
konnen. Da es Ende Mai war und schônes, warmes
Wetter herrschte, fühlten wir uns sehr behaglich.
Nur zu bald kam der Befehl, wieder in Stellung zu
rücken.
Dieses Mal mußte ich mit meiner Besatzung das
MG-Nest Adler besetzen. Die MG-Nester unserer
Kompanie hatten aIle RaubvogeJnamen: Eule,
Geier, Adler und Habicht. Die Besatzung vor uns
hatte angefangen, einen Stollen in die Erde zu graben
und mit Stollenbrettern zu verschlagen. Wir
führten die Arbeit weiter. Am Tage gruben wir und
343
fülIten eine Menge Sandsäcke mit Erde, um sie
abends in die in der Nähe befindlichen Granatlbcher
zu entleeren. jede Nacht, ais wir mit der Arbeit aufhôrten,
wurde die frische, feuchte Erde mit weißer,
trockener Erde überstreut, um den englischen Fliegern
zu verbergen, daß hier gearbeitet wurde. Langsam
gingen die Tage dahin, die Nächte noch viel
langsamer. Immer dasselbe: am Tage die Sandsäcke
füllen und im Loch hocken, abends Essen holen und
Stollenbretter herbeischleppen, dazu das englische
MG–Feuer und die Artilleriefeuerüberfälle. Mehrere
Male belegten uns die Engländer mit Gasgranaten,
mit sichtbarem und unsichtbarem Gas, welch
letzteres wir an dem knoblauchartigen Geruch feststellen
konnten. Wir waren gezwungen, oft stundenlang
die Maske aufgesetzt zu behalten.
Eines Nachts wurde ich dazu bestimmt, die Essenhaler
zur Feldküche zu führen, die nachts bis in die
Nähe des hinter uns liegenden Dorfes Abancourt
vorgefahren kam. Auf dem Rückweg gerieten wir
plôtzlich in einen heftigen Artilleriefeuerüberfall.
Vor mir sah ich im Dunkel ein Loch. »Hierher!«
schrie ich. Sofort füllte sich das Loch mit Essenholern.
Dann merkte ich, daf von dem Loch ein Gang
schrag in die Erde ging. Ich tastete weiter den finsteren
Gang entlang und sagte zu den Leuten, sie sollten
folgen. Da fühlte ich ein Zelt, das den Gang
abzuschließen schien. Ich schob es beiseite und
leuchtete mit der Taschenlampe hinein. ln Decken
eingehüllt sah ich auf einer Seite 3 Mann liegen.
»Was suchen Sie hier?« schnauzte mich eine Stimme
an. »Was wir suchen? Deckung, wei ter nichts«, antwortete
ich. »Machen Sie schleunigst, daf Sie versch
windenl– – »Sobald das Artilleriefeuer aufhôrt«,
gab ich zur Antwort. »Wissen Sie überhaupt, wen Sie
vor sich haben?« herrschte mich nun diesel' in Dekken
gehüllte Mensch an. »Nein«, sagte ich. »Ich
führe die Essenholer der 2. MG-Kompanie 332, und
ich halte es für meine Pflicht, die Leute, wenn irgend
moglich, gesund wieder zurückzuführen, und da
344
geht man eben in Deckung, wo man welche findet..
Nun wurde der Ton dieses Mannes schon etwas
freundlicher. »Sie befinden sich beim K.T.K. Batail-
Ion.« Nun wubte ich, wo ich war und wen ich vor mir
hatte. K.T.K. heiût Kampftruppenkornmandeur,
und der des 3. Bataillons war der Major von Puttkamer.
Da das Feuer nun aufhôrte, krochen wir zum
Loch hinaus und liefen eiligst nach unseren MGestern.
Da unsere Kompanie wieder geschwacht war,
mulite ein Zug von der MG-Kompanie desLandwehrregiments,
in dem sichJoseph Hoffen befand,
zu unserer Verstarkung kommen. Die eine Besatzung
hatte großes Pech. AIs sie sich ihrem zugewiesenen
MG-Nest näherte, fiel ein Mann durch MGFeuer.
Am folgenden Tag flog ein Volltreffer in ihr
Loch und totete aIle bis auf einen jungen Berliner.
Da dieser nun alleine war, gesellte er sich zu der
anderen Besatzung seines Zuges. Nach 2 Tagen wurden
sie von einem anderen Zug ihrer Kompanie
abgelost. 1\ach zwei weiteren Tagen sollte der junge
Berliner wieder in Stellung, obwohl die meisten
Mannschaften der Kompanie noch nicht vorne gewesen
waren. Das Landwehrregiment lag namlich
dauernd in den Ortschaften hinter der Front. Der
junge Berliner sagte zu seinem Feldwebel, er sei
noch nicht an der Reihe; er gehe erst wieder nach
vorne, wenn er der Reihe nach wieder drankärne.
Damit hatte er eigentlich ganz recht. ur schien er
vergessen zu haben, daß er ein willenloses Werkzeug
des preußischen Militarismus war. »Also verweigern
Sie meinen Befehl«, sagte der Feldwebel. » Ich gehe,
wenn wieder die Reihe an mir ist«, gab der Berliner
zur Antwort. Auch dem Kompanieführer sagte er
dasselbe. Er wurde weitergemeldet. Das Divisionskriegsgericht
trat zusammen und verurteilte den armen
Jungen zum Tode durch Erschießen, wegen
Verweigerung eines Befehles vor dem Feind. Das
Urteil wurde am folgenden Tag vollzogen. Dieser
arme Junge war von den Großen als abschreckendes
345
die meisten Soldaten nur mit Widerwillen den Befehlen
Folge leisteten.
Die Englander schossen nun mit Granaten mit
Verzôgerung, das heißt, sie platzten nicht sofort
nach dem Aufschlag auf dem Erdboden, sondern
explodierten erst tief im Boden, wobei sie die in der
Nähe befindlichen Stollen eindrücken sollten. Diese
gefàhrlichen Dinger nannten wir Stollenbrecher.
Viele dieser Granaten gingen so tiefin die Erde, daß
ihre Sprengkraft nicht stark genug war, die Erde, die
über ihnen lag, zu sprengen, und sie nur den Boden
wie eine Blase hochtrieben. Durch diese Granaten
stürzten viele Stollen ein, wodurch die darin befindlichen
Soldaten verschüttet wurden und einen
schrecklichen Erstickungstod erleiden mußten. Auf
alle nur môglichen Arten wurden die armen Soldaten
umgebracht, und doch mußte man ausharren,
sonst erging es einem wie jenem armen Berliner
Jungen. Nach und nach keimte ein todlicher Haß in
mir gegen aile jene, die gegen eine hohe Bezahlung
die bedauernswerten Soldaten zwangen, an der
Front auszuharren und in den Tod zu gehen.
Eines Abends war Schütze Konkel von meinem
MG, ein 20jahriger Junge aus Danzig, an der Reihe,
Essen zu holen. Er nahm die Kochgeschirre und
ging. Jedoch kein Konkel kam wieder zurück.
Ebenso fehlte der Gefreite Kruchen, ein aus Kôln
stammender Rheinländer. Wir aIle glaubten, daß sie
gefallen seien. Natürlich litten wir an jenem Tag
schweren Hunger und Durst. ln der folgenden
Nacht wurden wir wieder abgelôst. Da im Moment
alles ruhig war, sagte ich: »Wir gehen heute die
Straße enùang durch das Dorf. Es ist viel naher und
besser zu laufen aIs über das Feld. Auch wundert es
mich, wie's im Dorf aussieht.. Alle waren gleich einverstanden.
Wir erreichten das Dorf. Da heller
Mondschein war, konnten wir im Vorbeigehen die
Greuel der Verwüstung sehen. Fast aIle Hauser waren
auseinandergeworfen von den schweren englischen
346
der Straße. ur ein schmaler Fahrweg war freigelegt
worden. An einer Stelle lag eine zertrümmerte Feldküche
mit zwei toten vorgespannten pferden. Einige
Schritte weiter lagen zwei tote Soldaten, ebenso zwei
Pferde, die an einem mit StoIlenbrettern beladenen
Wagen angespannt waren. Eiligst suchten wir das
Dorf hinter uns zu bringen. AIs wir ungefahr die
Halfte desselben passiert hatten, kamen plotzlich mit
ohrenbetäubendern Sausen mehrere sehr schwere
Granaten ins Dorf geflogen. Die Kraft ihrer Explosionen
war derart stark, daß man meinte, vom Luftdruck
in die Hohe gehoben zu werden. Überall
stürzten von den zerschossenen Hausern durch die
Erschütterung Ziegel und Cebàlk nieder. Wir 4 liefen,
50 schnell wir konnten, um dem drohenden
Unheil zu entrinnen. Doch die Granaten waren
schneller als wir. Die nächsten platzten nahe hinter
und nicht weit neben uns. Schwirrend sausten die
gewaltigen Splitter über uns hinweg. Weiter, nichts
als weiter! Vom Laufen und von der Aufregung
waren wir fast atemlos. Sch-sch-schr-krack-krack,
flogen zwei der Ungeheuer über uns und platzten
vor uns, mehrere hinter uns. Nun waren wir mitten
drinnen. Das Prasseln der Erdschollen schien kein
Ende zu nehmen. Immer neue Granaten flogen
heran und explodierten rund um uns. Wir wußten
nicht, wohin wir uns wenden sollten. Endlich erreichten
wir das Ende des Dorfes und liefen sofort
nach links über das Feld, denn wir hatten wahrgenommen,
daß das Feuer hauptsächlich der Straße
galt. Wir liefen nun durch herrliche Weizenfelder,
die teilweise von den Granaten zerfetzt waren. AIs
keine Granate mehr in unsere Nähe kam, hielten wir
an; wir waren derart erschopft und atemlos, daß wir
uns eine Weile niederlegen mußten, um wieder zu
Atern zu kommen. Plôtzlich ging vorn ein Hôllenlärrn
los. Die englische Artillerie trommelte wie
wahnsinnig auf die deutschen Stellungen. Das Feuer
wurde von der deutschen Artillerie mit allen Kali-
347
bern erwidert. Man sah vorne nichts ais dasimrnerwährende
Zucken und Blitzen der explodierenden
Granaten und Schrapnells. N un stiegen Hunderte
von Leuchtkugeln hoch. Sofort setzte ein Geprassel
der Maschinengewehre ein. »Da ist was los!« sagten
wir uns und waren überglücklich, abgelost worden
zu sein. Vorne sahen wir viele rote Leuchtkugeln
hochsteigen, die das Sperrfeuer der deutschen Artillerie
anforderten, das sofort einsetzte. Gebannt
schauten und hôrten wir diesem Blitzen und Krachen
zu, bis uns eine unweit von uns einschlagende
Granate sagte, uns schIeunigst aus dem Staube zu
machen. Wir näherten uns nun der Schlucht, gingen
jedoch nicht zur Kompanie aus Furcht, alarmiert zu
werden und nach vorne zur Verstärkung gehen zu
müssen. Langsam flaute das Feuer ab, dann war alles
still. Dann gingen wir zur Kornpanie. Wir glaubten,
die letzten zu sein, und waren die erste Besatzung,
die an der Schlucht eintraf. Am folgenden Morgen
erfuhren wir, daß die Engländer einen Nachtangriff
unternommen hatten, stellenweise in die deutschen
Stellungen eingedrungen seien, wo sie Gefangene
machten; dann hatten sie sich wieder zurückgezogen.
WlEDER lN RUHE – ANFANG JUNl 1918
Am ersten Ruhetag spielte sich über uns in groHer
Hôhe ein furchtbarer Luftkampfab, an dem 52 Flieger
teilnahmen. Sechs stürzten ab. Einer davon, ein
englischer, stürzte kaum 50 m von uns in die
Schlucht. Wir aile glaubten, el' würde direkt auf uns
zustürzen. Man wulite im Moment nicht, wohin man
sich wenden sollte. Der Anprall auf der Erde war
furchtbar. Das Flugzeug wurde zerschmettert und
fing sofort an zu brennen. Es getraute sich niemand
in die Nähe wegen der Stichflammen, die dureh das
Benzin hervorgerufen wurden und durch die Ex–
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plosion der erhitzten Geschosse. AIs alles verbrannt
war, wurde der verkohlte Korper des Fliegers aus
den Trürnmern gelôst und oben auf dem Feld begraben.
Am zweiten Ruhetag schof plôtzlich ein engliseher
Flieger mit grôHter Schnelligkeit aus groHer
Hohe hernieder und schof mit wenigen Schüssen
den Fesselballon, der ganz in unserer Nähe stand, in
Brand. Der Beobachter konnte sich retten, indem el'
mit dem Fallschirm absprang und langsam schwebend
wohlbehalten auf der Erde ankam. Am folgenden
Tage war schon wieder ein neuer Fesselballon
zur Stelle. Ein englischer Flieger überflog denselben
und warf etwas ab, das mir ganz neu war. Man sah
viele kleine Rauchstreifen yom FIieger herunterfal-
Ien. Dies war wahrscheinlich eine brennende Flüssigkeit
[Phosphor], um den Ballon in Brand zu setzen;
dieser wurde jedoch sofort heruntergezogen.
Jeden Tag gingen sämtliche KompaniefeldwebeI
des Bataillons nach Morcourt, um Befehle zu empfano-
en und die Parole zu hoIen. Sie standen in einem tl
Hof und erwarteten den Bataillonskommandeur.
Plotzlich schlug eine Cranate in ihrer Mitte ein. Alle
wurden zerrissen, nur unser Kompaniefeldwebel
Laugsch kam mit einer weggerissenen Wade davon.
Er hatte sich, sobald er das Sausen vernommen
hatte, auf den Boden geworfen. Wir aIle verloren
dies en Mann ungern, denn er war ein guter, gerechter
Mann, eine richtige Kompaniemutter. Von jenem
Tage an wurde das Dorf Morcourt jeden Tag
beschossen.
Eines Tages kreisten etwa 40 englische Flieger
über dem Dorf. Nur ein einziger näherte sich unserer
Schlucht. –Alles in Deckungl– kam der Befehl.
Wir hockten vor den Lochern und beobachteten,
dureh das Gebüsch gedeckt, die Bewegung der Flieger.
Plôtzlich sah ich, daf einer der Flieger cine
Leuchtkugel abscholi; im selben Moment hôrte man
schon das Pfeifen der herniedersausenden Bomben,
und einem Trommelfeuer gleich ertôriten die Deto–
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nationen derselben im Dorf Morcourt. Bald darauf
war das Dorf in schwarzen Rauch gehüllt. Plôtzlich
sauste es über uns, 4 Detonationen ertonten. Wie der
Blitz waren wir aile in die Lëcher gekrochen. Der
Soldat, der das Loch mit mir teilte, sagte: »Ich hab'
eins abgekriegt!« Ein nickelgroßer Splitter war ihm
ins Gesäf gedrungen. Ich konnte den selben herausnehmen.
Er hatte nur eine Fleischwunde davongetragen
und bekam vom Bataillonsarzt einige Tage
Schonung. Einem Fahrer der Bataillonsbagage, der
eben auf dem Bock sitzend die Schlucht passierte,
wurde von einem Splitter die Gurgel weggerissen. Er
stieg noch vom Wagen, lief mit erhobenen Händen
und Todesangst in den Augen einige Schritte, brach
dann zusammen, raffte sich nochmals auf und fiel
einigen zu Hilfe eilenden Soldaten in die Arme, wo
er sofort starb. Die Leiche, die vorne vollständig mit
Blut besudelt war, war schrecklich anzusehen. Wir
waren jedoch zu sehr abgestumpft, um besonders
ergriffen zu werden. Wann, wann endlich würde
dies es Morden ein Ende nehmen? Nirgends Aussicht
aufbaldigen Frieden. Ich dachte, wie traurig es
wäre, wenn ich nach aIl dem Schrecklichen, Furchtbaren,
das ich gezwungen war mitzumachen, doch
no ch fallen müßte! Diese ungewisse Zukunft war fast
noch das Unangenehmste.
Die Verpflegung war etwas besser und reichlicher
ais 1917. Wir erhielten hier Kampfzulage. Aber immerhin
konnte man sich nur einmal des Tages sattessen.
Eines Tages sah ich zu meinem nicht geringen
Staunen den Schützen Konkel und den Gefreiten
Kruchen in Begleitung von 2 Soldaten bei der Kompanie
ankommen. Wir glaubten, die beiden seien vor
etwa 10 Tagen beim Essenholen gefallen. Sie waren
jedoch rückwärts desertiert und in Péronne in den
Zug gestiegen, der sie nach Kôln brachte. Konkel,
der nirgends ein Essen bekommen konnte, war bald
gezwungen gewesen, sich den Behorden zu stellen,
während der Gefreite Kruchen bei seiner Frau in
der Wohnung abgefaßt worden war. Sie wu rd en nun
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zum Truppenteil zurückgeführt, um yom Divisionsgericht
abgeurteilt zu werden. Jeder erhielt 5 Jahre
Zuchthaus. Ich mußte sie in Begleitung von 2 Mann
im Cefangnis in Cambrai abliefern. Wir marschierten
bis Péronne, immer durch verwüstetes Gebiet.
[... ] Wir fuhren nun mit einem Urlaubszug nach
Cambrai. Nirgends sah man mehr ein bewohntes
Haus. Alles zerschossen, zerstôrt, gesprengt. Westlich
von Cambrai lagen etwa 100 englische Tanks,
die bei den Kampfen 1917 [Tankschlacht von Cambrai,
20.–29. November 1917] zerschossen worden
waren, auf den Feldern. ln Cambrai mußte ich die
beiden bei einem Offizier, der das Cefängnis verwaltete,
abgeben. »Und wie steht's vorn?« fragte er
mich. »Ich finde, nicht zum besten«, antwortete ich.
Ich erzählte ihm nun, daß die Engländer mit Fliegern
und Artillerie und sicher auch in Lebensmitteln
in großer Übermacht seien und daß meiner Ansicht
nach die Amerikaner den Ausschlag geben würden.
»[a«, sagte nun der Offizier, »Sie sind meiner Ansicht.
« Dies war der erste Offizier, der es laut werden
ließ, daß der Krieg für Deutschland verlorengehe.
[... ] Am folgenden Morgen fuhren wir wieder mit
der Bahn nach Péronne, um von dort zu Fuß zu
unserer Kompanie zu gehen. Wie glücklich doch die
Soldaten waren, die Dienst in der Etappe hatten und
nie in Lebensgefahr schwebten! [... ]
Nach 3 Tagen mußte ich mit meiner Besatzung
eine vorne befindliche Besatzung ablôsen. [... ] Dabei
ging es durch einen Laufgraben, der Tag und
Nacht unter dem Feuer der englischen Artillerie lag,
dem vorderen Frontabschnitt zu. Wir passierten nun
einen vollständig zerschossenen Wald, wo von den
Bäumen nur einige Stammchen gieich Telefonstangen
in die Hohe ragten. [… ] Die Stellung lag dauernd
unter dem Feuer der schweren englischen Minen.
Wo die hinfielen, wuchs kein Gras mehr. Sie
hatten eine unglaubliche Sprengkraft. Den ganzen
Tag sah man nach vorne in die Hohe, ob nicht eine
solche angeflogen komme. Die Minen konnte man
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närnlich im Fluge gut sehen. Mit großer Geistesgegenwart
konnte man ihnen manchmal noch schnell
ausweichen. Dauernd schwebten einzelne englische
Flieger, die sich gegenseitig ablôsten, über unseren
Stellungen. Sie beobachteten jede Bewegung, und
sobald sie etwas entdeckten, warfen sie ihre 4 Bornben
ab oder schossen mit dem Maschinengewehr hinab.
Wir nannten diese Flieger Grabeninspektoren.
Ohne besonderen Zwischenfall wurden wir nach
3 Tagen ohne Verluste wieder abgelost. Ais wir uns
auf dem Rückweg durch das zerstorte Dorf Cherisy
befanden, setzte plôtzlich furchtbares englisches
Artillerie- und Minenwerferfeuer ein. Unablässig
krachten und donnerten die starken Explosionen.
Ebenso plotzlich kamen englische Granaten herangeflogen,
welche die der Somme entlangführende
Straße unter Feuer hielten. Eiligst liefen wir in einen
in einer nahen Bôschung eingegrabenen Stollen.
»Vorne rappelt's«, war unsere allgemeine Ansicht.
Plôtzlich hôrten wir vorne Gewehr- und Maschinerigewehrfeuer,
jedoch nur schwach. »Palit auf, die
Engländer sitzen in unserer StelIung!« sagte ich. Auf
der etwa 30 m von uns entfernten Straße marschierten
dunkle Infanteriekolonnen nach vorne zur Verstärkung.
Diese armen Teufel hatten jedenfalls auch
Herzklopfen, denn erstens mußten sie durch das
Granatfeuer bis an die Front, dann, werm die Engländer
in der deutschen Stellung saßen, angreifen
und versuchen, sie hinauszuwerfen, was nie ohne
große Verluste geschehen würde. Wir entschlossen
uns, im sicheren Stollen zu bleiben, bis das Schießen
vorne aufgehôrt hätte. Gegen Morgen wurde es ruhiger.
Ich sah einige Leichtverwundete, die in nervôser
Hast auf der Straße rückwarts strebten. Ich lief
hin, um mich zu erkundigen, was eigentlich los gewesen
sei. Meine Besatzung hatte sich auch hinzugesellt,
und wir marschierten mit den Verwundeten
zurück. Sie erzählten nun, daß sie plotzlich mit englischen
Minen und Granaten überschüttet worden
seien. Alles habe sich zur Deckung an den Grabenboden
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Geschosse weiter rückwarts geflogen; in diesem Moment
seien die Englander schon in ihren Graben
gesprungen und hatten alles abgemurkst. Sie selbst
seien zum Graben hinausgeklettert und auf der
Flucht verwundet worden. Sie glaubten nicht, daß
im Graben nur ein Mann am Leben geblieben sei.
Ich dankte Gott im stillen, daf wir eine halbe Stunde
vorher abgelost worden waren, und bedauerte tief
die beiden Besatzungen unserer MG-Kompanie, die
im vordersten Graben lagen, denn ich war um ihr
Schicksal sehr besorgt. Wir erreichten nun die
Schlucht. Der Kompaniefeldwebel Bukies fragte
uns, was eigentlich los gewesen sei. Ich erzählte ihm
das Cehôrte.
lm Laufe des Morgens wurden etwa 20 Schwerverwundete
zurückgebracht, die zum Teil schrecklich
zugerichtet waren, hauptsächlich Bajonett- und
Dolchstiche erhalten hatten oder von Handgranaten
verwundet worden waren. Dabei befand sich der
Gefreite Reinsch von meiner Kompanie, dem eine
Handgranate beide Fersen weggerissen hatte und
der noch Splitter in den Waden und Schenkeln
stecken hatte. Diese Schwerverwundeten wurden
sofort weiter zurücktransportiert. Nun kamen auch
2 Mann meiner Kompanie an, die unverletzt waren.
Der eine davon, ein hübscher Rheinländer, zitterte
50, daß er fast kein Wort zu sagen vermochte. Der
andere, ebenfalls ein Rheinländer, namens Panhausen,
erzàhlte nun, er sei Ordonnanz beim Zugführer
gewesen und habe mit diesem während des starksten
Minenfeuers zum anderen Maschinengewehr gemußt.
Plôtzlich seien die Minen weiter zurückgeflogen
und im selben Moment die Engländer var ihm in
den Graben gesprungen. Der eine hielt ihm das Bajonett
an die Brust. Panhausen, der ein guter Katholik
war und glaubte, sein letztes Stündlein sei gekom- .
men, mach te schnell das Kreuzzeichen und hielt
dann die Hände hoch. Der Engländer deutete Panhausen,
nochmals das Kreuzzeichen zu machen, was
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dieser auch tat. Der hinter dem ersten stehende Engländer
wollte nun an die sem vorbei und Panhausen
niederstechen. Er traf ihn an der Brust. Das Bajonett
durchbohrte den Rock, die Hosentrager, das Hemd
und ging etwa 1cm tief in den Korper, Panhausen
wäre unbedingt durchbohrt worden, wenn nicht der
am nächsten stehende Engländer den Stof aufgefangen
hätte. Die beiden Engländer kamen nun in
einen Wortwechsel; der eine wollte Panhausen tôten,
der andere es nicht zulassen. Diesen Moment
benützte Panhausen, um zum Graben hinauszuklettern
und rückwärts im Weizen zu verschwinden. Der
Zugführer hatte sich sofort aus dem Staube gemacht.
Panhausen glaubte auch, daf es viele Tote im
Graben gegeben habe, denn er hatte viele Todesschreie
gehart. »Ich bin sicher«, schlof er, »daf mir
das Kreuzzeichenmachen das Leben gerettet hat..
Der andere Rheinländer hatte sich inzwischen soweit
erholt, daß auch er uns sein Erlebnis mitteilen
konnte. Er habe während des Artillerie- und Minenfeuers
in einer im Graben befindlichen kleinen
Hôhle gelegen, um sich zu decken. Plôtzlich seien die
Engländer in den Graben gesprungen und hatten
3 Infanteristen, die neben ihm im Graben lagen,
niedergestochen, obwohl sich die Infanteristen ergeben
wollten. Ihre entsetzlichen Schmerzens- und
Todesschreie hatten ihn fast zum Wahnsinn gebracht.
Jeden Augenblick glaubte er entdeckt und
abgestochen zu werden. »Das waren die furchtbarsten
Minuten meines Lebens«, fuhr er fort. »Die
Engländer liefen, als sie alle erreichbaren Deutschen
getôtet hatten, noch eine Weile im Graben hin und
her, ohne mich zu entdecken. Schließlich verließen
sie den Graben wieder und kehrten in ihre Stellungen
zurück.« Da der Angriff so überraschend ausgeführt
wurde, wurde deutscherseits fast gar kein Widerstand
geleistet, so daf die Englander fast keine
Verluste hatten.
ln der folgenden Nacht mußten 3 Wagen von der
Bataillonsbagage nach vorne fahren, um die Leichen
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zu holen. Sie sollten auf dem großen Soldatenfriedhof
in Proyart beerdigt werden. Am folgenden Morgen
standen nun die mit den Toten beladenen Wagen
in der Schlucht. Welch ein Anblick! Hoch aufgeschichtet
kreuz und quer, in- und übereinander lagen
sie da, die Todesangst teilweise jetzt noch in den
Gesichtern. Ich habe mal gelesen: »Unsere Soldaten
sterben für ihr Vaterland mit einem Lächeln auf den
Lippen.. Welch dreiste Lüge! Wem wird es wohl
ums Lächeln sein, der einen so schrecklichen Tod
var Augen sieht! Allejene, die solche Sachen erdichten
und schreiben, gehôrten nur in die vordere
Front gesteckt. Dort kônnten sie bald an sich selber
sowie an den anderen sehen, welche infame Lüge sie
in die Offentlichkeit geschleudert haben.
Am Nachmittag soIlte das Begräbnis der Bedauernswerten
sein. Etwa 20 Mann meiner Kompanie
wurden zum Begräbnis kommandiert. Gruppenweise,
zu nur 3 Mann, gingen wir von der Schlucht
über das freie Feld nach Proyart. Am Tage vorher
war namlich Proyart von der englischen Artillerie
beschossen worden. Deshalb durften wir nur in kleinen
Gruppen abmarschieren, um das Feuer der englischen
Artillerie nicht auf uns zu lenken. Wir befanden
uns auf dem Friedhof, ehe die Wagen mit den
Toten da waren. Das Massengrab war bereits gegraben.
Viele Soldaten hatten hier fern von der Heimat
bereits ihre letzte Ruhe gefunden. Ich ging durch
die Gräberreihen und las die auf die Kreuze geschriebenen
Namen. Auf dem einen stand: »Reservist
Karl Krafft, 5. Kompanie, Infanterieregiment
332.« Diesen Krafft, der aus Berlin stammte und der
dort Gastwirt war, kannte ich sehr gut, denn wir
waren bei der 5. Kompanie in der gleichen Gruppe.
Er war ein angenehmer Kamerad, nur zu überpatriotisch.
Er hatte, wie er mir früher erzählte, eine
Frau mit vier kleinen Kindern zu Hause. Der arme
Krafft sowie seine Familie dauerten mich sehr. Nun
kamen in der Reihe, in der Krafft ruhte, mehrere
Fliegergraber. Diese waren an den zerbrochenen
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Propellern erkenntlich, die bei den Kreuzen in die
Erde gesteekt waren. Inzwischen waren die Wagen
mit den Leichen angekommen. Sie wurden von den
Wagen heruntergenommen und dreifach aufeinandergelegt.
Vorher wurden ihnen die Stiefel und die
Rôcke ausgezogen, dann wurden sie mit dem sogenannten
Lcichcnpapier, dünncm, gerüseheltem Papier,
zugedeekt. Dann betete der Feldgeistliche, der
zugegen war, einige Begräbnisgebete. Ein Offizier
hielt eine kurze Rede, die nichts als patriotische Lügen
enthielt. Dann wurde das Grab zugeschüttet.
Diese armen Soldaten hatten jetzt Ruhe. Aber ihre
Eltern, Schwestern, Frauen und Kinder? Es war gut,
daf man ihren Schmerz nicht sehen konnte. Wir
gingen nun wieder, zerstreut, wie wir gekommen
waren, in die Schlucht zur Kornpanie zurück.
Am Abend mußte ieh wieder in Stellung, die Besatzung
des Unteroffiziers Peters ablosen. Das MGNest
befand sich nicht im vordersten Graben, sondern
etwa 300 m rückwàrts an einer vollstandig zerschossenen
Waldecke, die sich auf einem erhôhten
Punkt befand, von dem man die deutsche sowie die
englische Stellung gut übersehen konnte. Unteroffizier
Peters sagte mir, daf dies nachts der gefahrlichste
Punkt weit und breit sei, denn jede Nacht prasselten
mindestens 5 bis 6 furchtbare Artilleriefeuerüberfälle
hier hernieder. Peters verlieB IlllIl im Laufschritt
den gefahrlichen Platz. Zum Glück für uns
war von Pionieren ein etwa 6 m tiefer Stollen in den
Kreidefelsen gebaut worden, worin man ziemlich
sicher war. Der Stollen ging zuerst grad in die Erde
hinein, dann erst in einem Winkel in die Tiefe, um
zu verhindern, daf Splitter in den Stollen hinunterflogen.
Wir stellten unser MG oben in den StoIlen,
während wir uns unten auf die Treppe setzten. Ich
hatte mehrere Kerzen mitgenommen, damit wir
doch nicht ständig im Finstern zu hocken brauchten.
Einer der Soldaten muhte sich obcn am Eingang
gedeckt aufhalten, mn besser horen zu kôrmen,
werm vorne etwas losgehen soUte. Bis jetzt war, obwohl
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immer mit der Artillerie beiderseits geschossen
wurde, noch kein Geschoß in unsere Nähe gekommen.
Aber plôtzlich, mit einem Schlag, ging es los.
Unaufhôrlich donnerte und krach te es über uns und
um uns. Dureh den Luftdruck der in nächster Nähe
platzenden Granaten wurde das VOl' dem Eingang
hängende Zelt weggeweht, so cial) unsere Kerze
mehrrnals erlosch. War das ein Donnern und Drôhnen
über uns, als ob der Jüngste Tag angebrochen
wärel Wir hatten mehrere Pickel und Spaten bei uns
im Stollen stehen für den FaU, daß der Eingang
eingeschlossen und wir verschüttet werden sollten.
So plotzlich, wie sie gekommen war, hôrte die Schie-
Berei wieder auf. Obwohl wir nicht in direkter Gefahr
gewesen waren, atmeten wir doch erleichtert
wieder auf. Noch vier solcher Feuerüberfälle hatten
wir in der ersten Nacht zu überstehen. Nun graute
der Morgen. Alles wurde ruhig. Wir gingen aus dem
Stollen, stellten uns in den Eingangsgraben und
überschauten von diesem schônen Aussichtspunkt
die Gegend. Rundum Ruinen und Verderben. Etwas
rechts von uns das vollständig zu Boden geschossene
Dorf Hamel. Diesseits die deutschen, in und
jenseits des Dorfes die englischen Stellungen. Von
hier aus hatten wir mit unserem Maschinengewehr
bei einem etwaigen englischen Angriff furchtbar untel'
ihnen aufraumen kônnen. Aber in solchem Falle
wäre unsere Position wohl derart unter englischem
Artilleriefeuer gelegen, daf keiner es gewagt hätte,
den Stollen zu verlassen. Ohne nennenswerten Vorfall
vergingen die nächsten 3 Tage. Wir konnten fast
jeden Tag großere und kleinere Luftkämpfe beobachten,
wobei fast immer einer oder mehrere Flieger
abstürzten. Mehrmals sah ich, wie englische Geschwader,
die hinter der deutsehen Front operiert
hatten, auf ihrem Rückweg von kleinen deutschen
Flugzeugen eingeholt wurden. Dabei wurde imrner
der letzte Flieger von seinem Geschwader abgetrennt
und hinuntergeschossen. Manchmal wurden
bis zu 3 englische Flieger auf diese Art zum Absturz
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gebracht. [... ] Am einem der folgenden Tage wurde
unsere Schlucht mit Gasgranaten belegt. Da wir sofort
un sere Masken aufsetzten, konnte uns das Gas
wenig anhaben. Weiter oben in der Schlucht starben
19 Infanteristen, die schliefen, durch eingeatmetes
Gas.
DIE SPANISCHE GRIPPE / DIE REISE NACH
METZ – ANFANG ]DLI 1918
Bereits seit einigen Tagen fühlten sich einige Soldaten
unwohl, ohne daI3 man eigentlich wuI3te, was
ihnen fehlte. Da lasen wir in den Zeitungen von einer
neuartigen Krankheit, genannt die Spanische
Grippe, weil sie in Spanien ihren Anfang genommen
hatte. [Weltweit starben 1918/1919 an dieser Epidemie
20 Millionen Menschen.] Nun wuI3ten wir Bescheid.
Immer mehr Soldaten erkrankten und
schlurften wie halbtot herum. Obwohl sie sich krank
meldeten, kam kaum einer ins Lazarett, denn es
hieû, es gebe keine Leichtkranken und Leichtverwundeten
mehr, nur noch Schwerverwundete und
Tote. Da die unterernahrten, von den Strapazen
entkräfteten Kôrper der Krankheit keinen Widerstand
entgegensetzen konnten, war in wenigen Tagen
die Hälfte der Mannschaft erkrankt. Von einer
Pflege war keine Rede. Wir mul3ten mit dem elenden
FeldküchenfraI3 vorliebnehmen. Ich selbst war bis
jetzt von diesem Übel verschont geblieben.
Eines Tages lief der Feldwebel sämtliche in der
Schlucht weilenden Unteroffiziere der Kompanie
antreten. Er sagte: »Eben ist vom Bataillon ein Befehl
gekommen, daf die MG-Kompanie einen Unteroffizier
zu stellen hat, der in Begleitung eines
Soldaten der 6. Kompanie nach Metz fahren solI, um
im dortigen Cefängnis einen Soldaten der 6. Kompanie,
der eigenmachtig die Front verlassen hat und
in Metz erwischt wurde, zum Truppenteil zurückzuwir
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bringen. Wen solI ich nun hinschicken, da ich weil3,
daß jeder von euch gerne gehen würde?« Da trat ich
vor und sagte: »Herr Feldwebel, da ich seit 4 Jahren
nie mehr in meinem Heimatlande war, môchte ich
bitten, fahren zu dürfen.« – »Ach so, aber natürlich,
Richert, Sie sollen fahren. Es hat doch keiner was
dagegen?« fragte er nun die anderen. Die waren
natürlich aile einverstanden. Ich freute mich doch,
wieder einige Tage von der Front wegzukommen.
[... ]
Am folgenden Morgen meldete sich der Infanterist,
der mich begleiten sollte, bei der Kompanie,
und wir beide walzten los. [... ] Vorher hatten wir
vom Feldwebel die Fahrbescheinigung sowie die
Verpflegungsbescheinigung erhalten. ln Péronne
bestiegen wir den Zug. Der junge Soldat sagte immer:
»Herr Unteroffizier hier, Herr Unteroffizier
dort.« Ich meinte, er solle das doch bleibenlassen,
denn wir seien nichts weiter aIs Kameraden. Er erzàhlte
mir nun, daI3 er aus Metz sei. »So«, sagte ich,
»da kannst du schôn deine Eltern besuchen.« – »Ich
habe keine Eltern mehr. Sie sind gestorben. Nur
noch meine verheiratete Schwester lebt in Metz, deren
Mann sich in franzôsischer Kriegsgefangenschaft
befindet«, antwortete er mir. »Was meinst du,
ist er nicht besser dran als wirP. fragte ich. »Oh,
sicher«, meinte der Junge, »dort wird er doch nicht
totgeschossen und hat jedenfalls besser zu essen als
wir..
Von Cambrai fuhren wir mit einem überfüllten
Urlaubszug über Neufchäteau, Rethel, Sedan. Zwischen
Rethel und Sedan fühlte ich die ersten Fieberwellen,
bald gIühend heiû, bald kalte Schauer. Die
Grippe hatte mich nun ebenfalls erfaI3t. Ich bekam
grol3en Durst, und aIs der Zug im Bahnhof Sedan
hielt, stieg ich aus und trank am Bahnhofsbrunnen
eine nicht geringe Menge kalten Wassers. Nun ging
die Fahrt weiter über Montmédy und bei Fentsch
über die lothringische Grenze. [... ] ln Metz angekommen,
gingen wir nach der am Bahnhof befind-
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lichen Verpflegungsstation und erhielten nach Vorzeigen
unseres Verpflegungsscheines jeder eine
Portion Essen. Auf dem Schein wurclc cler Tag vermerkt,
damit man nicht zweimal am Tag Essen holen
konnte. Nach dem Essen gingen wir zu der Schwester
des Soldaten. Die ganze Stadt war in Dunkel
gehüllt, um den fr anzôsischcn Fliegern die Lage der
Stadt nicht zu verraten. Die Schwester des Soldaten
[… ] kochte noch schwarzen Kaffee. Wir erzählten
uns noch eine Weile, warum wir hier seien und so
weiter. Nachher gingen wir zu Bett. Gott, wieder
einmal in einem Bett ausgezogen zu schlafen. Welch
ein Genuß! Denn es war nun wieder ein dreiviertel
Jahr her, seit ich das letztemal ausgezogen in einem
richtigen Bett geschlafen hatte.
Ich hatte vom Feldwebel 3 Tage zur Reise erhalten:
einen Tag hin, einen Tag in Metz und einen
Tag zur Rückfahrt. Am 1. Tag in Metz muûte ieh
mit d~m Soldaten dessen Verwandte besuehen gehen.
Uberall wurden wir freundlieh aufgenommen
und bekamen von dem wenigen, das die Leute hatten,
aufgetiseht. lu Mittag soIlte ich bei der Sehwester
meines Kameraden essen. Da ieh wußte, daß sie
selbst nieht genug für sich hatte, ging ieh nach der
Verpflegungsstation am Bahnhof und erhielt naeh
dem Vorzeigen des für 2 Mann ausgestellten Verpflegungszettels
2 Portionen. Man aß in Baraeken.
Zwei gefangene ltaliener mu13ten die Schüsseln
wegtragen und die Tisehe abräurnen. Sie sahen
beide zum Erbarmen elend aus. AIs der eine die
Sehüsseln hinaustrug, sah ich, daß er mit dem Finger
die Sehüsseln inwendig abstreifte und den Finger
dann ableckte. 0 je! dachte ieh, die armen
Leute müssen hier auf der Verpflegungsstation
halb verhungern. Ich winkte beide heran und gab
ihnen die eine Portion, die sie sofort aßen. Sie nickten
mir mit dankbarem Blick zu. [... ] Am folgenden
Morgen ging ieh in ein Schnellphotographieratelier.
Das Bild fiel nicht gut aus, da ich dureh die
Grippe noch elender ais sonst aussah.
360
Gefangnisbüro, wo wir unsere Beschcinigung vorzeigten.
Von dem dort befindlichen Feldwebel erhielten
wir nun die Bescheinigung zum Abholen des
Gefangenen. Ich lieûjedoch das Datum des nachsten
Tages aufschreiben, denn ich wollte noch eine Nacht
in einem Bett sehlafen. Dann ging ieh wieder naeh
der Verpflegungsstelle. Die beiden italienisehen Gefangenen
erkannten mich sofort wieder und nickten
mir freundlich zu. Ich holte wieder 2 Portionen. Da
ich infolge der Grippe jede Eûlust verloren natte,
nahm ich nur ein Würstchen aus der einen Portion
und gab alles andere den beiden Italienern, die das
Essen bald verschlungen hatten. Ich ging nun aufs
Pissoir. Eben kam auch ein anderer italienischer Gefangener
hinein. Sofort büekte er sich. Ich sah hin
und war nicht wenig erstaunt. Der Italiener nahm
einige ligarettenstummel, die in der Ablaufrinne im
Urin lagen, wahrseheinlich um sie zu troeknen und
zu rauchen. Wie tief der Mensch sinken kann! Wahrscheinlich
war er früher ein leidenschaftlicher Raucher
gewesen, der nun in der Gefangenschaft nie
etwas zum Rauchen erhielt. Da ich noch einige Zigaretten
in der Tasehe hatte, gab ich sie ihm. Wie mir
dieser Mensch dankte! AIs hatte ich ihm das großte
Geschenk gemacht.
Am folgenden Tag nahmen wir Abschied von unserer
Quartiersfrau und gingen ins Cefangnis, wo
wir den Gefangenen abholten. Er war erst 19 J ahre
aIt und ebenfalls aus Metz gebürtig. [… ] Unterwegs
sah ich Kirschen, schône, grolle schwarze Kirsehen,
in einem Geschäft zum Kaufen ausgestellt. Sofort
ging ich hin und erstand gleich 6 Pfund, die wir 3
dann sofort im luge aßen. Wie diese gute, so lange
entbehrte Frucht schmeekte! Es war gerade 4 Jahre
her, daß ich das letztemal Kirsehen gegessen hatte.
Wir fuhren nun das schône Moseltal abwarts, durch
das wir auf der Herfahrt naehts gekommen waren,
dann dieselbe Strecke na ch Nordfrankreich zurück.
lu meinem nicht geringen Staunen hôrte ieh auf
361
einer Station vor Cambrai rufen, alles, was zu rneiner
Division geh6re, solle aussteigen. Ich fragte
gleich, was los sei. Unsere Division sei an der Front
abgelôst worden und befände sich in der Umgegend
in Quartier. Ich ging nun nach dem Auskunftsbüro,
wo mir auf meine Frage geantwortet
wurde, daß das 2. Bataillon, Infanterieregiment 332
in dem Dorfe Bévillers in Quartier liege. Wir hatten
etwa 6 km zu gehen. Auf den Feldern sahen wir
Scharen franzosischer Madchen, die unter der Aufsicht
deutscher Soldaten zwangsweise arbeiten
muûten. ln Bévillers angekommen, gab ich den Gefangenen
beim Bataillonsstab ab und begab mich zu
meiner Kompanie.
lM QUARTIER lN BÉVILLERS
Mir wurde ein Quartier angewiesen, in dem schon
3 Unteroffiziere waren. Hier kam ich das erstemal
mit franzôsischen Zivilisten in Berührung, denn die
Dërfer an der Front waren aUe von den Familien
verlassen. Die Familie, bei der ich nun in Quartier
lag, war sehr freundlich. Vater, Mutter und deren
19jahrige Tochter Lidga, ein hübsches Madchen,
das schon gut Deutsch gelernt hatte.
Ich meldete mich sofort krank, da die Grippe nun
starker auftrat und ich ganz heiser wurde. Vor dem
Hause, in dem der Arzt die Untersuchung vornahm,
standen so gegen 100 Mann, die sich fast aIle wegen
Grippe krank gemeldet hatten. Wir Unteroffiziere
wurden zuerst untersucht. Eine Untersuchung war
es eigentlich nicht. Man wurde gefragt, wo es fehlte.
Ais ich geantwortet hatte, mußte mir der Sanitatsunteroffizier
eine etwa pfenniggroße Pfefferrninztablette
geben, wobei der Arzt sagte: »Kochen Sie
sich Tee! Der nächste!« Also konnte ich gehen. Kochen
Sie sich Tee! Das ist ungefahr dasselbe wie:
Stirb oder verreck! Ich wurde innerlich 50 wütend,
362
daß ich mir fast nicht zu helfen wußte. Kochen Sie
sich Tee! Ich hatte ja nicht einmal ein Stückchen
Zucker, gar nichts! Ich ging in mein Quartier und
erzählte dem Mädchen das Ergebnis der Untersuchung,
worauf sich das Mädchen mit seiner Mutter
auf franzosisch unterhielt. Obwohl ich nichts verstehen
konnte, sah ich doch, daJ3 sie von mir sprachen.
Dann kam das Madchen, führte mich hinauf auf ein
Zimmer und sagte, daf ich mich zu Bett legen solle.
Dann ging sie hinunter, die Mutter kam und breitete
über mich lächelnd ein Federbett; dabei deutete sie
freundlich: Schwitzen! Nach einer Weile kam sie mit
gezuckertem heiûern Tee herauf, den ich trinken
mußte. Gleich darauf muJ3te ich noch eine Tasse
trinken. Nun kam der Schweiß. So groß ich war,
roUten die Schweißtropfen den Kôrper hinab. Unteroffizier
Peters kam nachschauen, was ich machte.
Da sagte ich, er solle mir das andere Hemd aus dem
Tornister bringen. Peters tat es, und ais ich genug
geschwitzt hatte, zog ich das fris che Hemd an und
stand auf. Da eben kam die Frau herauf; schnell
wechselte sie die Bettwäsche und nôtigte mich, nochmals
ins Bett zu gehen. Wie war ich diesen guten
Menschen dankbar! Wie wohl das tat, daf es wieder
jemand so gut mit mir meinte! Nach einer Weile
brachte mir die Frau ein Stückchen gebratenes
Fleisch mit Sauce und ein Stückchen gutes Weißbrot
dazu, nachher noch eine Tasse Kakao. Dann litt ich
es nicht langer im Bett. Ich stand auf und ging hinunter.
Abends lud die Familie uns aile zu einer Tasse
Kakao ein. Die Einwohner des von den Deutschen
besetzten Teils Frankreichs und Belgiens bekamen
aus Amerika Lebensmittel zugeschickt, um sie vor
dem Verhungern zu schützen. Die Deutschen muJ3-
ten sich verpflichten, die Lebensmittel zu verteilen
und nichts davon wegzunehmen. Daher waren diese
Leute im Besitz von Zucker, Kakao, Fleisch, Weißbrot,
kurz: aUem, was zu einem einigermaßen anständigen
Leben erforderlich ist. Wenn wir hier nur
Iängere Zeit bleiben kônntenl Das war mein sehn-
363
liehster Wunseh. Aber sehon kam der Befehl: »Morgen
geht es zur Bahn, wo wir verladen werden; wohin,
ist unbekannt.. Also mußten wir am folgenden
Morgen Abschied nehmen. Ich wollte der guten
Frau für ihre Bemühungen 10 Mark geben. Aber sie
wies das Geld entsehieden zurüek. [... ]
Da ieh mieh sehwaeh und elend fühlre, setzte ich
mich auf einen MG-Wagen bis zur Bahn. Wir fuhren
dieselbe Linie, die ieh 2 Tage zuvor gekommen war.
leh hatte sehon Hoffnung, vielleieht ins EIsa13und
dort an die Front zu kommen, denn dort ging es
ruhiger her als im Norden. Und zu gerne hätte ieh
mein Heimatland wiedergesehen. Doch ieh hatte
mieh getauscht. Der Zug hielt in Conflans, unweit
der lothringisehen Grenze. Wir ver ließen den Zug
und marsehierten naeh Süden, der Front zu. ln
Mars-la-Tour blieb ich zurück, denn mein Zustand
hatte sieh während der Bahnfahrt verschlimmert.
leh ging in das dortige Revier und meldete mich
krank. Naeh der Untersuchung meinte der Arzt:
"Die Grippe hat Sie feste gepackt.. – »Das fühle ich
wohl«, antwortete ieh. "Sie bleiben vorläufig hier«,
entsehied der Arzt. Mir wurde nun eine Baracke
angewiesen, in der sehon etwa 8 Mann gelangweilt
herumhoekten. Ais Lager dienten Drahtbetten, auf
denen verlauste Strohsäcke lagen. Und die Verpflegung:
der reine J ammer für kranke Menschen. Morgens
sehwarzer Kaffee, natürlieh Kaffee-Ersatz
ohne Zueker, und eine Sehnitte Kommißbrot mit
Marmelade darauf. Mittags Dôrrgemüsesuppe, die
nieht einmal ein Sehwein gefressen hätte, und
abends das gleiehe wie morgens. Mir war es sehr
verleidet. Um etwas Zerstreuung zu haben, bat ieh
den Arzt, ausgehen zu dürfen, was er mir aueh erlaubte.
Am zweiten Naehmittag ging ieh naeh Marsla-
Tour, in ein vom Militär eingeriehtetes Kino. Es
wurden zwei schône Stüeke gespielt, naehher noch
ein Laehfilm, so daß ieh, trotz meines elenden Zustandes,
herzlieh mitlaehen mußte und für eine
Weile alles, Krieg, Soldatsein und Grippe, vergaß.
364
Doch sofort nach Spielschluf war alles wieder grausame
Wirkliehkeit. Aus weiter Ferne horte ieh das
Bum-bum der Artillerie bei Verdun und weiter südlieh
vor der Festung Toul. [... ] Am folgenden Morgen
fragte ieh den Arzt, ob ich denn nieht einem
Lazarett überwiesen werden konne. Da war jedoeh
niehts zu machen, alles war überfüllt.
Da die Verpflegung im Revier nicht besser wurde,
meldete ieh mich gesund, denn lieber war es mir, bei
der Kompanie zu sein, als hierzubleiben. »junge,
Junge«, sagte der Arzt, »von gesund ist gar keine
Rede. Warum melden Sie sieh überhaupt gesund?«–
»Weil es mir hier nieht gefallt und die Verpflegung
zu sehleeht ist. leh finde, daf es bei der Kompanie
besser wäre, leh kônnte dort bei den Fahrzeugen
hinter der Front bleiben, bis mir wieder besser
wäre.« – »Na, wenn Sie haIt wollen!« sagte der Arzt
und schrieb mir den Entlassungssehein. leh
sehnallte meinen Tornister mit meinem Hab und
Gut auf den Rüeken und marschierte los in die Riehtung,
in die mein Regiment marsehiert war. Die
Front war noeh 30–35 km entfernt. leh wußte natürlich
nieht, wo mein Regiment lag, aber das maehte
mir wenig Sorgen. Es war ein schôner, nieht zu hei-
Ber Sommertag, ungefahr der 1O.Juli 1918. Da
hôrte ieh hinter mir Pferdegetrappel und sah einen
Trupp abgemagerter Pferde in Begleitung einiger
Soldaten daherkommen. Die pferde kamen aus einem
Pferdelazarett und waren auf dem Wege nach
der Front. leh wartete und fragte die Soldaten, ob
ieh nieht auf einem der Gaule reiten kôrine, denn ieh
hatte die Grippe und kônne nieht gut laufen. Nur
2 der pferde trugen Sättel, Ich stieg auf. Das war
wieder was Neues. [... ] leh wurde von einem Major
unterwegs angehalten, der mieh fragte, was ieh eigentlieh
auf einem Gaul zu suehen hatte. Ich sagte,
ieh sei grippekrank und eben im Begriff, mein Regiment
aufzusuehen. Da ieh mich schwaeh fühlte,
hätte ich das Pferd bestiegen. Nun konnte ieh weiter.
[… ] Gegen Abend erreiehten wir das Dorf Jonville,
365
das Ziel des Pferdetransportes. 1ch ging zu FuH weiter
und kam nach dem Stad tchen Thiaucourt, wo ich
übernachtete.
Am folgenden Morgen traf ich einige Soldaten
meines Bataillons, die mir sagten, daf das Regiment
in Stellung liege. Nach vielem Herumfragen fand ich
endlieh meine Kompanie, die etwa 3 km vor Thiaucourt
in einem Waldlager, bestehend aus Baraeken
und Unterstanden, kampierte. Die Besatzungen befanden
sich in Stellung, nur einige Reserveschützen,
die Fahrer, die pferde sowie der Kornpaniefeldwebel,
der Schreiber und die Kompaniehandwerker
waren da. Ich meldete mich beim Kornpaniefeldwebel
Bukies, der ein guter Freund von mir war,
zurück. »]a, Richert«, sagte dieser, »du siehst nieht
gesund aus.« – »Bin ich auch nicht, aber ich konnte
es in diesem elenden Revier, wo ieh lag, nicht mehr
aushalten«, antwortete ich. -Kleinigkeit«, meinte
der Feldwebel, »du bleibst einfaeh hier, bis du dich
erholt hast.« Also blieb ich und richtete mich in einem
Unterstand ein, lag auf der faulen Haut, und
der Kompaniekoch sorgte dafür, daf ieh etwas Besseres
zu essen bekam als die übrigen Mannschaften.
Vorne am Waldrand wurde eine Strafie gebaut, an
welcher gefangene Italiener beschaftigt waren. Wie
schlecht diese armen Menschen aussahen, gelb,
mehr graugelb ihr eingefallenes Gesicht, matt der
Blick, kurz: halbverhungert. Es war zum Erbarmen.
Ihre Augen hingen immer im Gebüsch, ob nicht eine
Beere oder ähnliches zu erhaschen wäre. Wenn einer
eine solche sah, schof el' darauf los, um sie zu
verzehren. Diese Menschen waren nicht an der
Front und hatten trotzdem furchtbar zu leiden.
Nachdem ich etwa 6 Tage im Waldlager gewesen
war, kam der Feldwebel zu mir und meinte: »Na,
Richert, geht's bald wieder? Der Unteroffizier Peters
ist an der Reihe, in Urlaub zu fahren. Konntest du
ihn vielleieht ersetzen? Ieh will dir auch sagen, dan
du nächstens zum Vizefeldwebel befordert wirst. Du
bist schon eingereicht.« – »Ich will es versuchen «
366
sagte ich, »und hier in der Stellung ist es ja ziemlieh
ruhig.« Also, am foigenden Morgen sehob ich ab.
[… ] Auf einer Anhohe kam ich durch die Ruinen
des zerstorten Dorfes Viéville-en-Haye. ln den Ruinen
der letzten Hauser stand gut versteekt eine deutsehe
Batterie. Es ekelte mieh an, ais ieh wieder das
verfluchte Kriegsspiel sah. FEnter der franzôsischen
Front sah ieh einige franzosische Fesselballons
baumeln. [… ] leh stief gleich auf ein Maschinengewehr
meiner Kompanie. Ich fragte nach dem Unteroffizier
Peters; es wurde mir gesagt, daf er etwa
200 m weiter links liege. Ich schaute zur franzôsisehen
Stellung hinüber, und plôtzlich überkam mich
eine heine Sehnsueht. Wenn ich doch nur drüben
ware, dann wäre ich gerettet, hätte Verbindung mit
der Heimat und kônnte sicher bald meine Angehôrigen
wiedersehen! ln die sem Moment faßte ieh den
Entschluß, wenn es eine Môglichkeit gabe, zu desertieren.
Ieh ging den Graben entlang, der sehr stark
ausgebaut war und bombensiehere Unterstände
hatte. Bald traf ieh Peters. »Ich solI dich ablôsen,
Joseph! Du sollst in Urlaub fahren!« ln diesem Moment
daehte ieh, daf ich Peters, der ein guter, treuer
Kamerad von mir war, vielleicht das letztemal sah,
drückte ihm beim Abschied fester ais gewohnlich die
Hand und sah ihm tief in die Augen. »Nicki, paf auf,
es ist viel Draht hier. lm übrigen wünsch ich dir
Glück!« leh war doch etwas betroffen, daf Peters,
der ein sehr heller Kopfwar, meine Gedanken erraten
hatte. Obwohl ich wuûte, dan ieh ihm unbedingt
vertrauen konnte, sagte ieh weiter kein Wort von
meinen Absiehten. »Noch eins, Nicki«, sagte er
dann. »Wir haben einen ekligen Lausejungen als
Zugführer bekommen. Er hockt unten im Unterstand.
Ich hab' ihm sehon gehorig die Lause heruntergemacht.
Laß dir von diesem grünen Jungen ja
nicht auf die Zehen treten!« Dann drückten wir uns
noehmals die Hand. »Auf Wiedersehen und viel
Clück !- Dann verschwand Peters um die nächste
Schulterwehr.
367
Ich war nun gespannt, den neuen Zugführer kennenzulernen,
und ging die Treppe hinab, die in den
Unterstand führte. 30 Staffeln tief mubte ich hinuntersteigen,
ehe ich in den Unterstand kam, der elektrisch
beleuehtet war. Jeden Tag brachte der Essenholer
eine elektrische Batterie, die 24 Stunden
reiehte. An einem Tischchen saß der neue Feldwebel,
ein noeh nicht 20jahriger Bursche. Gemütlich
hing ieh den Tornister ab, schnallte das Koppelzeug
los und sagte dann, ich sei hier, um den Unteroffizier
Peters zu ersetzen. Ich sah gleich, daß es dem
Jungen nieht paßte, diese Gemütlichkeit. Er hätte
Iieber gesehen, wenn ich strammgestanden wäre
und ihm meine Ankunft vorschriftsmaûig gemeldet
hätte, Er fragte mich nach meinem Namen und
meinte dann: »Hier scheint wenig Disziplin zu herrschenl–
Ich sagte ganz einfach: dst auch nicht nôtig.
Man lebt in der Kompanie mit wenigen Ausnahmen
so kameradschaftlich wie nur moglich. Es ist meiner
Ansicht nach gar nicht notig, da13man seine Untergebenen
seine Machtstellung als Vorgesetzter fühlen
laßt.« – »Ich bin dies aber nicht gewohnt«, sagte
der FeldwebeI. »AIs Vorgesetzter muß man immer
respektiert seinl– – »Mit Ihren Ansichten, Herr
Feldwebel, würden Sie bald von Ihren Untergebenen
statt respektiert gehaßt werden, und unter Umständen
kann Ihr Leben davon abhangen, ob sie
geliebt oder geha13t sind l– – »Wieso denn das?«
fragte er verwundert. »Angenornmen, Sie würden
mal in einer Schlacht schwer verwundet und rnüûten
liegenbleiben. Sind Sie beliebt, so werden IhreUntergebenen
Sie kaum im Stich lassen. Sind Sie aber
geha13t, würde sich keiner der Gefahr aussetzen, Sie
zu retten, und Sie müliten schließlich elend umkommen!
Waren Sie denn noch nicht draußen?« fragte
ich. »Nein«, meinte er. »Ich bin Einjahriger und bis
jetzt immer in einer Garnison gewesen. Nun soll ich
6 Wochen an der Front sein, dann muf ich wieder
zurück, um einen Offizierskurs durchzumachen.
Nachher werde ich Leutnant.« – »Sehen Sie, Herr
368
Ungerechtigkeit in der deutschen Armee, dan das
Einjahrige genügt, um Leutnant zu werden, auch
wenn der Betreffende von militärischen Dingen fast
keine Ahnung hat. Mit anderen Worten: Wenn der
Vater Geld hat, seinen Jungen studieren zu lassen,
ist ihm der Weg geoffnet, Offizier zu werden, mit
nul' einjähriger oder noch kürzerer Dienstzeit. Hingegen
andere Soldaten, die aktiv dienten und jetzt
seit 4 Jahren im Felde stehen, sind Tür und Tor
verschlossen, Offizier zu werden; selbst solchen,
die 10 bis 12 Dienstjahre in der Kaserne vor dem
Kriege hatten und aIs Feldwebel in den Krieg zogen,
die nun seit 4 Jahren im Felde stehen, also 14
J ahre und mehr Dienst haben. Selbst diese kônnen
nicht Offizier werden, obwohl sie besser imstande
waren, eine Kompanie zu führen aIs aile Einjährigen
zusammengenommen.« Der junge Feldwebel
mußte mir recht geben, doch sah ich, daß er sich
beleidigt fühlte.
Ich ging dann hinauf zu meiner Besatzung. Die
Leute standen rauchend im Graben und Iießen sich
von der Sonne bescheinen. Alle waren schon früher
mal meiner Besatzung zugeteilt worden, und ich
kannte sie als gute Kerls. Wir sprachen uns unter uns
immer per du an. ln demse!ben Unterstand hauste
noch die Besatzung des Unteroffiziers Gustav Beck,
der ein Lothringer war. Er war bereits 1916 beim
Regiment 44, beim Regiment 260 und jetzt beim
Regiment 332 ständig bei mir. Auch wir beide waren
gute Freunde. Ich sah nun über die Deckung, um
mich in der Gegend umzuschauen. Überall Greue!
der Verwüstung. Die Front befand sich hier seit
Ende September 1914. Alles durchgegraben, verlôchert,
verwachsen. Disteln, Dornen, altes dürres
Gras, dazwischen wieder Grünes. Überall zogen sieh
verrostete Drahthindernisse hin. Ich zahlte zwischen
den Linien 10 bis 12 Drahtverhaue. Wirklich, das
war nicht 50 einfach, hier auszureißen! Doch mein
Entschluß stand Fest, nur wartete ich auf eine gün-
369
stige Gelegenheit. Vor der Stellung ging das Gelande
sanft bergab, um dann scheinbar jäh abzufallen.
Aus der Tiefe ragte ein abgeschossener Kirchturm,
der Kirchturm des Dorfes Régnieville. Vom
Dorf selbst konnte man von hier aus nichts sehen.
Jedoch war dasselbe vollstandig in Trümmer geschossen.
Ich holte nun beim Feldwebel die Karte,
um mich in der Gegend zu orientieren. Weiter nach
rechts lagen die Trümmer des Dorfes Lironville,
noch weiter rechts die Dorfer Flirey und Essey, wo
ich im September 1914 bei dem Regiment 112
schwere Gefechte mitmachen mußte. Ich konnte jedoch
nichts mehr erkennen, denn Dôrfer, Wälder,
kurz: alles war zerschossen und zerstort. J enseits des
Dorfes Régnieville stieg das Gelände sanft an. Dort
lagen die gegnerischen Stellungen. Alles war mit
Graben und Drahtverhauen durchzogen, so daß
man nicht wußte, in welcher Stellung eigentlich der
Gegner lag. Die Infanteriehorchposten, die nachts
vorne lagen, behaupteten, daß die feindlichen Vorposten
in den Ruinen des Dorfes Régnieville standen,
denn sie hatten oft einen Feuerschein gesehen,
wenn dort eine Zigarette oder eine Pfeife angezündet
wurde. Das alles interessierte mich sehr, denn es
waren alles Vorteile, die ich wissen mußte, um glücklich
hinüberzukommen. Wenn ich nur gewußt hätte,
wer uns gegenüberlag! Die einen sagten, die Franzosen,
andere, Neger und wieder andere, Amerikaner.
Jeden Tag stand ich stundenlang und schaute mit
dem Glase hinüber, konnte jedoch weder Franzosen
oder Neger noch Amerikaner entdecken; alles
schien verlassen und ausgestorben. Nur hie und da
hôrte man im Walde, der sich im Hintergrund der
feindlichen Stellung befand, die Abschüsse der Artillerie.
Dann sausten gewôhnlich die Granaten über
uns, um in den Wäldern hinter uns, irgendwo bei
den deutschen Batterien, zu krepieren. Manchmal,
besonders des Nachts, schlugen auch Granaten in
unserer Nähe ein. Alles sprang dann in den Unterstand,
wo wir vollständig gesichert waren.
370
Immer ging mir der Gedanke im Kopf herum:
Wenn ich nur drüben wärel Aber wie anfangen?
Und ganz allein schien mir auch zu gewagt. Zumal
ich fast kein Wort Franzôsisch konnte. Am vierten
Morgen fiel mir auf, dan an einer Stelle rechts von
uns drei franzosische Fesselballons in der Hôhe waren,
wo sonst doch nur einer sich befand. Bald wu13-
ten wir den Grund. Plôtzlich lag dort die deutsche
Stellung in einem furchtbaren Granathagel, der fast
eine Stunde anhielt. Dann flaute das Feuer ab; es
hieß, die Franzosen seien in die deutschen Graben
eingedrungen, hatten Gefangene gemacht und sich
dann wieder in ihre Graben zurückgezogen.
Am 'achmittag verbreitete sich das Gerücht, daß
die Franzosen und die Amerikaner an der Marne
eine Offensive unternommen und Fortschritte gemacht
hatten. Wir sollten nächstens hier weg und
dort hinkommen. Allen Soldaten graute nicht wenig
davor, in eine solche Hôlle zu kommen. ln mir verstärkte
sich der Entschluß, bald den Versuch zu machen,
zu desertieren.
VORBEREITUNG ZUM ÜBERLAUFEN
Am folgenden Mittag, 23.Juli 1918, gab es wieder
ein ganz miserables Mittagessen, angebranntes
Dôrrgernüse. Unteroffizier Beck und ich standen
allein oben im Graben und lôffelten den schlechten
Fraß hinunter. Plôtzlich, in jäh aufsteigender Wut,
nahm Beck sein Kochgeschirr mit Inhalt und schleuderte
es an die neben ihm befindliche Schulterwehr.
»Cottverflucht!« schimpfte er, »jetzt hab' ich's doch
bald satt!« Ich sagte dann, indem ich nach der franzosischen
Front hinüberdeutete: »Was meinst du,
Gustav?« Jah sah er mich an und fragte: »Cingest du
mit>. Worauf ich ja sagte. Gustav Beek erzählte mir
nun daß er seit einigen Tagen nichts anderes im
Kopf habe, als durchzubrennen. Aber wie, das war
371
eine andere Frage. Kärnen wir noch mal nach dem
Norden, hatten wir die hübsche Aussicht, zu fallen,
kämen. wir hier gIücklich hin–über, wären wir ~zerettet.
Fielen wir während des Uberlaufens, hätte alles
Elend ein Ende.
lm selben Moment kam ein Infanteriegefreiter,
ein Unterelsässer namens Pfaff, den wir beide gut
kannten, an uns vorbei. Er war ein kleiner, energischer
Mann, der, trotzdem er oft den Befehl erhielt,
sein Napoleonspitzbärtchen zu rasieren, dasselbe
immer noch zum Arger der Offiziere tmg. lm Vorbeigehen
blieb er plôtzlich dicht neben uns stehen
und fragte Ieise: »Cehnrer mit he nischt? (Geht ihr
mit heut' nachtr)« – »Wohin P. fragte ich. »Newer
(Rüberjl– antwortete er kurz und bündig. »Wie willst
du's anstellen, Pfaff?« sagte ieh. »Ich bin heut' nacht
vorn auf FeIdwache und muß Horchposten stehen.
Da gibt's schon eine Gelegenheit zu verschwinden.«
– »Horch, Pfaff, eben haben wir uns beide verabredet,
überzulaufen. Wußten nur nicht, wie.. – »Wir
machen's so«, sagte nun Pfaff. »Sobald die Dunkelheit
eintritt, kommt ihr beide auf die Feldwache. Wir
wollen dann schon sehen, wie wir loskommen.« Wir
versprachen zu kommen. Pfaff ging nun weg.
»Horch, Nickel«, sagte nun Beck, »wie machen wir's
nun, unauffällig von unserem Maschinengewehr
wegzukommen? Wir haben doch Befehl, die Maschinengewehre
nicht zu verlassen. Du kennst doch den
verrückten, dienstbeflissenen Laffen von Zugführer.«
Ich überlegte eine Weile, nahm dann, nachdem
ich mich versichert hatte, daß es niemand sah, mehrere
Munitionskästen mit Inhalt und warf sie auf die
Deckung ins hohe Gras. »Was machst du denn, NikkeI?
« fragte mich Beek. lch sagte: »Gegen Abend
melde ich dem Feldwebel, daf uns mehrere Munitionskästen
entwendet worden seien, wahrseheinlich
von der Infanterie, die die leichten Maschinengewehre
haben. Ieh wolle versuchen, uns wieder welche
zu beschaffen.. – »Das kônnte vielleicht gehen«,
372
Festung Toul unterging, dachte ich: Wenn ich dich
morgen wiedersehe, bin ich gerettet. Wenn nicht, ist
hait alles aus. lch hatte doeh eine äulierst unangenehme
Empfindung in der Brust, denn das Unsichere
unseres Wagnisses quälte mich.
lch ging nun in den Unterstand hinunter, steckte
unauffällig mein Handtuch und meine Seife in die
eine sowie ein Stück Kommißbrot in die andere hintere
Roektasche und meldete dem Feldwebel den
»Diebstahl« unserer Munition. »Herrgottl– fuhr er
auf. »Was machen wir nun? Eine Meldung an den
Kornpanieführer schreiben geht auch nicht gut.«
Ich sagte: »Herr Feldwebel, ich wühte sehon ein
Mittel, damit keine Meldung an den Kornpanieführer
geschrieben zu werden braucht, Wir klauen einfach
bei den leichten Masehinengewehren den uns
fehlenden Kasten.« – »Würden Sie das fertigbringen?
« meinte nun der Feldwebel. »Oanz einfach, nur
muf noch jemand mitkommen. lch alleine kann
nieht 4 Kasten tragen.« – »Gut, nehmen Sie noeh
einen Mann mit.« Ich sagte: »Arn besten wär's, der
Unteroffizier Beck würde mitkommen. Dies ist ein
schneidiger Kerl.. – »Das geht doch nicht, dal3beide
Gewehrführer weggehen«, sagte der Feldwebel.
Worauf ich antwortete: »Die Gefreiten kônnen ja die
Führung des Maschinengewehrs solange übernehmen;
zudem ist alles ruhig, und in einer halben
Stunde sind wir wieder da.« – »Na, gehen Sie meinetwegen.«
Da man nieht oh ne Waffen im Graben herumlaufen
durfte, schnallte ich mein Koppel mit Seitengewehr
und Mauserpistole, 9 Schul3 enthaltend, urn.
Zwei Ladestreifen zuje 9 Schul3 hatte ich schon vorher
in die Rocktasche gesteckt, ebenso eine neue
Zeitung zusammengefaltet in den Rockärrnelumschlag
geschoben, um etwas Weißes zum Winken zu
haben. Dann hing jeder noch 2 Stielhandgranate
373
an das Koppel, und wir gingen zum Unterstand hinaus.
Der erste Schritt zu unserem Wagnis oder zum
Weg, der zum Leben und zur Freiheit führte, war
getan. Es tat mir doch leid, daf ich meine Leute und
aIle Kameraden verlassen muûte, ohne von ihnen
Abschied nehmen zu kôrmen.
ÜBERLAUFEN ZU DEN FRANZOSEN lN
DER NACHT YOM 23. ZUM 24.]ULI 1918
Wir liefen nun die Stellung endang; da es bereits
dunkelte, stand aIle paar Schritte schon ein Nachtposten.
Am Laufgraben angekommen, der vorne zur
Feldwache führte, bogen wir in denselben hinein
und erreiehten bald die Feldwache, die etwa 200 m
vor der Hauptstelle lag. Die Feldwache, die aus einer
Gruppe Infanteristen (8 Mann) und einem Unteroffizier
bestand, bewohnte ebenfalls einen starken Unterstand.
Wir unterhielten uns eine Weile mit dem
Unteroffizier, dann wollten wir noch die etwa 30
Schritte weiter vorne liegenden Horchpostenstände
sehen. Beek und ieh gingen da hin. Unauffallig
folgte Pfaff, mit dem wir noch kein Wort geweehselt
hatten. Die Horchposten waren noeh nicht aufgezogen.
Die Horchpostenstände waren mit einem wirren
Stacheldrahthindernis umgeben. Beek und
Pfaff wollten eben die Beine heben, um durch den
Draht zu gehen, aIs ich hinter uns im Graben Sehritte
hôrte. »Pssst«, machte ieh leise. Und sagte dann laut:
»Hier kommt keiner an die Horchposten ran- und
sprang wieder in den Horehpostenstand hinunter.
Beek und Pfaff folgten. Wir unterhielten uns mit
dem Unteroffizier und gingen zur Feldwaehe zurück.
Nun besetzten 2 Horehposten ihre Platze.
Plôtzlich erschien der Oberleutnant der 5. Kompanie,
zu der die Feldwaehe gehorte, um zu revidieren.
»Wer ist denn das hier?« fragte er barseh, aIs er mich
und Beek stehen sah. Ieh stand still und meldete:
374
-wir sind 2 Unteroffiziere der S. M. G. [der schweren
Maschinengewehre] und wollen uns mal die
Lage der Feldwache ansehen; im Falle, daß der
Feind angreifen soIlte, da13wir den Mannschaften
der Feldwache nicht in den Rücken schießen.« –
»Schon, gut«, sagte nun der Oberleutnant. »Wenn
aIle Soldaten dasselbe Interesse hatten wie Sie, wäre
die Sache schon längst geschmissen!« Ich dachte:
Wenn du wü13testund unsere Absichten kenntest!
Beck und ich gingen nun in den Laufgraben, der
zur Hauptstellung führte. Wir beide waren überzeugt,
daf heute Nacht nichts zu machen wäre. Nun
kam Pfaff hinterhergelaufen, raunte: »Alle denn
losl- – und schon war er zum Laufgraben hinaus
und in dem hohen Gras verschwunden. Wir beide
kletterten nach und fanden Pfaff, der in einem alten
Granatloch auf uns wartete. Wir befanden uns zwischen
2 Drahtverhauen. Der hinter uns sich befindende
deckte uns gegen die Posten in der Hauptstellung.
Wir krochen den vorderen Drahtverhau entlang
und fanden endlich eine Bresche, die von zwei
hintereinander eingeschlagenen Granaten herrührte.
Dort krochen wir durch den Drahtverhau.
Schon gab es einige Risse in den Kleidern. Nun krochen
wir auf allen vieren weiter, kamen durch einen
tiefen, alten Graben und blieben dann hinter einem
Erdhaufen liegen. Hier schworen wir uns leise zu,
keiner den anderen zu verlassen, komme, was wolle.
Ich erhob einen Moment den Kopf und sah etwa 30
Schritte links von uns die beiden Baumstümpfe, die
ieh direkt vom Horchpostenloeh vor mir gesehen
hatte. Also befanden wir uns kaum 30 Sehritte rechts
von den Horehposten. Ieh sagte dies leise zu Pfaff.
»Wir müssen näher an die Horchposten ran«, sagte
er. »Denn dort befindet sieh ein Gang dureh den
breiten Drahtverhau, wo die oberen Drähte durehgesehnitten
sind, damit die Patrouillen durchkônnen.
« Herrgott, wie wird das werden! daehte ieh.
Also kroehen wir noeh einige Meter nach links, dem
Horchposten zu. Richtig, da fanden wir den im
375
Drahtverhau befindlichen Gang. Pfaff richtete sich
aufund ging gebückt durch den Verhau. AIs er bald
drüben war, hôrte ich plôtzlich kaum 20 m vor uns
die Horchposten sprechen, und päng-pàng knallten
2 Schüsse. Wir waren entdeckt! Pfaff war jenseits
des Verhaus verschwunden. Nun erhob sich Beck
und überwand so schnell wie môglich das Hindernis.
Vier Sehüsse wurden auf ihn abgegeben. Auch
er versehwand jenseits dieses Hindernisses. Nun
kroch ich in die Lücke hinein. Da jedoeh nur die
oberen Drähte durchgeschnitten waren, blieb ich
hängen, mußte mich oft mit den Händen losmachen.
AIs ich etwa die Mitte des Verhaus erreieht
hatte, hing ich überall im Draht fest. Sobald ich
mich bewegte, knirschte der Draht um mich herum.
Was tun? Durehkriechen ging nicht. Stand ich auf,
lief ieh Gefahr, erschossen zu werden, da die
Horchposten bereits auf die Stelle aufmerksam geworden
waren. leh wurde ziemlich aufgeregt, loste
mich vom Draht los, so gut ieh konnte, sprang mit
einem Ruek auf. Krack, gab's Lôcher in Hosen und
Rock. Kaum daß ich mieh erhoben hatte, knallten
2 Sehüsse. So schnell ich konnte, bewegte ich mich
vorwärts, und in dem Moment, als ich mieh jenseits
des Verhaus zu Boden warf, knallte noeh ein Schuß.
Auf allen vieren lief ieh, so schnell ich konnte, den
niedergetretenen Grasspuren nach, hielt einen Moment
an und rief leise: »Beck l Pfaff! « Einige
Schritte vor mir hielten sie den Arm mit Mütze in
die Hôhe. So schnell wie môglich kroch ich zu ihnen.
Schnell erkundigten wir uns gegenseitig, ob
keiner verletzt worden sei. Alle waren noch heil,
außer einigen Rissen, die jeder yom Draht bekommen
hatte. Pfaff sagte: »Wir müssen so schnell wie
môglich machen, daß wir wegkommen! Denn jedenfalls
nimmt der Oberleutnant jetzt die Feldwache,
um uns wieder einzufangen.« Gefangennehmen
hatten wir uns aufkeinen Fall lassen, denn sonst
wären wir sowieso standrechtlich erschossen worden.
ln diesem Falle hatten wir uns gegen unsere
376
Soldaten auf Leben und Tod wehren müssen. Wir
kletterten noch dureh 3 breite Drahthindernisse, die
Uniformen waren schon elend zerrissen. Auch
brannten die durch den rostigen Stacheldraht verursachten
Hautrisse. Nun kamen wir in einen alten
Graben, der in Richtung der Franzosen lief. Dieser
wurde immer tiefer und hôrte plôtzlich ganz auf; wir
befanden uns wie in einem Sack. Schnell stellte ich
mieh mit dem Rücken an die Wand, Pfaff stellte sich
auf meine zusammengefalteten Hände, dann auf
meine Schultern, hielt sich oben am Grase fest und
kletterte hinaus. Nun folgte Beek. leh streckte nun
meine Hände in die Hôhe. Die beiden, die auf dem
Bauehe lagen, faßten zu und zogen mich in die
Hohe, während ich mit den Beinen naehhalf. Sofort
ging es wieder weiter. Wir überkletterten noch zwei
weitere sehmale Drahthindernisse und sahen dann
unter uns das zusammengeschossene Dorf Régnieville
liegen. Bis zum Dorfbefand sich kein Hindernis
mehr. Die Gefahr von rückwärts hatten wir nun
überstanden; nun kam die Gefahr von vorne.
Da Beck und Pfaff franzosisch spraehen, riet ieh
ihnen, die in den Ruinen stehenden franzosischen
Vorposten anzurufen. »Das geht nieht, sonst hart
der uns verfolgende Oberleutnant, wo wir sind!«
Also liefen wir den Abhang hinunter, den Ruinen
zu. Jeden Augenblick befürchtete ieh, daf es in den
Ruinen aufblitzen würde und wir getroffen würden.
Nichts von all dem geschah. Wir kamen in die Ruinen;
alles totenstill, niehts regte sieh. Wir horehten
noch eine Weile; nichts, gar nichts. Pfaff sprang nun
in einen alten Laufgraben, der um die Kirche herumführte.
Er sprang auf ein im Graben liegendes
Stüek Wellbleeh, was einen Heidenlärrn verursaehte.
Wieder horchten wir; alles still. Da fing die franzôsisehe
Artillerie zu schieûen an. ln hohem Bogen flogen
die Geschosse über uns hinweg, um dann hinter
den deutschen Stellungen einzusehlagen. Vor Aufregung
und vom Laufen waren wir alle naligeschwitzt,
denn es war eine laue, helle Sommernacht,
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und der Mond beleuehtete nun alles fast taghell.
Vorsichtig gingen wir den Laufgraben entlang, der
in Richtung der franzosischen Stellung führte und
langsam bergan stieg. Immer wieder blieben wir stehen
und horehten. Niehts war zu horen als einige
lnfanterieschüsse oder das Rattern eines Maschinengewehrs
irgendwo oder hie und da in der Nähe
oder Ferne einzelne Kanonensehüsse. Es war sehr
unangenehm, daß wir nicht wußten, wer vor uns lag
oder wo sie lagen. Also gingen wir vorsichtig weiter,
immer wieder stehenbleibend, um zu horehen. Wir
kamen an alten Stollen und Unterstanden vorbei,
die uns fins ter entgegengähnten. Nun kamen wir zu
einer Stellung, die sich mit dem Laufgraben kreuzte.
An einem Pfahl war eine Tafe! angebracht, doch war
es nieht hell genug, um das Daraufgeschriebene lesen
zu kônnen. lch leuchtete mit meiner Taschenlampe
in den Graben. Da sahen wir an den vielen
Fuûspuren, daß der Graben oft passiert wurde. Wir
gingen wieder wei ter und kamen nochmals an einer
Stellung vorbei, die ähnlich der vorigen den Laufgraben
kreuzte. Pfaffmeinte: »Ich glaube bestimmt,
daß wir durch die franzosischen lnfanteriestellungen
durch sind und daß hier kein Posten gestanden
hat.« – »Glaub das nur nichrl– antwortete ich leise.
leh bat die beiden, nun doch die Franzosen, oder
wer sich sonst in der Stellung befinde, anzurufen.
lmmer noch getrauten sie sich nicht zu rufen aus
Furcht vor den uns verfolgenden Deutschen. Die
Pistole schußfertig in der Hand, gingen wir vorsichtig
weiter. Nun kamen wir zu einem im Graben liegenden
spanischen Reiter. So wurden die um ein
hôlzernes Gestell gezogenen transportablen Drahthindernisse
genannt. Nun war ich überzeugt, daf
wir dicht bei den Franzosen sein müßten. Wir arbeiteten
uns an dem Hindernis vorbei. Einige Schritte
weiter lag im Graben ein rôhrenartiges Gestell, mit
glattem Draht umwunden. Wir krochen auf allen
vieren, einer nach dem anderen, hindurch. Dabei
streiften unsere Rücken oben am Draht hängende,
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leere Konservenbüchsen, die dann gegeneinanderschlugen
und ein klingendes Cerausch verursachten.
Das war sieher das Alarmsignal für die franzôsisehen
Posten. leh sagte noehmals leise zu meinen
Kameraden, sie sollten um Himmels willen die Franzosen
anrufen. Noeh immer wollten sie nicht und
gingen weiter, stellteri sich hinter die nachste Sehulterwehr
und horchten. lch befand mieh noeh einige
Sehritte hinter ihnen und sah plotzlich oben links
neben dem Graben einen Franzosen aufspringen,
jenseits der Schulterwehr über den Graben setzen
und zurüeklaufen. Sofort daehte ich: Das war der
Horehposten, der nun die Feldwaehe alarmieren
geht. leh sprang zu den beiden und rief halblaut:
»Ruft jetzt, ieh habe einen Franzosen zurücklaufen
sehenl– Wir drei waren sehr aufgeregt in diesem
Moment. Eben wollten die beiden rufen, als Sehüsse
kurz vor uns knallten und die Kugeln hinter uns in
den Graben sehlugen. Nun sehrien die Franzosen
etwas, indem sie immerfort knallten. »Wir sind drei
Elsasser«, sehrien nun Beek und Pfaff auf franzôsisch,
»die zu eueh woUen! Vive la Francel- Aber in
dem nun einsetzenden tollen Gesehiel3e konnten die
Franzosen ihre Worte nicht verstehen. Pfaff, der
eine unglaubliehe Courage hatte, ging nun um die
Schulterwehr herum und den Franzosen entgegen.
Beek wollte folgen. lm selben Moment hôrte ich
einen kleinen Knaeks. Dieser Knaeks rührte von der
Feder her, die beim Verlassen einer Handgranate aus
der Hand aufspringt. »Beckl– riefich. »Bleib stehenl
Sie haben eine Handgranate geworfen!« Und rif ihn
hinter die Sehulterwehr in Deekung. Bums, kraehte
die Handgranate jenseits der Sehulterwehr. lm selben
Moment noch einmal. Burns. Eine zweite Handgranate
war geplatzt. Da hôrten wir einen Aufsehrei
von Pfaff. Jedenfalls war el' getroffen. Der Rauch der
Handgranaten kam nun um die Sehulterwehr herumgezogen
und hüllte uns vollständig ein. AIs ieh
mieh umsah, war Beck versehwunden. Jedenfalls war
er um die Schulterwehr gegangen.
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als ich von oben auf franzôsisch angerufen wurde.
Ich sah hinauf. Da stand ein Franzose mit drohend
erhobener Handgranate. Sofort lief ich meine Pistole
fallen, riß die Zeitung aus dem Armel und
streekte beide Arme in die Hôhe, indem ieh rief:
»Alsacien, Deserteur!« Der Franzose rief: »Cornbien?
« Das Wort verstand ich: Wieviel? Ich glaubte,
»drei– hieße »treize «, und sehrie »Treize!« statt
»trois«. Der Franzose beugte sieh nun nieder und
suchte anscheinend die 13 zu entdecken. AIs er jedoch
au13ermir niemanden im Graben sah, sehrie er
nochmals: »Cornbien?«, woraufieh ihm 3 Fingervor
Augen hielt. Nun streckte er mir die Hand hinunter;
schnell schnallte ich mein Koppel ab, lief es zu Boden
fallen, reichte ihm die Hand hinauf, er zog, und
ich kletterte zurn Graben hinaus. Gott sei Dank!
dachte ich. Jetzt ist's überstanden. Und nahm die
Arme herunter. Der Franzose, der mir nicht recht zu
trauen schien, sprang einige Schritte zurück und
erhob wieder drohend die Handgranate. Wieder erhob
ich beide Arme und wiederholte: »Alsacien, Deserteur!
« Nun gab mir der Franzose freundlich die
Hand und klopfte mir auf die Sehulter. Wie glücklich
ich in diesem Moment war, lalit sich nicht beschreiben.
Ich dachte nun sofort an Pfaff, den ich leise stohnen
hôrte. Ich sagte zum Franzosen: »Kamerad
blessé- und deutete auf mich und in den Graben.
Der Franzose deutete mir, nur zu gehen. Ich sprang
an derselben Stelle, an der ich hinaufgeklettert war,
wieder in den Graben und woIlte rasch um die Schulterwehr
herum zu Pfaff. Dort wimmelte es von Franzosen,
die lebhaft durcheinandersprachen. Wie der
Blitz hielt mir einer davon die Pistole vor die Stirn, so
da13ich die kaIte Mündung spürte. Ebenso schnell
setzte mir ein anderer das Bajonett auf die Brust.
Wie der Wind gingen meine Arme wieder in die
Hôhe, und ich sagte mein Sprüchlein her: »Alsacien,
Deserteur!« Sofort ließen sie von mir ab, und ich
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hôrte sagen: »C'est le troisièrne.. Beck hatte ihnen
namlich schon gesagt, daß sich noeh ein dritter im
Graben befinde. Dies alles dauerte seit dem ersten
Sehul3 keine 3 Minuten. Sofort ging ieh zu Pfaff, der
bewußtlos am Boden im Graben lag und mit jedem
Atemzug leise stohnte. Ich drückte die Franzosen,
die sich um ihn bemühten, zur Seite, befühlte überall
seine Uniform, denn an die Grabensohle konnte der
Mond nieht scheinen. SA war nicht zu sehen, wo
Pfaff verwundet war. AIs ich am linken Oberschenkel
fühlte, spürte ieh naf und im selben Moment
warrnes Blut, das mir sto13weisean die Hand spritzte.
Oberschenkelschuû, Schlagader getroffen, schoß es
mir durch den Kopf. Das beste Mittel war, den
Schenkel sofort abzubinden, um das Verbluten zu
verhindern. Ich lôste schnell den Gürtel, der die
Hosen hielt, offnete die Hosen und Unterhosen.
Beek half mir, den Kôrper etwas aufzuheben. Dann
streiften wir die Hosen herunter. Ich ri13meine Halsbinde
herunter und wollte damit das Bein abbinden.
Krack, war das alte, verwaschene Ding entzweigerissen.
Sofort gab mir einer der Franzosen, die rundherum
zuschauten, ein Stüek starke Schnur, die ich
dann oberhalb der Wunde locker um den Schenkel
band. Dann brach ich ein etwa 30 cm langes, fingerdickes
Holz aus der Grabenverschalung, steckte dasselbe
au13erhalb des Schenkels zwischen Schnur und
Bein und drehte das Holz. Dadurch wurde die
Schnur derart angezogen, daf sie ins Fleisch des
Schenkels einschnitt und die Schlagader zudrückte.
Sofort hôrte das Bluten auf. Die Franzosen klopften
mir auf die Schulter und sagten auf franzôsisch, da13
ich es gut gemacht hätte. Pfaff war immer noch
ohnmächtig. Da woIlte ihm Beck ein Stückchen Zukker
in den Mund geben. Einer der Franzosen nahm
ihm das Stückchen Zucker aus der Hand, gol3 aus
einem kleinen Flaschchen eine stark nach Alkohol
riechende Flüssigkeit darauf und schob es dann
Pfaff in den Mund. Sofort war dieser bei Besinnung.
Die ersten Worte, die er sagte, waren: »Moi, mourir
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pour la France!«, was ich nicht verstand, Beck mir
aber übersetzte. [»Ich, sterben für Frankreich! «] Ich
sagte dann Pfaff, daf er nicht so schwer verwundet
sei und sein Bein abgebunden sei. Die Franzosen
waren uns gegenüber sehr freundlich. Alle wollten
uns die Hand drücken. Die einen gaben uns Zigaretten,
andere ein Stückchen Schokolade oder woUten
uns die Feldflasche mit Wein geben. Ich trank einige
Schluck, da ich von der Aufregung sehr Durst bekornmen
hatte. Dieses Getränk kam mir ganz fremd
vor, denn bei den Preulien gab es weiter nichts ais
den schlechten, aus Kaffee-Ersatz bereiteten, schalen
Kaffee zu trinken. Dann zündete mir einer der
Franzosen eine Zigarette an, die ichjedoch fast nicht
zu rauchen vermochte, da sie mir zu stark war.
Wir wurden nun von 2 Soldaten und einem jungen
Offizier durch die franzôsische Stellung zurückgeführt.
Da die ganze Grabenbesatzung alarmiert
war, standen sie Mann an Mann in SchieBstellung.
Alle sagten uns im Vorbeigehen freundliche Worte,
die ich natürlich nicht verstand. AIs wir durch den
nach hinten führenden Laufgraben zurückgingen,
kamen schon 2 Sanitäter mit einer Tragbahre an uns
vorbei, um Pfaff abzuholen. Beek plauderte mit dem
vor ihm gehenden Soldaten. Plôtzlich sagte der hinter
mir gehende junge Offizier in einem mit starkem
franzôsischem Akzent gesprochenen Elsasserditsch:
»Wü bisch dü har? (Wo bist du her)?« Ich antwortete
unüberlegterweise in hochdeutsch. »Dü büsch a
Schwob, dü resch net Dialekt.. [vSchwob. bedeutet
im Elsasserdeutsch nicht »Schwabe«, sondern
»Deutscher«] Woraufich antwortete: »Nei, ich bi vo
St. Üalri bi Dammerkirch (Nein, ich bin von St. Ulrich
bei Dammerkirch).« – »So, vo don bisch«,
meinte nun der Offizier. »Sag, wer isch denn Maire
in Dannemarie [franzôsischer Name Damrnerkirchs]?
« Das wuûte ich beim besten Willen nicht. Ich
sagte, ich wisse es nicht, sei bereits seit 5 J ahren von
zu Hause weg und hätte dies alles vergessen. »Ebien,
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gwohnt«, gab ich zur Antwort. »'s stimrnt«, sagte nun
der Leutnant. »1 bi scho mangmol z' St. Ulrich
durch, wenn mer aIs uffSeppois-le-Bas [Niedersept]
marschiert sin.« Ich fragte ihn nun, ob St. Ulrich
auch zerschossen sei. Er glaubte es nicht, konnte sich
aber nicht mehr genau erinnern.
Wir plauderten noch allerlei, bis wir hinten im
Waidiager ankamen. Er sagte mir unter anderem,
daß er aus Rosheim im EIsaßstamme. lm Waldlager
kamen von allen Seiten Soldaten aus den Unterstanden,
die uns sehen woIlten. Beck konnte nicht fertig
werden, auf alle an ihn gerichteten Fragen zu antworten.
Mich ließen sie ziemlich in Ruhe, da sie sahen,
daß ich nichts verstand. Mir fiel am meisten die
Lebhaftigkeit dieser Soldaten auf sowie die dicken
roten Gesichter. Ganz andere Menschen ais diehalbverhungerten,
hageren Deutschen mit ihrer fast
durchweg gelblichen Gesichtsfarbe. Beck mußte
mm zum Kompanieführer in den Unterstand, wo el'
verhort wurde. Mir wurde meine Gasmaske abgenommen.
Mehrere Soldaten brachten mir Wein und
Zigaretten. Ich trank 2 Becher, sollte noch mehr
trinken, wollte aber nicht, denn ich fühlte schon
einen dummen Kopf. Ich war doch das Weintrinken
gar nicht mehr gewohnt. Auch war mir kalt auf dem
Rücken, da ich vom Schwitzen ein waschnasses
Hemd hatte. Iehrere brachten mir Weißbrot und
Kase. Ich langte dann in die Rocktasche und gab
ihnen mein Kommißbrot. Sie rochen daran und
machten: »Brrr.« AIs sei es gar nicht moglich, so
etwas zu essen, während wir die letzten 2 Jahre nie
genug davon bekommen konnten. Sofort fing ich
an, von dem Weißbrot zu essen, strich mir über den
Bauch, um ihnen zu zeigen, wie gut es mir
schmeckte. Alle lachten, und obwohl wir uns mit
keinem Wort verständigen konnten, waren wir doch
die besten Freunde. Da kam ein Franzose und fragte
mich auf deutsch: »Was sagen die Leute von Hindenbürg
und Lüdendorfr– Ich antwortete ihm, daß
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Hindenburg geliebt und Ludendorf gehaßt sei. Er
fragte weiter, ob wir es gewußt hatten, daf die Deutschen
am 19./20.juli an der Marne zurückgeschlagen
worden seien und die große franzôsisch-englisch-
amerikanische Offensive begonnen habe. lch
gab ihm nun die neue deutsche Zeitung, die ieh noch
bei mir hatte, wofür er sieh sehr bedankte. lnzwisehen
war das Verhôr von Beek beendet, und wir
wurden von 2 Soldaten zurückgeführt. AIs wir im
Wald eine Straße erreichten, die sich bei einer Eisenbahnbrücke
mit einer anderen Straûe kreuzte, deuteten
uns die Franzosen, mit ihnen im Laufschritt
durchzulaufen. Dann erzählten sie Beek, daf diese
Stelle nachts oft von den Deutschen bombardiert
werde. Natürlich liefen wir, so sehnell wir konnten,
denn wir wollten hier nieht noch was abkriegen.
Dann erzählten uns die beiden Franzosen, daf jetzt
keine Gefahr mehr sei.
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ß
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ß ß ß ß ß ß ß ß ß ß ß ß
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