IM ALTER VON 20 JAHREN …
lm Alter von 20 Jahren wurde ich am 16.oktober
1913 zum Militär eingezogen und der 1.Kompanie,
Infanterieregiment 112, welches in Mülhausen (Elsaß)
in Garnison lag, zugeteilt. Nach etwa einem
halben Jahre waren wir Rekruten durch den in der
deutschen Armee üblichen Drill zu kriegstüchtigen
Soldaten ausgebildet. Mitte Juli 1914 kam unser Regiment
nach dem Truppenübungsplatz Heuberg an
der badisch-württembergischen Grenze, um dieGefechtsübungen
in großerem Maßstabe zu lernen.
Wir wurden dort manchmal aufs gemeinste herumgejagt
und geschliffen.
Am 29.Juli 1914 [… ] nachmittags hatte die Feldartillerie
Scharfschießen. Da es uns erlaubt war zuzusehen,
ging ich auch hin, denn ich war der Meinung,
daß ich diese Gelegenheit vielleicht nie mehr im Leben
haben würde. Das Schießen vor Ort war wirklich
interessant. Ich stand hinter den Geschützen und
konnte das Platzen der Schrapnells sowie die Einschläge
der Granaten bei den aufgestellten Zielen
genau sehen. Von dem drohenden Kriege hatten wir
Soldaten nicht die geringste Ahnung. Am 30.Juli
1914 gingen wir, durch den Dienst sehr ermüdet,
frühzeitig zu Bett. Etwa um 10 Uhr abends wurde
die Tür plotzlich aufgerissen und vom Kompaniefeldwebel
der Befehl zum sofortigen Aufstehen
gegeben, da der Ausbruch des Krieges unvermeidlich
sei. Wir fuhren aus dem Schlafe auf, keiner
war im ersten Moment vor Überraschung fähig, ein
Wort zu sprechen. Krieg, wo, mit wem? Natürlich
waren sich bald alle einig, daß es wohl wieder gegen
Frankreich gehe. Da fing einer das Lied »Deutschland,
Deutschland über alles« zu singen an. Fast alle
fielen ein, und bald tonte das Lied aus Hunderten
von Soldatenkehlen in die Nacht hinaus. Mir war es
absolut nicht ums Singen, denn sofort dachte ich,
daß man im Kriege nichts so gut wie totgeschossen
werden kann. Das war eine äußerst unangenehme
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Aussicht. Auch war mir bange, wenn ich an meine
Angehörigen und meine Heimat dachte, die hart an
der Grenze liegt und daher der Gefahr ausgesetzt
war, zerstört zu werden.
Eiligst wurde nun gepackt, und noch in der N acht
ging's nach dem im Donautale gelegenen Bahnhof
Hausen. Da kein Zug für uns da war, marschierten
wir ins Lager zurück, bis gegen nächsten Abend, um
dann in einem überfüllten Zuge, zusammergepfercht
wie Salzheringe in der Tonne, nach unserer
Garnisonsstadt Mülhausen zurückzufahren. Morgens
um 6 Uhr, 1. August 1914, kamen wir an und
marschierten in die Kaserne. Bis Mittag sollte Bettruhe
sein, jedoch bereits um 9 Uhr wurde ich mit
noch mehreren Kameraden geweckt. Wir empfingen
auf der Kammer die Kriegsmontur, alles nagelneu
vom Kopf bis zu den Füßen, dann erhielt jeder
von uns 120 scharfe Patronen. Nachher mußten wir
in die Waffenmeisterei, wo unsere Seitengewehre
geschliffen wurden.
Da kamen mein Vater und meine Schwester nochmals
zu mir, um mir Geld zubringen und Abschied zu
nehmen. Nun kam der Befehl, daß kein Zivilist mehr
den Kasernenhof betreten darf. Ich erhielt dann die
Erlaubnis, vor dem Kasernentor noch mit meinen
Angehörigen zu sprechen. Es war ein schwerer Abschied,
denn man wußte nicht, ob wir uns wiedersehen
würden. Wir weinten alle drei. Beim Fortgehen
ermahnte mich mein Vater,ja immer recht vorsichtig
zu sein, und daßich mich nie freiwillig zu irgend etvas
melden sollte. Diese Mahnung war eigentlich nicht
nötig, denn meine Vaterlandsliebe war nicht so gloß,
und der Gedanke, den sogenannten Heldentod zu
sterben, erfüllte mich mit Grauen.
Nun wurde ich mit noch 8 Mann zur Wache bei
der Stationskasse kommandiert. Andere Soldaten
standen am Bahnhof Wache, wieder andere patrouillierten
nach allen Richtungen den Gelesen
entlang. Am 3. August kreiste in großer Hohe ein
französischer Flieger über der Stadt. Alle Soldaten
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knallten in die Hohe. Jeden Augenblick glaubten
wir, daß er abstürzen würde, aber ruhig zog er seine
Kreise. Eine Menge Zivilisten hatten sich auf dem
Bahnhofsplatz angesammelt, um zuzusehen. Plötzlich
schrie einer der Zivilisten: »A Bumma!« (»-Eine
Bornbe!«) Schreiend lief der Haufen Zivilisten auseinander
und verschwand im Bahnhof und in den
umliegenden Gebäuden. Ich selbst sprang ebenfalls
in den Bahnhof und erwartete jeden Augenblick das
Explodieren der Bombe. Alles blieb still. Da wagte
ich mich unter dem Dach hervor, schaute in die
Höhe und sah einen Gegenstand herunterkommen,
an dem etwas flatterte. Bombe ist das doch sicher
keine, dachte ich. In Wirklichkeit war es ein schöner
Blumenstrauß, hauptsächlich aus Vergißmeinnicht
bestehend, der von einem rot-weiß-blauen Band zusammengehalten
war. Ein Gruß Frankreichs an die
elsässische Bevölkerung.
Am 4. August verließen zwei Züge, angefüllt mit
deutschen Beamten, Mülhausen in Richtung Baden.
Wir hatten von ihnen mehrere Flaschen Wein erhalten,
die wir uns wohl schmecken ließen. Da hieß es,
daß nicht nur Krieg zwischen Deutschland und
Frankreich sei, sondern zwischen Deutschland,
Österreich- Ungarn und der Türkei einerseits und
Frankreich, Rußland, Belgien, England und Serbien
andererseits. Oja, dachte ich, das wird was abgeben.
Am 5. August marschierte ich mit einer kleinen Abteilung
nach Exbrücke. Wir lagen 2 Tage auf dem
sogenannten Kolberg nördlich des Dorfes. Am
7. August sah ich die ersten Franzosen, es waren
Patrouillen, die durch die Kornfelder kamen. Wir
beschossen uns gegenseitig, doch gab's auf keiner
Seite Verluste. Das Pfeifen der Kugeln regte mich
anfangs sehr auf. Da bekamen wir den Befehl, uns
bis über den Rhein nach Neuenburg zurückzuziehien,
und marschierten dahin. Mit Tagesgrauen
marschierten wir über die Rheinschiffbrücke. Beim
Friedhof von Neuenburg schlugen wir unser Zeltlager
auf, todmüde legten wir uns hin, um zu schlafen
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und uns von dem Marsche auszuruhen. Dort blieben
wir 2 Tage, bis zum 9. August, liegen. Mehrere Regimenter
Soldaten waren nun don versammelt. Und
es war ein schönes militärisches Bild, das sieh dem
Auge bot.
Am 9. August morgens hieß es: »Fertigmachen!
Antreten!« un ging's wieder über die Rheinbrücke
in den großen Hardtwald hinein. Es wurde uns nicht
gesagt, was los sei oder wohin wir gehen würden. [… ]
Alle Unteroffiziere mußten zum Hauptmann gehen,
Befehl empfangen. Dann gab jeder Gruppenführer
seiner Gruppe den Befehl bekannt: Die Franzosen
haben die Linie Habsheim – Rixheim – Napoleonsinsel-
Baldersheim und so weiter besetzt. Wir müssen
gegen Abend angreifen und sie zurückwerfen. Unser
Regiment hat die Aufgabe, das Dorf Habsheim, Rixheim
und die dazwischen liegenden Rebhügel zu
erstürmen. Plötzlich war jedes Lachen, jeder Humor
wie weggeblasen, denn keiner glaubte, die heutige
Nacht zu erleben, und von der in patriotischen Schriften
so oh gerühmten Kampfbegeisterung und dem
Draufgängertum sah man herzlich wenig. Nun hieß
es weitermarschieren. Auf dem Straßenrand lag der
erste Tote, ein französischer Dragoner, der einen
Lanzenstich in die Brust erhalten hatte. Ein schauderhafter
Anblick: die blutende Brust, die verglasten
Augen, der offene Mund sowie die verkrallten
Hände. Wortlos marsehierte alles vorüber.
[… ] ln der Nähe von unseren Schießständen lagen
6 tote deutsche Infanteristen, alle auf dem Gesicht.
Wir mußten nun im Walde ausschwärmen und
bis gegen den Wald rand vorgehen und uns dann
hinlegen. lch lag in der 2. Schützenlinie. Vor uns am
Waldrand standen die Flugzeugschuppen des Habsheimer
Exerzierplatzes. Also mußten wir über den
1200 m breiten, deckungslosen Exerzierplatz vorgehen.
Ich dachte: Die Franzosen knallen uns weg,
sobald wir vorgehen. »Sprung auf! Marschmarsch!«
schallte das Kommando. Die 1. Linie erhob sieh und
rannte zum Walde hinaus. Ein Reservefeldwebel
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blieb liegen. leh weiß nicht, war's aus Feigheit oder
war er vor Angst. ohnmächtig geworden.
DIE SCHLACHT BEI MÜLHAUSEN
Sofort ais die 1. Schützenlinie var dem Waldrand
erschien, prasseIte es ihnen aus dem etwa 1200 m
entfernten Gebüsch schon entgegen. Die Kugeln
zischten über uns hinweg, zischten durch das Laub
oder klatschten in die Bäume. Mit klopfendem Herzen
schmiegten wir uns alle an den Waldboden,
so dicht wir nur konnten. »Zweite Linie, Sprung auf!
Marschmarsch!« Wir erhoben uns und sprangen aus
dem Walde. Sofort zischten uns die Kugeln um die
Ohren. Die 1. Linie hatte sich hingelegt und hielt die
Gebüsche lebhaft unter Feuer. Schon lagen einzelne
Gefallene und Schwerverwundete hinter der ersten
Linie herum. Leichter Verwundete rannten zwischen
uns durch, zurück in den schützenden Wald.
Unsere Artillerie beschoß mit Schrapnells die zwischen
Rixheim und Habsheim gelegenen Rebhügel.
Das Sausen der Geschosse war für uns neu. Das
Krachen, Knattern und Zischen brachte uns in eine
nicht geringe Aufregung. Plötzlich sauste es dicht
über uns: Zwei französische Granaten explodierten
kaum 20 m hinter uns. Im Laufen schaute ich mich
um, und als ich den Rauch und die umherfliegenden
Rasenstücke sah, dachte ich: Wenn mir 50 eine zwischen
die Beine flöge, 0 weh!
»In die erste Linie einschwärmen !- scholl das
Kommando. Wir sprangen hin und ließen uns in den
Lücken der 1. Linie zu Boden fallen. Wir mußten
nun das uns gegenüberliegende Gebüsch unter
Feuer nehmen. Wie oft schon hatten wir mit Platzpatronen
in Friedenszeit Sturmangriffe auf jenes Gebüsch
gemacht; doch damals war der Feind durch
rote Flaggen markiert. Heute war es leider ganz,
ganz anders. »Der Armbruster ist gefallen«, sagten
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sich die Soldaten gegenseitig in der Schützenlinie. Er
war ein Soldat meines Jahrganges. Das regte noch
mehr auf. [A., ein 23jähriger Schreiner, ist Iaut
Stammrolle des 112. Infanterieregiments bei diesem
Gefecht nicht gefallen, wurde an diesem Tag aber
durch einen Brustschuß schwer verwundet.] Zing,
schlug eine Kugel längs neben mir das Gras weg.
30 cm weiter nach links, und aus wär's mit mir gewesen.
-Sprung auf! Marschmarsch !- Alles stürzte vorwärts,
sofort prasselte es uns noch viel arger entgegen.
Wieder stürzten einzelne getroffen, manchmal
mit schrecklichem Aufschrei, zu Boden. »Stellung,
Feuer aufnehmen! 1., 3., 5., 7., 9. Gruppe springt!
2., 4., 6., 8. und 10. Gruppe schießt inzwischen
Schnellfeuer l- So ging's nun abwechselnd vor.
Als wir uns dem Gebüsch näherten, horten die
Franzosen mit Schießen auf. Als wir uns durch das
Gebüsch gewunden hatten, sahen wir eben die
letzten Franzosen beim Bahnhof Habsheim verschwinden.
Das waren die ersten Franzosen, die ich
beim Angriff zu sehen bekam. Im Gebüsch sah ich
nur zwei Tote liegen.
Als wir nun über das freie Feld gegen Habsheim
vorgingen, bekamen wir wieder starkes Feuer aus
dem Bahnhof und von den Rebbergen herunter.
Jedoch nur ganz wenige wurden getroffen. Als wir
mit Hurra den Bahnhof stürmten, waren die Franzosen
schon wieder gewichen. Wir waren dort auch
zu sehr in der Übermacht. Nun ging's zum Sturm
auf die Rebhügel. Anfangs prasselte uns ein starkes
Feuer entgegen, doch ais wir bald oben waren, flüchteten
die Franzosen in die Reben und waren verschwunden.
Die französische Stellung bestand nul'
aus einem etwa 50 cm tiefen Graben, dahinter Iag ein
Haufen Weißbrot und ein Fäßchen Rotwein. Beides
war bald in unseren Mägen verschwunden. Selbst
der größte Patriot fand das französische Weißbrot
besser ais unser Kommißbrot.
[… ] Inzwischen war es Nacht geworden. ln den
Reben fanden wir einen jungen, ohnmächtigen
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Franzosen . Im Scheine angezündeter Streichhölzer
sahen wir, daß er einen Oberschenkelschuf3 erhalten
hatte. Ein Badenser aus Mannheim wollte ihn totschlagen,
ich und mein Kamerad Ketterer aus Mülhausen
hatten Mühe, den Unhold von seinem Vorhaben
abzuhalten. Da wir sofort weiter vor mußten,
ließen wir den Franzosen liegen.
Als wir mit Hurrageschrei auf Rixheim losstürmten,
mußten sich die Franzosen zurückziehen, um
nicht in Gefangenschaft zu kommen. Trotzdem
wurden beim Häuserabsuchen noch Gefangene gemacht,
die sich vor Angst verkrochen hatten. Die
meisten Soldaten waren wie verrückt und wollten
überall im Dunkel Franzosen gesehen haben. Eine
blödsinnige Knallerei ging los, auf Bäume und alles
mogliche, sogar auf Schornsteine auf den Dächern
wurde geschossen. Überall zischten und schwirrten
die Kugeln herum, so daß man nirgends seines Lehens
sicher war. Der größte Soldat des Regiments,
der 2 m lange Hedenus, stürzte zu Tode getroffen zu
Boden. [H. war ein 19 jähriger Gymnasiast, laut
Stammrolle am 10. August 1914 um 10.30 Uhr
durch Brustschuß gefallcn.] Einzelne Hauser waren
in Brand geraten und beleuchteten die Umgebung.
l)je Verwundeten beider Parteien wurden aufgelesen,
die Toten blieben liegen.
Wir mußten uns sammeln, marschierten in Rich-
tung Mülhausen und mußten dann auf den Wiesen
ctwa 1km vor Rixheim übernachten. Da wir alle
naß yom Schwitzen waren, empfanden wir die
Kühle der Nacht unangenehm und hatten gro/3es
Verlangen nach unseren Strohsäcken in der Kaserne.
Doch müde, wie man war, schlief man bald
ein. Durch Schüsse und über uns schwirrende Geschosse
wurden wir aufgeschreckt. »Was ist los?«
schrie alles im Dunkel durcheinander. Da die
Schüsse in unserem Rücken bei dem Dorfe Rixheim
aufblitzten, immer zahlreicher wurden und sogar
ein Masehinengewehr anfing zu rattern, hien es:
..Die Franzosen sind in unserem Rücken«. Es gab
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ein unbeschreibliches Durcheinander. Gellend tö nten
die Aufschreie der Getroffenen. Die Offiziere
befahlen uns, eine Linie zu bilden, uns hinzulegen
und die Stellen, wo die Schüsse aufblitzten, kräftig
untel' Feuer zu nehmen.
Mehrere Minuten knallte alles drauflos. Da hieß es
plötzlich, es sind ja Deutsche. »Feuer einstellen!«
Wir mußten nun »Deutschland, Deutschland über
alles. singen, darnit die Soldaten bei Rixheim hören
sollten, daß wir Deutsche seien. Herrgott, war das
ein Gesang! Fast alle drückten das Gesicht in den
Rasen, um möglichst gedeckt zu sein. Langsam
flaute das Feuer ab. Die Offiziere làrrnten und
schimpften. Aber die armen Gefallenen konnten sie
nicht mehr lebendig machen. Wir hatten durch die
deutschen Kugeln so viele Verluste wie von den
französischen.
Am folgenden Morgen marschierten wir nach der
Napoleonsinsel. Überall sah man einzelne Tote,
Deutsche und Franzosen, umherliegen, ein grauenerregender
Anblick. Wir marschierten bis Sausheim,
machten kehrt, dieselbe Strecke zurück nach Mülhausen,
wo wir um 10 Uhr abends unter den Klangen
der Regimentsmusik einzogen. Die Einwohner
verhielten sich ruhig, und ich glaubte in vielen Gesichtern
zu lesen, daß unsere Rückkehr unerwünscht
war. Die nächsten 2 Tage bezogen wir
Alarmquartier in unserer Kaserne und konnten ausruhen.
Die meisten wollten nun weif Gott was für
Heldentaten vollbracht und eine Unmenge Franzosen
totgeschossen haben. Besonders diejenigen rissen
das Maul am weitesten auf, die während des
Gefechts am meisten Angst gehabt hatten.
Am 12. August marschierten wir in Richtung Baden,
überschritten beim Isteiner Klotz den Rhein
und wurden mitten in der Nacht in dem badischen
Dorf Eimeldingen in Scheunen einquartiert. Am folgenden
Tag wurden wir an der Bahn verladen. [... ]
ln Freiburg erhielten wir eine Unmenge Liebesgaben,
hauptsàchlich Schokolade, Zigarren, Zigaretten
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wohin. Alle müglichen Gerüchte wurden laut: nach
Nordfrankreich, Belgien, Serbien, Rußland und so
weiter. Jedoch aIle hatten sich getauscht, denn bei
Straßburg fuhren wir wieder über den Rhein und
mußten morgens bei Tagesgrauen in Zabern den
Zug verlassen. Sofort marschierten wir die Zaberner
Steige hinauf nach Pfalzburg (Lothringen). Es war
cin herrlicher, klarer Sommermorgen und die Aussicht
an einigen Stellen über die elsassische Ebene
wunderbar. Wir blieben in hochster Alarrnbereitschaft,
selbst kein Stiefel durfte ausgezogen werden.
ln der Ferne horten wir Kanonenschüsse. Aiso
schien auch hier etwas los zu sein.
Gegen Abend ging's weiter in Richtung Saarburg.
Auf einer Höhe mufiten wir Schützengräben ausheben,
eine richtige Schinderei, mit den kleinen Spaten
konnte man den harten, trockenen Lehrnboden nur
mit groüer Anstrengung wegarbeiten. [... ] Bei Anbruch
der Nacht entlud sich ein schweres Gewitter
über der Gegend, es wurde stockfinster, und ein
wolkenbruchartiger Regen ging nieder. Keiner
hatte mehr einen trockenen Faden am Leibe. ln den
Suefeln hatte sich das Wasser derart angesammelt,
daß wir dieselben ausleeren konnten. Wir hockten
oder standen auf dem Felde umher und fingen vor
Nasse an zu schnattern wie Ganse. »Alles nach Rieding,
Quartier suchenl– Wir tappten über das nun
nasse Feld und kamen endlich auf die Strahe, die ins
1iorf führte. Es war derart mit Soldaten überfüllt,
daJ3 wir lange kein freies Plätzchen unter Dach fanden.
Ketterer aus Mulhausen, Gautherat aus Menglatt
und ich hielten uns zusammen: »Ln der Kirche gibt's
sicher noch Platz «, meinte Ketterer. Wir gingen hin,
jcdoch dasselbe Bild. Die Soldaten hatten die Altarkcrzen
angezündet, so daßdie Kirche ziemlich erlcuchtet
war. Überall in den Banken und in den
(;~ingen Tru ppen. Sogar auf dem Altare lagen oder
s;tfkn die Soldaten herum. Wir verlieBen die Kirche
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und kamen am Dorfende zu einem Haus, dessen
Haustür verschlossen war. ln der Scheune kam pierten
Husaren. Wir rüttelten an der Türklinke, niemand
kam. Ketterer polterte mit dem Cewehrkolben,
zuerst leise, dann imrner stärker, an die Haustür.
Endlich fragte jemand: »Wer ist denn drauf.\
en?« – »Drei Soldaten, Elsässer «, sagte ich, »rnöchten
sich gerne einquartieren. Wir sind zufrieden,
werm wir am Boden schlafen körmen.« Die Tür ging"
auf. Wir rnuûten in die Küche. »Herrgott, se id ihr
nabl– klagte die Frau, machte uns unaufgefol'dert
heilie Milch, gab uns Brot und Butter dazu, das wir
uns wohl schmecken Iiehen. Die freundliche Frau
sagte uns, daßsie nul' ein freies Bett habe. Wir zogen
uns dann alle drei nackt aus und krochen ins Bert.
Die gute Frau halte unsere nassen Kleider und
trocknete sie am Ofen. AIs wir am falgenden Morgen
erwachten, waren aile Soldaten aus dem Dorfe
verschwunden. Die Frau brachte uns unsere trockenen
Kleider, und wir mubten noch frühstücken. Jeder
wollte dann der Frau für ihre Bemühungen 1
Mark geben [Tagessold eines Soldaten: 53 Pfennig];
sie wall te jedoch nichts. Dankend nahmen wir Abschied.
Nun gingen wir auf die Suche na ch unserer
Kampanie, die wir auf der Höhe trafen, wo wir am
vorhergehenden Abend einen Schützengrabenausgehoben
hatten.
Am Mittag marschierten wir nach dem Dorfe
Bühl, hielten, marschierten weiter, hielten wieder
und so weiter. Von vorne marschierten mehrereRegimenter
Bayern – Infanterie, Artillerie, Kavallerie
– an uns vorüber, zurück. Kein Mensch wu/3te,
woran el' war. Endlich marschierten auch wir zurück
und mu/3ten hinter dem Dorfe Rieding an einem
Waldrand in einer sumpfigen Mulde einen Schützengraben
ausheben. Wo man hinsah, arbeiteten Liniensoldaten
am Grabenbau. Bauerien wurden versteckt
eingebaut. Bald war uns allen klar, da/3 wir
hier die Franzosen aufhalten sollten. Mehrere Tage
vergingen ohne Zwischenfall. Am 18. August kamen
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franzosische Granaten angeflogen; diejenigen, die
in unserer Nahe in den Sumpfboden einschlugen,
explodierten nicht, während andere auf dem harten
Ackerboden mit lautem Krach zersprangen.
19. AUGUST 1914 – SCHLACHT BEI
SAARB URG (LOTHRINGEN)
ln der Nacht vom 18. zum 19. August hatten die
Franzosen die vor unseren Linien liegenden Dörfer
sowie das dazwischen liegende Celände besetzt. Am
Morgen in der Frühe wurde bei uns der Befehl zurn
allgemeinen Angriff gegen die Franzosen gegeben.
Mit einem Schlag war alles Lachen, aller Humor wie
weggeblasen. Alle Gesichter hatten denselben ernsten,
gespannten Ausdruck. Was wird der Tag bringen?
Ich glaube nicht, daû einer an das Vaterland
oder an sonstigen patriotischen Schwindel dachte.
Die Sarge um das eigene Leben drängte alles andere
in den Hintergrund.
Auf der Stra/3e, die bergab etwa 500 m von uns
nach dem Dorfe Rieding führte, fuhr in schnellstem
Tempo die etwa 80 Mann starke Radfahrer-Kornpanie
unseres Regiments auf das Dorf los. Kaum war
sie hinter den ersten Hausern verschwunden, aIs
eine tolle Schieûerei im Dorfe losging. Die ganze
Kompanie wurde vernichtet, bis auf 4 Mann. Plötzlich
setzte das deutsche Artilleriefeuer ein, die Franzosen
antworteten. Die Schlacht hatte begonnen. Mit
geladenem Gewehr und umgehängtern Tornister
knieten wir im Graben und warteten mit klopfendem
Herzen auf weitere Befehle. »Das Bataillon
geht geduckt im Graben nach der Straße hinüber.
Weitersagen!« Alles setzte sich mit gebücktem Oberkörper
in Bewegung. Mehrere französische Granaten
schlugen dicht beim Graben ein, so daßman sich
sekundenlang auf den Grabenboden warf. Wir erreichten
nun die Straûe und krochen – meist auf
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allen vieren – den Straßengraben entlang vorwärts.
Nur zu bald hatte uns die französische Artillerie
entdeckt. Plotzlich ein Sausen, ein Blitz über uns, ein
Schrapnell war geplatzt, doch keiner wur de getroffen.
Ssst-bum-bum, kamen sie nun angeflogen. Aufschreie
hier und dort, mein zweiter Vordermann
schrie auf, stürzte zu Boden, walzte sich herum und
schrie jammernd um Hilfe. Das regte auf.
»Vorwärts, marschrnarsch!« Alles rannte nun im
Straßengraben vorwärts, doch die franzosischenGesehosse
waren schneller, die Verluste häuften sieh.
"Bataillon nach links heraus, kompanieweise mit
4 Schritt Abstand, in Schützenlinien schwärrnt.
Marschmarsch!– ln kaum 2 Minuten war das Bataillon
ausgeschwärmt, im Laufschritt ging's weiter. Die
franzosische Infanterie, von der wir nichts sehen
konnten, eroffnete nun ein lebhaftes Feuer auf uns.
Wieder gab es Verluste. Vom Laufen und von der
Aufregung klopfte das Herz bis zum Halse hinauf.
Wir stürmten den Bahnhof Rieding. Vor unserer
Übermaeht muûten die Franzosen an dieser Stelle
weichen. Einige Gefangene blieben in unserer
Hand. Hinter der Bahnboschung muliten wir gedeckt
liegenbleiben und konnten wieder Atern
schopfen. Überall hörte man das Donnern der Geschütze,
das Bersten und Kraehen der Granaten 50–
wie das Geknatter der Infanterie und daschinengewehre.
Oh, wenn wir nul' lange in dieser Deckung
liegenbleiben könntenl dachte ich. Ja, Kuchen! Ein
anderes Bataillon schwärrnte von rückwärts bei uns
ein. ,,1. Bataillon lnfanterieregiment 112 zieht sich
gedeckt nach links rüber!« Wir gelangten nun in
eine Mulde, erreichten einen Wald und gingen etwa
2 km im Bogen herum, um das Dorf Bühl, welches
von den Franzosen tapfer verteidigt wurde, von der
Seite anzugreifen. Kaum verlief unsere 1. Linie den
schützenden Wald, aIs schon die franzosischen Cranaten
angesaust karnen. Sie waren gut gezielt, und
die Erdschollen schwirrten brummend um unsere
Këpfe, richteten jedoch in unseren aufgelosten Linien
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wenig Schaden an. Wir mußten ein flaches TaI
durchqueren, durch welches ein Bach HoH. Da die
Wiesen gar keine Deckung boten, blieb uns nichts
übrig, ais im Bache binter der jenseitigen Bëschung
Deckung zu suchen. "Vil' standen fast 2 Stunden bis
an den Leib im Wasser, duckten uns dicht an die
Böschung, während die Scbrapnells die Erlen und
Weiden über unsern Köpfen in Fetzen rissen. Wir
bekarnen aus dem Walde mehrere Linien Verstärkung
und rnuûten zum Angriff auf die Höhe vorgehen.
Ein prasselndes lnfanteriefeuer knatterte uns
entgegen. Mancher arme Soldat fiel ins weiche
Öhmdgras. [Südwestdeutsch Ohmd: Heu, die zweite
Mahd] Weiter vorzugehen war unrnoglich. Alles
warf sich zu Boden und suchte sich mit Spaten und
Handen einzugraben. Zitternd,dicht an den Erdboden
geschmiegt, lag man da, jeden Augenblick den
Tod erwartend. Da hörte ich auf der Hohe furchthare
Explosionen, hob ein wenig den Kopf und
schaute hinauf. Crolle, schwarze Rauchwolken
schwebten dort oben, neue Rauchwolken schossen in
die Höhe, Erdschollen flogen umher. Die deutsche
Fufi–Artillerie hielt die Hohe stark untel' Feuer. Wir
konnten nun die Höhe und das Dorf mit wenigen
Verlusten nehmen. ln einern ausgehobenen Keller
auf einern Bauplatz suchten wir gegen die französische
Artillerie Deckung. eben mir lag ein badischer
Reservist, Vater von zwei Kindern. Er zog eine Zigarre
hervor, beim Anzünden sagte el' zu mir: »Wer
weill, es ist vielleicht die letzte.. Kaurn hatte er diese
Worte gesprochen, als ein Schrapnell über uns
platzte. Ein Splitter durchschlug den Tragriemen
des Tornisters auf der Brust und drang ins Herz.
Der Reservist stief einen Schrei aus, schnellte hoch
und fiel tot hin. Zwei andere Soldaten und unser
Hauptmann wurden verwundet. Wir blieben bis gegen
Abend im Keller liegen. Dann ging's weiter;
ohne auf Widerstand zu stolien, besetzten wir die
südwestlich von Bühl gelegenen Höfe. Wir sollten
dort die Nacht verbringen. Todrnüde, abgehetzt,
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naf von Schweif und Bachwasser legte sich alles hin.
Ich selbst halte in der Nähe stehende Hafergarben,
breitete zwei in einer Furche aus und deckte mich
mit zwei anderen zu. Ich schlief bald ein. Plotzlich
ging ein Geschrei und eine SchieI3erei los. »Sofort
drei Linien bilden! Erste liegen, zweite knien, dritte
stehen! Sofort Schnellfeuer nach vorne eröffnen!«
Alles rannte riun hin, im Nu waren die Linien gebildet,
und die Franzosen, die einen Gegenangriff
machten, wurden mit einem furchtbaren Schnellfeuer
empfangen. Trotzdem kamen sie stellenweise
bis in die deutschen Linien, wo im Dunkel mit dem
Bajonett gekampft wurde. Schließlich zogen sich die
Franzosen wieder zurück, und die Ruhe kehrte wieder
ein. Ich selbst hatte mich an der ganzen Sache
nicht beteiligt und drückte mich so tief wie moglich
in meine Hafergarben. Lange konnte ich nicht einschlafen.
Das Jammern, Um-Hilfe-Rufen und Stohnen
der Verwundeten ging mir sehr zu Herzen.
Schließlich schlief ich wieder ein. Um 2 Uhr morgens
kam endlich die Feldküche, es gab Essen: heiI3en
Kaffee und Brot. Der heiûe Kaffee schmeckte herrlich,
man hatte kalt in den feuchten Kleidern bekornmen.
Da etwa die Hälfte der Mannschaften fehlte,
erhielt man, so viel man wollte. lch füllte noch meine
Feldflasche für den folgenden Tag. Dann kroch ich
wieder in meine Hafergarben und erwachte erst, aIs
mir die Sonne ins Gesicht schien. Ich stand auf.
Welch ein Anblick bot sich mir! Vor uns lagen tote
und verwundete Franzosen, so weit man blicken
konnte. Die toten Deutschen lagen auch noch da, die
Verwundeten waren schon weggeschafft. lch ging
zu den nächsten französischen Verwundeten und
verteilte ihnen meine Feldflasche Kaffee. Wie diese
Armen dankten! Deutsche Sanitatswagen fuhren
heran, die die verwundeten Franzosen wegführten.
Die Toten waren zum Teil entsetzlich anzusehen,
teils lagen sie auf dem Gesicht, teils auf dem Rücken.
BIut, verkrallte Hände, verglaste Augen, verzerrte
Gesichter. Viele hielten die Gewehre krampfhaft in
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der Hand, andere hatten die Hände vol! Erde oder
Gras, das sie im Todeskampf ausgerissen hatten. Ich
sah viele Soldaten beisammenstehen an einer Stelle,
ging hin, und es bot sich da ein entsetzliches Bild. Ein
deutscher und ein französischer Soldat lagen da halb
kniend gegeneinander. Jeder hatte den anderen mit
dem Bajonett durchbohrt und waren so zusarnmengesunken.
Nun wurde ein Korpsbefehl verlesen: Gestern
wurden die Franzosen in 100 km Breite von Metz bis
zum Donon angegriffen und trotz tapferer Gegenwehr
zurückgeworfen, so und sa vide Gefangene
fielen in unsere Hand, Geschütze wurden erbeutet.
Die Verluste werden aufjeder Seite auf 45000 Mann
geschätzt. Unseren Soldaten gebühre voiles Lob für
ihren Mut und ihr Heldentum, und der heiße Dank
ihres Vaterlandes sei ihnen gewiß und so weiter und
so weiter.
Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt? lch will es
fast bezweifeIn, denn im Feuer sah ich nichts aIs
Angst, Bangen und Verzweiflung in jedem Gesicht
geschrieben. Von Mut, Tapferkeit und dergleichen
überhaupt nichts, denn in Wirklichkeit ist's doch nur
die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Solda-
Ien vorwärts und in den Tod treibt.
20. AUGUST 1914
lch mubte dann mit einem Unteroffizier und 10
Mann nach Bühl, Munition holen, um die verschossene
zu ersetzen. Nahe dem Dorfe stand ein Feldkreuz.
Eine Granate hatte den Kreuzesstamm in
Kniehöhe des Heilandes sowie das Querholz weggerissen.
Der Heiland stand unversehrt mit ausgest
reckten Händen da. Ein erschütterndes Bild, wortlos
gingen wir weiter.
Etwa urn 10 Uhr morgens hief es: »Alles fertigrnachen,
vorwärts!« ln mehreren Schützenlinien ging's
29
nun wieder den Franzosen entgegen. Balel karnen
einzelne Granaten heranget1ogcn, cine sehlug in die
dort stehende Ferme [Pachthof in Fran kreich, Gut],
die alsbald lichterloh branrue. Kein Mcnsch dacbte
ans LöschcnvWeit vorn sah ich ein Pferd mit hangendem
Kopfe in cinem Haferfelde stehen. Bcim
Hinzukomrnen sah ich, daH dasselbe bei seinern toten
Reiter, einern französischen Kavalleristen, stand
und selbst an einem hinteren Beine und am Bauch
schwer verwundet war. Aus Mitleid scholl ich ihrn
eine Kugel in den Kopf. Tot brach es zusammen.
Einige Schritte weiter trat ich im Hafer auf etwas
Weiches. Es war eine abgerissene Hand, an der noch
ein Fetzen yom Hemdärrnel hing. Unweit davon lag
neben einern Granatloeh die zerrissene Leiehe eines
franzosischen Infanteristen, jedenfalls der Eigentürner
der abgerissenen Hand.
Beim Weitervorgehen erhielten wir starkes Cranatfeuer.
lm Laufsehritt eilte alles hinter den steilen
Abhang eines vor uns liegenden etwa haushohen
Hügels. Die Granaten sehlugen nun entweder oben
auf der Höhe ein oder sausten über uns hinweg.
Nun ging's aber los mit Sehrapnells, die fast aile über
uns platzten. 0 diese verflixten 75er-Kanonen! Wie
der Teufel kamen die Gesehosse herangesaust. Man
hatte nicht einmal Zeit, sich zu Baden zu werfen. ln
einer Sekunde: Abschuû, Sausen und Krepieren.
Vor Angst hielten wir die Tornister über unsere
Köpfe, doeh gab es bald mehrere Verluste. Unser
Major narnens Müller gab uns ein Beispiel grofier
Unersehroekenheit. Eine Zigarre rauehend, ging er
zwisehen uns, die platzenden Sehrapnells nicht achtend,
hin und her, uns aufmunternd, keine Angst zu
haben. Etwa 500 m links, rückwärts von uns, fuhr
eine deutsche Batterie auf. ln wenigen Minuten war
dieselbe von der französischen Artillerie zusarnmengeschossen.
Nur wenige Kanoniere konnten sich
. durch Davonlaufen retten. Allmählich horte das
Schielien auf, wir gingen weiter VOl' und brachten die
Nacht im Walde bei dem Dorfe Hatten zu.
30
21.AUCUST 1914-GEFECHTHEI
LÖRCHINGEN (LOTHRINGEN)
Morgens in der Frühe ging's nun wieder weiter, in
c-inern Tale der Onsehaft Lürcbingen zu. Ein Leutliant
Vogel, eiu verdrieblicher, schlecht aussehender,
heiserer Mensch, führte seit der Verwundung
uuseres Hauptrnanns cl.ie Kornpanie alleine nach
lörchingen. lm Dorfe angekommen, meldeten vor-
ausgeschickte Patrouillen: »Auf der Höhe links von
dem Dode, fast in unserem Rückert, zurüekgehende
lranzösische Infanterie.« lm Laufschritt ging's das
Dorf hinauf, und wir besetzren dort eine mit einer
siarken Mauer umgebene Cärtnerei. Die Franzosen,
die in etwa 400 m Entfernung ahnungslos auf uns
zukamen, wurden plötzlich von einem furchtbaren
Feuer überschüttet. Viele stürzten, andere warfen
sich hin und erwiderten das Feuer. Doch konnten sie
uns nichts anhaben, da wir durch die Mauer gedeckt
waren. Da hielten einzelne, dann imrner rnehr die
Gewehrkolben in die Hohe, zum Zeiehen, daßsie
sich ergeben wollten. Wir hörten auf mit Schieûen.
Daprangen rnehrere Franzosen auf, um zu fliehen.
Sie wurden zusammengesehossen. Mieh dauerten
die armen Menschen. leh konnte es nieht fertigbrin-
gen, auf sie zu schieûen. »Vorwärts, marschmarseh!«
schrie Leutnant Voge!. »Wir wollen den Rest der
Bande gefangennehmen!« Alles kletterte über die
Mauer und lief den Franzosen zu. Diese schossen
nicht mehr. Da plötzlich von rückwarts ein Sausen.
Bum zerplatzte ein grolles Schrapnell über uns,
mehrere folgten. Wie vom Blitze getroffen, stürzten
mchrere Mann zu Baden. Alles wollte nun zurückl.
iufen, Deckung suchen, denn wir wurden von unse–
rer eigenen Fufiartillerie besehossen, und das regte
auf Leutnant Vogel schrie: »Vorgehen!« Ais einige
Soldaten zogerten, schof er kurzerhand vier dersel–
ben nieder, zwei waren tot, zwei verwundet. Ein gu–
ter Kamerad von mir namens Sand war einer der
Vcrwundeten. (Der Leutnant Vogel wurde zwei Mo-
31
einnate
spa ter in Nordfrankreich von eigenen Soldaten
erschossen.) [Der 23jahrige Zuckerfabrikarbeiter
Sand wurde laut Stammrolle am 21. August 1914 bei
Lörchingen durch Schuf ins rechte Schienbein verwundet.
Der 1871 geborene Feldwebelleutnant Vogel,
im Zivilleben Oberpostassistent, wurde Ende
1914 nicht erschossen: Zwei Tage nach dem Gefecht
kam er zur Etappe nach Belgien, wo er bis 191 7
blieb.]
Die Franzosen kamen nun, zitternd vor Angst, mit
erhobenen Händen zu uns gelaufen. lm Laufschritt
ging's zurück nach Lörchingen, wo wir uns in Kellern
und so weiter Deckung suchten. Gegen Abend
gingen wir, unsere Gefangenen mitnehmend, in das
weiter zurückliegende Dorf Hessen, wo wir, in Obstgarten
schlafend, die Nacht verbrachten.
22/ 23 / 24 AUGUST 1914
Morgens in der Frühe Alarm, Kaffeetrinken, Abmarsch
nach vorne. Verflucht, dachte ich,jeden Tag
mußman nun den Tod suchen. Mit welchem Widerwillen
ich weiterging, kann ich nicht beschreiben.
Wir erreichten nach einigen Kilometern Marsch die
französische Grenze. Der deutsche Grenzpfahl mit
dem Adler war von den Franzosen umgebrochen
worden. Ich dachte, daf vielleicht beim Grenzüberschreiten
hurra gebrüllt werden mub, Doch wortlos
tappten wir weiter. Jeder dachte wohl, ob er die
Grenze wieder rückwärts überschreiten werde. Wir
marschierten bis in die Nacht hinein und karnpierten
auf einem freien Ackerfelde.
Den Morgengruß brachte ein franzosischer Flieger,
der 2 Bomben abwarf. Jedoch wurde niemand
verletzt. Die Feldküche blieb aus, der Hunger stellte
sich ein. Vor uns lag ein Dorf. Wir hofften, dort
etwas Lebensmittel zu finden, durften es jedoch
nicht betreten und marschierten dicht an demselben
32
vorbei. Wir rissen in den Pflanzungen gelbe Rüben
aus, schüttelten im Vorbeigehen einige Mirabellen
von den Baumen, das war unser Frühstück. Doch
Hunger ist der beste Koch, das sollten wir noch ofters
erfahren. Folgen dieser Verpflegung: Durchfall-
und wie! Über die Halfte der Mannschaften liu
daran. Viele meldeten sich deswegen krank und wären
lieber ins Lazarett spaziert, ais langer im Feld
den Helden zu spielen. Ja, Lazarett! Vom Bataillonsarzt
ein Opiumtropfen auf einem Stückchen Zucker
und marsch, ran an den Feind! Ach, wie gerne hatten
wir uns nun im Kasernenhofe schleifen lassen!
Und die Betten! 0 ihr Strohsäcke, wie glücklich wären
wir nun, auf euch unsere Glieder trocken und
warm ausstrecken zu k6nnen! Weiter, oh ne Ruh,
ohne Rast.
Am Mittag wurde in einem Dorf haltgemacht.
Eine wahre Treibjagd auf die Hühner begann. Kaninchen
wurden aus Kisten und Ställen geholt, der
Wein aus den Kellern, der Speck und Schinken aus
dem Kamin. lch suchte die Eiernester und trank
(j-8 Eier aus. Ich ging dann in ein Haus. ln der
Stube standen auf den Milchschäften [Schaft: süddeutsch
für Gestellbrett, Schrank] Reihen von
Milchtopfen. lch langte hinauf und erwischte einen
mit süßer Sahne gefüllten Topf. Wie das schmeckte,
so süß und kühl! lm schönsten Trinken erblickte
ich hinter der Stubentür eine altere Frau, die bleich
und zitternd dastand. Obwohl ich kein Verbrechen
begangen hatte, schämte ich mich, oh ne weiteres
die Sahne wegzunehmen. lch wollte der Frau eine
halbe Mark geben, sie wollte jedoch nichts und gab
mir noch ein großes Stück Brot. Die Frau war die
cinzige Zivilperson, die ich im Dorfe sah. Entweder
hatten sich die Einwohner var Angst verkrochen
oder waren geflohen. Antreten, weiter! Mehrere
Kompanien gingen ausgeschwarmt vor, wir folgten
ais Reserve. Pang, pang, ging's vorne wieder los. Es
war die Franzosen-Nachhut, die leichten Widerstand
leistete. Unsere Kompanie brauchte nicht einnate
33
zugreifen. Beim weiteren Vorgehen sahen wir
einige gefallene Deutsche herumliegen. Wir gingen
weiter und übernachteten in einem Großen Gebirgswald.
An der Unruhe und Aufregung der Offiziere
konnte man merken, daß für den folgenden Tag
etwas in Aussicht war.
AUGUST 1914– ÜBERGA G ÜBER DIE
MEURTHE
Morgens in der Frühe fingen deutsche Batterien
ununterbrochen zu schieJ3en an. Drüben hörte man
den Einschlag der Granaten. Wir standen marschbereit
im Walde und warteten. Die Kompanieführer
ließen nun ausschwärrnen. Meine Kompanie stand
in der 2. Schützenlinie. »Vorwärts, marsch!« Alles
setzte sich in Bewegung. Vorne schimmerte es hell
durch die Baume, der Wald hörte dort auf. Kaum
zeigte sich die 1. Linie am Waldrand, ais die franzosische
Infanterie ein rasendes Schnellfeuer eroffnete.
Der Wald selbst wurde von der franzosischen Artillerie
mit Granaten und Schrapnells belegt. Zwischen
und über uns krepierten die Dinger, man lief wie
verrückt hin und her. Dicht neben mir wurde einem
Soldaten der Arm abgerissen, einem anderen der
halbe Hals durchgeschlagen. Er stürzte hin, gluckste
ein paarmal, das Blut schol3 ihm aus dem Iunde. Er
war tot. Eine in der Mitte getroffene Tanne stürzte
zu Boden, man wulite nicht, wo man sich verstecken
sollte. »Zweite Linie vorwärts!« Am Waldrand angekommen,
sah ich vor mir ein ziemlich tiefes TaI,
welches von einem Flusse, einer Straûe und einer
Bahn durchzogen wurde: das Tai der Meurthe. Das
Dorf und die Höhen jenseits des Flusses waren von
den Franzosen stark besetzt. Sehen konnte man nur
einzelne, sie lagen gedeckt. Überall sah man die
Rauchwolken der deutschen Granaten ernporschie-
ßen. Beiderseits von uns brachen die deutschen
34
Schützenlinien aus dem Wald hervor, sausend kamen
die franzosischen Artilleriegeschosse angeflogen
und forderten ihre Opfer. ln dem Krachen und
Knattern hörte man fast keine Kommandos mehr.
lm Laufschritt ging es hinunter ins 'l'al, wo wir endlich
im Straßengraben etwas Deckung fanden. Etwa
éOO m vor uns befand sich die Straßenbrücke über
dem Fluss. Beim weiteren Vorrücken drängte alles
n.rch der Brücke, die Franzosen überschütteten diesc-
lbe mit einem Hagel von Schrapnells, Infanterie–
und Maschinengewehrfeuer. Haufenweise stürzten
die Anstürmenden getroffen zu Boden. An ein Hinùberkommen
ùberkommen war nicht zu denken. Zitternd lag ich
auf der deckungslosen Wiese neben der Straße in
der Nähe des Flusses. Zu rühren traute ich mich
nicht, Ich dachte, mein letztes Stündlein sei gekommen,
und sterben wollte, wollte ich nicht. Ich betete
zu Gott um Hilfe, so beten kann man nul' in grüJ3ter
lebensgefahr. Es war ein angstvolles, zitterndes Fle-
hen aus tiefstem Herzen, ein inbrünstiges, qualvolles
Schreien nach oben. Wie ganz anders ist so ein Gebet
in höchster Not irn Vergleich zum sonstigen Beten,
das meistens doch nur aus einem gewohnheirsmàssigen,
oft gedankenlosen Hersagen besteht.
Rums, dicht neben mir hatte eine Granate einges(
Irlagen, prasselnd fielen Splitter und Erdschollen
heruieder. Ein Sprung, im Granatloch lag ich!
Plumps,,prang ein anderer Soldat, ebenfalls Dekk
kung suchend, auf mich. Doch ich war zuunterst und
Iiess mich nicht verdrängen. »Vorwärts, zum Sturm
Durch den Fluss<< schollen die Kommandos durch
Das Getöse. Alles sprang auf, oh ne langes Besinnen
In den Fluss, um hinter der jenseitigen Uferböschung
Deckung zu bekommen. Das Wasser reichte
An die Brust, doch das wurde weiter nicht beachtet.
Mehrere Mann wurden im Wasser von einem
SCHRAPNELL getroffen und fortgespült. Kein Mensch
half ihnen, jeder hatte mit sich selbst zu tun.
Am Dorfrand waren mehrere Hauser in Brand
geschossen; durch die Hitze gezwungen, mullten die
35
Franzosen stellenweise die Verteidigung des Dorfrandes
aufgeben. Wir mußten nun zum Bajonettangriff,
die Franzosen mußten weichen. Gefange~e
wurden gemacht. Waschnaß, erschöpft suchten wir
hinter den Häusern Deckung, um etwas auszuruhen.
Nach und nach hörte das Schießen ganz auf.
Gegen Abend mußten wir den links var dem Dorfe
gelegenen bewaldeten Hügel angreifen. Wir kehrten
na ch Thiaville zurück, um zu übernachten. Ich
lag mit vielen Kameraden in einer Scheune im weichen
Ohmd. Es war eine gewittersch,vere Nacht.
Rauschend stürzte der Regen auf die Dachziegel.
Infolge des Krachens der zusammenstürzenden, in
Brand geschossenen Hauser konnte man trotz aller
Müdigkeit keinen Schlaf finden. Viel Vieh war noch
in den brennenden Ställen angebunden und brüllte
vor Todesangst in allen Tonarten. Entsetzlich! Endlich
schlief ich ein. Nach Mitternacht hörte ich in der
Scheune rufen: »Cruppe Heuchele solI sofort herunterkornmen!-
Dazu gehbrte au ch ich. Wir kletterten
hinunter, die nassen Kleider klebten am Korper.
Wir 8 Mann mit dem Unteroffizier mußten einige
hundert Meter vor dem Dorf Feldwache beziehen.
Dort standen oder kauerten wir bei strörnendem
Regen und starrten und lauschten in die stockdunkle
Naeht hinaus. EndIieh graute im Osten der
Morgen. Was wird der neue Tag bringen?
26. AUGUST 1914- WALDGEFECHT BEI
THIAVILLE
Ais es hell wurde, warteten wir auf Ablösung, doch
niemand kam. Einige Schritte von uns stand ein kleines
Haus, das wir im Dunkel gar nieht bemerkt hatten.
ln einer Heeke daneben lag ein toter, vom Regen
vollstandig durchnäûter deutseher Infanterist.
lm Hofe des Hauschens lagen zwei tote franzosische
Infanteristen. Neben dem einen lag ein Portemon
36
naie, ich hob es auf. Es enthielt zwei 20-Franken-
Stüeke in Gold. lch hatte jedoch gar keinen Sinn
mehr naeh Geld und warf es weg. Wahrseheinlieh
hatte einer der Franzosen sein Geld hergeben wollen,
damit er verschont würde. Vom Dorfe her ritt
eine Dragoner-Abteilung heran und an uns vorbei,
der Straûe entlang dem etwa 400 m entfernten
Walde zu. Infanteriekompanien folgten. Wir muûten
uns unserer Kompanie ansehliel3en. ln unseren
nassen Kleidern tappten wir hinterher. Kein Menseh
fragte uns, ob wir etwas gegessen oder getrunken
hatten. Vorne im Walde knallten Schüsse. Verflucht,
sehon wieder! Die Dragoner, die aus dem Wald in
vollem Galopp zurückgesprengt kamen, maehten
unserem Brigadegeneral, Generalmajor Stenger,
die Meldung, daßsie auf Franzosen gestoßen seien.
Der General erteilte nun den Kompanieführern folgenden
Befehl [über den sieh in rnilitärischen Akten
nichts ermitteln liefi], der jeder Kompanie vorgelesen
wurde: »Heute werden keine Gefangenen gemacht.
Verwundete sowie gefangene Franzosen
werden erledigt.« Die meisten Soldaten waren starr
und spraehlos, andere wieder freute dieser volkerreehtswidrige,
niederträchtige Befehl. »Ausschwärmen,
vorwarts, marsch!« Gewehr im Arm ging's dem
Wald zu, in denselben hinein, meine Kompanie in
der 2. Schützenlinie. Kein Sehuß fiel. Sehon hofften
wir, die Franzosen, welche die Dragoner besehossen,
hatten sieh zurüekgezogen. Päng-päng-päng, ging's
los. Einzelne Kugeln kamen bis zu uns geflogen und
Iuhren klatsehend in die Baume. Morgens in der
Frühe waren frisehe Ersatztruppen angekommen,
die in die Kompanie eingeteilt wurden. Diese Soldaten,
die noeh keine Kugel pfeifen gehërt hatten,
machten fragende, ängstliche Gesichter. Da das
Feuer stärker wurde, muliten wir in die vordere
Linie einschwarmen. Jeden Baum,jeden Strauch als
Deekung benutzend, ging's weiter. Mehrere Schützenlinien
folgten uns. Die französischen Alpenjäger
und lnfanteristen mußten anfangs trotz tapferer
37
hinter Bäumen und in Waldgräben fest und knallten
uns entgegen. Die Verluste häuften sich. Dieverwundeten
Franzosen blieben Iiegen und gerieten in
un sere Hand. Zu meinem Entsetzen gab es bei uns
solche Ungeheuer, welche die armen, um Gnade
flehenden, wehrlosen Verwundeten mit dem Bajonett
erstachen oder ersehossen. Ein Unteroffizier
meiner Kompanie namens Schirk, Kapitulant [ins
Moderne übersetzt: ein Zeitsoldat; ehemals im deutschen
Heer ein Soldat, der sieh durch Vertrag über
die gesetzliche Dienstzeit hinaus verpflichtete] des
älteren Jahrgangs, schof hohnlachend einem im
Blut liegenden Franzosen durch das Gesäû, dann
hieJt er dem in Todesangst um Gnade flehenden
Unglüeklichen den Gewehrlauf vor die Schläfe und
drückte los. Der Arme hatte ausgelitten. Aber nie
kann ich das in Todesangst verzerrte Gesicht vergessen.
Einige Schritte weiter lag wieder ein Verwundeter,
ein junger hübseher Mensch, in einem Waldgraben.
Unteroffizier Schirk lief auf ihn zu, ich hinterher.
Sehirk wollte ihn niedersteehen, ich parierte
den Stof und schrie in höchster Aufregung: »Wenn
du ihn anrührst, verrecksch!« Verdutzt schaute er
mich an, und meiner drohenden Haltung nicht trauend,
brummte el' etwas und folgte den anderen Soldaten.
Ieh warf mein Gewehr zu Boden, kniete mich
bei dem Verwundeten nieder. Er fing an zu weinen,
faûte meine Hände und küûte sie. Da ich gar nichts
französisch sprechen konnte, sagte ich, auf mich
deutend: »Alsacien Kamerad!« und gab ihm durch
Zeichen zu verstehen, daf ich ihn verbinden wolle.
Er hatte kein Verbandszeug. Seine beiden Waden
waren von Gewehrschüssen durchbohrt. leh entfernte
seine Gamasehen, sehnitt mit dem Taschenmesser
die roten Hosen auf und verband mit meinem
Verbandspäckchen die Wunden. leh blieb
dann neben ihm liegen, teils aus Mitleid, teils wegen
der Deckung, die ich im Graben hatte. Ich hob ein
wenig den Kopf, konnte die vorgehenden Truppen
38
nicht mehr sehen. Ununterbrochen zisehten Kugeln
durch den Wald. Sie schlugen Zweige ab und fuhren
in Stämme und Aste.
Ganz in der Nahe standen einige Heidelbeersträucher,
die voll von reifen Beeren hingen, welche ich
pflückte und aû, Sie waren das erste Essen seit etwa
30 Stunden. Da hörte ich Sehritte hinter mir. Es war
der Kompaniefeldwebel Penquitt, in der Kaserne
cin sehr gefahrlicher Qualgeist, der jedesmal, wenn
er zu spreehen begann, ein paarmal stotterte. Mit
Erhobener Pistole schrie er mich an: »A–a–aas, verfluehtes,
willst du machen, daf du naeh vorne
kommstl– Was wollte ich maehen? Nahm mein Gewehr
und ging. Ein paar Schritte wei ter steIlte ich
Illich hinter einen Baum, um zu sehen, ob er dem
Verwundeten etwas anhaben wolle. Mein Entschluf
war, ihn sofort niederzuschielien, wenn er den Franwsen
töten wollte. Er betrachtete ihn und ging weiler.
Ich lief nun schnell vor ihm her dureh dichtes
Brombeergebüseh. Darin lagen 6-8 Franzosen, aile
.ruf dem Gesieht. leh merkte gleich, daßsie sich nur
lotstellten. Fliehen konnten sie nieht mehr, denn die
dcutschen Linien waren vor ihnen. Ieh berührte den
cinen mit dem Bajonett und sagte: »Kamerad..
AlIgstlich schaute er mieh an. Ich bedeutete ihm,
ruhig liegen zu bleiben, was er mit eifrigem Kopfnikkr-
ken bejahte. Tote und Schwerverwundete lagen zersi
streut im Walde umher. Das Knattern und Knallen
wollte kein Ende nehmen. Leichtverwundete rann-
ten an mir vorbei, rückwärts. lch sehlieh mieh, imnier
Deekung suchend, in die Gefechtslinie. Mit
Hurra ging's wieder weiter var, die Verluste häuften
sich schreeklich. [… ] Beim weiteren Vorgehen ka–
men wir an eine breite Schlucht. Die Franzosen kletl-'
terten im Zurückweichen den jenseitigen Hang hin–
:auf. Viele le von ihnen wurden wie Hasen abgeschosse-
sen. Manche der Getroffenen rollten den Abhang
hinab. AIs wir die Schlucht überschritten hatten, bek.
uuen wir plötzlich von einer Anhohe, die mitjung('
gen Tannen bepflanzt war, ein furchtbares Feuer.
39
Alles sprang hinter Baume oder warf sich zu Boden.
Einige flohen. Major Müller schrie, den Degen
schwingend: » Vorwärts, Kinder l– und brach dann
sofort tot zusammen. [Major M.,Jahrgang 1863, fiel
bei diesem Gefecht nach :~1 Jahren Militärdienst.]
Nun wurde es oben in denjungen Tannen lebendig.
Ganze Scharen von Alpenjäger n liefen mit gef~illtern
Bajonett auf uns ZU. Wir machten kehrt. lm schnellsten
'Tempo ging es zurüek. Ieh lief mit etwa 6 Mann
zusammen, vier davon stürzten aufschreiend zu Boden.
Ich nahm mir nicht die Zeit, mich naeh ihnen
umzuschauen. Unsere Verwundeten blieben fast
alle liegen. lch schnallte im sehnellsten Laufen meinen
Tornister los und schrnif ihn weg. Weiter zurück
hörte ich 2– bis 3mal meinen Namen rufen.
Mich umsehend, sah ich meinen guten Stubenkarneraden
Schnur, Landwirtssohn aus Wangen am Bodensee,
auf einem Zelt liegen, welches von Sanitätern
an Tragstangen befestigt worden war. Die Sanitäter
lichen ihn liegen und liefen davon. Sofort rief
ich 3 Kameraden herbei. Wir nahmen die Stangen
auf die Schultern, und im Laufschritt ging's nun
rückwärts, Für den armen Schnur war dies ein echter
Leidensweg. Die Zeltschnüre rutschten zusarnmen.
Schnur sa/3 mit dem Hintern im tiefen Zelt, die
Beine und der Kopf schauten oben hinaus. daßei
schwenkte das Zelt zwischen uns immer hin und her.
»Haltet! Um Gottes willen langsamer!« stohnte el',
aber wir liefen immer weiter, um aus dem Bereich
der Kugeln zu kommen. Offiziere hielten nu n alIe
zurücklaufenden Soldaten an und zwangen sie, eine
Linie zu bilden, um die Franzosen abzuwehren. Wir
vier durften den Verwundeten nach dem Verbandsplatz
bringen, der in einer kleinen Ferme nahe am
Waldrand sich befand. Die Ferme war von Verwundeten
derart überfüllt, daßwir gezwungen waren,
Sehnur im Hofe niederzulegen. Er hatte einen
Schuf ins Kreuz erhalten und war yom Blutverlust
sehr geschwaeht. Da es wieder zu regnen anfing,
suchte und Iand ich ein leeres Plätzchen in der Küche,
40
Küche,
und wir trugen Schnur hinein. Gatt, wie sah es
in diesem 1Iaus aus! Blut, Ächzen, Stühnen, Betcn l
Meinern Kamerarlen gute Besserung wünschend ,
verlief ich dieses Haus des Elcnds. (Drei Monate
spater starb Schnur in einern Lazarett in Strabourg.)
[Laur Stammrolle: verwundet am 26. August 1914
durch Oberschenkelschuß, verstorben am 2. Dezernber
1914 infolge Oberschenkelschuß, Amputation
und Blutvergiftung.] [... ]
Da ich seit etwa 30 Stunden oder mehr nichts als
ein paar Heidelheeren gegessen halte, regte sich der
Hunger. Da nichts Eûbares bei der Ferme aufzutreiben
war, ging ich in den Wald zurück, um Heidelbeeren
zu suchen. Don lag ein roter Franzose. lch
schnallte den Tornister auf und entnahrn eine
Büchse Fleisch und ein Päckchen Zigaretten. Einige
Sehritte wei ter lag ein roter Deutscher. Ihm schnallte
ich den Tornister ab, um meinen weggeworfenen zu
ersetzen. ln demselben befand sich die eiserne Portion
sowie ein reines Hemd. lch zog sofort mein
dreckiges, nal3gesehwitztes aus und zog das reine an.
Dann af ich die Büchse des Franzosen mit unglaubiicher
Gier auf. Das Schieûen im Walde verstummte.
Langsam senkte sich der Abend hernieder. Die
Kompanien sammelten sieh am Waldrand, meine
Kompanie bestand noeh aus etwa 40 Mann. Über
100 waren geblieben! Meine Karncraden Cautherat
und Ketterer waren auch noch da. Die waren
schlauer gewesen ais ich und hatten sich gleieh nach
Beginn des Gefechts im Gebüsch verkrochen. Die
Nacht verbrachten wir an einem Bergabhang untel'
strömendern Regen. Stumpfsinnig, todmüde, halb
verzweifelt hockten wir herum.
41
27. AUGUST 1914
Morgens sollte eine Patrouille, bestehend aus einem
Leutnant und 8 Mann, die Leiche des Majors Müller
aus dem Walde holen. Bald hörten wir aus der Richtung,
die sie eingeschlagen hatten, Schüsse. Keiner
kehrte zurück. Wie Soldaten erzahlten, hatte auch
Major Müller zwei verwundete Franzosen mit der
Pistole erschossen. Gut, daß ihn sein Schicksal erreichte.
Auch der Unteroffizier Schirk fehlte [der
22jahrige Metzger wurde bei diesem Gefecht laut
Stammrolle schwer verwundet], ebenso ein Reservist,
der ebenfalls einen Verwundeten erschoß.
Ich ging nun nach Thiaville, um einige Kochgeschirre
Wasser zu holen zum Kaffeekochen. Neben
der Straße stand eine Batterie des 76.Feldartillerieregimentes.
Die Mannschaften empfingen eben Essen
von der Feldküche. »Richert, wo laufsch urna?«
schrie ein Kanonier. Es war der Jules Wiron aus
Dammerkirch. »Hasch Hunger?" fragte er mich. Ais
ich bejahte, empfing er noch eine gehorige Portion
für mich, welche mir trefflich mundete, dann füllte
el' aus einer Großen Korbflasche, die auf der Protze
[Vorderwagen von Geschützen] stand, mein Kochgeschirr
mit gutem Weißwein. [... ]
Gegen Mittag gingen wir zurück über die Meurthe
und marschierten etwa 5 km talabwärts nach dem
Städtchen Baccarat, das 2 Tage zuvor von den Deutschen
erobert worden war. Heiß muß der Kampf
besonders an der Meurthe-Brücke gewesen sein.
Das Geschäftsviertel auf der westlichen Seite des
Flüßchens war total verbrannt, der Kirchturm
durchlochert. lm Stadtgarten mußten wir unsere
Zelte aufschlagen und konnten dort 2 Tage ausruhen.
Neben unseren Zelten war ein Massengrab, in
dem über 70 Franzosen ruhten. Daneben war ein
bayerischer Major beerdigt.
Alle Hühner, Kaninchen und Schweine, welche
noch aufzutreiben waren, wurden trotz des Protestes
verschiedener Einwohner gestohlen und geschlach–
42
tet. Der noch vorhandene Wein wurde ebenfalls aus
den Kellern gestohlen, und überal! sah man betrunkcne
Soldaten.
Mit frischen, aus Deutschland kommenden Soldarcn
wurden die Kompanien wiederaufgefüllt. Dann
ging's wieder vorwärts, zuerst aufwärts in Richtung
Ménil. Links und rechts auf dem Stral3enrand lag
eine Unmenge von den Franzosen weggeworfener
Tornister, Gewehre, eine Trommel und Trompe–
ten Weiter oben gingen wir durch den Wald, überall
lagen tote deutsche und franzosische Alpeninfanteristen
im Gebüsch. Sie fingen bereits an zu verwesen
und strornten einen entsetzlichen Geruch aus. Auf
ciner Anhöhe jenseits des Waldes mul3ten wir Schüt–
zengraben ausheben. Da es heiß war, schickte mich
mein Unteroffizier mit mehreren Essgeschirren auf
die Suche nach Wasser. Ich fand solches in einern
Straßengraben in der Mulde hinter uns. lch trank
sofort 3 bis 4 Becher voll und füllte die Kochge schirre.
Es kam mir nach dem Trinken vor, als habe
das Wasser einen faulen, widerlichen Geschmack,
glaubte, daß das langsame Fließen daran schuld sei.
lch ging dann einige Schritte den Graben entlang,
ein entsetzlicher Gestank kam mir in die Nase. Ne–
ben einem Weidengebüsch sah ich einen toten Franwsen,
der bereits in Verwesung übergegangen war.
Die Stirne, welche von einem Granatsplitter aufgerissen
war, schaute zum Wasser heraus und war mit
Maden und kleinen Würmern bedeckt. lch hatte das
durch den Toten sickernde Wasser getrunken! Es
crraßte mich ein furchtbarer Ekel, so dass ich mich
mchrmals erbrechen mußte. [... ]
43
DER ANGRIFF AUF MÉNIL UND
ANGLEMONT
Wir lagen no ch 3 Tage im Schützengraben. [… ] Am
vierten Tag morgens in der Frühe kamen mehrere
Bataillone Verstärkung. Wir sollten die Dorfer Ménil,
Anglemont sowie den im Hintergrund liegenden
Wald angreifen und nehmen. Dns allen graute davor.
Heimadressen wurden ausgetauscht, Photographien
der Lieben daheim betrachtet. Viele beteten
leise. ln allen Gesichtern lag tiefer Ernst, Angst und
Grauen. Gegen 10 Uhr morgens liefen Offiziere und
Melder umher und brachten den Befehl zum sofortigen
Angriff. »Fertigrnachen, Tornister umhängen,
Kompanie in Schützenlinie ausschwärmen}-
Sechs Schützenlinien wurden gebildet. »Vorwarts,
marschl- Alles setzte sich in Bewegung. Unsere Artillerie
beschof die beiden Dörfer. [… ] Wir drangen
in das Dorf. Kein Franzose war zu sehen, das Dorf
war nicht besetzt. Ein entsetzlicher Gestank machte
uns im Laufschritt Ménil passieren. ln vielen Häusern
war das Vieh in den Ställen verbrannt und nun
bereits in der Sommerhitze in Verwesung übergegangen.
Nun ging's weiter in Richtung Anglemont.
Vor uns liefen viele Ochsen, Kühe und Kälber hin
und her. Viel Vieh lag tot auf dem Boden. Es hatte
auf den Kleefeldern zuviel jungen Klee gefressen
und war an Aufblähung verendet. Anderes Vieh war
durch Geschosse getotet worden. AIs wir uns dem
Dorfe Anglemont näherten, wurden wir plotzlich
von der franzosischen Artillerie stark mit Schrapne
Ils beschossen. Das Infanteriefeuer setzte ebenfalls
ein. Wir konnten nur sprungweise vorwärtskommen.
Hinter einer Böschung sammelten wir
uns, dann ging's im Laufschritt, mit gefalltem Bajonett,
untel' Hurrageschrei aufdas Dorflos. Die Franzosen
verteidigten sich tapfer, rnubten aber VOl'unserer
Übermacht weichen. Gleich bei einem der ersten
Hauser saßein verwundeter Franzose auf einem
Schubkarren. Ein Soldat meiner Kompanie
44
wollte ihn erschieBen. Auf meinen energischen Protest
hin stand er davon ab. Ein hinzukommender
Sanitàter verband die Wunde.
Die französische Artillerie konzentrierte ihr Feuer
auf das Dorf. Ich sprang hinter einen hohen, mit
Mauersteinen gebauten Scheunengiebel, wo schon
eine ganze Anzahl Soldaten in Deckung stand. Plötzlich
über uns eine Explosion, Mauersteine stürzten
herab, mehrere Soldaten wurden von ihnen zu Boden
geschlagen. Eine Granate war durch das Dach
geflogen und an der Mauer geplatzt, ein großes
Loch in die Wand reißend. Nirgends war man mehr
sicher. Ich legte mich unter den Stamm eines schräg
stehenden dicken Apfelbaumes. Da kam der Befehl
zum weiteren Vorgehen. Kaum waren wir vor dem
Dorfe sichtbar, als auch schon die Franzosen wie
wahnsinnig zu schiefien begannen. Auf allen Seiten
schlugen Granaten ein. Schrapnells streuten ihren
Bleiregen aus der Luft. Sausen, Zischen, Krachen,
Rauch, umherfliegende Erdschollen und Getrofferie.
Eine Granate schlug etwa 3 m rechts vor mir
cin, unwillkürlich bückte ich mich und hielt den
linken Arm schützend vors Gesicht. Rauch und Erdschollen
trafen mich. Ein Splitter hatte meinen Gewehrkolben
unten am Schloßweggeschlagen. Meine
heiden Nebenmänner lagen tot am Boden. Ich selbst
blieb wie durch ein Wunder unverletzt, hob schnell
das Gewehr eines Gefallenen und sprang in das gar
uicht tiefe Granatloch. Ich wollte drinnen liegenbleiben,
denn ich war sehr erschreckt. »Na, Richert,
weiter l- Es war ein Unteroffizier meiner Kompanie.
Was wollte ich machen? Ich mußte mit. Über Klee-,
Kartoffel- und Turnipsäcker [Saatrübenäcker]
ging's weiter vorwärts, Die französische Infanterie
über schüttete uns mit Geschossen yom Walde her.
Wir warfen uns in die Ackerfurchen, muBten jedoch
imrner weiler. Dabei rif eine Infanteriekugel eine
tiefe Rinne in das Holz meines Gewehres dicht unter
der Hand. Infolge des immer zunehmenden Feuers
und der Verluste war es unmöglich, weiter vorzu-
45
Ich warf mich in eine Ackerfurche, in der
schon mehrere Mann lagen. Ein Glück für uns, daI3
die Acker quer zum Walde liefen, 50 hatten wir doch
etwas Deckung.
Die Regimenter und Kompanien waren beim Vorgehen
durcheinandergekommen. Neben mir lag ein
Grenadier des badischen Grenadierregiments. Ich
nahm meinen Spaten heraus, um mich einzugraben.
Der Boden war hart und trocken, ich konnte nur mit
gr6I3ter Mühe im Liegen ein Loch graben. Ein neben
mir liegender Soldat meinte, er kanne in der Furche
jenseits des Ackers besser graben, da dort ein Kartoffelacker
war und der bebaute Boden nicht so hart sei
wie hier auf dem Kleeacker. »Bleib hier und zeig
dich nichtl- sagte ich. »Wosich jetzt etwas regt, knallen
die Franzosen drauflos, denn im Feld ist jetzt
niemand mehr sichtbar.« – »Ach was, ich bin in einem
Sprung drüben!« Sein Gewehr in der Hand,
sprang er auf. Peng-pratsch. Mehr ais 20 Schüsse
fielen. Kugeln zischten über mich. Der Soldat stürzte
aufs Gesicht und rührte sich nicht mehr. lch konnte
nur seine Beine sehen. Der Oberkorper lag in der
jenseitigen Furche. Der Reservist Berg rutschte nun
neben mich. »Richert, gib mir deinen Spaten «, sagte
er. Ich gab ihn hin. Ein Grenadier sagte zu Berg:
»Wenn du fertig bist, gibst du mir den Spaten, nicht
wahr?« Ich rollte mich in meinem Loch zusammen
und nickte ein, bis mich eine in der Nähe einschlagende
Granate aufschreckte. Berg lag bereits in seinem
fertigen Loche, der Grenadier arbeitete nun
mit dem Spaten. Ich schlief wieder ein. »Richert,
guck doch mal nach, was der Grenadier macht!«
sagte Berg. Der Grenadier kniete in der Furche mit
dem Rücken gegen mich, hielt den Kopf gesenkt
und den Spaten in den Händen, rührte sich aber
nicht. »He, Kameradl- rief ich, kroch zu ihm und
rüttelte ihn. Da fiel er auf die Seite und stohnte. Eine
Infanteriekugel hatte oberhalb des Ohres den Kopf
durchbohrt. Das Gehirn stand in Bleistiftform etwa
3 cm heraus. Ich wickelte einen Verband um den
46
Kopf, trotzdem ich wuûte, daßhier nichts mehr zu
helfen war. Nach und nach ging das Stohnen in ein
Röcheln über, das immer schwächer wurde. Nach
etwa 2 Stunden war er tot.
Wir blieben liegen, bis es dunkelte. Da kam der
leise Befehl: »Alles zurückziehen, in Anglemont
sammeln!« Jeder suchte nun so schnell wie möglich
ins Dorf zu kommen. Man hörte Verwundete flehend
um Hilfe rufen: »Urn Gottes willen, laût mich
nicht liegen, ich habe Frau und Kinder zu Hause!«
Manche wurden mitgenommen, andere blieben liegen.
Hier hießes eben: J eder ist sich selbst der Nächste!
ln Anglemont wimmelte alles durcheinander.
»Infanterieregiment 112, 1. Kompanie hier samrneln!
« horte ich meinen Kompanieführer rufen.
Ich ging hin, einer nach dem anderen kam. Viele,
viele fehlten. »1. Kompanie, Infanterieregiment 112
hier samrneln!« rief der Kom panieführer nochmals.
Noch ein einzelner kam. Kein Wort wurde gesprochen.
Alle dachten an ihre gefallenen Kameraden.
»0hne Tritt, marsch!« Die zusammengeschmolzenen
Kompanien tappten in die Nacht hinaus, rückwärts,
Das Dorf wurde vollständig geraumt.
Auf einer Hohe hinter dem Dorfe muBten wir
cinen Schützengraben graben, eine verteufelte
Schinderei in dem harten Lehm! Gegen Mitternacht
wurde ich mit noeh einem Mann und einem Unterolfizier
ais Patrouille vorgeschickt, um auszukundschaften,
ob Anglemont sehon wieder von den Fran-
zosen besetzt sei. Die Naeht war dunkel. Vorsichtig
iIII Straßengraben vorwärtschleichend, hörten wir
sic.h uns nahernde Schritte. Wir drückten uns dieht
an die Straûenboschung. Eine 8 Mann starke französische
Patrouille ging langsam auf dem Straßenlxmkett
kaum 1m VOl' uns vorüber, bemerkte uns
aber nieht. Ruhig blieben wir liegen. lm Dorfe hör-
1Cil wir Laufen und Französisch-Sprechen. Dies gab
uns GewiI3heit, daß die Franzosen das Dorf wied el'
besetzt hatten. Kurze Zeit darauf fielen in Riehtung
(1er Deutsehen Schüsse. Keuehend kamen 6 Franzo-
47
sen zurückgerannt. Zwei fehlten. Wir gingen zurück
und crstatteten Meldung.
An Sehlaf war in jencr Nacht nicht zu den ken.
Gegen Morgen endlich konnten wir von der Feldküche
Essen holen. AIs die Franzosen am folzenden o
Morgen unseren Graben sahen, schickten sie Granaten
herüber. Cleich cine der erstcn war ein Volltreffer,
welche :3 Mann zerrib. Wir blicben dort cinige
Tage liegen. Eine deutsche Batterie Feldartillerie,
welche gedeckt hinter uns auffuhr, wurde in wenigen
Minuten von der franzosischen Artillerie in Fetzen
geschossen. Es war ein schauderhafter Anblick,
wenn man bei mondhellen Nachten die Stelle passieren
muûte. Bald ging man im Großen Bogen um die
Batterie herum, da der Gestank nicht auszuhalten
war. Ans Beerdigen schien niernand zu denken.
Eines Nachts versuchten die Franzosen einen Angriff
auf unsern Graben, wurden aber abgewiesen.
Am folgenden Tag fiel mein Kamerad Rein Camill
aus Hagenbach, ein Granatsplitter spaltete ihm den
Kopf. [R., laut Stammrolle Ziegeleiarbeiter, gefallen
am 5. Septernber 1914 durch Granatsplitter.] Rogert
Alfons aus Obersept wurde am Bein schwer verletzt.
Die Franzosen hatten sich wieder in den Waldzurückgezogen.
Eines Abends kam der Befehl: »Angreifen!
« Mein Stubenkamerad Urs sagte: »Richert,
ich komme nicht mehr nach Hause, ich fühl's.. 1ch
suchte es ihm auszureden, er jedoch beharrte darauf.
Nur 2 dünne Schützenlinien stark gingen wir
vor. Ich war wütend. Was sollten wir paal' Mann
zweeklos uns totsehieBen lassen] [... ] Einzelne
Schüsse fielen. Zing, zisehten die Kugeln uns um die
Ohren. Mein Nebenmann stürzte lautlos tot zu Boden.
»Ooooh l– schrie der Unteroffizier Liesecke
warf sein Gewehr weg und schüttelte die Hand. EÎl~
Finger war ihrn abgeschossen worden [faut Starnmrolle
Verwundung am 10. September 1914 durch
Schuf in die linke Hand]. Tak-tak-tak, rasselte ein
MG drüben. »Hinlegen, eirigraben l– Alles lag am
Boden und fing an zu buddeln.
48
Mein Kamerad Uts wurde mit noch 2 Mann nach
einem etwa 300 III VOl' uns Iiegenden Erlen- und
Weidengebüseh geschickt, 1I111 festzusteIJen, ob noch
Franzosen dort seien. Langsam sank der Abend nieder.
Die Patrouille war noch imrner nicht zurück.
»Die drei nächsten Leute -dazu gehürte auch ich–
»begebcn sich sofort nach dem Gebüsch, umnachzusehen,
wo die 3 Mann geblieben sind l– befahl der
Kompanieführer. Wir ersehraken nicht wenig, doch
wir muliten gehen. Mit der grüGten Vorsicht schlichen
wir dem Gebüsch zu, oft liegenbleibend, um zu
lauschen. Nichts war zu hören. Finster hob sieh das
Gebüseh im Dunkel ab. Endlieh kamen wir an und
gingen, den Finger am Drücker, mit vorgehaltenem
Bajonett in das Cebüsch. Da horten wir leises Rachein.
Vor uns lag Uts tot [laut Stammrolle am
10. Septernber 1914 um 7 Uhr vormittags durch
Brustschuf beim Patrouillengang gefallenJ, einige
Schritte weiter der röchelnde Soldat in den letzten
Zügen. Er hatte einen BauchschuG erhalten. Von
<lem dritten fehlte jede Spur. Wir liefen zurück und
crstatteten dem Kompanieführer Bericht. Dann legten
wir uns wied el' in die Linie. »Alles leise zurückgehenl
Weitersagen.« kam der Befehl von links; dies
machte uns glücklich. Alle erhoben sieh, in schnellen
Sehritten ging's rückwärts. Inzwischen war's stockdunkel
geworden, man tappte in Ackerfurehen und
Granatlöchern herum, mancher stürzte zu Boden.
1 ... ] Mehrere Male fingen var mir gehende Soldaten
plotzlich zu laufen an. Was haben denn die? dachte
ich, ging weiter, fing aber bald selbst an zu laufen.
Ein entsetzlieher Leichengeruch kam mir in die
Nase. »Atern anhalten! Weglaufen!« Diesel' Geruch
karn von Toten, die bereits in Verwesung übergegangen
waren und die man im Dunkel nieht liegen
sah. Endlich erreichtcn wir unseren Graben und
bcsetzten ihn. Ein Gefühl der Sicberheit überkarn
uns, Fast alle Soldaten murrten: »So cin Bkidsinn!
Vorgehen, ein paar Mann sich totschielicn lassen
und dann wieder zurückgehen, ohne Zie! und
49
Zweck l« – »Alles da?« fragte der Kornpanieführer.
»Jawohl!« – »Die Kornpanie geht mit Sack und Pack
zurück und samrnelt sich bei der Kirche von Ménil!«
Was soli das bedeuten? fragtcn sich die Soldaten.
WiT hingen die abgelegten Tornister wieder um,
nahmen die Gewehrc, kletterten zum Graben hinaus
und tappten durch das Dunkel Ménil zu. Armer
Kamerad Uts, nun liegst du tot in jenem Gebüsch,
doch du hast das Kriegselend hinter dir, bist fast
glücklicher als ich, dachte ich. AIs wir in ~énil an~amen,
wimmelte es dort von Soldaten. Uberall dieselbe
Frage: »Was ist denn eigentlich los?« – »Kornpanien
sarnrneln!« tönten Befehle durch die Nacht.
Wir traten ein, mehrere Bataillone marschierten an
uns vorbei, rückwärts. »Ohne Tritt, marschl– lm
Walde oberhalb Baccarat wurde haltgemacht. [… ]
Mehrere Batterien Bagagen fuhren an uns vorbei,
rückwars. »1. Kompanie Infanterieregiment 112 bildet
die Nachhutl- Also hatten wir die GewiBheit: Die
Gegend, die zu erobern Tausenden armen Soldaten
das Leben gekostet hatte, wurde geraumt. [… ] Der
Gedanke, zurückzubleiben und die Ankunft der
Franzosen abzuwarten, um mich zu ergeben, wirbelte
mir im Kopf herum. Aber die verfluchte Disziplin
hielt mich davon ab. Und vielleicht schießen
oder stechen mich die Franzosen tot, aus Wut, wenn
sie ihre ausgeraubten und zerstörten Dörfer sehen.
Also ging ich weiter.
AIs wir in Baccarat die Meurthe-Brücke überschritten,
bereiteten einige Pioniere die Sprengung
VOl'. Kaum hatten wir den Ort verlassen, aIs mit
gewaltiger Explosion die Brücke in die Luft flog. Wir
maschierten noch etwa 20 km wei ter zurück und kamen
endlich in einem Dorfe an, wo haltgemacht
wurde und wir Kaffee und Brot empfingen. Einige
Stunden Ruhe. Dann ging's mit dern Schanzzeug auf
eine VOl'dem Dorf gelegene Höhe. Dort wurde ein
Schützengraben gebaut. Wir Ireuten uns schon, hier
liegenbleihen zu können. ln weiter Ferne vor ~ns
hörten wir das Burn-Bum der Iranzösischen Artillerie.
50
Artillerie.
Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug
gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.
Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:
»Fertigmachcn]– Wir hockten und warteten. Was
gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts
hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es
war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.
Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei
Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt
die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten
die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen
_____________________
Artillerie.
Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug
gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.
Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:
»Fertigmachcn]– Wir hockten und warteten. Was
gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts
hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es
war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.
Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei
Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt
die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten
die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen
über Morchingen, Rémilly, Metz nach Vionville.
Von Metz hörten wir in der Ferne schon wied el'
Kanonendonner, und gegen Abend waren wir dernselben
ganz nahe. Brrr, eine Cänsehaut lief über den
Rücken, das Grauen vor der Zukunft. ln Vionville
verbrachten wir die Nacht. Ich schleppte eine Welle
[Bündel, Garbe] Su–oh in eine ausgeraubte Épicerie
[Lebensmittelladen] und legte mich mit meinem Kameraden
Gautherat darauf.
VOl' Tagesanbruch Alarrn. Alles sprang vom
Schlafe auf, Tornister urngehängt, Gewehr in die
Hand, raus und antreten, alles in einigen Minuten.
Jeder erhielt einen Becher heil3en Kaffee und ein
Stück trackenen Kara [Kornmibbrot]. [… ]
Der Morgen war unfreundlich, regnerisch und
neblig. Wir waren vielleicht eine Stunde marschiert,
da hieû es: »Ausschwärrnenl– Der ebel verschwand,
die Sonne kam zum Vorschein. VOl'uns lag
in etwa 400 rn Entfernung ein Wald. Darauf zu
ging's. Zing–zing, zischte es uns von dort um die
Ohren. »Vorwarts, marschmarsch, zum Sturrnlschrien
die Offiziere. Wir rannten gegen den Wald,
den Oberkörper geduckt, vorwärts, Einzelne Mann
Iielen. Schrapnells, und wie genau gezielt. Ver-
Huchte 75er-Kanonen! Die Franzosen zogen sich zurück.
Wir besetztcn den Wald. ln einer schmalen
Wiesenmulde zwischen zwei Waldern ging's wei ter
vor. Abseits stand der dicke Bataillonsarzt, der irnmer
fort schrie, wahrscheinlich, urn uns Mut zu ma-
51
chen: »Die Festung Maubeuge ist gefallenl«
Tsching-bum, platzten Schrapnells über der Mulde.
lm Laufschritt ging's weiter, um von der gefahrlichen
Stelle wegzukommen. Da hief es: »Der Bataillonsarzt
ist gefallen.« Aus einem kleinen Fichtenwäldchen,
das auf einer Höhe vor uns lag, bekamen
wir starkes Infanteriefeuer. Wir sprangen in den
Wald zurück, krochen an den Wald rand und nahmen
das Fichtenwäldchen stark unter Feuer. Das
Feuer der Franzosen wurde schwächer und horte
ganz auf. Wir gingen var und besetzten das Waldchen.
Die Franzosen hatten sich verduftet.
Es ging gegen Abend, wir muJ3ten die im Waldchen
Iiegenden toten Franzosen begraben. Es waren
alles alte Soldaten, so gegen 40 Jahre alt. Die armen
Menschen, jedenfalls fast durchweg Familienvater,
dauerten mich. Man konnte mit dem besten Willen
kein ordentliches Grab schaufeln; 30 cm Erde, dann
Kreidefelsen. Wir legten sie hinein, ihr Kor per
schnitt gerade mit dem Erdboden ab. Wir bedeckten
sie mit etwas Erde. Die traurige Arbeit war zu Ende.
Kein Mensch schaute nach, um Namen oder sons tige
Erkennungszeichen festzustellen, und 50 figurieren
diese Armen wahl auf der Liste der VermiHten.
Die Nacht verbrachten wir im Fichtenwaldchen.
Ein kalter Wind wehte, Regenschauer gingen nieder,
wir wurden pudelnaH, es fror uns sehr. Für was?
Für wen? Eine ohnrnachtige Wut überkam mich. Das
half alles nichts. Zahneklappernd, der Verzweiflung
nahe, hockte ich auf einigen von mir heruntergebogenen
Fichtenästen und starrte in die Nacht hinaus,
dachte an die Heimat, an meine Angehörigen und
an mein Bett. Es überkam mich eine unglaubliche
Sehnsucht nach der Heimat und meinen Lieben. Ich
mulite weinen. [... ] Mich durchzuckte der Gedanke:
Hab' ich eigentlich noch eine Heimat, leben meine
Eltern noch? Oder wo sind sie? Seit Kriegsausbruch
hatte ich einen Brief von dort erhalten, datiert vom
Anfang August. Was alles konnte dort seither passiert
sein! So nahe der Grenze! Vielleicht alles zerschossen,
52
zerschossen,
verbrannt, die Angehürigen geflohen.
Wohin? Diese Ungewiûheit quälte mich fürchterlich.
Nun war das MaS der Leiden voll, zu der UngewiHheit
meiner Zukunft noch die Sorgen urn Angehörige
und Heimat. An Schlaf konnte ich nicht mehr
denken. lch stand auf, lief var dem Wäldchen hin
und her, schlug mit den Händen um mich, um sa
etwas warrn zu bekommen. Endlich graute der Morgen.
Wie würde ein Becher heiûer Kaffee guttun!
Keine Feldküche, nichts. Wir gingen nun nach dem
var uns liegenden Dorfe Flirey. Die Kaninchen- und
Hühnerschlächterei ging wieder los. Es wurde alles
weggenommen, aIs wenn überhaupt keine Eigentümer
da waren. Man sah fast keinen Menschen, fast
alles hatte sich bei unserer Ankunft versteckt. Ich
g–ing in einen Stail, um vielleicht etwas Milch von
ciner Kuh melken zu konnen. Mit Mühe und Not
brachte ich vielleicht einen halben Liter heraus. lnzwischen
holten andere Soldaten die Hühner samt
den Kaninchen zum Stail heraus, Da ging die Türe
auf, angstlich kam ein alter Bauer in den StaIl. AIs er
die leeren Kaninchenkisten und den Hühnerstall
sah, schlug el' die Hände über dem Kopf zusammen
und sagte: »Mon Dieu, mon Dieu!« Der Mann daucrte
mich, und ich ging beschämt hinaus.
Jeder bemühtesich nun, irgend etwas zu kochen.
Die einen kochten Kaninchen, andere rupften Hühner,
einige plünderten eben einen Bienenstand,
SI ürzten die Korbe um und bohrten mit denSeitengcwehren
den Honig heraus, dabei eine Menge Bielien,
die an dem kühlen Morgen nicht f1iegen konntcn,
zerquetschend. Wieder andere schüttelten die
Zwetschgen von den Bäurnen. Da holte ich mir auch
cinige Handvoll. Nachher riû ich einige KartoffeIstauclen
im Garten aus, nahm die Kartoffeln, schälte
sie, tat sie in das Kochgeschirr, gab etwas Wasser und
Salz dazu, und nun ging's ans Kochen. Da ich groGe
Lust auf Honig hatte, holte ich mir auch ein wenig
und tat ihn in den Kochgeschirrdeckel. AIs nun eben
mein Wasser war m war, kam der Befehl: »Fertigrna-
53
chen, weiter l- Gegessen oder nicht gegessen, danach
wurde nicht gefragt. lch schüttete das heilie Wasser
ab, die Kartoffeln lieB ich drin, in der Hoffnung, sie
bei nächster Gelegenheit fertig zu kochen, stülpte
den Deckel auf das Kochgeschirr, und weiter ging's,
zum Dorf hinaus, den Franzosen entgegen.
Wir passierten noch das Dorf Essey. Kaum waren
wir zum Dorf hinaus, ging der Tanz wieder los.
Französische Schrapnells flogen heran, zum Glück
am Anfang über uns hinaus. BaIe! bekamen wir aus
dem vor uns liegenden Wald schwaches Infanteriefeuer,
und nun gab es einzelne Getroffene. Unsere
Artillerie beschoßden Wald. Die franzosische Infanterie
zog sich zurück. Wir besetzten den Wald. Der
Wald war von einem schmalen Wiesentale, etwa
200 m breit, durchzogen. Quer durch ging ein ziemlich
hoher Eisenbahndamm, den wir besetzten.
Plötzlich bekamen wir aus dem gegenüberliegenden
Walde starkes lnfanteriefeuer; der neben mir stehende
Reservist Kalt wurde getroffen und kollerte
den Bahndamm hinab. Dasselbe Schicksal erlitten
mehrere andere. Wir schossen nun über die Schienen
in den Wald. Franzosen konnten wir keine sehen.
Bald wurde ihr Feuer aber sa stark, daßkeiner
mehr wagte, den Kopf zu heben und zu schieben.
Nach einer starken BeschieBung unserer Artillerie
verstummte das französische Feuer.
Etwa eine Stunde spater kam der Befehl, Offizierstellvertreter
Bohn [ein Lehrarntspraktikant von 32
Jahren, 1908 als Einjährig-Freiwilliger eingetreten]
soUe mit 4 Mann den Wald absuchen; ich hatte das
Pech, dieser Patrouille zugeteilt zu werden. Mit bangem
Herzen betraten wir den Wald, jeden Augenblick
in der Gefahr, von einer Kugel niedergestreckt
zu werden. Vorsichtig schlichen wir durch das niedrige,
dicht stehende Ceholz und kamen dann zu
einer geraden Schneise (Durchhau) vor. [… ] Auf
einmal erblickte ich etwas Rotes, etwa 20 m VOl'uns
im Cebüsch. Ich mach te mich schuHfertig. Da sich
das Rote nicht bewegte, gingen wir vorsichtig darauf
54
ZU. Var uns lag neben einem Granatloch ein alterer
Franz.ose, dem ein Bein beim Knie total abgerissen
war, Mit einem Hemd war der Beinstumpf umwikkelt.
Der arme Mensch war schon ganz gelb im Gesicht
vom Blutverlust und sehr schwach. Ich kniete
mich neben ihn, machte seinen Tornister untel' seinen
Kopf und gab ihm aus meiner Feldflasche Wasser
zu trinken. Er sagte »Merci- und deutete mir an
den Fingern, daßer drei Kinder zu Hause habe. Der
Arme dauerte mich sehr, aber ich mußte ihn verlassen,
nachdem ich noch auf ihn deutete und sagte:
»Allernand hospital.« Er lächelte schwach und schüttelte
den Kopf, aIs woUte er sagen, daßdies fûr ihn
nicht mehr in Betracht kàme. Langsam schlichen wir
nun bis zum jenseitigen Waldrand. Offizierstellvertreter
Bohn schickte mich mit noch einem Mann
zurück mit der Meldung, daßder Wald frei sei. Beim
Passieren des Verwundeten sah ich, daû derselbe
den Rosenkranz in der Hand hielt und betete. Mit
der einen Hand deutete el' auf seine Zunge zum
Zeichen, daßer Durst habe. Ich gab ihm den Rest
Wasser aus meiner Feldflasche. AIs wir etwa eine
halbe Stunde später mit der Kompanie vorbeikamen,
lag el' tot da, noch immer den Rosenkranz in
der Hand haltend.
Wir besetzten nun den Waldrand, ich stand beim
Eingang der Schneise und schaute über die hügelige
Gegend vor uns. Da sah ich einen Franzosen auf
etwa 500 m Entfernung. AIs er mich erblickte, legte
el' sich nieder; gleich sah ich den Dunst seines Schusses
aufsteigen, und knapp 1m VOl'mir klatschte die
Kugel in den Boden. Nun verkroch ich mich schleunigst
im Gebüsch und versuchte, ein Loch zur Dekkung
zu graben. Der Boden bestand aber aus einem
derartigen Wurzelgef1echt, daßdies unrnoglich war.
Nun knatterte eine Salve, und prasselnd zischten die
Kugeln durch das Cebüsch. Da wir gaI' nicht gedeckt
waren, gab es bald l'ote und Verwundete. Mein Stubengefreiter
Mundiger bekam eine Kugel durch die
Schlagader am lin ken Oberarm, so daßdas Elut wie
55
aus einer Röhre vorne am Armel herausschoß. [Der
Maurer M., damaIs 23 .lahre aIt, wurde laut Stammrolle
am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarrnschuf
verwundet.] Schnell band ich ihm den
Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser
den Armel ab und verband ihm die
Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,
führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.
Nun schickte uns dieschwere Artillerie der Forts von
Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate
schweren Kalibers], gurgelnd sausten sie über uns
hinweg und explodierten mit furchtbarem Krachen
zurück im Walde. Ais wir zu dem Bahndamm kamen,
wo unsere Toten noch yom Morgen lagen,
woIlte ich der Bahn entlang das Dorf Essey erreichen.
Der Verwundete beharrte jedoch darauf, nach
der in der Nähe vorbeiführenden Straße zu gehen.
Ich woUte ihm nicht widersprechen, und so gingen
wir den Bahndamm entlang der Straße zu. Kaum
hatten wir einige Schritte zurückgelegt, ais unter
schrecklichem Krach eine der graßen Granaten auf
dem Bahnkörper platzte. Erde, Splitter, Steine und
Schienenteile sausten über unsere Kopfe, und wir
wurden in Rauch und Staub ganz eingehüUt. Zum
Glück wurde keiner verletzt. Hätte der Verwundete
vorher meinen Rat befolgt, auf der Bahn entlangzugehen,
sa wären wir aile drei zerrissen worden. Der
Verwundete, der vorher mehrere Male var Schwäche
zusammengesunken war, konnte nun sa laufen,
daßich ihm kaum folgen konnte. Dann brach el' aber
doch wieder auf den Wiesen zusammen. Gegen
Abend erreichten wir das Dorf Essey, wo wir den
Verwundeten dann zum Arzt brachten.
Da ich keine Lust mehr hatte, nach verrie zu gehen,
beschloßich, im Dorfe zu übernachten. Ich ging
zu einer Frau und verlangte einige "Pommes de
terre«, AIs ich sie bekam, gab ich ihr 2 »Nickel«. Wie
mich die Frau erstaunt ansahl Denn das war ihr wahl
noch nicht vorgekommen, von deutschen Soldaten
etwas bezahlt zu bekommen. Sie nahmen, was sie
56
wollten, einfach weg. Ich machte nun ein Feuerchen
im Hofe und kochte die Kartoffeln. Die Frau brachte
mir dann noch einen Liter Milch heraus. Ais ich
bezahlen wall te, nahm sie das Geld nicht, sondern
deutete mir, ich salle nur ruhig trinken. Da ich gro-
Ben Hunger hatte, schmeckte es mir vorzüglich.
Nachher legte ich mich in der Scheune aufs Strah,
um die Nacht zu verbringen. Es war für mich ein
Vergnügen, in Sicherheit, trocken und warm zu
schlafen.
ln der Nacht erwachte ich durch das Ceräusch auf
der Straße zurückmarschierender Truppen. lch
stand auf und fragte, was es für Truppen seien. Es
war mein Bataillon. Schnell hing ich meinen Tornister
um und schloßmich ihnen an. Etwa 1km hinter
dem Dorfe wurde auf der Höhe haltgemacht, eine
Linie gebildet und angefangen, einen Schützengraben
auszuheben. Eine schwierige Arbeit, da man
nichts sah und in etwa 30 cm Tiefe auf harten Kalkstein
stieû, Gegen Morgen waren wir doch 1m tief.
Unser Graben führte durch ein Rebstück. Ich aßvon
den halbreifen Trauben. Die Folge waren Leibschmerzen
und Durchfall.
Die Hälfte der Truppen durfte nun in den weiter
zurückliegenden Wald, um zu schlafen; es waren die
letzten Septembertage 1914. Gegen Mittag wurde
Post verteilt, und ich erhielt den ersten Brief aus
meiner Heimat, die seit Kriegsbeginn von den Franzosen
besetzt war. Wie glücklich war ich zu lesen, daß
meine Angehorigen noch gesund und zu Hause
seien. Da mein Heimatdorf nur etwa 8 km hinter der
Front lag, befürchtete ich imrner, dasselbe sei von
den Einwohnern verlassen.
Am nachsten Abend muliten wir wieder in den
Graben. ln der Nacht rnachten die Franzosen einen
Angriff; ohne daßman einen sehen konnte, schoß
man in die Nacht hinaus. Da es hieß, sie seien dicht
vor unserer Stellung, schoßunsere Artillerie auch
sehr kurz. Nach und nach hörte die SchieHerei auf.
AIs der Morgen grau te und die 4 Mann Vorposten,
57
aus einer Röhre vorrie am Armel herausschoû. [Der
Maurer M., damais 23 .Jahre ait, wurde laut Stammrolle
am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarmschuß
verwundet.] Schnell band ich ihm den
Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser
den Armel ab und verband ihm die
Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,
führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.
Nun schickte uns die schwere Artillerie der Forts von
Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate
schweren Kalibers], gurgelnd sa