COMMANDE A FAIRE 

 

EXTRAIT

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IM ALTER VON 20 JAHREN 
 

 halben Jahre waren wir Rekruten durch den in der  deutschen Armee üblichen Drill zu kriegstüchtigen  Soldaten ausgebildet. Mitte Juli 1914 kam unser Regiment

   der badisch-württembergischen Grenze, um dieGefechtsübungen

in großerem Maßstabe zu lernen.

Wir wurden dort manchmal aufs gemeinste herumgejagt

und geschliffen.

   Am 29.Juli 1914 [… ] nachmittags hatte die Feldartillerie

Scharfschießen. Da es uns erlaubt war zuzusehen,

ging ich auch hin, denn ich war der Meinung,

daß ich diese Gelegenheit vielleicht nie mehr im Leben

haben würde. Das Schießen vor Ort war wirklich

interessant. Ich stand hinter den Geschützen und

konnte das Platzen der Schrapnells sowie die Einschläge

der Granaten bei den aufgestellten Zielen

genau sehen. Von dem drohenden Kriege hatten wir

Soldaten nicht die geringste Ahnung. Am 30.Juli

1914 gingen wir, durch den Dienst sehr ermüdet,

frühzeitig zu Bett. Etwa um 10 Uhr abends wurde

die Tür plotzlich aufgerissen und vom Kompaniefeldwebel

der Befehl zum sofortigen Aufstehen

gegeben, da der Ausbruch des Krieges unvermeidlich

sei. Wir fuhren aus dem Schlafe auf, keiner

war im ersten Moment vor Überraschung fähig, ein

Wort zu sprechen. Krieg, wo, mit wem? Natürlich

waren sich bald alle einig, daß es wohl wieder gegen

Frankreich gehe. Da fing einer das Lied »Deutschland,

Deutschland über alles« zu singen an. Fast alle

fielen ein, und bald tonte das Lied aus Hunderten

von Soldatenkehlen in die Nacht hinaus. Mir war es

absolut nicht ums Singen, denn sofort dachte ich,

daß man im Kriege nichts so gut wie totgeschossen

werden kann. Das war eine äußerst unangenehme

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Aussicht. Auch war mir bange, wenn ich an meine

Angehörigen und meine Heimat dachte, die hart an

der Grenze liegt und daher der Gefahr ausgesetzt

war, zerstört zu werden.

Eiligst wurde nun gepackt, und noch in der N acht

ging's nach dem im Donautale gelegenen Bahnhof

Hausen. Da kein Zug für uns da war, marschierten

wir ins Lager zurück, bis gegen nächsten Abend, um

dann in einem überfüllten Zuge, zusammergepfercht

wie Salzheringe in der Tonne, nach unserer

Garnisonsstadt Mülhausen zurückzufahren. Morgens

um 6 Uhr, 1. August 1914, kamen wir an und

marschierten in die Kaserne. Bis Mittag sollte Bettruhe

sein, jedoch bereits um 9 Uhr wurde ich mit

noch mehreren Kameraden geweckt. Wir empfingen

auf der Kammer die Kriegsmontur, alles nagelneu

vom Kopf bis zu den Füßen, dann erhielt jeder

von uns 120 scharfe Patronen. Nachher mußten wir

in die Waffenmeisterei, wo unsere Seitengewehre

geschliffen wurden.

Da kamen mein Vater und meine Schwester nochmals

zu mir, um mir Geld zubringen und Abschied zu

nehmen. Nun kam der Befehl, daß kein Zivilist mehr

den Kasernenhof betreten darf. Ich erhielt dann die

Erlaubnis, vor dem Kasernentor noch mit meinen

Angehörigen zu sprechen. Es war ein schwerer Abschied,

denn man wußte nicht, ob wir uns wiedersehen

würden. Wir weinten alle drei. Beim Fortgehen

ermahnte mich mein Vater,ja immer recht vorsichtig

zu sein, und daßich mich nie freiwillig zu irgend etvas

melden sollte. Diese Mahnung war eigentlich nicht

nötig, denn meine Vaterlandsliebe war nicht so gloß,

und der Gedanke, den sogenannten Heldentod zu

sterben, erfüllte mich mit Grauen.

Nun wurde ich mit noch 8 Mann zur Wache bei

der Stationskasse kommandiert. Andere Soldaten

standen am Bahnhof Wache, wieder andere patrouillierten

nach allen Richtungen den Gelesen

entlang. Am 3. August kreiste in großer Hohe ein

französischer Flieger über der Stadt. Alle Soldaten
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knallten in die Hohe. Jeden Augenblick glaubten

wir, daß er abstürzen würde, aber ruhig zog er seine

Kreise. Eine Menge Zivilisten hatten sich auf dem

Bahnhofsplatz angesammelt, um zuzusehen. Plötzlich

schrie einer der Zivilisten: »A Bumma!« (»-Eine

Bornbe!«) Schreiend lief der Haufen Zivilisten auseinander

und verschwand im Bahnhof und in den

umliegenden Gebäuden. Ich selbst sprang ebenfalls

in den Bahnhof und erwartete jeden Augenblick das

Explodieren der Bombe. Alles blieb still. Da wagte

ich mich unter dem Dach hervor, schaute in die

Höhe und sah einen Gegenstand herunterkommen,

an dem etwas flatterte. Bombe ist das doch sicher

keine, dachte ich. In Wirklichkeit war es ein schöner

Blumenstrauß, hauptsächlich aus Vergißmeinnicht

bestehend, der von einem rot-weiß-blauen Band zusammengehalten

war. Ein Gruß Frankreichs an die

elsässische Bevölkerung.

            Am 4. August verließen zwei Züge, angefüllt mit

deutschen Beamten, Mülhausen in Richtung Baden.

Wir hatten von ihnen mehrere Flaschen Wein erhalten,

die wir uns wohl schmecken ließen. Da hieß es,

daß nicht nur Krieg zwischen Deutschland und

Frankreich sei, sondern zwischen Deutschland,

Österreich- Ungarn und der Türkei einerseits und

Frankreich, Rußland, Belgien, England und Serbien

andererseits. Oja, dachte ich, das wird was abgeben.

Am 5. August marschierte ich mit einer kleinen Abteilung

nach Exbrücke. Wir lagen 2 Tage auf dem

sogenannten Kolberg nördlich des Dorfes. Am

7. August sah ich die ersten Franzosen, es waren

Patrouillen, die durch die Kornfelder kamen. Wir

beschossen uns gegenseitig, doch gab's auf keiner

Seite Verluste. Das Pfeifen der Kugeln regte mich

anfangs sehr auf. Da bekamen wir den Befehl, uns

bis über den Rhein nach Neuenburg zurückzuziehien,

und marschierten dahin. Mit Tagesgrauen

marschierten wir über die Rheinschiffbrücke. Beim

Friedhof von Neuenburg schlugen wir unser Zeltlager

auf, todmüde legten wir uns hin, um zu schlafen

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und uns von dem Marsche auszuruhen. Dort blieben

wir 2 Tage, bis zum 9. August, liegen. Mehrere Regimenter

Soldaten waren nun don versammelt. Und

es war ein schönes militärisches Bild, das sieh dem

Auge bot.

Am 9. August morgens hieß es: »Fertigmachen!

Antreten!« un ging's wieder über die Rheinbrücke

in den großen Hardtwald hinein. Es wurde uns nicht

gesagt, was los sei oder wohin wir gehen würden. [… ]

Alle Unteroffiziere mußten zum Hauptmann gehen,

Befehl empfangen. Dann gab jeder Gruppenführer

seiner Gruppe den Befehl bekannt: Die Franzosen

haben die Linie Habsheim – Rixheim – Napoleonsinsel-

Baldersheim und so weiter besetzt. Wir müssen

gegen Abend angreifen und sie zurückwerfen. Unser

Regiment hat die Aufgabe, das Dorf Habsheim, Rixheim

und die dazwischen liegenden Rebhügel zu

erstürmen. Plötzlich war jedes Lachen, jeder Humor

wie weggeblasen, denn keiner glaubte, die heutige

Nacht zu erleben, und von der in patriotischen Schriften

so oh gerühmten Kampfbegeisterung und dem

Draufgängertum sah man herzlich wenig. Nun hieß

es weitermarschieren. Auf dem Straßenrand lag der

erste Tote, ein französischer Dragoner, der einen

Lanzenstich in die Brust erhalten hatte. Ein schauderhafter

Anblick: die blutende Brust, die verglasten

Augen, der offene Mund sowie die verkrallten

Hände. Wortlos marsehierte alles vorüber.

[… ] ln der Nähe von unseren Schießständen lagen

6 tote deutsche Infanteristen, alle auf dem Gesicht.

Wir mußten nun im Walde ausschwärmen und

bis gegen den Wald rand vorgehen und uns dann

hinlegen. lch lag in der 2. Schützenlinie. Vor uns am

Waldrand standen die Flugzeugschuppen des Habsheimer

Exerzierplatzes. Also mußten wir über den

1200 m breiten, deckungslosen Exerzierplatz vorgehen.

Ich dachte: Die Franzosen knallen uns weg,

sobald wir vorgehen. »Sprung auf! Marschmarsch!«

schallte das Kommando. Die 1. Linie erhob sieh und

rannte zum Walde hinaus. Ein Reservefeldwebel
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blieb liegen. leh weiß nicht, war's aus Feigheit oder

war er vor Angst. ohnmächtig geworden.


 

DIE SCHLACHT BEI MÜLHAUSEN


 


 

Sofort ais die 1. Schützenlinie var dem Waldrand

erschien, prasseIte es ihnen aus dem etwa 1200 m

entfernten Gebüsch schon entgegen. Die Kugeln

zischten über uns hinweg, zischten durch das Laub

oder klatschten in die Bäume. Mit klopfendem Herzen

schmiegten wir uns alle an den Waldboden,

so dicht wir nur konnten. »Zweite Linie, Sprung auf!

Marschmarsch!« Wir erhoben uns und sprangen aus

dem Walde. Sofort zischten uns die Kugeln um die

Ohren. Die 1. Linie hatte sich hingelegt und hielt die

Gebüsche lebhaft unter Feuer. Schon lagen einzelne

Gefallene und Schwerverwundete hinter der ersten

Linie herum. Leichter Verwundete rannten zwischen

uns durch, zurück in den schützenden Wald.

Unsere Artillerie beschoß mit Schrapnells die zwischen

Rixheim und Habsheim gelegenen Rebhügel.

Das Sausen der Geschosse war für uns neu. Das

Krachen, Knattern und Zischen brachte uns in eine

nicht geringe Aufregung. Plötzlich sauste es dicht

über uns: Zwei französische Granaten explodierten

kaum 20 m hinter uns. Im Laufen schaute ich mich

um, und als ich den Rauch und die umherfliegenden

Rasenstücke sah, dachte ich: Wenn mir 50 eine zwischen

die Beine flöge, 0 weh!

»In die erste Linie einschwärmen !- scholl das

Kommando. Wir sprangen hin und ließen uns in den

Lücken der 1. Linie zu Boden fallen. Wir mußten

nun das uns gegenüberliegende Gebüsch unter

Feuer nehmen. Wie oft schon hatten wir mit Platzpatronen

in Friedenszeit Sturmangriffe auf jenes Gebüsch

gemacht; doch damals war der Feind durch

rote Flaggen markiert. Heute war es leider ganz,

ganz anders. »Der Armbruster ist gefallen«, sagten

                           19   

sich  die Soldaten gegenseitig in der Schützenlinie. Er

war ein Soldat meines Jahrganges. Das regte noch

mehr auf. [A., ein 23jähriger Schreiner, ist Iaut

Stammrolle des 112. Infanterieregiments bei diesem

Gefecht nicht gefallen, wurde an diesem Tag aber

durch einen Brustschuß schwer verwundet.] Zing,

schlug eine Kugel längs neben mir das Gras weg.

30 cm weiter nach links, und aus wär's mit mir gewesen.

-Sprung auf! Marschmarsch !- Alles stürzte vorwärts,

sofort prasselte es uns noch viel arger entgegen.

Wieder stürzten einzelne getroffen, manchmal

mit schrecklichem Aufschrei, zu Boden. »Stellung,

Feuer aufnehmen! 1., 3., 5., 7., 9. Gruppe springt!

2., 4., 6., 8. und 10. Gruppe schießt inzwischen

Schnellfeuer l- So ging's nun abwechselnd vor.

Als wir uns dem Gebüsch näherten, horten die

Franzosen mit Schießen auf. Als wir uns durch das

Gebüsch gewunden hatten, sahen wir eben die

letzten Franzosen beim Bahnhof Habsheim verschwinden.

Das waren die ersten Franzosen, die ich

beim Angriff zu sehen bekam. Im Gebüsch sah ich

nur zwei Tote liegen.

Als wir nun über das freie Feld gegen Habsheim

vorgingen, bekamen wir wieder starkes Feuer aus

dem Bahnhof und von den Rebbergen herunter.

Jedoch nur ganz wenige wurden getroffen. Als wir

mit Hurra den Bahnhof stürmten, waren die Franzosen

schon wieder gewichen. Wir waren dort auch

zu sehr in der Übermacht. Nun ging's zum Sturm

auf die Rebhügel. Anfangs prasselte uns ein starkes

Feuer entgegen, doch ais wir bald oben waren, flüchteten

die Franzosen in die Reben und waren verschwunden.

Die französische Stellung bestand nul'

aus einem etwa 50 cm tiefen Graben, dahinter Iag ein

Haufen Weißbrot und ein Fäßchen Rotwein. Beides

war bald in unseren Mägen verschwunden. Selbst

der größte Patriot fand das französische Weißbrot

besser ais unser Kommißbrot.

[… ] Inzwischen war es Nacht geworden. ln den

Reben fanden wir einen jungen, ohnmächtigen 
             20

Franzosen . Im Scheine angezündeter Streichhölzer 
sahen wir, daß er einen Oberschenkelschuf3 erhalten

hatte. Ein Badenser aus Mannheim wollte ihn totschlagen,

ich und mein Kamerad Ketterer aus Mülhausen

hatten Mühe, den Unhold von seinem Vorhaben

abzuhalten. Da wir sofort weiter vor mußten,

ließen wir den Franzosen liegen.

Als wir mit Hurrageschrei auf Rixheim losstürmten,

mußten sich die Franzosen zurückziehen, um

nicht in Gefangenschaft zu kommen. Trotzdem

wurden beim Häuserabsuchen noch Gefangene gemacht,

die sich vor Angst verkrochen hatten. Die

meisten Soldaten waren wie verrückt und wollten

überall im Dunkel Franzosen gesehen haben. Eine

blödsinnige Knallerei ging los, auf Bäume und alles

mogliche, sogar auf Schornsteine auf den Dächern

wurde geschossen. Überall zischten und schwirrten

die Kugeln herum, so daß man nirgends seines Lehens

sicher war. Der größte Soldat des Regiments,

der 2 m lange Hedenus, stürzte zu Tode getroffen zu

Boden. [H. war ein 19 jähriger Gymnasiast, laut

Stammrolle am 10. August 1914 um 10.30 Uhr

durch Brustschuß gefallcn.] Einzelne Hauser waren

in Brand geraten und beleuchteten die Umgebung.

l)je Verwundeten beider Parteien wurden aufgelesen,

die Toten blieben liegen.

Wir mußten uns sammeln, marschierten in Rich-

tung Mülhausen und mußten dann auf den Wiesen

ctwa 1km vor Rixheim übernachten. Da wir alle

naß yom Schwitzen waren, empfanden wir die

Kühle der Nacht unangenehm und hatten gro/3es

Verlangen nach unseren Strohsäcken in der Kaserne.

Doch müde, wie man war, schlief man bald

ein. Durch Schüsse und über uns schwirrende Geschosse

wurden wir aufgeschreckt. »Was ist los?«

schrie alles im Dunkel durcheinander. Da die

Schüsse in unserem Rücken bei dem Dorfe Rixheim

aufblitzten, immer zahlreicher wurden und sogar

ein Masehinengewehr anfing zu rattern, hien es:

..Die Franzosen sind in unserem Rücken«. Es gab

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ein unbeschreibliches Durcheinander. Gellend tö nten

die Aufschreie der Getroffenen. Die Offiziere

befahlen uns, eine Linie zu bilden, uns hinzulegen

und die Stellen, wo die Scsse aufblitzten, kräftig

untel' Feuer zu nehmen.

Mehrere Minuten knallte alles drauflos. Da hieß es

plötzlich, es sind ja Deutsche. »Feuer einstellen

Wir mußten nun »Deutschland, Deutschland über

alles. singen, darnit die Soldaten bei Rixheim hören

sollten, daß wir Deutsche seien. Herrgott, war das

ein Gesang! Fast alle drückten das Gesicht in den

Rasen, um möglichst gedeckt zu sein. Langsam

flaute das Feuer ab. Die Offiziere làrrnten und

schimpften. Aber die armen Gefallenen konnten sie

nicht mehr lebendig machen. Wir hatten durch die

deutschen Kugeln so viele Verluste wie von den

französischen.

Am folgenden Morgen marschierten wir nach der

Napoleonsinsel. Überall sah man einzelne Tote,

Deutsche und Franzosen, umherliegen, ein grauenerregender

Anblick. Wir marschierten bis Sausheim,

machten kehrt, dieselbe Strecke zurück nach Mülhausen,

wo wir um 10 Uhr abends unter den Klangen

der Regimentsmusik einzogen. Die Einwohner

verhielten sich ruhig, und ich glaubte in vielen Gesichtern

zu lesen, daß unsere Rückkehr unerwünscht

war. Die nächsten 2 Tage bezogen wir

Alarmquartier in unserer Kaserne und konnten ausruhen.

Die meisten wollten nun weif Gott was für

Heldentaten vollbracht und eine Unmenge Franzosen

totgeschossen haben. Besonders diejenigen rissen

das Maul am weitesten auf, die während des

Gefechts am meisten Angst gehabt hatten.

Am 12. August marschierten wir in Richtung Baden,

überschritten beim Isteiner Klotz den Rhein

und wurden mitten in der Nacht in dem badischen

Dorf Eimeldingen in Scheunen einquartiert. Am folgenden

Tag wurden wir an der Bahn verladen. [... ]

ln Freiburg erhielten wir eine Unmenge Liebesgaben,

hauptsàchlich Schokolade, Zigarren, Zigaretten  
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wohin. Alle müglichen Gerüchte wurden laut: nach

Nordfrankreich, Belgien, Serbien, Rußland und so

weiter. Jedoch aIle hatten sich getauscht, denn bei

Straßburg fuhren wir wieder über den Rhein und

mußten morgens bei Tagesgrauen in Zabern den

Zug verlassen. Sofort marschierten wir die Zaberner

Steige hinauf nach Pfalzburg (Lothringen). Es war

cin herrlicher, klarer Sommermorgen und die Aussicht

an einigen Stellen über die elsassische Ebene

wunderbar. Wir blieben in hochster Alarrnbereitschaft,

selbst kein Stiefel durfte ausgezogen werden.

ln der Ferne horten wir Kanonenschüsse. Aiso

schien auch hier etwas los zu sein.

Gegen Abend ging's weiter in Richtung Saarburg.

Auf einer Höhe mufiten wir Schützengben ausheben,

eine richtige Schinderei, mit den kleinen Spaten

konnte man den harten, trockenen Lehrnboden nur

mit groüer Anstrengung wegarbeiten. [... ] Bei Anbruch

der Nacht entlud sich ein schweres Gewitter

über der Gegend, es wurde stockfinster, und ein

wolkenbruchartiger Regen ging nieder. Keiner

hatte mehr einen trockenen Faden am Leibe. ln den

Suefeln hatte sich das Wasser derart angesammelt,

daß wir dieselben ausleeren konnten. Wir hockten

oder standen auf dem Felde umher und fingen vor

Nasse an zu schnattern wie Ganse. »Alles nach Rieding,

Quartier suchenl Wir tappten über das nun

nasse Feld und kamen endlich auf die Strahe, die ins

1iorf führte. Es war derart mit Soldaten überfüllt,

daJ3 wir lange kein freies Plätzchen unter Dach fanden.

Ketterer aus Mulhausen, Gautherat aus Menglatt

und ich hielten uns zusammen: »Ln der Kirche gibt's

sicher noch Platz «, meinte Ketterer. Wir gingen hin,

jcdoch dasselbe Bild. Die Soldaten hatten die Altarkcrzen

angezündet, so daßdie Kirche ziemlich erlcuchtet

war. Überall in den Banken und in den

(;~ingen Tru ppen. Sogar auf dem Altare lagen oder

s;tfkn die Soldaten herum. Wir verlieBen die Kirche

                23

und kamen am Dorfende zu einem Haus, dessen

Haustür verschlossen war. ln der Scheune kam pierten

Husaren. Wir rüttelten an der Türklinke, niemand

kam. Ketterer polterte mit dem Cewehrkolben,

zuerst leise, dann imrner stärker, an die Haustür.

Endlich fragte jemand: »Wer ist denn drauf.\

en?«  »Drei Soldaten, Elsässer «, sagte ich, »rnöchten

sich gerne einquartieren. Wir sind zufrieden,

werm wir am Boden schlafen körmen.« Die Tür ging"

auf. Wir rnuûten in die Küche. »Herrgott, se id ihr

nabl klagte die Frau, machte uns unaufgefol'dert

heilie Milch, gab uns Brot und Butter dazu, das wir

uns wohl schmecken Iiehen. Die freundliche Frau

sagte uns, daßsie nul' ein freies Bett habe. Wir zogen

uns dann alle drei nackt aus und krochen ins Bert.

Die gute Frau halte unsere nassen Kleider und

trocknete sie am Ofen. AIs wir am falgenden Morgen

erwachten, waren aile Soldaten aus dem Dorfe

verschwunden. Die Frau brachte uns unsere trockenen

Kleider, und wir mubten noch frühscken. Jeder

wollte dann der Frau für ihre Bemühungen 1

Mark geben [Tagessold eines Soldaten: 53 Pfennig];

sie wall te jedoch nichts. Dankend nahmen wir Abschied.

Nun gingen wir auf die Suche na ch unserer

Kampanie, die wir auf der Höhe trafen, wo wir am

vorhergehenden Abend einen Schützengrabenausgehoben

hatten.

Am Mittag marschierten wir nach dem Dorfe

Bühl, hielten, marschierten weiter, hielten wieder

und so weiter. Von vorne marschierten mehrereRegimenter

Bayern  Infanterie, Artillerie, Kavallerie

 an uns vorüber, zurück. Kein Mensch wu/3te,

woran el' war. Endlich marschierten auch wir zurück

und mu/3ten hinter dem Dorfe Rieding an einem

Waldrand in einer sumpfigen Mulde einen Schützengraben

ausheben. Wo man hinsah, arbeiteten Liniensoldaten

am Grabenbau. Bauerien wurden versteckt

eingebaut. Bald war uns allen klar, da/3 wir

hier die Franzosen aufhalten sollten. Mehrere Tage

vergingen ohne Zwischenfall. Am 18. August kamen
                            24
 

franzosische Granaten angeflogen; diejenigen, die

in unserer Nahe in den Sumpfboden einschlugen,

explodierten nicht, während andere auf dem harten

Ackerboden mit lautem Krach zersprangen.

 

 

 

19. AUGUST 1914 – SCHLACHT BEI

SAARB URG (LOTHRINGEN)

 

ln der Nacht vom 18. zum 19. August hatten die

Franzosen die vor unseren Linien liegenden Dörfer

sowie das dazwischen liegende Celände besetzt. Am

Morgen in der Fhe wurde bei uns der Befehl zurn

allgemeinen Angriff gegen die Franzosen gegeben.

Mit einem Schlag war alles Lachen, aller Humor wie

weggeblasen. Alle Gesichter hatten denselben ernsten,

gespannten Ausdruck. Was wird der Tag bringen?

Ich glaube nicht, daû einer an das Vaterland

oder an sonstigen patriotischen Schwindel dachte.

Die Sarge um das eigene Leben drängte alles andere

in den Hintergrund.

Auf der Stra/3e, die bergab etwa 500 m von uns

nach dem Dorfe Rieding führte, fuhr in schnellstem

Tempo die etwa 80 Mann starke Radfahrer-Kornpanie

unseres Regiments auf das Dorf los. Kaum war

sie hinter den ersten Hausern verschwunden, aIs

eine tolle Schieûerei im Dorfe losging. Die ganze

Kompanie wurde vernichtet, bis auf 4 Mann. Plötzlich

setzte das deutsche Artilleriefeuer ein, die Franzosen

antworteten. Die Schlacht hatte begonnen. Mit

geladenem Gewehr und umgehängtern Tornister

knieten wir im Graben und warteten mit klopfendem

Herzen auf weitere Befehle. »Das Bataillon

geht geduckt im Graben nach der Straße hiber.

Weitersagen!« Alles setzte sich mit gebücktem Oberkörper

in Bewegung. Mehrere französische Granaten

schlugen dicht beim Graben ein, so daßman sich

sekundenlang auf den Grabenboden warf. Wir erreichten

nun die Straûe und krochen – meist auf

            25

allen vieren – den Straßengraben entlang vorwärts.

Nur zu bald hatte uns die französische Artillerie

entdeckt. Plotzlich ein Sausen, ein Blitz über uns, ein

Schrapnell war geplatzt, doch keiner wur de getroffen.

Ssst-bum-bum, kamen sie nun angeflogen. Aufschreie

hier und dort, mein zweiter Vordermann

schrie auf, stürzte zu Boden, walzte sich herum und

schrie jammernd um Hilfe. Das regte auf.

»Vorwärts, marschrnarsch!« Alles rannte nun im

Straßengraben vorrts, doch die franzosischenGesehosse

waren schneller, die Verluste häuften sieh.

"Bataillon nach links heraus, kompanieweise mit

4 Schritt Abstand, in Sctzenlinien schwärrnt.

Marschmarsch! ln kaum 2 Minuten war das Bataillon

ausgeschwärmt, im Laufschritt ging's weiter. Die

franzosische Infanterie, von der wir nichts sehen

konnten, eroffnete nun ein lebhaftes Feuer auf uns.

Wieder gab es Verluste. Vom Laufen und von der

Aufregung klopfte das Herz bis zum Halse hinauf.

Wir stürmten den Bahnhof Rieding. Vor unserer

Übermaeht muûten die Franzosen an dieser Stelle

weichen. Einige Gefangene blieben in unserer

Hand. Hinter der Bahnboschung muliten wir gedeckt

liegenbleiben und konnten wieder Atern

schopfen. Überall hörte man das Donnern der Geschütze,

das Bersten und Kraehen der Granaten 50

wie das Geknatter der Infanterie und daschinengewehre.

Oh, wenn wir nul' lange in dieser Deckung

liegenbleiben könntenl dachte ich. Ja, Kuchen! Ein

anderes Bataillon schrrnte von rückwärts bei uns

ein. ,,1. Bataillon lnfanterieregiment 112 zieht sich

gedeckt nach links rüber!« Wir gelangten nun in

eine Mulde, erreichten einen Wald und gingen etwa

2 km im Bogen herum, um das Dorf Bühl, welches

von den Franzosen tapfer verteidigt wurde, von der

Seite anzugreifen. Kaum verlief unsere 1. Linie den

schützenden Wald, aIs schon die franzosischen Cranaten

angesaust karnen. Sie waren gut gezielt, und

die Erdschollen schwirrten brummend um unsere

Këpfe, richteten jedoch in unseren aufgelosten Linien
                                    26
 

wenig Schaden an. Wir mußten ein flaches TaI

durchqueren, durch welches ein Bach HoH. Da die

Wiesen gar keine Deckung boten, blieb uns nichts

übrig, ais im Bache binter der jenseitigen Bëschung

Deckung zu suchen. "Vil' standen fast 2 Stunden bis

an den Leib im Wasser, duckten uns dicht an die

Böschung, hrend die Scbrapnells die Erlen und

Weiden über unsern Köpfen in Fetzen rissen. Wir

bekarnen aus dem Walde mehrere Linien Versrkung

und rnuûten zum Angriff auf die Höhe vorgehen.

Ein prasselndes lnfanteriefeuer knatterte uns

entgegen. Mancher arme Soldat fiel ins weiche

Öhmdgras. [Südwestdeutsch Ohmd: Heu, die zweite

Mahd] Weiter vorzugehen war unrnoglich. Alles

warf sich zu Boden und suchte sich mit Spaten und

Handen einzugraben. Zitternd,dicht an den Erdboden

geschmiegt, lag man da, jeden Augenblick den

Tod erwartend. Da hörte ich auf der Hohe furchthare

Explosionen, hob ein wenig den Kopf und

schaute hinauf. Crolle, schwarze Rauchwolken

schwebten dort oben, neue Rauchwolken schossen in

die Höhe, Erdschollen flogen umher. Die deutsche

FufiArtillerie hielt die Hohe stark untel' Feuer. Wir

konnten nun die Höhe und das Dorf mit wenigen

Verlusten nehmen. ln einern ausgehobenen Keller

auf einern Bauplatz suchten wir gegen die fransische

Artillerie Deckung. eben mir lag ein badischer

Reservist, Vater von zwei Kindern. Er zog eine Zigarre

hervor, beim Annden sagte el' zu mir: »Wer

weill, es ist vielleicht die letzte.. Kaurn hatte er diese

Worte gesprochen, als ein Schrapnell über uns

platzte. Ein Splitter durchschlug den Tragriemen

des Tornisters auf der Brust und drang ins Herz.

Der Reservist stief einen Schrei aus, schnellte hoch

und fiel tot hin. Zwei andere Soldaten und unser

Hauptmann wurden verwundet. Wir blieben bis gegen

Abend im Keller liegen. Dann ging's weiter;

ohne auf Widerstand zu stolien, besetzten wir die

südwestlich von Bühl gelegenen Höfe. Wir sollten

dort die Nacht verbringen. Todrnüde, abgehetzt,

                        27

naf von Schweif und Bachwasser legte sich alles hin.

Ich selbst halte in der Nähe stehende Hafergarben,

breitete zwei in einer Furche aus und deckte mich

mit zwei anderen zu. Ich schlief bald ein. Plotzlich

ging ein Geschrei und eine SchieI3erei los. »Sofort

drei Linien bilden! Erste liegen, zweite knien, dritte

stehen! Sofort Schnellfeuer nach vorne eröffnen!«

Alles rannte riun hin, im Nu waren die Linien gebildet,

und die Franzosen, die einen Gegenangriff

machten, wurden mit einem furchtbaren Schnellfeuer

empfangen. Trotzdem kamen sie stellenweise

bis in die deutschen Linien, wo im Dunkel mit dem

Bajonett gekampft wurde. Schließlich zogen sich die

Franzosen wieder zurück, und die Ruhe kehrte wieder

ein. Ich selbst hatte mich an der ganzen Sache

nicht beteiligt und drückte mich so tief wie moglich

in meine Hafergarben. Lange konnte ich nicht einschlafen.

Das Jammern, Um-Hilfe-Rufen und Stohnen

der Verwundeten ging mir sehr zu Herzen.

Schließlich schlief ich wieder ein. Um 2 Uhr morgens

kam endlich die Feldküche, es gab Essen: heiI3en

Kaffee und Brot. Der heiûe Kaffee schmeckte herrlich,

man hatte kalt in den feuchten Kleidern bekornmen.

Da etwa die Hälfte der Mannschaften fehlte,

erhielt man, so viel man wollte. lch füllte noch meine

Feldflasche für den folgenden Tag. Dann kroch ich

wieder in meine Hafergarben und erwachte erst, aIs

mir die Sonne ins Gesicht schien. Ich stand auf.

Welch ein Anblick bot sich mir! Vor uns lagen tote

und verwundete Franzosen, so weit man blicken

konnte. Die toten Deutschen lagen auch noch da, die

Verwundeten waren schon weggeschafft. lch ging

zu den nächsten französischen Verwundeten und

verteilte ihnen meine Feldflasche Kaffee. Wie diese

Armen dankten! Deutsche Sanitatswagen fuhren

heran, die die verwundeten Franzosen wegführten.

Die Toten waren zum Teil entsetzlich anzusehen,

teils lagen sie auf dem Gesicht, teils auf dem Rücken.

BIut, verkrallte Hände, verglaste Augen, verzerrte

Gesichter. Viele hielten die Gewehre krampfhaft in
            28
 

der Hand, andere hatten die Hände vol! Erde oder

Gras, das sie im Todeskampf ausgerissen hatten. Ich

sah viele Soldaten beisammenstehen an einer Stelle,

ging hin, und es bot sich da ein entsetzliches Bild. Ein

deutscher und ein französischer Soldat lagen da halb

kniend gegeneinander. Jeder hatte den anderen mit

dem Bajonett durchbohrt und waren so zusarnmengesunken.

    Nun wurde ein Korpsbefehl verlesen: Gestern

wurden die Franzosen in 100 km Breite von Metz bis

zum Donon angegriffen und trotz tapferer Gegenwehr

zurückgeworfen, so und sa vide Gefangene

fielen in unsere Hand, Geschütze wurden erbeutet.

Die Verluste werden aufjeder Seite auf 45000 Mann

geschätzt. Unseren Soldaten gebühre voiles Lob für

ihren Mut und ihr Heldentum, und der heiße Dank

ihres Vaterlandes sei ihnen gewiß und so weiter und

so weiter.

Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt? lch will es

fast bezweifeIn, denn im Feuer sah ich nichts aIs

Angst, Bangen und Verzweiflung in jedem Gesicht

geschrieben. Von Mut, Tapferkeit und dergleichen

überhaupt nichts, denn in Wirklichkeit ist's doch nur

die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Solda-

Ien vorwärts und in den Tod treibt.

20. AUGUST 1914

lch mubte dann mit einem Unteroffizier und 10

Mann nach Bühl, Munition holen, um die verschossene

zu ersetzen. Nahe dem Dorfe stand ein Feldkreuz.

Eine Granate hatte den Kreuzesstamm in

Kniehöhe des Heilandes sowie das Querholz weggerissen.

Der Heiland stand unversehrt mit ausgest

reckten Händen da. Ein erschütterndes Bild, wortlos

gingen wir weiter.

Etwa urn 10 Uhr morgens hief es: »Alles fertigrnachen,

vorwärts!« ln mehreren Schützenlinien ging's

                29
 

nun wieder den Franzosen entgegen. Balel karnen

einzelne Granaten heranget1ogcn, cine sehlug in die

dort stehende Ferme [Pachthof in Fran kreich, Gut],

die alsbald lichterloh branrue. Kein Mcnsch dacbte

ans LöschcnvWeit vorn sah ich ein Pferd mit hangendem

Kopfe in cinem Haferfelde stehen. Bcim

Hinzukomrnen sah ich, daH dasselbe bei seinern toten

Reiter, einern französischen Kavalleristen, stand

und selbst an einem hinteren Beine und am Bauch

schwer verwundet war. Aus Mitleid scholl ich ihrn

eine Kugel in den Kopf. Tot brach es zusammen.

Einige Schritte weiter trat ich im Hafer auf etwas

Weiches. Es war eine abgerissene Hand, an der noch

ein Fetzen yom Hemdärrnel hing. Unweit davon lag

neben einern Granatloeh die zerrissene Leiehe eines

franzosischen Infanteristen, jedenfalls der Eigentürner

der abgerissenen Hand.

Beim Weitervorgehen erhielten wir starkes Cranatfeuer.

lm Laufsehritt eilte alles hinter den steilen

Abhang eines vor uns liegenden etwa haushohen

Hügels. Die Granaten sehlugen nun entweder oben

auf der Höhe ein oder sausten über uns hinweg.

Nun ging's aber los mit Sehrapnells, die fast aile über

uns platzten. 0 diese verflixten 75er-Kanonen! Wie

der Teufel kamen die Gesehosse herangesaust. Man

hatte nicht einmal Zeit, sich zu Baden zu werfen. ln

einer Sekunde: Abschuû, Sausen und Krepieren.

Vor Angst hielten wir die Tornister über unsere

Köpfe, doeh gab es bald mehrere Verluste. Unser

Major narnens Müller gab uns ein Beispiel grofier

Unersehroekenheit. Eine Zigarre rauehend, ging er

zwisehen uns, die platzenden Sehrapnells nicht achtend,

hin und her, uns aufmunternd, keine Angst zu

haben. Etwa 500 m links, rückwärts von uns, fuhr

eine deutsche Batterie auf. ln wenigen Minuten war

dieselbe von der französischen Artillerie zusarnmengeschossen.

Nur wenige Kanoniere konnten sich

. durch Davonlaufen retten. Allhlich horte das

Schielien auf, wir gingen weiter VOl' und brachten die

Nacht im Walde bei dem Dorfe Hatten zu. 
            30
 

                21.AUCUST 1914-GEFECHTHEI

                    LÖRCHINGEN (LOTHRINGEN)

 

Morgens in der Frühe ging's nun wieder weiter, in

c-inern Tale der Onsehaft Lürcbingen zu. Ein Leutliant

Vogel, eiu verdrieblicher, schlecht aussehender,

heiserer Mensch, führte seit der Verwundung

uuseres Hauptrnanns cl.ie Kornpanie alleine nach

lörchingen. lm Dorfe angekommen, meldeten vor-

ausgeschickte Patrouillen: »Auf der Höhe links von

dem Dode, fast in unserem Rückert, zurüekgehende

lranzösische Infanterie.« lm Laufschritt ging's das

Dorf hinauf, und wir besetzren dort eine mit einer

siarken Mauer umgebene Cärtnerei. Die Franzosen,

die in etwa 400 m Entfernung ahnungslos auf uns

zukamen, wurden plötzlich von einem furchtbaren

Feuer überschüttet. Viele stürzten, andere warfen

sich hin und erwiderten das Feuer. Doch konnten sie

uns nichts anhaben, da wir durch die Mauer gedeckt

waren. Da hielten einzelne, dann imrner rnehr die

Gewehrkolben in die Hohe, zum Zeiehen, daßsie

sich ergeben wollten. Wir hörten auf mit Schieûen.

Daprangen rnehrere Franzosen auf, um zu fliehen.

Sie wurden zusammengesehossen. Mieh dauerten

die armen Menschen. leh konnte es nieht fertigbrin-

gen, auf sie zu schieûen. »Vorwärts, marschmarseh!«

schrie Leutnant Voge!. »Wir wollen den Rest der

Bande gefangennehmen!« Alles kletterte über die

Mauer und lief den Franzosen zu. Diese schossen

nicht mehr. Da plötzlich von rückwarts ein Sausen.

Bum zerplatzte ein grolles Schrapnell über uns,

mehrere folgten. Wie vom Blitze getroffen, stürzten

mchrere Mann zu Baden. Alles wollte nun zurückl.

iufen, Deckung suchen, denn wir wurden von unse

rer eigenen Fufiartillerie besehossen, und das regte

auf Leutnant Vogel schrie: »Vorgehen!« Ais einige

Soldaten zogerten, schof er kurzerhand vier dersel

ben nieder, zwei waren tot, zwei verwundet. Ein gu

ter Kamerad von mir namens Sand war einer der

Vcrwundeten. (Der Leutnant Vogel wurde zwei Mo-

                                31

einnate

spa ter in Nordfrankreich von eigenen Soldaten

erschossen.) [Der 23jahrige Zuckerfabrikarbeiter

Sand wurde laut Stammrolle am 21. August 1914 bei

Lörchingen durch Schuf ins rechte Schienbein verwundet.

Der 1871 geborene Feldwebelleutnant Vogel,

im Zivilleben Oberpostassistent, wurde Ende

1914 nicht erschossen: Zwei Tage nach dem Gefecht

kam er zur Etappe nach Belgien, wo er bis 191 7

blieb.]

Die Franzosen kamen nun, zitternd vor Angst, mit

erhobenen Händen zu uns gelaufen. lm Laufschritt

ging's zurück nach Lörchingen, wo wir uns in Kellern

und so weiter Deckung suchten. Gegen Abend

gingen wir, unsere Gefangenen mitnehmend, in das

weiter zurückliegende Dorf Hessen, wo wir, in Obstgarten

schlafend, die Nacht verbrachten.

 

                     22/ 23 / 24 AUGUST 1914

 

Morgens in der Frühe Alarm, Kaffeetrinken, Abmarsch

nach vorne. Verflucht, dachte ich,jeden Tag

mußman nun den Tod suchen. Mit welchem Widerwillen

ich weiterging, kann ich nicht beschreiben.

Wir erreichten nach einigen Kilometern Marsch die

französische Grenze. Der deutsche Grenzpfahl mit

dem Adler war von den Franzosen umgebrochen

worden. Ich dachte, daf vielleicht beim Grenzüberschreiten

hurra gebrüllt werden mub, Doch wortlos

tappten wir weiter. Jeder dachte wohl, ob er die

Grenze wieder rückwärts überschreiten werde. Wir

marschierten bis in die Nacht hinein und karnpierten

auf einem freien Ackerfelde.

Den Morgengruß brachte ein franzosischer Flieger,

der 2 Bomben abwarf. Jedoch wurde niemand

verletzt. Die Feldküche blieb aus, der Hunger stellte

sich ein. Vor uns lag ein Dorf. Wir hofften, dort

etwas Lebensmittel zu finden, durften es jedoch

nicht betreten und marschierten dicht an demselben

                                32

vorbei. Wir rissen in den Pflanzungen gelbe Rüben 
aus, schüttelten im Vorbeigehen einige Mirabellen

von den Baumen, das war unser Frühstück. Doch

Hunger ist der beste Koch, das sollten wir noch ofters

erfahren. Folgen dieser Verpflegung: Durchfall-

und wie! Über die Halfte der Mannschaften liu

daran. Viele meldeten sich deswegen krank und wären

lieber ins Lazarett spaziert, ais langer im Feld

den Helden zu spielen. Ja, Lazarett! Vom Bataillonsarzt

ein Opiumtropfen auf einem Stückchen Zucker

und marsch, ran an den Feind! Ach, wie gerne hatten

wir uns nun im Kasernenhofe schleifen lassen!

Und die Betten! 0 ihr Strohsäcke, wie glücklich wären

wir nun, auf euch unsere Glieder trocken und

warm ausstrecken zu k6nnen! Weiter, oh ne Ruh,

ohne Rast.

Am Mittag wurde in einem Dorf haltgemacht.

Eine wahre Treibjagd auf die Hühner begann. Kaninchen

wurden aus Kisten und Ställen geholt, der

Wein aus den Kellern, der Speck und Schinken aus

dem Kamin. lch suchte die Eiernester und trank

(j-8 Eier aus. Ich ging dann in ein Haus. ln der

Stube standen auf den Milchschäften [Schaft: süddeutsch

für Gestellbrett, Schrank] Reihen von

Milchtopfen. lch langte hinauf und erwischte einen

mit süßer Sahne gefüllten Topf. Wie das schmeckte,

so süß und kühl! lm schönsten Trinken erblickte

ich hinter der Stubentür eine altere Frau, die bleich

und zitternd dastand. Obwohl ich kein Verbrechen

begangen hatte, schämte ich mich, oh ne weiteres

die Sahne wegzunehmen. lch wollte der Frau eine

halbe Mark geben, sie wollte jedoch nichts und gab

mir noch ein großes Stück Brot. Die Frau war die

cinzige Zivilperson, die ich im Dorfe sah. Entweder

hatten sich die Einwohner var Angst verkrochen

oder waren geflohen. Antreten, weiter! Mehrere

Kompanien gingen ausgeschwarmt vor, wir folgten

ais Reserve. Pang, pang, ging's vorne wieder los. Es

war die Franzosen-Nachhut, die leichten Widerstand

leistete. Unsere Kompanie brauchte nicht einnate
                                33
 

zugreifen. Beim weiteren Vorgehen sahen wir

einige gefallene Deutsche herumliegen. Wir gingen

weiter und übernachteten in eineGroßen Gebirgswald.

An deUnruhe und Aufregunder Offiziere

konntman merkendaß für den folgenden Tag

etwain Aussicht war.

 

            AUGUST 1914– ÜBERGA G ÜBER DIE

 

                            MEURTHE

 

  

Morgenin der Frühfingen deutsche Batterien

ununterbrochen zu schieJ3eanDrüben hörte man

deEinschlag der Granaten. Wir standen marschbereit

im Walde und wartetenDiKompanieführer

ließen nun ausschwärrnenMeinKompanie stand

in de2. Schützenlinie. »Vorwärts, marsch!« Alles

setztsich in Bewegung. Vorne schimmerte es hell

durch diBaume, der Wald hörtdort auf. Kaum

zeigte sich die 1. Linie am Waldrand, aidie franzosische

Infanterie ein rasendes Schnellfeuer eroffnete.

Der Wald selbst wurde von der franzosischen Artillerie

mit Granaten und Schrapnellbelegt. Zwischen

und über uns krepierten diDingerman lief wie

verrückhin und herDicht neben mir wurde einem

Soldaten deArm abgerissen, eineanderen der

halbHaldurchgeschlagen. Estürzte hingluckste

ein paarmaldas Blut scholihm audem IundeEr

war tot. Einin der Mitte getroffene Tanne stürzte

zu Bodenman wulitnichtwo masicverstecken

sollte. »Zweite Linie vorrts!« AWaldrand angekommen,

sah icvor mir ein ziemlich tiefes TaI,

welches von einem Flusse, einer Straûe und einer

Bahn durchzogen wurde: das Tai der Meurthe. Das

Dorund die Höhen jenseits des Flusses waren von

deFranzosen stark besetzt. Sehen konnte man nur

einzelnesie lagen gedeckt. Überall sah man die

Rauchwolken der deutscheGranaten ernporschie-

ßenBeiderseits von uns brachen die deutschen  
                                        34

Schützenlinien audem Wald hervor, sausend kamen

die franzosischen Artilleriegeschosse angeflogen

und forderten ihre Opfer. ln dem Krachen und

Knattern hörtman fast keine Kommandomehr.

lm Laufschritt ging es hinunter ins 'l'al, wo wir endlich

im Straßengrabeetwas DeckunfandenEtwa

éOO m vor uns befand sich die Straßenbrücküber

dem Fluss. Beim weiteren Vorrücken drängte alles

n.rch der Brücke, diFranzosen übersctteten diesc-

lbe mit einem Hagevon Schrapnells, Infanterie

und Maschinengewehrfeuer. Haufenweise stürzten

die Anstürmendegetroffen zu Boden. An ein Hinùberkommen

ùberkommen war nicht zu denken. Zitternd lag ich

auf der deckungslosen Wiese neben der Straßin

der Nähe des Flusses. Zu rühren trautich mich

nicht, Ich dachte, mein letztes Stündlein segekommen,

und sterben wollte, wollte ich nicht. Ich betete

zu Gott um Hilfe, so beten kann man nul' in grüJ3ter

lebensgefahr. Es waein angstvolles, zitterndes Fle-

hen aus tiefstem Herzen, ein inbrünstigesqualvolles

Schreien nacoben. Wie ganz anders ist so ein Gebet

in höchster Not irn Vergleich zum sonstigen Beten,

das meistendoch nur aus einem gewohnheirsmàssigen,

oft gedankenlosen Hersagen besteht.

Rums, dicht neben mir hatte eine Granate einges(

Irlagenprasselnd fielen Splitter und Erdschollen

heruieder. Ein Sprung, im Granatloch lag ich!

Plumps,,prang ein anderer Soldat, ebenfallDekk

kung suchendauf michDoch icwazuunterst und

Iiess  mich nichverdrängen. »Vorwärts, zum Sturm

Durch den Fluss<< schollen die Kommandos durch

Das Getöse. Alles sprang aufoh ne langes Besinnen

In den Flussum hinter der jenseitigeUferböschung

Deckung zu bekommen. Das Wasser reichte

An die Brustdoch das wurde weiter nicht beachtet.

Mehrere Mann wurden im Wasser voeinem

SCHRAPNELL getroffen und fortgespült. Kein Mensch

half  ihnen, jeder hatte mit sich selbst zu tun.

Am Dorfranwaren mehrere Hauser in Brand

geschossen; durch diHitze gezwungenmullten die
            35

Franzosen stellenweise die Verteidigung des Dorfrandes

aufgeben. Wir mußten nun zum Bajonettangriff,

die Franzosen mußten weichen. Gefange~e

wurden gemacht. Waschnaß, erschöpft suchten wir

hinter den Häusern Deckung, um etwas auszuruhen.

Nach und nach hörte das Schießen ganz auf.

Gegen Abend mußten wir den links var dem Dorfe

gelegenen bewaldeten Hügel angreifen. Wir kehrten

na ch Thiaville zurück, um zu übernachten. Ich

lag mit vielen Kameraden in einer Scheune im weichen

Ohmd. Es war eine gewittersch,vere Nacht.

Rauschend stürzte der Regen auf die Dachziegel.

Infolge des Krachens der zusammenstürzenden, in

Brand geschossenen Hauser konnte man trotz aller

Müdigkeit keinen Schlaf finden. Viel Vieh war noch

in den brennenden Ställen angebunden und brüllte

vor Todesangst in allen Tonarten. Entsetzlich! Endlich

schlief ich ein. Nach Mitternacht hörte ich in der

Scheune rufen: »Cruppe Heuchele solI sofort herunterkornmen!-

Dazu gehbrte au ch ich. Wir kletterten

hinunter, die nassen Kleider klebten am Korper.

Wir 8 Mann mit dem Unteroffizier mußten einige

hundert Meter vor dem Dorf Feldwache beziehen.

Dort standen oder kauerten wir bei strörnendem

Regen und starrten und lauschten in die stockdunkle

Naeht hinaus. EndIieh graute im Osten der

Morgen. Was wird der neue Tag bringen?

 

        26. AUGUST 1914- WALDGEFECHT BEI

                            THIAVILLE

Ais es hell wurde, warteten wir auf Ablösung, doch

niemand kam. Einige Schritte von uns stand ein kleines

Haus, das wir im Dunkel gar nieht bemerkt hatten.

ln einer Heeke daneben lag ein toter, vom Regen

vollstandig durchnäûter deutseher Infanterist.

lm Hofe des Hauschens lagen zwei tote franzosische

Infanteristen. Neben dem einen lag ein Portemon
 
                                36

naie, ich hob es auf. Es enthielt zwei 20-Franken-

Stüeke in Gold. lch hatte jedoch gar keinen Sinn

mehr naeh Geld und warf es weg. Wahrseheinlieh

hatte einer der Franzosen sein Geld hergeben wollen,

damit er verschont würde. Vom Dorfe her ritt

eine Dragoner-Abteilung heran und an uns vorbei,

der Straûe entlang dem etwa 400 m entfernten

Walde zu. Infanteriekompanien folgten. Wir muûten

uns unserer Kompanie ansehliel3en. ln unseren

nassen Kleidern tappten wir hinterher. Kein Menseh

fragte uns, ob wir etwas gegessen oder getrunken

hatten. Vorne im Walde knallten Schüsse. Verflucht,

sehon wieder! Die Dragoner, die aus dem Wald in

vollem Galopp zurückgesprengt kamen, maehten

unserem Brigadegeneral, Generalmajor Stenger,

die Meldung, daßsie auf Franzosen gestoßen seien.

Der General erteilte nun den Kompanieführern folgenden

Befehl [über den sieh in rnilitärischen Akten

nichts ermitteln liefi], der jeder Kompanie vorgelesen

wurde: »Heute werden keine Gefangenen gemacht.

Verwundete sowie gefangene Franzosen

werden erledigt.« Die meisten Soldaten waren starr

und spraehlos, andere wieder freute dieser volkerreehtswidrige,

niederträchtige Befehl. »Ausschwärmen,

vorwarts, marsch!« Gewehr im Arm ging's dem

Wald zu, in denselben hinein, meine Kompanie in

der 2. Schützenlinie. Kein Sehuß fiel. Sehon hofften

wir, die Franzosen, welche die Dragoner besehossen,

hatten sieh zurüekgezogen. Päng-päng-päng, ging's

los. Einzelne Kugeln kamen bis zu uns geflogen und

Iuhren klatsehend in die Baume. Morgens in der

Frühe waren frisehe Ersatztruppen angekommen,

die in die Kompanie eingeteilt wurden. Diese Soldaten,

die noeh keine Kugel pfeifen gehërt hatten,

machten fragende, ängstliche Gesichter. Da das

Feuer stärker wurde, muliten wir in die vordere

Linie einschwarmen. Jeden Baum,jeden Strauch als

Deekung benutzend, ging's weiter. Mehrere Schützenlinien

folgten uns. Die französischen Alpenjäger

und lnfanteristen mußten anfangs trotz tapferer

                                    37

hinter Bäumen und in Waldgräben fest und knallten

uns entgegen. Die Verluste häuften sich. Dieverwundeten

Franzosen blieben Iiegen und gerieten in

un sere Hand. Zu meinem Entsetzen gab es bei uns

solche Ungeheuer, welche die armen, um Gnade

flehenden, wehrlosen Verwundeten mit dem Bajonett

erstachen oder ersehossen. Ein Unteroffizier

meiner Kompanie namens Schirk, Kapitulant [ins

Moderne übersetzt: ein Zeitsoldat; ehemals im deutschen

Heer ein Soldat, der sieh durch Vertrag über

die gesetzliche Dienstzeit hinaus verpflichtete] des

älteren Jahrgangs, schof hohnlachend einem im

Blut liegenden Franzosen durch das Gesäû, dann

hieJt er dem in Todesangst um Gnade flehenden

Unglüeklichen den Gewehrlauf vor die Schläfe und

drückte los. Der Arme hatte ausgelitten. Aber nie

kann ich das in Todesangst verzerrte Gesicht vergessen.

Einige Schritte weiter lag wieder ein Verwundeter,

ein junger hübseher Mensch, in einem Waldgraben.

Unteroffizier Schirk lief auf ihn zu, ich hinterher.

Sehirk wollte ihn niedersteehen, ich parierte

den Stof und schrie in höchster Aufregung: »Wenn

du ihn anrührst, verrecksch!« Verdutzt schaute er

mich an, und meiner drohenden Haltung nicht trauend,

brummte el' etwas und folgte den anderen Soldaten.

Ieh warf mein Gewehr zu Boden, kniete mich

bei dem Verwundeten nieder. Er fing an zu weinen,

fte meine Hände und küûte sie. Da ich gar nichts

französisch sprechen konnte, sagte ich, auf mich

deutend: »Alsacien Kamerad!« und gab ihm durch

Zeichen zu verstehen, daf ich ihn verbinden wolle.

Er hatte kein Verbandszeug. Seine beiden Waden

waren von Gewehrschüssen durchbohrt. leh entfernte

seine Gamasehen, sehnitt mit dem Taschenmesser

die roten Hosen auf und verband mit meinem

Verbandspäckchen die Wunden. leh blieb

dann neben ihm liegen, teils aus Mitleid, teils wegen

der Deckung, die ich im Graben hatte. Ich hob ein

wenig den Kopf, konnte die vorgehenden Truppen
                                    38

nicht mehr sehen. Ununterbrochen zisehten Kugeln

durch den Wald. Sie schlugen Zweige ab und fuhren

in Stämme und Aste.

Ganz in der Nahe standen einige Heidelbeersträucher,

die voll von reifen Beeren hingen, welche ich

pflückte und aû, Sie waren das erste Essen seit etwa

30 Stunden. Da hörte ich Sehritte hinter mir. Es war

der Kompaniefeldwebel Penquitt, in der Kaserne

cin sehr gefahrlicher Qualgeist, der jedesmal, wenn

er zu spreehen begann, ein paarmal stotterte. Mit

Erhobener Pistole schrie er mich an: »Aaaas, verfluehtes,

willst du machen, daf du naeh vorne

kommstl Was wollte ich maehen? Nahm mein Gewehr

und ging. Ein paar Schritte wei ter steIlte ich

Illich hinter einen Baum, um zu sehen, ob er dem

Verwundeten etwas anhaben wolle. Mein Entschluf

war, ihn sofort niederzuschielien, wenn er den Franwsen

töten wollte. Er betrachtete ihn und ging weiler.

Ich lief nun schnell vor ihm her dureh dichtes

Brombeergeseh. Darin lagen 6-8 Franzosen, aile

.ruf dem Gesieht. leh merkte gleich, daßsie sich nur

lotstellten. Fliehen konnten sie nieht mehr, denn die

dcutschen Linien waren vor ihnen. Ieh berührte den

cinen mit dem Bajonett und sagte: »Kamerad..

AlIgstlich schaute er mieh an. Ich bedeutete ihm,

ruhig liegen zu bleiben, was er mit eifrigem Kopfnikkr-

ken bejahte. Tote und Schwerverwundete lagen zersi

streut im Walde umher. Das Knattern und Knallen

wollte kein Ende nehmen. Leichtverwundete rann-

ten an mir vorbei, rückwärts. lch sehlieh mieh, imnier

Deekung suchend, in die Gefechtslinie. Mit

Hurra ging's wieder weiter var, die Verluste häuften

sich schreeklich. [ ] Beim weiteren Vorgehen ka

men wir an eine breite Schlucht. Die Franzosen kletl-'

terten im Zurückweichen den jenseitigen Hang hin

:auf. Viele le von ihnen wurden wie Hasen abgeschosse-

sen. Manche der Getroffenen rollten den Abhang

hinab. AIs wir die Schlucht überschritten hatten, bek.

uuen wir plötzlich von einer Anhohe, die mitjung('

gen Tannen bepflanzt war, ein furchtbares Feuer.

                                    39

Alles sprang hinter Baume oder warf sich zu Boden.

Einige flohen. Major Müller schrie, den Degen

schwingend: » Vorwärts, Kinder l und brach dann

sofort tot zusammen. [Major M.,Jahrgang 1863, fiel

bei diesem Gefecht nach :~1 Jahren Militärdienst.]

Nun wurde es oben in denjungen Tannen lebendig.

Ganze Scharen von Alpenjäger n liefen mit gef~illtern

Bajonett auf uns ZU. Wir machten kehrt. lm schnellsten

'Tempo ging es zurüek. Ieh lief mit etwa 6 Mann

zusammen, vier davon stürzten aufschreiend zu Boden.

Ich nahm mir nicht die Zeit, mich naeh ihnen

umzuschauen. Unsere Verwundeten blieben fast

alle liegen. lch schnallte im sehnellsten Laufen meinen

Tornister los und schrnif ihn weg. Weiter zurück

hörte ich 2 bis 3mal meinen Namen rufen.

Mich umsehend, sah ich meinen guten Stubenkarneraden

Schnur, Landwirtssohn aus Wangen am Bodensee,

auf einem Zelt liegen, welches von Sanitätern

an Tragstangen befestigt worden war. Die Sanitäter

lichen ihn liegen und liefen davon. Sofort rief

ich 3 Kameraden herbei. Wir nahmen die Stangen

auf die Schultern, und im Laufschritt ging's nun

rückrts, Für den armen Schnur war dies ein echter

Leidensweg. Die Zeltschnüre rutschten zusarnmen.

Schnur sa/3 mit dem Hintern im tiefen Zelt, die

Beine und der Kopf schauten oben hinaus. daßei

schwenkte das Zelt zwischen uns immer hin und her.

»Haltet! Um Gottes willen langsamer!« stohnte el',

aber wir liefen immer weiter, um aus dem Bereich

der Kugeln zu kommen. Offiziere hielten nu n alIe

zurücklaufenden Soldaten an und zwangen sie, eine

Linie zu bilden, um die Franzosen abzuwehren. Wir

vier durften den Verwundeten nach dem Verbandsplatz

bringen, der in einer kleinen Ferme nahe am

Waldrand sich befand. Die Ferme war von Verwundeten

derart überfüllt, daßwir gezwungen waren,

Sehnur im Hofe niederzulegen. Er hatte einen

Schuf ins Kreuz erhalten und war yom Blutverlust

sehr geschwaeht. Da es wieder zu regnen anfing,

suchte und Iand ich ein leeres Plätzchen in der Küche
                                    40
 

Küche,

und wir trugen Schnur hinein. Gatt, wie sah es

in diesem 1Iaus aus! Blut, Ächzen, Stühnen, Betcn l

Meinern Kamerarlen gute Besserung wünschend ,

verlief ich dieses Haus des Elcnds. (Drei Monate

spater starb Schnur in einern Lazarett in Strabourg.)

[Laur Stammrolle: verwundet am 26. August 1914

durch Oberschenkelschuß, verstorben am 2. Dezernber

1914 infolge Oberschenkelschuß, Amputation

und Blutvergiftung.] [... ]

Da ich seit etwa 30 Stunden oder mehr nichts als

ein paar Heidelheeren gegessen halte, regte sich der

Hunger. Da nichts Eûbares bei der Ferme aufzutreiben

war, ging ich in den Wald zurück, um Heidelbeeren

zu suchen. Don lag ein roter Franzose. lch

schnallte den Tornister auf und entnahrn eine

Büchse Fleisch und ein Päckchen Zigaretten. Einige

Sehritte wei ter lag ein roter Deutscher. Ihm schnallte

ich den Tornister ab, um meinen weggeworfenen zu

ersetzen. ln demselben befand sich die eiserne Portion

sowie ein reines Hemd. lch zog sofort mein

dreckiges, nal3gesehwitztes aus und zog das reine an.

Dann af ich die Büchse des Franzosen mit unglaubiicher

Gier auf. Das Schieûen im Walde verstummte.

Langsam senkte sich der Abend hernieder. Die

Kompanien sammelten sieh am Waldrand, meine

Kompanie bestand noeh aus etwa 40 Mann. Über

100 waren geblieben! Meine Karncraden Cautherat

und Ketterer waren auch noch da. Die waren

schlauer gewesen ais ich und hatten sich gleieh nach

Beginn des Gefechts im Gesch verkrochen. Die

Nacht verbrachten wir an einem Bergabhang untel'

strömendern Regen. Stumpfsinnig, todmüde, halb

verzweifelt hockten wir herum.
                                    41
 

27. AUGUST 1914

 


Morgens sollte eine Patrouille, bestehend aus einem

Leutnant und 8 Mann, die Leiche des Majors Müller

aus dem Walde holen. Bald hörten wir aus der Richtung,

die sie eingeschlagen hatten, Scsse. Keiner

kehrte zurück. Wie Soldaten erzahlten, hatte auch

Major Müller zwei verwundete Franzosen mit der

Pistole erschossen. Gut, daß ihn sein Schicksal erreichte.

Auch der Unteroffizier Schirk fehlte [der

22jahrige Metzger wurde bei diesem Gefecht laut

Stammrolle schwer verwundet], ebenso ein Reservist,

der ebenfalls einen Verwundeten erschoß.

Ich ging nun nach Thiaville, um einige Kochgeschirre

Wasser zu holen zum Kaffeekochen. Neben

der Straße stand eine Batterie des 76.Feldartillerieregimentes.

Die Mannschaften empfingen eben Essen

von der Feldküche. »Richert, wo laufsch urna?«

schrie ein Kanonier. Es war der Jules Wiron aus

Dammerkirch. »Hasch Hunger?" fragte er mich. Ais

ich bejahte, empfing er noch eine gehorige Portion

für mich, welche mir trefflich mundete, dann füllte

el' aus einer Großen Korbflasche, die auf der Protze

[Vorderwagen von Geschützen] stand, mein Kochgeschirr

mit gutem Wewein. [... ]

Gegen Mittag gingen wir zurück über die Meurthe

und marschierten etwa 5 km talabwärts nach dem

Städtchen Baccarat, das 2 Tage zuvor von den Deutschen

erobert worden war. Heiß muß der Kampf

besonders an der Meurthe-Brücke gewesen sein.

Das Geschäftsviertel auf der westlichen Seite des

Flüßchens war total verbrannt, der Kirchturm

durchlochert. lm Stadtgarten mußten wir unsere

Zelte aufschlagen und konnten dort 2 Tage ausruhen.

Neben unseren Zelten war ein Massengrab, in

dem über 70 Franzosen ruhten. Daneben war ein

bayerischer Major beerdigt.

Alle Hühner, Kaninchen und Schweine, welche

noch aufzutreiben waren, wurden trotz des Protestes

verschiedener Einwohner gestohlen und geschlach– 
                                    42
 

tet. Der noch vorhandene Wein wurde ebenfalls aus

den Kellern gestohlen, und überal! sah man betrunkcne

Soldaten.

Mit frischen, aus Deutschland kommenden Soldarcn

wurden die Kompanien wiederaufgefüllt. Dann

ging's wieder vorwärts, zuerst aufwärts in Richtung

Ménil. Links und rechts auf dem Stral3enrand lag

eine Unmenge von den Franzosen weggeworfener

Tornister, Gewehre, eine Trommel und Trompe

ten Weiter oben gingen wir durch den Wald, überall

lagen tote deutsche und franzosische Alpeninfanteristen

im Gebüsch. Sie fingen bereits an zu verwesen

und strornten einen entsetzlichen Geruch aus. Auf

ciner Anhöhe jenseits des Waldes mul3ten wir Schüt

zengraben ausheben. Da es heiß war, schickte mich

mein Unteroffizier mit mehreren Essgeschirren auf

die Suche nach Wasser. Ich fand solches in einern

Straßengraben in der Mulde hinter uns. lch trank

sofort 3 bis 4 Becher voll und füllte die Kochge schirre.

Es kam mir nach dem Trinken vor, als habe

das Wasser einen faulen, widerlichen Geschmack,

glaubte, daß das langsame Fließen daran schuld sei.

lch ging dann einige Schritte den Graben entlang,

ein entsetzlicher Gestank kam mir in die Nase. Ne

ben einem Weidengesch sah ich einen toten Franwsen,

der bereits in Verwesung übergegangen war.

Die Stirne, welche von einem Granatsplitter aufgerissen

war, schaute zum Wasser heraus und war mit

Maden und kleinen Würmern bedeckt. lch hatte das

durch den Toten sickernde Wasser getrunken! Es

crraßte mich ein furchtbarer Ekel, so dass ich mich

mchrmals erbrechen mußte. [... ]
                                    43
 

            DER ANGRIFF AUF MÉNIL UND
                        ANGLEMONT

 

 

Wir lagen no ch 3 Tage im Schützengraben. [… ] Am

vierten Tag morgens in der Frühe kamen mehrere

Bataillone Verstärkung. Wir sollten die Dorfer Ménil,

Anglemont sowie den im Hintergrund liegenden

Wald angreifen und nehmen. Dns allen graute davor.

Heimadressen wurden ausgetauscht, Photographien

der Lieben daheim betrachtet. Viele beteten

leise. ln allen Gesichtern lag tiefer Ernst, Angst und

Grauen. Gegen 10 Uhr morgens liefen Offiziere und

Melder umher und brachten den Befehl zum sofortigen

Angriff. »Fertigrnachen, Tornister umhängen,

Kompanie in Schützenlinie ausschwärmen}-

Sechs Schützenlinien wurden gebildet. »Vorwarts,

marschl- Alles setzte sich in Bewegung. Unsere Artillerie

beschof die beiden Dörfer. [… ] Wir drangen

in das Dorf. Kein Franzose war zu sehen, das Dorf

war nicht besetzt. Ein entsetzlicher Gestank machte

uns im Laufschritt Ménil passieren. ln vielen Häusern

war das Vieh in den Ställen verbrannt und nun

bereits in der Sommerhitze in Verwesung übergegangen.

Nun ging's weiter in Richtung Anglemont.

Vor uns liefen viele Ochsen, Kühe und Kälber hin

und her. Viel Vieh lag tot auf dem Boden. Es hatte

auf den Kleefeldern zuviel jungen Klee gefressen

und war an Aufblähung verendet. Anderes Vieh war

durch Geschosse getotet worden. AIs wir uns dem

Dorfe Anglemont näherten, wurden wir plotzlich

von der franzosischen Artillerie stark mit Schrapne

Ils beschossen. Das Infanteriefeuer setzte ebenfalls

ein. Wir konnten nur sprungweise vorwärtskommen.

Hinter einer Böschung sammelten wir

uns, dann ging's im Laufschritt, mit gefalltem Bajonett,

untel' Hurrageschrei aufdas Dorflos. Die Franzosen

verteidigten sich tapfer, rnubten aber VOl'unserer

Übermacht weichen. Gleich bei einem der ersten

Hauser saßein verwundeter Franzose auf einem

Schubkarren. Ein Soldat meiner Kompanie
                                    44

wollte ihn erschieBen. Auf meinen energischen Protest

hin stand er davon ab. Ein hinzukommender

Sanitàter verband die Wunde.

Die französische Artillerie konzentrierte ihr Feuer

auf das Dorf. Ich sprang hinter einen hohen, mit

Mauersteinen gebauten Scheunengiebel, wo schon

eine ganze Anzahl Soldaten in Deckung stand. Plötzlich

über uns eine Explosion, Mauersteine stürzten

herab, mehrere Soldaten wurden von ihnen zu Boden

geschlagen. Eine Granate war durch das Dach

geflogen und an der Mauer geplatzt, ein großes

Loch in die Wand reißend. Nirgends war man mehr

sicher. Ich legte mich unter den Stamm eines schräg

stehenden dicken Apfelbaumes. Da kam der Befehl

zum weiteren Vorgehen. Kaum waren wir vor dem

Dorfe sichtbar, als auch schon die Franzosen wie

wahnsinnig zu schiefien begannen. Auf allen Seiten

schlugen Granaten ein. Schrapnells streuten ihren

Bleiregen aus der Luft. Sausen, Zischen, Krachen,

Rauch, umherfliegende Erdschollen und Getrofferie.

Eine Granate schlug etwa 3 m rechts vor mir

cin, unwillkürlich bückte ich mich und hielt den

linken Arm schützend vors Gesicht. Rauch und Erdschollen

trafen mich. Ein Splitter hatte meinen Gewehrkolben

unten am Schloßweggeschlagen. Meine

heiden Nebenmänner lagen tot am Boden. Ich selbst

blieb wie durch ein Wunder unverletzt, hob schnell

das Gewehr eines Gefallenen und sprang in das gar

uicht tiefe Granatloch. Ich wollte drinnen liegenbleiben,

denn ich war sehr erschreckt. »Na, Richert,

weiter l- Es war ein Unteroffizier meiner Kompanie.

Was wollte ich machen? Ich mußte mit. Über Klee-,

Kartoffel- und Turnipsäcker [Saatrübenäcker]

ging's weiter vorwärts, Die französische Infanterie

über schüttete uns mit Geschossen yom Walde her.

Wir warfen uns in die Ackerfurchen, muBten jedoch

imrner weiler. Dabei rif eine Infanteriekugel eine

tiefe Rinne in das Holz meines Gewehres dicht unter

der Hand. Infolge des immer zunehmenden Feuers

und der Verluste war es unmöglich, weiter vorzu-
                                    45

Ich warf mich in eine Ackerfurche, in der

schon mehrere Mann lagen. Ein Glück für uns, daI3

die Acker quer zum Walde liefen, 50 hatten wir doch

etwas Deckung.

Die Regimenter und Kompanien waren beim Vorgehen

durcheinandergekommen. Neben mir lag ein

Grenadier des badischen Grenadierregiments. Ich

nahm meinen Spaten heraus, um mich einzugraben.

Der Boden war hart und trocken, ich konnte nur mit

gr6I3ter Mühe im Liegen ein Loch graben. Ein neben

mir liegender Soldat meinte, er kanne in der Furche

jenseits des Ackers besser graben, da dort ein Kartoffelacker

war und der bebaute Boden nicht so hart sei

wie hier auf dem Kleeacker. »Bleib hier und zeig

dich nichtl- sagte ich. »Wosich jetzt etwas regt, knallen

die Franzosen drauflos, denn im Feld ist jetzt

niemand mehr sichtbar.« – »Ach was, ich bin in einem

Sprung drüben!« Sein Gewehr in der Hand,

sprang er auf. Peng-pratsch. Mehr ais 20 Schüsse

fielen. Kugeln zischten über mich. Der Soldat stürzte

aufs Gesicht und rührte sich nicht mehr. lch konnte

nur seine Beine sehen. Der Oberkorper lag in der

jenseitigen Furche. Der Reservist Berg rutschte nun

neben mich. »Richert, gib mir deinen Spaten «, sagte

er. Ich gab ihn hin. Ein Grenadier sagte zu Berg:

»Wenn du fertig bist, gibst du mir den Spaten, nicht

wahr?« Ich rollte mich in meinem Loch zusammen

und nickte ein, bis mich eine in der Nähe einschlagende

Granate aufschreckte. Berg lag bereits in seinem

fertigen Loche, der Grenadier arbeitete nun

mit dem Spaten. Ich schlief wieder ein. »Richert,

guck doch mal nach, was der Grenadier macht!«

sagte Berg. Der Grenadier kniete in der Furche mit

dem Rücken gegen mich, hielt den Kopf gesenkt

und den Spaten in den Händen, rührte sich aber

nicht. »He, Kameradl- rief ich, kroch zu ihm und

rüttelte ihn. Da fiel er auf die Seite und stohnte. Eine

Infanteriekugel hatte oberhalb des Ohres den Kopf

durchbohrt. Das Gehirn stand in Bleistiftform etwa

3 cm heraus. Ich wickelte einen Verband um den  
                                    46
 

Kopf, trotzdem ich wuûte, daßhier nichts mehr zu

helfen war. Nach und nach ging das Stohnen in ein

Röcheln über, das immer schwächer wurde. Nach

etwa 2 Stunden war er tot.

Wir blieben liegen, bis es dunkelte. Da kam der

leise Befehl: »Alles zurückziehen, in Anglemont

sammeln!« Jeder suchte nun so schnell wie möglich

ins Dorf zu kommen. Man hörte Verwundete flehend

um Hilfe rufen: »Urn Gottes willen, laût mich

nicht liegen, ich habe Frau und Kinder zu Hause!«

Manche wurden mitgenommen, andere blieben liegen.

Hier hießes eben: J eder ist sich selbst der Nächste!

ln Anglemont wimmelte alles durcheinander.

»Infanterieregiment 112, 1. Kompanie hier samrneln!

« horte ich meinen Kompanieführer rufen.

Ich ging hin, einer nach dem anderen kam. Viele,

viele fehlten. »1. Kompanie, Infanterieregiment 112

hier samrneln!« rief der Kom panieführer nochmals.

Noch ein einzelner kam. Kein Wort wurde gesprochen.

Alle dachten an ihre gefallenen Kameraden.

»0hne Tritt, marsch!« Die zusammengeschmolzenen

Kompanien tappten in die Nacht hinaus, rückwärts,

Das Dorf wurde vollständig geraumt.

Auf einer Hohe hinter dem Dorfe muBten wir

cinen Schützengraben graben, eine verteufelte

Schinderei in dem harten Lehm! Gegen Mitternacht

wurde ich mit noeh einem Mann und einem Unterolfizier

ais Patrouille vorgeschickt, um auszukundschaften,

ob Anglemont sehon wieder von den Fran-

zosen besetzt sei. Die Naeht war dunkel. Vorsichtig

iIII Straßengraben vorwärtschleichend, hörten wir

sic.h uns nahernde Schritte. Wir drückten uns dieht

an die Straûenboschung. Eine 8 Mann starke französische

Patrouille ging langsam auf dem Straßenlxmkett

kaum 1m VOl' uns vorüber, bemerkte uns

aber nieht. Ruhig blieben wir liegen. lm Dorfe hör-

1Cil wir Laufen und Französisch-Sprechen. Dies gab

uns GewiI3heit, daß die Franzosen das Dorf wied el'

besetzt hatten. Kurze Zeit darauf fielen in Riehtung

(1er Deutsehen Schüsse. Keuehend kamen 6 Franzo-

                            47

sen zurückgerannt. Zwei fehlten. Wir gingen zurück

und crstatteten Meldung.

An Sehlaf war in jencr Nacht nicht zu den ken.

Gegen Morgen endlich konnten wir von der Feldküche

Essen holen. AIs die Franzosen am folzenden o

Morgen unseren Graben sahen, schickten sie Granaten

herüber. Cleich cine der erstcn war ein Volltreffer,

welche :3 Mann zerrib. Wir blicben dort cinige

Tage liegen. Eine deutsche Batterie Feldartillerie,

welche gedeckt hinter uns auffuhr, wurde in wenigen

Minuten von der franzosischen Artillerie in Fetzen

geschossen. Es war ein schauderhafter Anblick,

wenn man bei mondhellen Nachten die Stelle passieren

muûte. Bald ging man im Großen Bogen um die

Batterie herum, da der Gestank nicht auszuhalten

war. Ans Beerdigen schien niernand zu denken.

Eines Nachts versuchten die Franzosen einen Angriff

auf unsern Graben, wurden aber abgewiesen.

Am folgenden Tag fiel mein Kamerad Rein Camill

aus Hagenbach, ein Granatsplitter spaltete ihm den

Kopf. [R., laut Stammrolle Ziegeleiarbeiter, gefallen

am 5. Septernber 1914 durch Granatsplitter.] Rogert

Alfons aus Obersept wurde am Bein schwer verletzt.

Die Franzosen hatten sich wieder in den Waldzurückgezogen.

Eines Abends kam der Befehl: »Angreifen!

« Mein Stubenkamerad Urs sagte: »Richert,

ich komme nicht mehr nach Hause, ich fühl's.. 1ch

suchte es ihm auszureden, er jedoch beharrte darauf.

Nur 2 dünne Schützenlinien stark gingen wir

vor. Ich war wütend. Was sollten wir paal' Mann

zweeklos uns totsehieBen lassen] [... ] Einzelne

Scsse fielen. Zing, zisehten die Kugeln uns um die

Ohren. Mein Nebenmann stürzte lautlos tot zu Boden.

»Ooooh l schrie der Unteroffizier Liesecke

warf sein Gewehr weg und schüttelte die Hand. EÎl~

Finger war ihrn abgeschossen worden [faut Starnmrolle

Verwundung am 10. September 1914 durch

Schuf in die linke Hand]. Tak-tak-tak, rasselte ein

MG drüben. »Hinlegen, eirigraben l– Alles lag am

Boden und fing an zu buddeln. 
                48
 

Mein Kamerad Uts wurde mit noch 2 Mann nach

einem etwa 300 III VOl' uns Iiegenden Erlen- und

Weidengebüseh geschickt, 1I111 festzusteIJen, ob noch

Franzosen dort seien. Langsam sank der Abend nieder.

Die Patrouille war noch imrner nicht zurück.

»Die drei nächsten Leute -dazu gehürte auch ich

»begebcn sich sofort nach dem Gebüsch, umnachzusehen,

wo die 3 Mann geblieben sind l befahl der

Kompanieführer. Wir ersehraken nicht wenig, doch

wir muliten gehen. Mit der grüGten Vorsicht schlichen

wir dem Gebüsch zu, oft liegenbleibend, um zu

lauschen. Nichts war zu hören. Finster hob sieh das

Gebüseh im Dunkel ab. Endlieh kamen wir an und

gingen, den Finger am Drücker, mit vorgehaltenem

Bajonett in das Cebüsch. Da horten wir leises Rachein.

Vor uns lag Uts tot [laut Stammrolle am

10. Septernber 1914 um 7 Uhr vormittags durch

Brustschuf beim Patrouillengang gefallenJ, einige

Schritte weiter der röchelnde Soldat in den letzten

gen. Er hatte einen BauchschuG erhalten. Von

<lem dritten fehlte jede Spur. Wir liefen zurück und

crstatteten dem Kompanieführer Bericht. Dann legten

wir uns wied el' in die Linie. »Alles leise zurückgehenl

Weitersagen.« kam der Befehl von links; dies

machte uns glücklich. Alle erhoben sieh, in schnellen

Sehritten ging's rückwärts. Inzwischen war's stockdunkel

geworden, man tappte in Ackerfurehen und

Granatlöchern herum, mancher stürzte zu Boden.

1 ... ] Mehrere Male fingen var mir gehende Soldaten

plotzlich zu laufen an. Was haben denn die? dachte

ich, ging weiter, fing aber bald selbst an zu laufen.

Ein entsetzlieher Leichengeruch kam mir in die

Nase. »Atern anhalten! Weglaufen!« Diesel' Geruch

karn von Toten, die bereits in Verwesung übergegangen

waren und die man im Dunkel nieht liegen

sah. Endlich erreichtcn wir unseren Graben und

bcsetzten ihn. Ein Gefühl der Sicberheit überkarn

uns, Fast alle Soldaten murrten: »So cin Bkidsinn!

Vorgehen, ein paar Mann sich totschielicn lassen

und dann wieder zurückgehen, ohne Zie! und

                                    49
 

Zweck l« – »Alles da?« fragte der Kornpanieführer.

»Jawohl!« – »Die Kornpanie geht mit Sack und Pack

zurück und samrnelt sich bei der Kirche von Ménil!«

Was soli das bedeuten? fragtcn sich die Soldaten.

WiT hingen die abgelegten Tornister wieder um,

nahmen die Gewehrc, kletterten zum Graben hinaus

und tappten durch das Dunkel Ménil zu. Armer

Kamerad Uts, nun liegst du tot in jenem Gebüsch,

doch du hast das Kriegselend hinter dir, bist fast

gcklicher als ich, dachte ich. AIs wir in ~énil an~amen,

wimmelte es dort von Soldaten. Uberall dieselbe

Frage: »Was ist denn eigentlich los?«  »Kornpanien

sarnrneln!« tönten Befehle durch die Nacht.

Wir traten ein, mehrere Bataillone marschierten an

uns vorbei, rückwärts. »Ohne Tritt, marschl lm

Walde oberhalb Baccarat wurde haltgemacht. [… ]

Mehrere Batterien Bagagen fuhren an uns vorbei,

rückwars. »1. Kompanie Infanterieregiment 112 bildet

die Nachhutl- Also hatten wir die GewiBheit: Die

Gegend, die zu erobern Tausenden armen Soldaten

das Leben gekostet hatte, wurde geraumt. [… ] Der

Gedanke, zurückzubleiben und die Ankunft der

Franzosen abzuwarten, um mich zu ergeben, wirbelte

mir im Kopf herum. Aber die verfluchte Disziplin

hielt mich davon ab. Und vielleicht schießen

oder stechen mich die Franzosen tot, aus Wut, wenn

sie ihre ausgeraubten und zerstörten Dörfer sehen.

Also ging ich weiter.

AIs wir in Baccarat die Meurthe-Brücke überschritten,

bereiteten einige Pioniere die Sprengung

VOl'. Kaum hatten wir den Ort verlassen, aIs mit

gewaltiger Explosion die Brücke in die Luft flog. Wir

maschierten noch etwa 20 km wei ter zurück und kamen

endlich in einem Dorfe an, wo haltgemacht

wurde und wir Kaffee und Brot empfingen. Einige

Stunden Ruhe. Dann ging's mit dern Schanzzeug auf

eine VOl'dem Dorf gelegene Höhe. Dort wurde ein

Schützengraben gebaut. Wir Ireuten uns schon, hier

liegenbleihen zu können. ln weiter Ferne vor ~ns

hörten wir das Burn-Bum der Iranzösischen Artillerie. 
                                    50
 

Artillerie.

Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug

gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.

Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:

»Fertigmachcn] Wir hockten und warteten. Was

gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts

hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es

war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.

Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei

Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt

die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten

die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen

_____________________

 

Artillerie.

Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug

gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.

Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:

»Fertigmachcn] Wir hockten und warteten. Was

gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts

hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es

war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.

Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei

Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt

die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten

die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen

über Morchingen, Rémilly, Metz nach Vionville.

Von Metz hörten wir in der Ferne schon wied el'

Kanonendonner, und gegen Abend waren wir dernselben

ganz nahe. Brrr, eine Cänsehaut lief über den

Rücken, das Grauen vor der Zukunft. ln Vionville

verbrachten wir die Nacht. Ich schleppte eine Welle

[Bündel, Garbe] Suoh in eine ausgeraubte Épicerie

[Lebensmittelladen] und legte mich mit meinem Kameraden

Gautherat darauf.

VOl' Tagesanbruch Alarrn. Alles sprang vom

Schlafe auf, Tornister urngehängt, Gewehr in die

Hand, raus und antreten, alles in einigen Minuten.

Jeder erhielt einen Becher heil3en Kaffee und ein

Stück trackenen Kara [Kornmibbrot]. [… ]

Der Morgen war unfreundlich, regnerisch und

neblig. Wir waren vielleicht eine Stunde marschiert,

da hieû es: »Ausschwärrnenl Der ebel verschwand,

die Sonne kam zum Vorschein. VOl'uns lag

in etwa 400 rn Entfernung ein Wald. Darauf zu

ging's. Zingzing, zischte es uns von dort um die

Ohren. »Vorwarts, marschmarsch, zum Sturrnlschrien

die Offiziere. Wir rannten gegen den Wald,

den Oberkörper geduckt, vorwärts, Einzelne Mann

Iielen. Schrapnells, und wie genau gezielt. Ver-

Huchte 75er-Kanonen! Die Franzosen zogen sich zurück.

Wir besetztcn den Wald. ln einer schmalen

Wiesenmulde zwischen zwei Waldern ging's wei ter

vor. Abseits stand der dicke Bataillonsarzt, der irnmer

fort schrie, wahrscheinlich, urn uns Mut zu ma-

                                    51
 

chen: »Die Festung Maubeuge ist gefallenl«

Tsching-bum, platzten Schrapnells über der Mulde.

lm Laufschritt ging's weiter, um von der gefahrlichen

Stelle wegzukommen. Da hief es: »Der Bataillonsarzt

ist gefallen.« Aus einem kleinen Fichtenwäldchen,

das auf einer Höhe vor uns lag, bekamen

wir starkes Infanteriefeuer. Wir sprangen in den

Wald zurück, krochen an den Wald rand und nahmen

das Fichtenwäldchen stark unter Feuer. Das

Feuer der Franzosen wurde schwächer und horte

ganz auf. Wir gingen var und besetzten das Waldchen.

Die Franzosen hatten sich verduftet.

Es ging gegen Abend, wir muJ3ten die im Waldchen

Iiegenden toten Franzosen begraben. Es waren

alles alte Soldaten, so gegen 40 Jahre alt. Die armen

Menschen, jedenfalls fast durchweg Familienvater,

dauerten mich. Man konnte mit dem besten Willen

kein ordentliches Grab schaufeln; 30 cm Erde, dann

Kreidefelsen. Wir legten sie hinein, ihr Kor per

schnitt gerade mit dem Erdboden ab. Wir bedeckten

sie mit etwas Erde. Die traurige Arbeit war zu Ende.

Kein Mensch schaute nach, um Namen oder sons tige

Erkennungszeichen festzustellen, und 50 figurieren

diese Armen wahl auf der Liste der VermiHten.

Die Nacht verbrachten wir im Fichtenwaldchen.

Ein kalter Wind wehte, Regenschauer gingen nieder,

wir wurden pudelnaH, es fror uns sehr. Für was?

Für wen? Eine ohnrnachtige Wut überkam mich. Das

half alles nichts. Zahneklappernd, der Verzweiflung

nahe, hockte ich auf einigen von mir heruntergebogenen

Fichtenästen und starrte in die Nacht hinaus,

dachte an die Heimat, an meine Angehörigen und

an mein Bett. Es überkam mich eine unglaubliche

Sehnsucht nach der Heimat und meinen Lieben. Ich

mulite weinen. [... ] Mich durchzuckte der Gedanke:

Hab' ich eigentlich noch eine Heimat, leben meine

Eltern noch? Oder wo sind sie? Seit Kriegsausbruch

hatte ich einen Brief von dort erhalten, datiert vom

Anfang August. Was alles konnte dort seither passiert

sein! So nahe der Grenze! Vielleicht alles zerschossen,
                52
 

zerschossen,

verbrannt, die Angehürigen geflohen.

Wohin? Diese Ungewiûheit quälte mich fürchterlich.

Nun war das MaS der Leiden voll, zu der UngewiHheit

meiner Zukunft noch die Sorgen urn Angehörige

und Heimat. An Schlaf konnte ich nicht mehr

denken. lch stand auf, lief var dem Wäldchen hin

und her, schlug mit den Händen um mich, um sa

etwas warrn zu bekommen. Endlich graute der Morgen.

Wie würde ein Becher heiûer Kaffee guttun!

Keine Feldküche, nichts. Wir gingen nun nach dem

var uns liegenden Dorfe Flirey. Die Kaninchen- und

Hühnerschlächterei ging wieder los. Es wurde alles

weggenommen, aIs wenn überhaupt keine Eigentümer

da waren. Man sah fast keinen Menschen, fast

alles hatte sich bei unserer Ankunft versteckt. Ich

ging in einen Stail, um vielleicht etwas Milch von

ciner Kuh melken zu konnen. Mit Mühe und Not

brachte ich vielleicht einen halben Liter heraus. lnzwischen

holten andere Soldaten die Hühner samt

den Kaninchen zum Stail heraus, Da ging die Türe

auf, angstlich kam ein alter Bauer in den StaIl. AIs er

die leeren Kaninchenkisten und den Hühnerstall

sah, schlug el' die Hände über dem Kopf zusammen

und sagte: »Mon Dieu, mon Dieu!« Der Mann daucrte

mich, und ich ging beschämt hinaus.

Jeder bemühtesich nun, irgend etwas zu kochen.

Die einen kochten Kaninchen, andere rupften Hühner,

einige plünderten eben einen Bienenstand,

SI ürzten die Korbe um und bohrten mit denSeitengcwehren

den Honig heraus, dabei eine Menge Bielien,

die an dem kühlen Morgen nicht f1iegen konntcn,

zerquetschend. Wieder andere schüttelten die

Zwetschgen von den Bäurnen. Da holte ich mir auch

cinige Handvoll. Nachher riû ich einige KartoffeIstauclen

im Garten aus, nahm die Kartoffeln, schälte

sie, tat sie in das Kochgeschirr, gab etwas Wasser und

Salz dazu, und nun ging's ans Kochen. Da ich groGe

Lust auf Honig hatte, holte ich mir auch ein wenig

und tat ihn in den Kochgeschirrdeckel. AIs nun eben

mein Wasser war m war, kam der Befehl: »Fertigrna-

            53
 

chen, weiter l- Gegessen oder nicht gegessen, danach

wurde nicht gefragt. lch schüttete das heilie Wasser

ab, die Kartoffeln lieB ich drin, in der Hoffnung, sie

bei nächster Gelegenheit fertig zu kochen, stülpte

den Deckel auf das Kochgeschirr, und weiter ging's,

zum Dorf hinaus, den Franzosen entgegen.

Wir passierten noch das Dorf Essey. Kaum waren

wir zum Dorf hinaus, ging der Tanz wieder los.

Französische Schrapnells flogen heran, zum Glück

am Anfang über uns hinaus. BaIe! bekamen wir aus

dem vor uns liegenden Wald schwaches Infanteriefeuer,

und nun gab es einzelne Getroffene. Unsere

Artillerie beschoßden Wald. Die franzosische Infanterie

zog sich zurück. Wir besetzten den Wald. Der

Wald war von einem schmalen Wiesentale, etwa

200 m breit, durchzogen. Quer durch ging ein ziemlich

hoher Eisenbahndamm, den wir besetzten.

Plötzlich bekamen wir aus dem gegenüberliegenden

Walde starkes lnfanteriefeuer; der neben mir stehende

Reservist Kalt wurde getroffen und kollerte

den Bahndamm hinab. Dasselbe Schicksal erlitten

mehrere andere. Wir schossen nun über die Schienen

in den Wald. Franzosen konnten wir keine sehen.

Bald wurde ihr Feuer aber sa stark, daßkeiner

mehr wagte, den Kopf zu heben und zu schieben.

Nach einer starken BeschieBung unserer Artillerie

verstummte das französische Feuer.

Etwa eine Stunde spater kam der Befehl, Offizierstellvertreter

Bohn [ein Lehrarntspraktikant von 32

Jahren, 1908 als Einjährig-Freiwilliger eingetreten]

soUe mit 4 Mann den Wald absuchen; ich hatte das

Pech, dieser Patrouille zugeteilt zu werden. Mit bangem

Herzen betraten wir den Wald, jeden Augenblick

in der Gefahr, von einer Kugel niedergestreckt

zu werden. Vorsichtig schlichen wir durch das niedrige,

dicht stehende Ceholz und kamen dann zu

einer geraden Schneise (Durchhau) vor. [… ] Auf

einmal erblickte ich etwas Rotes, etwa 20 m VOl'uns

im Cebüsch. Ich mach te mich schuHfertig. Da sich

das Rote nicht bewegte, gingen wir vorsichtig darauf
                                        54
 

ZU. Var uns lag neben einem Granatloch ein alterer

Franz.ose, dem ein Bein beim Knie total abgerissen

war, Mit einem Hemd war der Beinstumpf umwikkelt.

Der arme Mensch war schon ganz gelb im Gesicht

vom Blutverlust und sehr schwach. Ich kniete

mich neben ihn, machte seinen Tornister untel' seinen

Kopf und gab ihm aus meiner Feldflasche Wasser

zu trinken. Er sagte »Merci- und deutete mir an

den Fingern, daßer drei Kinder zu Hause habe. Der

Arme dauerte mich sehr, aber ich mußte ihn verlassen,

nachdem ich noch auf ihn deutete und sagte:

»Allernand hospital.« Er lächelte schwach und schüttelte

den Kopf, aIs woUte er sagen, daßdies fûr ihn

nicht mehr in Betracht kàme. Langsam schlichen wir

nun bis zum jenseitigen Waldrand. Offizierstellvertreter

Bohn schickte mich mit noch einem Mann

zurück mit der Meldung, daßder Wald frei sei. Beim

Passieren des Verwundeten sah ich, daû derselbe

den Rosenkranz in der Hand hielt und betete. Mit

der einen Hand deutete el' auf seine Zunge zum

Zeichen, daßer Durst habe. Ich gab ihm den Rest

Wasser aus meiner Feldflasche. AIs wir etwa eine

halbe Stunde später mit der Kompanie vorbeikamen,

lag el' tot da, noch immer den Rosenkranz in

der Hand haltend.

Wir besetzten nun den Waldrand, ich stand beim

Eingang der Schneise und schaute über die hügelige

Gegend vor uns. Da sah ich einen Franzosen auf

etwa 500 m Entfernung. AIs er mich erblickte, legte

el' sich nieder; gleich sah ich den Dunst seines Schusses

aufsteigen, und knapp 1m VOl'mir klatschte die

Kugel in den Boden. Nun verkroch ich mich schleunigst

im Gebüsch und versuchte, ein Loch zur Dekkung

zu graben. Der Boden bestand aber aus einem

derartigen Wurzelgef1echt, daßdies unrnoglich war.

Nun knatterte eine Salve, und prasselnd zischten die

Kugeln durch das Cebüsch. Da wir gaI' nicht gedeckt

waren, gab es bald l'ote und Verwundete. Mein Stubengefreiter

Mundiger bekam eine Kugel durch die

Schlagader am lin ken Oberarm, so daßdas Elut wie

                                        55
 

aus einer Röhre vorne am Armel herausschoß. [Der

Maurer M., damaIs 23 .lahre aIt, wurde laut Stammrolle

am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarrnschuf

verwundet.] Schnell band ich ihm den

Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser

den Armel ab und verband ihm die

Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,

führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.

Nun schickte uns dieschwere Artillerie der Forts von

Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate

schweren Kalibers], gurgelnd sausten sie über uns

hinweg und explodierten mit furchtbarem Krachen

zurück im Walde. Ais wir zu dem Bahndamm kamen,

wo unsere Toten noch yom Morgen lagen,

woIlte ich der Bahn entlang das Dorf Essey erreichen.

Der Verwundete beharrte jedoch darauf, nach

der in der Nähe vorbeiführenden Straße zu gehen.

Ich woUte ihm nicht widersprechen, und so gingen

wir den Bahndamm entlang der Straße zu. Kaum

hatten wir einige Schritte zurückgelegt, ais unter

schrecklichem Krach eine der graßen Granaten auf

dem Bahnkörper platzte. Erde, Splitter, Steine und

Schienenteile sausten über unsere Kopfe, und wir

wurden in Rauch und Staub ganz eingehüUt. Zum

Glück wurde keiner verletzt. Hätte der Verwundete

vorher meinen Rat befolgt, auf der Bahn entlangzugehen,

sa wären wir aile drei zerrissen worden. Der

Verwundete, der vorher mehrere Male var Schwäche

zusammengesunken war, konnte nun sa laufen,

daßich ihm kaum folgen konnte. Dann brach el' aber

doch wieder auf den Wiesen zusammen. Gegen

Abend erreichten wir das Dorf Essey, wo wir den

Verwundeten dann zum Arzt brachten.

Da ich keine Lust mehr hatte, nach verrie zu gehen,

beschloßich, im Dorfe zu übernachten. Ich ging

zu einer Frau und verlangte einige "Pommes de

terre«, AIs ich sie bekam, gab ich ihr 2 »Nickel«. Wie

mich die Frau erstaunt ansahl Denn das war ihr wahl

noch nicht vorgekommen, von deutschen Soldaten

etwas bezahlt zu bekommen. Sie nahmen, was sie
                                    56
 

wollten, einfach weg. Ich machte nun ein Feuerchen

im Hofe und kochte die Kartoffeln. Die Frau brachte

mir dann noch einen Liter Milch heraus. Ais ich

bezahlen wall te, nahm sie das Geld nicht, sondern

deutete mir, ich salle nur ruhig trinken. Da ich gro-

Ben Hunger hatte, schmeckte es mir vorzüglich.

Nachher legte ich mich in der Scheune aufs Strah,

um die Nacht zu verbringen. Es war für mich ein

Vergnügen, in Sicherheit, trocken und warm zu

schlafen.

ln der Nacht erwachte ich durch das Ceräusch auf

der Straße zurückmarschierender Truppen. lch

stand auf und fragte, was es für Truppen seien. Es

war mein Bataillon. Schnell hing ich meinen Tornister

um und schloßmich ihnen an. Etwa 1km hinter

dem Dorfe wurde auf der Höhe haltgemacht, eine

Linie gebildet und angefangen, einen Schützengraben

auszuheben. Eine schwierige Arbeit, da man

nichts sah und in etwa 30 cm Tiefe auf harten Kalkstein

stieû, Gegen Morgen waren wir doch 1m tief.

Unser Graben führte durch ein Rebstück. Ich aßvon

den halbreifen Trauben. Die Folge waren Leibschmerzen

und Durchfall.

Die Hälfte der Truppen durfte nun in den weiter

zurückliegenden Wald, um zu schlafen; es waren die

letzten Septembertage 1914. Gegen Mittag wurde

Post verteilt, und ich erhielt den ersten Brief aus

meiner Heimat, die seit Kriegsbeginn von den Franzosen

besetzt war. Wie glücklich war ich zu lesen, daß

meine Angehorigen noch gesund und zu Hause

seien. Da mein Heimatdorf nur etwa 8 km hinter der

Front lag, befürchtete ich imrner, dasselbe sei von

den Einwohnern verlassen.

Am nachsten Abend muliten wir wieder in den

Graben. ln der Nacht rnachten die Franzosen einen

Angriff; ohne daßman einen sehen konnte, schoß

man in die Nacht hinaus. Da es hieß, sie seien dicht

vor unserer Stellung, schoßunsere Artillerie auch

sehr kurz. Nach und nach hörte die SchieHerei auf.

AIs der Morgen grau te und die 4 Mann Vorposten,

                                     57
 

aus einer Röhre vorrie am Armel herausschoû. [Der

Maurer M., damais 23 .Jahre ait, wurde laut Stammrolle

am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarmschuß

verwundet.] Schnell band ich ihm den

Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser

den Armel ab und verband ihm die

Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,

führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.

Nun schickte uns die schwere Artillerie der Forts von

Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate

schweren Kalibers], gurgelnd sausten sie über uns

hinweg und explodierten mit furchtbarem Krachen

zurück im Walde. Ais wir zu dem Bahndamm kamen,

wo unsere Toten noch yom Morgen lagen,

wollte ich der Bahn entlang das Dari" Essey erreichen.

Der Verwundete beharrtejedoch darauf, nach

der in der Nähe vorbeiführenden Straûe zu gehen.

leh wall te ihm nicht widersprechen, und so gingen

wir den Bahndamm entlang der Straûe zu. Kaum

hatten wir einige Schritte zurückgelegt, ais unter

schrecklichem Krach eine der Gren Granaten auf

dem Bahnkörper platzte. Erde, Splitter, Steine und

Schienenteile sausten über unsere Kopfe, und wir

wurden in Rauch und Staub ganz eingehüllt. Zum

Gck wurde keiner verletzt. Hätte der Verwundete

vorher meinen Rat befolgt, auf der Bahn entlangzugehen,

50 wären wir aile drei zerrissen worden. Der

Verwundete, der vorher mehrere Male var Schwäche

zusammengesunken war, konnte nun sa laufen,

daßich ihm kaum folgen konnte. Dann brach er aber

doch wieder auf den Wiesen zusammen. Gegen

Abend erreichten wir das Dorf Essey, wo wir den

Verwundeten dann zum Arzt brachten.

Da ich keine Lust mehr lutte, nach vorne zu gehen,

beschlof ich, im Dorfe zu übernachten. Ich ging

zu einer Frau und verlangte einige »Pornmes de

terre«. AIs ich sie bekam, gab ich ihr 2 »Nickel«. Wie

mich die Frau erstaunt ansah! Denn das war ihr wahl

noch nicht vorgekomnien, von deutschen Soldaten

etwas bezahlt zu bekommen. Sie nahmen, was sie   
                                    56
 

wollten, einfach weg. Ich machte nun ein Feuerchen

im Hofe und kochte die Kartoffeln. Die Frau brachte

mir dann noch einen Liter Milch heraus. Ais ich

bezahlen wollte, nahm sie das Geld nicht, sondern

deutete mir, ich solle nur ruhig trinken. Da ich gro

Ben Hunger hatte, schmeckte es mir vorzüglich.

Nachher legte ich mich in der Scheune aufs Stroh,

um die Nacht zu verbringen. Es war für mich ein

Verggen, in Sicherheit, trocken und warm zu

schlafen.

ln der Nadu erwachte ich durch das Geräusch auf

der Straûe zurückmarschierender Truppen. Ich

stand auf und fragte, was es für Truppen seien. Es

war mein Bataillon. Schnell hing ich meinen Tornister

um und schlof mich ihnen an. Etwa l km hinter

dem Dorfe wurde auf der Hohe haltgemacht, eine

Linie gebildet und angefangen, einen Schützengraben

auszuheben. Eine schwierige Arbeit, da man

nichts sah und in etwa 30 cm Tiefe auf harten Kalkstein

stieli. Gegen Morgen waren wir doch 1m tief.

Unser Graben führte durch ein Rebstück. Ich aH von

den halbreifen Trauben. Die Folge waren Leibschmerzen

und Durchfall.

Die Halfte der Truppen durfte nun in den wei ter

zurückliegenden Wald, urn zu schlafen; es waren die

letzten Septembertage 1914. Gegen Mittag wurde

Post verte ilt, und ich erhielt den ersten Brie!" aus

meiner Heimat, die seit Kriegsbeginn von den Franzosen

besetzt war. Wie gcklich war ich zu lesen, daf

meine Angehürigen noch gesund und zu Hause

seien. Da mein Heimatdorf nur etwa 8 km hinter der

Front lag, befürchtete ich immer, dasselbe sei von

den Einwohnern verlassen.

Am nachsten Abend muûten wir wieder in den

Graben. ln der Nacht machten die Franzosen einen

Angriff; ohne daf man einen sehen konnte, schof

man in die Nacht hinaus. Da es hieß, sie seien dicht

VOl' unserer Stellung, schof unsere Artillerie auch

sehr kurz. Nach und nach hörte die Schief3erei auf.

Ais der Morgen graute und die 4 Mann Vorposten,

            57
 

die etwa 50 m vor uns in einem kurzen Grabenstück

lagen, nicht zurückkamen, wurde ich mit noch einem

Mann vorgeschickt, um zu sehen, was los sei.

Wir krochen dahin. Alle vier lagen, teils die Gewehre

noch im Anschlag, tot da. Sie waren von der zu kurz

schießenden deutschen Artillerie getroffen worden,

das zeigten ihre Verwundungen am Hinterkopf und

auf dem Rücken. Dabei war auch mein Stubenkamerad

namens Sandhaas. [Laut Stammrolle ist der

22jahrige Zigarrenmacher S. bei Essey am 27. September

1914 durch einen Bauchschuf getotet worden.]

Wir ließen sie liegen, krochen zurück und erstatteten

Bericht.

Am Tage blieb die Halfte der Mannschaften im

Graben, die andere Hälfte ging zurück, um Unterstände

zu bauen für die Reserven. Da es am Nachmittag

heif war, arbeiteten wir in Hosen und Hemd.

Bald kreiste ein französischer Flieger über uns, der

uns in unseren weißen Hemden entdeckt hatte. Er

flog wieder zurück, und bald dachte niemand mehr

an ihn. Aber plötzlich sauste es heran, und etwa

8 Granaten schlugen in uns und hart neben uns ein.

Sofort erhob sich ein schreckliches Wehgeschrei, da

viele getroffen waren. Die meisten liefen nach allen

Richtungen davon. Ich selbst duckte mich, so tief ich

konnte, in das ausgehobene Loch. Schon kam die

zweite Lage. Eine der Granaten zersprang auf dem

Erdhaufen über mir, den ich selbst hinausgeschaufelt

hatte. Eine andere schlug in die auf der Seite

zusammengesetzten Gewehre, eine ganze Anzahl

zermalmend. Nun rannte ich, so schnell mich meine

Fülie tragen konnten, davon, mit vor das Gesicht

gehaltenen Handen durch das Cebüsch. Sehon krepierre

hinter mir die dritte Lage. Bald kam ich an

einen Eisenbahndamm, wo ich mieh in einem

Durchlaf verkroch, in dem sehon einige Kameraden

kauerten. Nachdem das Schieûen aufgehort hatte,

näherten wir uns langsam der Arbeitsstelle. Die ganz

zerrissenen Leiehname einiger Kameraden lagen da

und mehrere Schwerverwundete. Ein guter Kamerad  
 
                                58
 

Kamerad

von mir namens Krarner hatte den Bauch aufgerissen,

so daß die Gedärrne heraushingen. Er bat

und flehte mich an, ihn doch totzuschießen, da er es

VOl'Sehmerzen nicht mehr aushalten könne , Seinen

Wunsch konnte ich mit dem besten Willen nicht

erfüllen. Nun kam der Bataillonsarzt, verband zuerst

den Kompanieführer, dem ein Bein in der Mitte

der 'Vade abgerissen worden war. Dann untersuehte

el' Kramer, legte die Gedärrne zurecht, nähte zu und

gab uns den Befehl, den Verwundeten zurückzutragen.

Wir machten aus Stangen eine Tragbahre, legten

Mäntel und Zelte darauf, ho ben den Verwundeten

behutsam darauf und trugen ihn zurück, wo er

gleich mit einem Krankenwagen weiter zurücktransportiert

wurde. Zwei Monate später schrieb er mir,

daßel' vollstandig geheilt sei, da die Cedärrne nicht

verletzt und nul' die Haut und der Bauchspeekaufgerissen

waren. [Laut Stammrolle ist K. zwei Tage

nach seiner Verwundung am 27. September 1914

verstorben. ]

[… ] ln der letzten Septembernacht wurden wir

von andern Truppen abgelöst und marschierten

:~5km zurück nach Metz. Bei Tagesanbruch kamen

wir dort an und wurden in der Vorstadt Longeville

in einem Kinosaale einquartiert. Drei Stunden

wurde gesehlafen, dann soUte Gewehrreinigen,anschließend

GewehrappeU sein. lch zog es VOl',mir

cinen gemütlichen Tag zu machen, bestieg die Tram

und fuhr in die Stadt. Ich hatte groGes Verlangen

nach einem guten Mittagessen, da mir das ewige

Einerlei der Feldküche zuwider war. Es schmeckte

mir vortrefflich, 50 daßich in drei verschiedenen

Wirtsehaften zu Mittag aG. [... ] Dann besah ich mir

die Stad t, besonders den schonen Dom, kaufte noch

c-in Quantum Schakolade und Dauerwurst und ging

.rlx.nds wieder zur Kompanie. Der Feldwebel

srh nauzte mich an. [... ] Am Tage waren ErsatztruppCtl

aus Deutschland gekommen, urn die Großen

l.ücken aufzufüllen. Dabei befand sich auch August

j,;lllger aus Struht. Da wir früher schon gute

                                59
 

Freunde waren, freute uns dieses Zusammentreffen

sehr. Wir gingen gleich zum Feldwebel mit der Bitte,

in die gleiche Gruppe eingeteilt zu werden , was auch

geschah.

 

DIE REISE NACH NORDFRA;\JKREICH

 

Am 2.0ktober 1914 wurden wir verladen und fuhren

mit der Bahn die Mosel entlang bis Trier. Eine

schöne Fahrt durch die hintere Eifel bis Aachen

durch Belgien über Lüttich, Brüssel und Mons nach

Nordfrankreich. Belgien ist ein sehr schönes, reiches

Land mit einer groûen Industrie und vielen Bergwerken.

[... ] Dort sah ich auch die ersten Windmühlen.

Die Bevölker ung betrachtete uns mit unfreundlichen

Blicken, was gar nicht zu verwundern war.

Wir wurden zwischen Valenciennes und Douaiausgeladen

und rückten dann in die Stadt Douai ein, die

kurz vorher von den Franzosen geumt worden

war. ln der Kür~ssierKaserne wurden wir einquaruert.

Unser Regunentskommandeur hielt im Kasernenhof

eine Rede, in der er sagte, der schlimmste

Krieg wäre für uns vorbei; wir hätten jetzt ma' noch

Engländer und Schwarze vor uns. Wir wurden bald

eines anderen belehrt.

Vor Douai rückten wir dann vor, durch eine

schöne, reiche Gegend. [… ] Die Landstraûen waren

fast durchweg mit Steinen gepflastert. ln der Gegend

von Richebourg stieûen wir das erstemal mit

Engländern zusammen. ln einem dreckigen Stra

J3engraben sollten wir uns an sie heranschleichen.

Bei einer Einfahrt auf die Acker muûten wir über die

Einfahrt springen, um jenseits davon wieder den

Graben zu erreichen. Bald bemerkten uns die Engländer.

Teder, der den Sprung machte, bekam einen

Hagel von Kugeln zugeschickt. Bald lagen mehrere

Tote auf der Einfahrt. Die letzten fünf fielen aIle.

Nun war die Reihe an mir. Da es der sichere Tod

                             60
 

ge"wesen ware, weigerte ich mich, trotz des Lärrnens

der Vorgesetzten. Ein Unteroffizier gab mir den

direkten Befehl, den Sprung zu machen. Ich sagte

ganz kaltblütig zu ihm, er sollte mir's mal vorrnachen,

wozu ihm aber auch der Mut fehlte. So blieben

wir bis nachts liegen.

Den nachsten Morgen bei Tagesanbruch griffen

wir mm Richebourg an, und die Englander muhten

zurück. Auber ihren Verwundeten erwischten wir

dort keinen einzigen Gefangenen. Fast in allen Häusern

konnte man sich zu Tisch setzen, die Englander

hatten für uns gekochtln einem Großen Kessel

kochte ein Schwein, welches wir unter uns verteilten.

Überall auf den Feldern lagen deutsche Kavalleristen

mit ihren Pferden, die bei den Patrouillengefechten

gefallen waren. Gegen Abend bildeten wir

VOl'dem Dorfe eine Linie und gruben uns inSchützenlocher

ein, welche von 1 bis 4 Mann besetzt wurden.

Gegen Mitternacht wurden Zanger, ein 18jahrigel'

Freiwilliger und ich auf Vorposten geschickt.

Wir hockten in einem Graben neben einem Feldweg.

[... ] Auf einmal hörten wir links Gehen. Gleich

tauchten drei Gestalten im Dunkel auf. Jeder von

uns nahm einen aufs Korn. Die beidenjungen Krieger

wollten gleich schielien, und ich hatte Mühe, sie

davon abzuhalten. Denn ich wulite ja nicht, waren es

Deutsche oder Engländer. Ich lief sie auf etwa 10 m

herankommen. Das Gewehr immer schußfertig,

schrie ich dann: »Halt! Parole!« Wie die drei zusarnmenfuhren!

Sie gaben aber sofort die richtige Parole.

Es waren 3 Mann meiner Kompanie, die den

Horchposten links von uns besetzt hatten, abgelöst

worden waren und sich im Dunkel verlaufen hatten.

Nun waren wir sehr froh, nicht geschossen zu haben.

Bald nachher wurden auch wir abgelost. Nachdem

ich eine Weile in meinem Sctzenloche geschlafen

hatte, kam plötzlich der Vorposten zurückgclaufen

mit einer Mitteilung: "Die Englander kommen!

« Es ging nun eine wütende Knallerei los. Unsere

jungen Soldaten verknallten, so schnel

                                        61
 

konnten, ihre Munition. Ich gab;) Schuf ab. Da ich

aber von Englàndern keine Spur sah noch hörte ,

sparte ich meinc Munition. Am Iorgcn wurde eine

Patrouille vorgeschickt, urn das Gelände nach toten

Englàndern abzusuchen. Aber was fanden sie) Zwei

tote Kühe und ein Kalb. Dieser Angriff war natürlich

leicht abzuschlagen. Dann munte jcder seine

Munition vorzeigen, und die keine mehr hatten, wurden

von den Vorgesetzten gehorig ausgeschimpft.

Nun wurde die Halfte der Grabenbesatzungherausgezogen

und dem Regiment 114 Zll Hilfe geschickt.

Unsere Stellung war dadurch sehr geschwacht.

Zudem waren noch viele ins Dorf gegangen,

um nach Lebensmitteln zu suchen. Plötzlich

fing die englische Artillerie an, uns stark zu beschie

Ben. Granaten und Schrapnells zersprangen in gro

[)er Anzahl. [… ] Bald tauchten vor uns englische

Infanterielinien auf, die sich sprungweise naherten.

Wir nahmen sie kraftig unter Feuer. Da sie aber in

groûer Übermacht waren, zogen wir uns zurück.

[... ] ln einem mit Weidenstümpfen bepfIanztenAblaufgraben

ging's nun im Laufschritt zurück, wahrend

die englischen Schrapnells immerfort über uns

platzten. Mancher von uns fiel, bevor er im Zurücklaufen

die Hauser erreichen konnte. Ein Schrapnell

schlug über meinem Kopf den oberen Teil eines

morschen Weidenstumpfes ab. Durch den Knall

und den Schreck flog ich der Linge nach in den

dreckigen Graben, erhob michjedoch sofort wieder,

um aus der gefàhrlichen Schulilinie herauszukornmen.

Die Englander besetzten nun das Dorf, machten

aber keinen Versuch, uns weiter zu verfolgen.

Wir gruben uns wieder ein und lagen einige Tage

dem Feinde gegenüber. Man mulite sehr vorsichtig

sein, denn die Tommys, wie wir die Englander nannten,

waren gute Schützen. Wo sich einer von uns

zeigte, hatte er schon was weg.

Dann wurden wir abgelöst und kamen 3 Tage in

Ruhe, in das Dorf Douvrin. Sofort ging die Kaninchen-,

Hühner- und Schweineschlachterci wieder

                                         62
 

los. Kurz: Alles EB und Trinkbare wurde weggenommen.

Unser Zug war in einer Schule einquartiert.

Uns gegenüber,jenseits der Stralie, befand sich

eine große Wein und Likorhandlung. Die Offiziere

hatten einen Posten davorgcstellt, um den Mannschaften

den Zutritt zu verwehren, Und natürlich,

daßalles für sie crhalten bliebe. Wir sahen, daH der

Posten oft in den Keller ging. SchlieHlich war er so

betrunken, dan er am Tor niedersank und einschlief.

Die Situation ausn ützend, holten Zanger und

ich uns mehrere Liter Anisette [Anislikör]. Bald

ging's im Keller aus und ein wie in einem Taubenschlag,

und bis gegen Abend blieb für die Offiziere

wenig mehr zum Holen.

Am dritten Tage um Mittag hief es wieder abrnarschieren.

Zuerst ging's zur Kirche, wo sich das ganze

Infanterieregiment 112 sammelte. Da die Kirche bereits

überfüllt war, nahmen mehrere Kompanien

vor derselben Aufstellung. Ein Feldgeistlicher hielt

cine kurze Ansprache und gab uns die allgemeine

Absolution. Dann ging's wieder weiter. Wir passierten

rnehrere von den Einwohnern verlassene Darfer.

[ ] Beim Anbruch der Nacht wurde haltgernacht

auf einem Zuckerrübenfeld, um dort zu übernachten.

Keiner von uns ahnte, daßdies für viele die

letzte Nacht ihres Lebens sein werde. Da die Nacht

ziemlich kalt war, waren wir froh, aIs es gegen Morgen

weiterging. Bald tauchten aus dern Dunkel Häuserreihen

auf. Wir befanden uns in dem Stad tchen

La Bassée und hörten in den Càrten Soldaten arbeiten,

die Deckungen bauten. Da fragte cine Stimme

<tusdem Dunkel: »Welches Regimentistdas? Welche

Kompanie?«  »112, die 1.«  »Ist der Zanger dahei?

« Auf die bejahende Antwort kam er gelaufen,

und zwei Brüder lagen sich weinend in den Armen.

War das ein Wiedersehen! Wir weinten aile drei, da

schon lange keiner cine Nachricht aus der Heimat

erhalten hatte. Charles begleitete uns bis an dasjenseitige

Ende des Stadtchens, wo cr von uns Abschied

nahm. Bald hiess es: »Halt !

                                    63
 

22.0KTOBER 19I4DERANGRIFF AUF

DAS DORF VIOLAINES

Wir mußten im Dunkel auf dem Felde Schützenlinien

bilden. Nun ging's vorwarts. Da der Morgen

zu orauen beg an n, sahen wir vor uns Hauser und b t1

Obstbaume auftauchen. Es war das Dorf Violaines.

Wir steckten unsere Bajonette auf die Gewehre, und

im Laufschritt ging es auf das Dorf los. Unserejungen

Soldaten schrien »Hu rra«, wie sie es auf dem

Exerzierplatze gelernt hatten, statt sich ruhig zu verhalten.

Dureh das Geschrei wurden die Englander

im Dorfe alarrniert. Bald knallten uns einzelne

Schüsse entgegen, eine Minute später prasselte es

uns aus allen Fenstern, ren, hinter Hecken und

Mauern entgegen. Gleich eine der ersten Kugeln

traf meinen Nebenmann in den Bauch. Mit einem

furchtbaren Schrei stürzte er zu Boden. Zanger August

drehte sich nach mir um und rief: »Nickl, bist

du getroffen?« lm gleichen Moment durchbohrten

3 Kugeln seinen Tornister und das Kochgeschirr,

oh ne ihn zu verletzen. Sein Nebenmann stürzte mit

einem Schulterschuf zu Baden. Sa schnell wir konnten,

liefen wir hinter eine Dornenhecke. Alles duckte

sich hinter die Hecke, die die Engländer nun unter

starkes Feuer nahmen. Mehrere Kameraden rührten

sich bald nicht mehr. lm Verein mit neu hinzukommenden

Schützenlinien durchbrachen wir die

Hecke und srmten durch die Cärten auf die Häuser

los, wobei noch rnancher von uns getroffen

wurde. Da wir in der Übermacht waren, wichen die

Engländer zurück. Wir sprangen zwischen den Häusern

durch auf die Straûe und konnten noch einen

Englander erwischen, der eben die neben der Stralie

sich hinziehendc Kirchhofmaucr ûberklettern

wollte. Durch die uns umzischenden Kugeln waren

wir genütigt, zwischen den Häuscrn Schutz zu suchen.

Der Englander glauhtc, wir würden ihn erschieûen,

cloch wir gaben ibm zu verstehen, dal3 wir

ihm nichts tun würden, woraufer sehr glücklich war  
                                64
 

und uns sein Geld geben wollte. Wir nahmen es aber

nichtan. Ein hinzukommendcr Leutnant zwang uns,

weiter vorzugehen. Weiler unten stand auf der

Straße ein englischer Munitionswagen, unter welchem

ein Engländer lag, der auf die von der andcren

Seite des Dorres heranrüc:kenden Deutschen schoß.

lch berührte ihn von hinten mit dem Bajonett. Er

schaute sich um. Bei unserem Anblick erschrak er

sehr. Aber statt sich zu ergeben, sprang cr auf der

anderen Seite unter dem Wagen hervor und wollte

fliehen. Wir schrien ihm »Halt« nach, er aber lief

weiter. Da schof ihn Tambour Richert aus Reichwei

1er nieder. [Tambour R., ein 1891 geborener »Cernenteur

«, wurde drei Tage spater verwundet. lm

Mai 1915 fiel cr im Gefecht bei Liévin. ] Etwas weiter

zurück stand eine englische Revolverkanone im

Straßengraben, welche uns mit ihren Geschossen

überschüttete. Einige gut gezielte Schüsse streckten

die Bedienungsmannschaft nieder.

Das Regiment sammelte sich im Dorfe, und nun

ging es zum Sturm auf einen etwa 300 m hinter dem

Dorfe liegenden englischen Schützengraben. Ein

furchtbares Maschinengewehr- und Infanteriefeuer

empfing uns. Cranaten und SchrapneIls zersprangen

zwischen und über uns. Trotz der Großen Verluste

stürmten wir den Graben. Zum Teil hielten die

Englànder die Hande hoch, viele flohen. Sie wurden

aber fast aIle auf dem deckungslosen, ebenen Felde

niedergeschossen. Urn aus dem Artilleriefeuer zu

kornmen, nahmen Zanger und ich einen Verwundeten

und schleppten ihn ins Dorf zurück, wo wir ihn

zu den Ärzten trugen. Wir verkrochen uns dann in

einem Keller, in dern von den Bewohnern des Hauses

allerhand Lebensmittel aufgestapelt waren. ln

ciner Ecke hockten angstlich eine Frau und ein etwa

20jàhriges Madchen, die vor uns sehr Angst hatten.

Wir gahcn ihnen durch Zeicben zu verstehen, daßsie

vor uns keine Angst zu haben brauchten. Wir Icbten

g Tage garlZ gemütlich bcisammen. Wir machten

einen Ofen in dem Keller, das Ofenrohr zurn Keller–  
                                65
 

loch hinaus, und nun kochten die beiden Frauen

Hühner und Kaninchen, die wir abends im Dorfe

holten. Das Dorf lag dauernd unter englischemArtilleriefeuer.

Unser Haus bekarn mehrere Treffer,

und einmal flogen Backsteine die Kellertreppe hinunter.

Am dritten Tag gegen Abend polterten

Schritte die Kellertreppe hinab. Es war ein Leutnant,

der Regimentsadjudant. »Ihr verfluchten Drückeberger,

wollt ihr machen, daC ihr rauskornrntlschrie

er uns an. Wir packten unsere Sachen zusammen.

Das Madchen narnens line Copin gab uns

zum Andenken noch einige 1edaillen der heiligen

Muttergottes. Auf der Straûe standen etwa 60 Mann,

die sich aIle in den Kellern verkrochen hatten. Der

Regimentsadjutant hrte uns zum Regimentskommandeur,

welcher uns eine geh6rige Strafpredigt

hielt, die uns aber ganz gleichgültig li. Unser Regiment

war inzwischen etwa 5 km vorgekommen. [... ]

Wir erfuhren nun, daß der Tag von Violaines unsere

Kompanie über 100 Mann gekostet hatte. Über

% des Bestandes. Da wieder Ersatz aus Deutschland

gekommen war, trafen wir sehr viele unbekannte

Gesichter. Wir lagen in einer Scheune, um die Nacht

zu verbringen. Unser neuer Kompanieführer hielt

eine Rede, die ich noch genau im Gedächtnis habe,

nämlich: »Ich bin der Oberleutnant Nordmann, ich

habe die Führung der 1/112 übernommen. Ich bitt'

mir aus, daf jeder seine Pflicht tut. Der sie nicht tut,

den solI der Teufel holen! Wegtreten!« [N., geboren

1885, war zu diesem Zeitpunkt seit neun Jahren

beim Militar.]

Am anderen Morgen, als es noch dunkelte, wurden

wir zu Gruppen eingeteilt, dann ging's gedeckt

nach einer etwa 200 m VOl' dem Dorfe liegenden

Ferme. Von dort sollten wir gruppenweise, das heiût

zu je 8 Mann, über das Feld zu einigen Weidenbaumen

springen und uns dort eingraben. Wir wußten

nicht, wo die Engländer lagen. Die ente Gruppe

sprang, bald fing es an zu knallen. Wir sahen gleich,

daß3 Mann stürzten. Die anderen liefen hinter einen
                                     
66
 

einen

im Felde stehenden Weizenhaufen. Nun mußte

die zweite Gruppe springen, der auch Zanger und

ich zgeteilt waren. Mit welchen Gefühlen ich mich

zum Laufen anschickte, kann ich niernandernbeschreiben.

Aber das furchtbare IVIuJ).Da gab's keine

Widerrede. Ein kurzes Stoßgebet, und los ging's.

Kaum wurden wir sichtbar, als es schon wie ein Bienenschwarrn

uns umzischte. Mein Vorderrnann

stutzte, warf die Arme in die Hohe und stürzte auf

den Rücken. Ein anderer stürzte aufs Gesicht.

Schnell wollte ich hinter den Weizenhaufen springen.

Da sah ich, daf von der ersten Gruppe kein

Mann auBer dem Unteroffizier Luneg mehr am Leben

war. Wir warfen uns nun auf die Erde und

dckten das Gesicht in den weichen Ackerboden.

Die ganze englische Grabenbesatzung richtete nun

ihr Feuer auf uns. Rundherum schlugen die Kugeln

ein, so dan die Erde über uns spritzte. Ein englisches

MG setzte nun ein. Kaurn eine Handbreit sausten die

Kugeln über uns, einer nach dem anderen blieb tot

liegen. Ich glaubte, auch mein letztes Stündlein habe

geschlagen, dachte noch an die Lieben daheim und

betete. Der neben mir liegende Zanger sagte: »Hier

können wir nicht liegenbleiben«, richtete sich etwas

auf und sah etwa 50 m vor uns einen Feldweg, auf

dessen beiden Seiten sich Graben befanden. Mit einem

Satz sprangen wir aufund stürzten dem rettenden

Graben entgegen. Trotzdem die Engländer ein

knatterndes Schnellfeuer auf uns richteten, kamen

wir wie durch ein Wunder unversehrt an. Hinterher

kam auch der Unteroffizier Kretzer, unser Gruppenführer,

herangesprungen. Da der Graben an

dieser Stelle sehr flach war, krochen wir auf dem

Bauche nach einigen von den Englandern verlassenen

Schützenlochern. Bei diesem Vorkriechen bekam

Unteroffïzier Kretzer einen SchuH durch das

Kreuz, sagte noch »Clien Sie … « zu mir und war

lot. [Der Maurer K., 22 Jahre alt, starb nach Angaben

der Stammrolle am 23. Oktober 1914 bei Violaines

durch Kopfschuû. Angeblich wurde die Eintra
                                        67
gung allerdings bereits am 22.April 1914 (!) vorgenommen.]

Zanger und ich waren mm die einzigen Überlebenden

unserer Gruppe. Da die in der Ferme gebliebene

Kornpanie unser Schicksal sah, wagte niemand

mehr, auf das Feld zu kommen. Und so blieben wir

beide den ganzen Tag alleine in den Schützenlochern

liegen. Die Engländer belegten nun das Dorf

den ganzen Tag mit Artilleriefeuer, während kein

einziges GeschoH in unsere Nähe kam. AIs wir uns

anschickten, bei Anbruch der Nacht zur Kompanie

in die Ferme zu gehen, kam dieselbe, um die am

Morgen bestimmten Stellungen zu besetzen. Die

Mannschaften staunten sehr, uns beide noch lebend

zu finden.

Wir rnuliten nun eine Linie bilden und einen

Schützengraben aufwerfen. Jeder arbeitete, 50

schnell er konnte, um in die Erde zu kornmen, denn

beständig pfiffen einzelne englische Infanteriekugeln

durch das Dunkel. Nun ring es an zu regnen;

ich hing mir ein aufgefundenes englisches Gummizelt

um die Schultern. AIs der Graben tief genug

war, holte ich für mich und Zanger vom Weizenhaufen

2 Garben, um darauf zu schlafen. Unterwegs

stolperte ich zweimal über Tote. AIs ich eine Weile

im Graben geschlafen hatte, erwachte ich, da ich kalt

fühlte. Ich spürte, daßich längs im Wasser lag, das

sich von dem strörnenden Regen im Graben gesammelt

hatte.

Nun kam der Sergeant Hutt. Zanger, ich und noch

2 Mann muûten Unteroffizier Kretzer begraben gehen.

Es war ein guter Freund von Hutt. [Auch der

Maurer H. überlebte den Krieg nicht; er wurde im

März 1915 verwundet und starb drei Monate spater

im Alter von 23 Jahren.] Wir suchten lange in der

stockfinsteren Nacht, bis wir die Leiche fanden. Wir

scharrten nun die klebrige, nasse Ackererde mit unseren

Spaten weg, wickelten den Toten in sein Zelt,

das wir vom Tornister schnallten, legten ihn in das

keine 30 cm tiefe Grab und scharrten ihn zu. AIs wir  
                                    68
 

glaubten fertig zu sein, fühlte Zanger mit den Handen,

ob Kretzer überall mit Erde bedeckt sei. Da

schauten noch die Stiefelspitzen und die Nase zur

Erde heraus, welche clann noch zugedeckt wurden.

Zanger nahm nun clas Seitengewehr des Toten,

steckte es quel' durch die Lederscheide und steckte

es 50 in Form eine Kreuzes auf das Kopfende des

Grabes.

Kaum waren wir wieder im Graben, als der Befehl

kam, leise vorzugehen. Wir kamen dann clurch eine

mit mannshohem Schilf bewachsene Niederung. Bis

wir uns durch das Schilf gewunden hatten, waren

wir alle bis auf die Haut durchnäût. Der Regen fiel

unaufhörlich. Nun kam der Befehl: »Halt] Eingraben!

« Ich und Zanger gruben nun schnell ein Loch.

AIs wir fertig waren, muHten wir etwa 10m weiter

vor, da die Linie nicht gerade war. Da die englischen

Infanteriekugeln von vorne, links und rechts über

uns pfiffen, warfen wir die Erde l'und um uns, zur

besseren Deckung. AIs der Morgen graute, schaute

ich vorsichtig nach den Engländern hinüber und sah

ihren Graben etwa 150 m VOl'uns. AIs die Engländer

nun die Erdhaufen vor sich sahen, knallten sie eine

Weile wie wahnsinnig darauf los. Sie lieûen nach,

und ich sah, daßeiner derjungen Soldaten, der mit

noch zwei anderen das Loch neben uns besetzt hatte,

vorsichtig nach den Englàndern hinüberschaute.

Schnell rief ich ihm zu, sich zu ducken, was er auch

tat. Doch die Neugierde war zu groû. Nach einer

Weile wollte er wieder hinüberschauen. Kaum

wurde sein Kopf sichtbar, als el', in die Stirn getroffen,

tot niederstürzte. Die beiden Kameraden wollten

nun die Leiche hinter sich auf das Feld legen, da

in dem Loch zuwenig Platz war. Dabei kam der eine

zu hoch und erhielt einen Schuf in den Rücken. Er

stürzte tot in das Loch, und die Leiche des anderen

kollerte auf ihn. Nun waren zwei Tote und ein Lebender

in dem Loche. Die En glander schossen mit

Schrapnells auf uns, doch keiner wurde verletzt. Es

war sehr langweilig, den ganzen Tag so im Loch zu
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hocken. Wir lagen in einem Runkelrübenfeld. Urn

mir die Zeit zu vertreiben, steckte ich mein Seitengewehr

auf die Flinte, stach eine Runkelrübe an und

zog sie sa ins Loch. Dann steckte ich von unten das

Seitengewehr in die Rübe, setzte meinen Helm darauf

und lief das Ganze über die Deckung hinausschauen.

Die Engländer glaubten, es sei ein Kopf,

und schossen bald lustig drauf1os. Bald waren Rübe

und Helm wie ein Sieb durchlöchert.

ln der foIgenden Nacht stellten wir dann einen

durchgehenden Schützengraben fenig. Gegen Morgen

kam das 3. Bataillon zur Verstarkung und der

Befehl zum Angriff auf die englische Stellung. Ein 

wahnsinniges Unternehmen. Die Offiziere zogen

die Revolver und trieben uns aus dem Graben.

Kaum waren wir sichtbar, ais die Engländer auf uns

zu schießen begannen. Viele von uns stürzten gleich

zu Boden. Der Rest mach te kehrt und rannte wieder

zurück in den Graben. Die Schwerverwundeten blieben

liegen, manche stöhnten und jammerten bis gegen

Abend, bis auch sie starben. Trotzdem wurde

2 Tage spater, aIs neue Verstärkung herankarn,

noch mal angegriffen. Trotz großer Verluste kamen

wir bis an den englischen Graben. Es war aber unmöglich

hineinzukommen, denn die Englander

standen Mann an Mann und schossen uns nieder. Es

blieb nichts übrig, ais so schnell wie moglich wieder

unseren Graben zu erreichen. Das Feld zwischen

den beiden Graben war ganz mit Toten und Verwundeten

überstreut, welch letzteren niemand Hilfe

bringen konnte. Zanger und ich kamen beide wieder

heil davon. Die nächsten Tage blieben wir uns ruhig

gegenüberliegen. Da es oft regnete und das Regenwasser

sich in den Schützengben sammelte, gab es

einen derartigen Schlamm, d man sich bald nicht

mehr bewegen konnte.

Nun hießes auf einmal, der englische Graben sei

von Schwarzen, Indiern besetzt. [Englander wie

Franzosen setzten Kolonialtruppen ein.] Und wirklich

sahen wir hie und da einen Turban, ihre Kop
                                    70
 

Kopfbedeckung.

Da wir diesen nicht gut trauten, mußte

die Hälfte von uns nachts Posten stehen. ln einer

dunklen Nacht sprang plotzlich einer der Indier in

unseren Graben und hielt die Hände in die Höhe.

Niemand hatte ihn kommen hören. Er zeigte immer

nach den Englandern hinüber und machte mit der

Hand das Zeichen des Halsabschneidens. Ein Einjähriger,

der Englisch verstand, wurde herbeigeholt,

und da der Indier auch etwas Englisch sprechen

konnte, konnten sich beide verstandigen. Der Indier

sagte, daß er und seine Kameraden die EngIander

hassen würden, sie wollten aIle zu uns kommen und

gegen die Engländer kämpfen. Wir glaubten ihm

und lieûen ihn wieder laufen, um, wie er sagte, seine

Kameraden zu holen. Wir lauschten in die Nacht

hinaus, ob sie denn noch nicht kämen. Bald zeigte

uns ein schallendes Hohngelächter von drüben, daf

der Schwarze uns zum besten gehalten hatte. [... ]

Da hieJ3 es auf einmal: »Wir werden abgelost..

Und wirklich, die nachste Nacht besetzte das Infanterieregiment

122 den Graben, und wir rnarschierten

zurück. Es war ein schönes, freies GefühI für uns,

aIs wir uns auûer Schußweite befanden. [... ] Auf

dem Schlachtfelde von Violaines lagen noch die Leichen

der VOl' 3 Wochen gefallenen Englander. Wir

sahen mehrere Raben auf ihnen sitzen, die ihre

Mahlzeit hielten. Die gefallenen Deutschen waren

aIle begraben. lm Stad tchen La Bassée bezogen wir

Quartier. Aber wie sah es dort aus! Wer's nicht gesehen

hat, kann sich keine Vorstellung machen. Einwohner

waren keine mehr zu sehen. ln allen Häusern

und Zimmern lag alles drunter und drüber.

Kleider, Hüte, Photographien, kurz: alles, was in

den Zimmern war, lag kreuz und quer durcheinander.

Man sah au ch eine Menge unsittlicher Bilder

und Schriften umherliegen. Die Mëbel waren gröûtenteils

zerschlagen worden und aIs Brennmaterial

benutzt. ln einem Kleiderstoffgeschäft rissen die

Soldaten Streifen von den Stoffrollen, um sich Wikkelgamaschen

zu machen. ln einem Hutgeschäft

                                     71
wollte ich mir eine Mütze mit Ohrenklappen hole n,

um mich spater im Graben etwas gegen die Kälte

schützen zu körinen. J n dern Laden war dasselbe

Bild: Mützen, Hüte, Strohhütc, Zylinder. Alles lag

etwa einen halben Meter hoch auf dem Boden, und

darüber schritten die Soldaten mit ihren dreckigen

Stiefeln.

[... ] Wir lagen 8 Mann in einem Zimmer, in der

Nähe der Kirche.In der Nacht wurden wir durch ein

furchtbares Gepolter geweckt. Das Haus zitterte wie

bei einem Erdbeben. [… ] Der Kirchturm, der früher

einige Artillerietreffer abbekommen hatte, war zusammengestürzt.

Wir waren 3 Tage in La Bassée

und benutzten die Zeit, um unsere Kleider zu trocknen

und einigerrnaûen vom Dreck zu befreien. Dann

ging's wieder in die Graben. Wir lagen nun etwa

1km nordlicher ais vorher. Vor uns lagen die Dorfer

Festubert und Givenchi. Wir hatten wieder Indier

vor uns und lagen ihnen etwa 80 m gegenüber. Bald

hatten wir einige Tote und Ver!etzte, die aile durch

die Schiefischarten getroffen wurden. Es muête drüben

ständig ein Indier im Anschlag stehen, der bei

jeder Bewegung bei uns drauflosschoH. Zanger und

ich gaben uns aile Mühe, um den Ker! ausfindig zu

machen. Wir konnten seinen Standort aber nicht

entdecken. Da fiel eines Nachts Schnee. Durch die

englischen Schielischarten konnten wir an der hinteren

Grabenwand Schnee sehen. Sobald ein Indier

nun durch die Schiellscharte beobachtete, verschwand

der weilie Schneefleck. So hatten wir bald

den Stand des indischen Schützen entdeckt. Ich

schob mein Gewehr in die Schieûscharte, zielte und

scholi, traf aber nicht, denn dicht daneben spritzte

der Schnee weg. Der Indier verschwand hinter der

Schiebscharte, und der weilie Fleck wurde sichtbar.

Nun Iegtc sich Zanger auf die Lauer. Bald verschwand

drüben wieder der weibe Fleck, der Indier

beobachtete wieder. Zanger schoü, der Indier war

getroffen. Nun hatten wir etwas mehr Ruhe.

Es kam der Befehl, den Graben der Indier zu 
                                        72
 

stürmen. Unsere Pioniere gruben Sap pen das sind

Zickzackgräben  bis dicht vor die Stellung der l ndier.

Eines Nachts wurdc ich mit noch 8 Mann zur

Deckung der vorne arbeitenden Pioniere bestirnmt.

Wir standen etwa 6 m hinter ihnen, das Gewehr irn

Anschlag. und lauschten in die dunkle Nacht hinaus.

ichts war zu sehen und zu horen. Auf einrnal töriten

zwei entsetzliche Aufschreie durch die Nadu, die

von unseren Pionieren kamen. Schnell schossen wir

in das Dunkel und sprangen dann zu den Pionieren.

Aber beide lagen am Boden der Sappe, der eine tot,

der andere schwer verwundet. Beide hatten von heranschleichenden

Indiern Messerstiche erhalten.

Am 21. Novernber eroberten wir den indischen

Graben. Aus den Sappen wurden Handgranaten,

die ich dort das erstemal in Verwendung sah, in den

indischen Graben geworfen. Dann sprangen wir

hinüber und trieben die l ndier im Graben zurück.

ln einem Sackgraben, der zur Latrine führte, konnten

wir über 60 der braunen Gesellen gefangennehmen.

Ein junger Leutnant von uns, der erst einige

Tage im Felde war, kletterte zum Graben hinaus und

schrie zu den Indiern: »Hands upl« Das heiût:

Hände hoch! Aber einige Schüsse knallten, und der

Leutnant stürzte kopfüber in den Graben hinab.

Meine Kompanie, die durch die neuen Mannschaften

zu 240-Mann-Starke aufgefüllt war, verlor nur

drei Tote und den Leutnant. lm Graben lagen rnehrere

tote Indier; die alteren trugen lange Haare, die

jüngeren trugen sie kurz geschoren. Sie waren aile

ganz neu gekleidet und wohl erst kurze Zeit in den

Graben. Ebenso lagen viele neue, wollene Decken

und auch aile rh and von ihren Lebensmitteln, denen

ich keinen Namen geben konnte, im Graben umher.

Wir nahmen die englischen Schiefischarten und bauten

sie auf der anderen Seite ein, Front nach den

Indiern, die etwa 200 m zurück noch einen Graben

besetzt hatten. Wo sich ein Turban zeigte, wurde

drauflosgeknallt, und bald wagte keiner mehr den

Kopf ZlI heben.

                                     73
 

22. NOVEMBER 1914- FURCHTBARES

NACHTGEFECHT MIT INDIERN

Bei Anbruch der Dunkelheit wurden wir mit Infanteriefeuer

überschütter, hatten zum Glück aber wenig

Verluste, da wir aIle am Boden im Graben lagen.

Einige Mann wurden verschüttet, zum Teil konnten

sie sich selber frei machen, zum Teil muliten wir sie

mit unserem Spaten frei machen. Da wir einen Gegenangriff

befürchteten, muûte die Hälfte von uns

Posten stehen. Zanger und ich losten uns gegenseitig

ab; während der eine stand, schlief der andere, in

mehrere indische Decken gehüllt. Von 4 bis 6 Uhr

morgens war die Reihe an mir. Da ich den lndiern

nicht traute, spähte ich in die Nacht hinaus. Plotzlich

glaubte ich ein Geräusch vorne zu hören. Mein Nebenposten,

der blof 2m neben mir stand, fragte

mich, ob ich nichts gehart hätte. Auf meine bejahende

Antwort entsicherten wir unsere Gewehre,

machten uns schuEfertig und suchten mit den Augen

das Dunkel zu durchdringen. Etwa eine halbe

Stunde lang war nichts zu sehen und zu hören, und

wir waren schon wieder beruhigt. Plotzlich durchdrang

ein lautes Pfeifsignal die Stille der Nacht. lm

gleichen Moment krach te dicht vor uns eine Salve,

und mit furchtbar gellendem Geschrei kamen die

lndier herangestürmt. Wir waren vollig überrascht,

und viele von uns verloren ihre Geistesgegenwart.

Schnell schoßich meine 5 Patronen ab, steckte mein

Bajonett aufs Gewehr und stellte mich an die vordere

Grabenwand. Zanger war taumelnd aus dem

Schlafe aufgefahren und konnte in der Aufregung

zuerst sein Gewehr nicht finden. AIs er es hatte,

stellte er sich neben mich. Die lndier schossen von

oben in den Graben, da wir uns aber an die vordere

Grabenwand drückten, flogen ihre Kugeln über uns

hinweg. Sehen konnten sie uns in dem dunklen Graben

nicht, während wir sie sofort erblickten, indem

sie sich gegen den Himmel abhoben. Wir schossen

und stachen immer in die Hahe, und keiner der
                                74
 

lndier wagte es, in den Graben zu dringen. Bald

jedoch sagte uns ein schreckliches Geschrei, daßdie

lndier etwa 30 m neben uns in den Graben eingedrungen

waren. Nun entstand ein wirres Durcheinander.

Wir wurden von der Menge von unseren

Plätzen weggeschoben und so zusammengedrängt,

daßich kaum in meine Patronentasche greifen

konnte, um mein Gewehr wieder zu laden. ln der

Aufregung und der Dunkelheit schossen manche

von uns ihren eigenen Kameraden in die Köpfe.

Nachdem die lndier eine Strecke unseres Grabens

erobert hatten, kletterten viele von ihnen hinten

zum Graben hinaus, liefen an ihm entlang und

schossen von rückwärts in unseren Graben hinein.

Nun waren wir in einer wahren Hölle. Von vorne,

von hinten und von der Seite knallten die lndier in

den Graben. Alles drängte nun nach dem in unsere

alte Stellung führenden Laufgraben. Die Getroffenen

stürzten und wurden zu Tode getreten. Alles

schrie durcheinander. Vor dem Laufgraben gab es

ein furchtbares Cedränge, jeder wollte der erste

sein. Doch der Eingang war so schmal, daßnur einer

nach dem anderen hineinkonnte. Endlich gelang es

auch mir und Zanger, in den Laufgraben zu kommen.

Kaum waren wir etwa 10m darin zurückgelaufen,

als es nicht mehr weiterging, da die in der alten

Stellung liegenden paar Mann Reserve uns nach

vorne zu Hilfe kommen wollten. Wir waren bald eng

eingeklemmt, da die Mannschaften hinter uns unbedingt

zurückwollten. Da ertönte der Ruf: »Rette

sich, wer kann!« Zanger und ich warfen die Gewehre

zum Laufgraben hinaus und liefen über das Feld

zurück. Mehrmals muûte ich mich zu Boden ducken,

um von den lndiern nicht gesehen zu werden. Zangel'

hatte ich bale! aus den Augen verloren. Auf einmal

horte ich ihn halblaut um Hilfe rufen. Schnell

sprang ich nach der Richtung und sah bald im Dunkel

zwei Gestalten miteinander ringen. Den lndier

kannte ich bald an seinem Großen Turban und

machte ihn kampfunfähig. So schnell wir konnten, 
                                    75

liefen wir nun in unsere alte Stellung. Zanger woIlte

nun schnell sein Gewehr laden, der Patronenrahmen

aber woIlte absolut nicht in die Kamrner des

Gewehres. Beim näheren Hinschauen sah er, daf er

das Gewehr des lndiers in Händen hatte, in das

narlich unsere Patronenrahmen nicht paßten. lmmer

wieder kamen einzelne Mann zurückgelaufen.

Vorne dauerte die Schießerei noch an. Nun grau te

der Morgen. Wir schossen nun auf die im Felde

auftauchenden lndier, die bald aIle im Grabenverschwanden.

Auf einmaJ wurden sie einige Meter voraus

im Laufgraben sichtbar. Durch unsere Scsse

stürzten die vordersten zu Boden. Nun verbarrikadierten

wir den Laufgraben mit Sandsäcken und

hatten Ruhe. Wir waren sehr müde und abgespannt,

und unsere Nerven waren ganz futsch. Und in welcher

Verfassung waren wir! Dreckig yom Kopfbis zu

den Fülien, meine Hosen waren yom Knie bis ans

obere Ende aufgerissen, mein Tornister mitsamt

meinem ganzen Hab und Gut war weg, da ich keine

Zeit mehr gehabt hatte, ihn beim Überfall der Indier

urnzuhangen. Auch den Helm hatte ich verloren,

die Patronentaschen waren leer. Zanger und die übrigen

waren ungefähr in derselben Verfassung.

Gegen Mittag kam unser Leutnant Hüliler, ein

Elsässer und guter Vorgesetzter, und schrieb aIle

auf, die von der Kompanie noch da waren. Er

brachte noch 24 Mann zusammen; also 90 Prozent

der Kornpanie waren weg. Sehrecklich! Wie ich

später hörte, waren von der 4. Kompanie nur noeh

16 Mann übrig.

ln der folgenden Nacht wurden wir von einem

anderen Regiment abgelost und marschierten in den

Laufgräben zurück. Stellenweise kam man kaum

vorwarts und versank oft bis zu den Knien im Dreck.

Wir waren froh, aIs wir die feste Stral3e unter unseren

Fül3en hatten, marsehierten nach La Bassée und

erwarteten dort den Morgen. Von der Feldküehe

bekamen wir Kaffee und trockenes Kornmiûbrot.

Ein mageres Frühsck. Wir glaubten, ein besseres 
                                    7
6
 

verdient ZLl haben. AIs wir gegessen hatten, marschierten

wir weiter zurüek. Von Marschordnung

und Disziplin war keine Rede mehr. Jedel' ging, wie

er woIlte. Nun gab der Bataillonskommandeur den

Befehl zum Singen. Ein allgemeines Gemurrnel war

die Antwort, aber singen, das tat keiner. Wir passierten

auch die Ortschaft Courrières. Dort kamen bei

einern Bergwerksungck vor ein igen Jahren 1400

Bergarbeiter ums Leben. [Das Unglück ereignete

sich 1906.J

ln dem Stad tchen Hénin-Liétard [heute: Hénin-

Beaumont] wurden wir einquartiert. Zanger und ich

kamen zu einem alteren Ehepaar. AIs wir eintraten,

war die Frau alleine. Bei unserern Anblick schlug sie

die Hände überm Kopf zusamrnen, denn so drekkige,

zerlumpte Soldaten hatte sie wohi noch nie

gesehen. Dazu waren wir noch unrasiert. Sie winkte

uns, nach hinten in den Hof zu kommen, gab uns

warmes Wasser, Seife und Bürsten. Nachdem wir

uns einigerrnaûen gereinigt hatten, holte sie uns je

eine Zivilhose, Jacke, Strümpfe und Hausschuhe.

Wie wohl war uns, endlich einmal wieder trockene

Fübe zu haben! Die Frau war sehr gut zu uns, trotzdern

wir uns nicht einmal mündlich verstandigen

konnten. Sie gab uns dann noch heilien Kaffee und

Cognac und Bu tterbrot.

achher ging ich mit meinen Lumpen zum

Kornpaniefeldwebel mit der Bitte um neue Kleider.

Nachdern el' sie naehgesehen hatte, gab er mir eine

Bescheinigung, mich beim Bekieidungsamt einkleiden

zu lassen. Dort bekam ich neue Hosen, Rock,

Stiefel und Mütze. Dann lief ich mir die Haare

schneiden und mich rasieren. Darauf ging ich wieder

in mein Quartier. Die Frau kannte mich gar

nicht mehr. [... ] Nun kam der Mann nach Hause. Er

schien keineswegs über uns erfreut und betrachtete

uns mit der unfreundlichsten Miene der Welt. Da

sagte ich, auf uns deutend: »Alsaciens«; er aber

glaubte es nicht. Wir zeigten ihrn unser Soldbuch,

worin unsere Heimatadresse eingetragen war. Nun

                                     77
 

wurde el' schon etwas freundlicher. N achher gab ich

ihm mehrere Zigarren. Da war sein Widerstand gebroche

n, und er holte sogar eine Flasche Wein. Da

wir beide schon sehr müde waren, deuteten wir, dan

wir schlafen rnöchten. Wir wären mit einer 'Velle

Stroh zufrieden gewesen, aber wir mußten die Stiege

hinauf, und die Frau zeigte uns ein gutes Ben in

einem freundlichen Zimmer. Welche Freude für

mich, in einem Bett schlafen zu këmnen! Hatte ich

doch in bald 4 Monaten nur eine einzige Nacht in

einem Bett zugebracht. Wir schliefen bald ein, ich

erwachte jedoch wieder, und es war mir unrnöglich,

die Fülie ruhig liegen zu lassen. Ich glaubte, in den

Füûen, welche wochenlang kalt und naf gewesen

waren und nun richtig erwärrnt wurden, Hunderte

von Ameisen zu haben. Bald jedoch rann der

Schweif derart aus meinen Füfien, daßdas Bettuch

an der Stelle ganz naf wurde. Nun konnte ich einschlafen.

Wir blieben 14 Tage beijener Familie, und

wir wu l'den mit jedem Tag besser zueinander. Wir

al3en zusammen, und manches Kaninchen mulite

dran glauben. Wir brachten der Familie ais Gegendienst

neue Hemden, Unterhosen, Schnürschuhe,

eine Menge Zigarren und Tabak und so weiter. Damais

war von allem im Überfluf vorhanden.

Wir hatten nur wenig Dienst, hauptsachlich Postenstehen.

Einmal stand ich auch Ehrenwache bei

einem Prinzen von Hohenzollern, der in einem

Schlof wohnte. Diese Vögel konnten es schon aushalten

im Krieg! Hingen sich die Brust voll Auszeichnungen,

obschon sie nie eine Kugel pfeifen

hörten, alien und tranken im Überfluß und waren

hinter den Mädchen her. Dazu bezogen sie ein hohes

Gehalt, während der gewahnliche Soldat bei seinem

Hundeleben 53 pfennig Löhnung bekam. Einmal

waren wir ais Brückenschutz auf Wache. Das Wachlokal

war in einem öffentlichen Hause. lch hätte

vorher nie geglaubt, dan Weibsleute in sittlicher

Hinsicht so tief sinken könnten. Überhau pt waren in

jener Gegend viele Mädchen und Frauen in sittlicher 
            78
 

Hinsicht sehr tief gesunken. Bald füllten sich die

Lazarette mit geschlechtskranken Soldaten.

Wir bekamen dann neue Ersatzmannschaften aus

Deutschland, darunter auch eine Menge Freiwillige

unter 20 Jahren. Nun hieû es wieder: »Marsch nach

der Front} Und mit Bedauern nahmen wir von

unseren guten Wirtsleuten Abschied. Wir kamen

dann in eine bessere Stellung, hatten dort Franzosen

in etwa 800 m Enrfernung VOl' uns. Weiter zurück lag

die Stadt Béthune. Obwohl jene Stadt unter deutschem

Artilleriefeuer lag, wurde in den Bergwerken

weitergearbeitet. [... ] Wir lagen nun 3 Tage vorne

im Graben, 3 Tage in Reserve in einer Arbeiterkolonie

1km hinter der Front und dann 3 Tage in Ruhe

5 km weiter zurück. So vergingen dort etwa 3 Wochen

ohne nennenswerte Vorkommnisse. [… ]

Wenn wir in Reserve lagen, rriubten wir aile Nächte

durcharbeiten, Laufgraben und Stellungen graben.

Da die Gegend dort ganz waldfrei ist, konnten wir

infolge Holzmangels keine Unterstände bauen. Und

so lebte man immer im offenen Graben, den Unbilden

der Witterung ausgesetzt. Unsere Stellung Iief

dicht an einer Kohlenmine, Fosse [Schacht] 8, vorbei,

bei welcher eine Arbeiterkolonie, alles schëne,

schmucke Hauschen, erbaut war. Kohlen zumFeuermachen

waren in Mengen da. Da es aber an Holz

fehlte, ~urden zuerst die Fensterläden, dann die

Türen, "Iobel, Baden, Dachlatten aus den Hausern

genommen, um Feuer anmachen zu können. ln kurzer

Zeit standen nur noch die kahlen Mauern da.

[... ]

Nun kam das Weihnachtsfest, die erste Kriegsweihnacht.

Unsere Kompanie feierte das Fest in

Vendin-le- Vieil. Es waren eine Menge Liebesgaben

angekommen. Da ich, Zanger und Gautherat aus

Menglatt mit der Heimat keine Verbindung mehr

hatten und daher auch keine Pakete bekommen

konnten, gab uns der Kompanieführer extra Liebesgaben.

Dann bekamen wir noch einen Teil wie die

anderen. Auch bekamen Zanger und ich eine große

                                    79
 

Kiste mit guten und nützlichen Dingen von einer

reichen Fabrikantin aus Mannheim, welche uns heimatlosen

Soldaten eine Freude machen wollte. VÙr

konnten unsere Sachen kaum auf einmal in unser

Quartier tragen. Wir hatten einen ganzen Tisch voll

Schokolade, Zuckerbr6tehen, Bonbons, Zigarren,

Zigaretten, Dauerwurst, Olsardinen, Pfeifen,Hosenträgern,

Halstüehern, Handsehuhen und sa weiter.

leh verteilte Schokolade und Bonbons an die

Kinder, die ich auf der Straße traf. Bald kannten

mich aile, und wo ich mieh zeigte, kamen sie gelaufen

und baten mieh um Sül3igkeiten. Aber ich

konnte nur geben, solange der Vorrat reiehte.

Bald kam der Befehl zum Abrücken, naeh der

etwa 12 km entfernt liegenden Lorettohöhe. [... ]

Wir gruben uns im Gebüsch am Abhang ein, über

uns lagen die Trümmer der zusammengesehossenen

Kapelle Notre-Dame-de-Lorette. Auf dem Gipfel

entlang lagen die mit Alpenjägern besetzten französischen

Graben. Da unsere Stellung einen Bogen

beschrieb, bekamen wir bald von der Seite Artilleriefeuer

mit sehwerem Kaliber. Auf allen Seiten sehlugen

die groHen Granaten ein. Ein mit 4 Mann besetztes

Sehützenloch bekam einen Volltreffer, die zerrissenen

Korper der Unglückliehen wurden nach allen

Seiten zerstreut. Man konnte nicht weglaufen, denn

wo sich nul' einer von uns zeigte, wurde el' gleich von

den Alpenjagern niedergeknallt. Dort verlor ich

auch einen guten Kameraden namens Sand. [Siehe

auch Sei te 31 f. Erst am l.Januar 1915 an die Front

zurückgekehrt, wurde der Zuckerfabrikarbeiter S.

laut Stammrolle am 21.Januar 1915 durch Kopfschuf

verwundet und starb zwei Tage spater.]

Eines Nachts fiel Schnee, und ich munte mit noch

4 Mann untel' Führung des Sergeanten Hutt eine

Patrouille den Hügel hinauf machen. Wir hatten

weiûe Hemden über unsere Uniformen angezogen,

um im Schnee nicht so gut gesehen zu werden. Was

wir dort oben suehen sollten, weif ich heute noch

nicht, es war der reine Blödsinn. Wir wu l'den bald
                                80
 

bemerkt, und einige Kugeln flogen uns um die Ohl'en.

Ein Mann bekam einen BrustschuI3. Wir rannten,

50 schnell wir konnten, bergab in unsere Stellung.

Sergeant Hutt erstatter.e eine Schwind~lmeldung

und bekam einige Tage später das Eiserne

Kreuz.

Nach 3 Tagen kam unsere Kompanie in Ruhe in

das sogenannte Wasserschlofi, ein großes, auf allen

Seiten von einem Bache umflossenes Cebäude. [... ]

Dort erfuhr ich, daß das Ill. lnfanterieregiment

links neben uns lag. Der Reservist Emil Schwarzentrüber

aus meinem Heimatdorfe befand sich bei

der Il. Kornpanie jenes Regiments. Sofor~ .fante ich

den Entschluß, ihn aufzusuchen, und hoffte, etwas

Neues aus der Heimat zu erfahren, denn ich hatte

bereits mehrere Monate keinerlei Nachricht von

dort bekommen. Ich ging nach dem Dorf Saint-Nazaire,

traf dort Soldaten des Ill. Regiments, welche

mir sagten, die Il. Kompanie liege oben in Stellung.

Sie beschrieben mir den Weg dahin, und ich machte

mich auf die Suche. lch kam bald in den Laufgraben,

der zur Stellung hinaufführte. Da der Schnee

schmolz, lief eine Masse Dreckwasser den Graben

hinab. Trotz allem patsehte ich in der dunklen Nacht

weiter hinauf und kam endlicb in der Stellung an.

Ich fragte einen Posten nach meinem Kamer~den.

Er konnte mir keine Auskunft geben. Ich fragte

einen anderen, der mich zur Gruppe wies, in der

mein Kamerad sei. Ich ging dorthin, und auf meine

Frage gab man mir nur ausweichende Antworten,

aus denen ich nicht klug werden konnte. Ich verabschiedete

mich und ging wieder fort. Da kam

mir einer nachgelaufen, ein Elsässer, u?d ~ragte.

mich, ob ich ein guter Kamerad von Emil sei. Auf

meine bejahende Antwort sagte er mir, dan Emil

vor 2 Tagen desertiert sei. .

lch ginO' nun wieder zu meiner Kompame und

munte do:t mehrere Gefallene begraben helfen. Ein

trauriges Stück Arbeit, besonders da man nie wußte,

wie bald die Reihe an uns war. Wir blieben etwa

                                81
 

10 Tage an der Lorettohöhe. Da kam der Befehl,

zurück nach Vendin-le-Vieil in unsre alten Quartiere

zu marschiere n. [... ] Den nächsten Abend beim

Postverteilen bekam ich einen Briel' von meinen Eltern.

Da ich nicht wußte, ob sie über haupt noch zu

Hause seien, l'iD ich den Brief schnell auf und las:

»St. Ulrich, den … Lieber Sohn ' Wir sind aile gesund

und noch zu Hause ... « Weiter kam ich nicht.

Vor Freude und Sehnsucht schossen mir die Trärien

in die Augen, und ich konnte nicht weiterlesen. Da

ich mich vor den Kameraden scharnte, ging ich hinaus.

Ich beruhigte mich bald wieder und konnte den

Brief fertiglesen. Er enthielt nur Gutes, und ich war

nun über das Schieksal meiner Angehorigen beruhigt..

Wir blieben einige Tage in Vendin-le-Vieil,

dann hief es abmarschieren nach einer Gegend, aus

der dauernd Kanonendonner herüberdröhnte. [… ]

Durch einen Laufgraben, der teilweise zusammengeschossen

war, gelangten wir in die vorderste

Stellung. Mit Tagesanbruch fingen unsere Artillerie

und Minenwerfer furchtbar auf die mit Englandern

besetzten Graben zu schießen an. Wir mußten zum

Sturm vorgehen. [... ] Trotz der Großen Verluste

eroberten wir zwei dicht hintereinanderliegende

englisehe Graben. Die Engländer, die in den Laufgraben

zurückwollten, wurden fast alle niedergeschossen.

Wir sollten noch einen 3. englischen Graben

nehmen. ln demselben stand en je do ch die Englander

Mann an Mann und schossen uns nie der.

Bald lag eine ganze Reihe Toter und Verwundeter

vor ihrem Graben, und der Rest der Kompanie

flüchtete zurück in den 2. englischen Graben. Hier

fiel auch der Walther Theophil aus Struht. Es war

ein schreeklicher Anblick, überall lagen Tote und

Verwundete, Deutsche und Englander durcheinander,

und aus den Wunden rieselte das Blut. Wenn

man in die Laufgräben hineinschaute, sah man

nichts als Beine mit Wiekelgamaschen und verkrallte

Hände in die Höhe stehen. Der Boden dieser Graben

war ganz mit toten Englandern bedeekt.
                                82
 

Wir muliten nun die in den Stellungen liegenden

Toten begraben. An der hinteren Grabenwand

machten wir etwas Erde weg, legten die Toten hin

und deckten sie mit etwas Erde zu. Da man sonst im

Graben keine Sitzgelegenheiten hatte, dienten diese

kleinen Hügel ais Sitze. Nun fing es wieder an zu

regnen. Die Graben füllten sieh bald mit dem Wasser

und Sehlamm, und bald waren wir wieder so drekkig,

daI3 man nichts mehr aIs das Wee im Auge sah

vor lauter Dreck. lch mußte dann Munition heranholen;

überall sah ich Stiefelspitzen, verkrallte

Hande, aueh vom Dreck zusammengeklebte Haare

aus der Erde hervorsehauen. Es war ein schauerlicher

Anbliek, der rnich fast zum Verzweifeln

brachte. Es war mir derart verleidet, dal3 ich dem

Leben gar nichts mehr naehfragte. Die Kampfe dauerten

an jener Stelle sehon seit Oktober, und die

Gefallenen von damaIs lagen noeh auf dem Felde

zwischen den Graben. Es war unmoglich, sie zu begraben.

Etwas reehts vor meiner Schießscharte lag

ein deutseher Soldat auf dem Gesicht, den Kopf

gegen mich. Der Helm war ihm beim Sturze vom

Kopf gefaIlen, die Haut mit den Haaren war infolge

der Faulnis herabgerutscht, und die vom Regen und

von der Sonne gebleiehte Hirnschale war in der

Gröbe einer Hand siehtbar. ln der einen Hand hielt

el' noeh das rostige Gewehr mit dem Bajonett, das

Fleiseh war bereits von den Fingern weggefault, und

die Knochel sahen hervor. Besonders des Nachts

war es ganz unheimlieh, den weißen Schädel VOl'mir

zu sehen. Von den imrnerwàhrend, insbesondere

des Nachts, umherschwirrenden Kugeln war der

Körper wie ein Sieb durchbohrt.

Die nächste Naeht, den 26.Januar 19]5, kamen

wir etwa 400 m weiter nach rechts, hinter den sogenannten

Prellbock. Wir lagen an einem Eisenbahndamm

und schossen über die Sehienen in die englisehen

Graben. Bald nahm uns ihre Artillerie untel'

Feuer. Wir duckten uns nun hinter den Bahndamm.

Entweder platzten die Granaten oben auf dem
                                83
 

freie Feld. Die Nacht darauf kamen W1r wieder

200 m nach links. Dicht vor unseren Graben waren

mehrere haushohe Backsteinhaufen, da sich dort

eine zu Boden geschossene Ziegelei befand. Die Engländer

kletterten beim Dunkelwerden von hinten

auf die se Backsteinhaufen, und wo sie einen von

uns im Graben erblickten, knallten sie ihn nieder.

Eines Abends standen Zanger, ich und unser Karnerad

Kopf im Graben und erzählten eben etwas. Zanger

und ich standen gedeckt hinter der Schulterwehr,

während Kopf an der Rückenwand des Grabens

angelehnt stand. Auf einmal knallte ein Schuf

von dem Backsteinhaufen herunter, hinter dem

Kopf unseres Kameraden spritzte die Erc~eweg. Er

selbst sank röchelnd mit durchbohrter Stirn zu Boden.

Er wurde zurückgetragen, starb aber beim weiteren

Rücktransport im Krankenwagen. [Del:

24jahrige Zigarrenmacher K., laut Stammrolle bel

der Ziegelhaufenstellung in Auchy am 29.Januar

1915 durch Kopfschuf verwundet, starb am 31. J anuar

1915.]

Von den 280 Mann, die mit der Kompanie ins Feld

gezogen waren, waren wir nur noch 5, die ohne

Unterbrechung den Krieg bis dahin mitgemacht

hatten. Dazu kamen noch mehrere hundert Mann

Verluste der Abteilungen, die während des Feldzuges

als Ersatz zur Kompanie gekommen waren. Bei

einem Angriff, den wir auf ein vorgeschobenes englisches

Grabenstück machen muûten, wurde Zanger

durch eine Handgranate an der Stirn verwundet

und kam zurück. [Laut Stammrolle wurde der

22jahrige Maurer Z. am 1. Februar 1915 bei Auchy

durch Granatsplitter am rechten Auge verletzt.]

Bald schrieb er mir, daßer sich in einem Lazarett der

Stadt Douai befinde. Man nannte uns in der Kornpanie

nur »die beiden Unzertrennlichen«. Da er nun

fort war, war es mir noch mehr verleidet, und ich

sann auf Mittel, wie ich diesem schrecklichen Hundeleben

entrinnen könne.
                                84

Ein anderer Kamerad von mir, ein Badenser namens

Benz, hatte auch dick an der Geschichte, und

wir berieten, was wahl Zll tun sei. Auf einmal sagte

Benz: »Ich hab's! «, nahm sein künstliches Gebißaus

dem Mund und trat es mit dem Stiefel in den Dreck.

»So, jetzt meld' ich mich krank wegen Magenschmerzen

und komme zurück ins Lazarett«, sagte

er. Da fiel mir ein, daßich mehrere faule Zähne im

Munde hatte. Obschon ich gar keine Zahnschmerzen

hatte, wickelte ich mein vor Dreck starrendes

Halstuch um den Kopf, ging zum Kompanieführer

und meldete mich krank; ich körme es VOl' Zahnschmerzen

nicht mehr aushalten. Bald kam auch

Benz mit seinem Anliegen. Der Kompanieführer

sagte, er konne uns nicht zurückschicken. Er habe

Befehl erhalten, aile nur einigermaHen kampffähigen

Soldaten vorne im Graben zu behalten, da immer

ein Angriff der Englander befürchtet wurde.

Trotz unserer Bitte weigerte er sich, uns eine Bescheinigung

zu geben. Und oh ne Bescheinigung des

Kompanieführers lief man nicht weit. Wir gingen

wieder zurück an unsere Plätze. Die Engländer

schossen dauernd mit kleinen Minen in unseren

Graben. Das am weitesten vorgeschobene englische

Grabenstück muliten wir räumen, da dasselbe nur

16m von dem englischen Graben entfernt war und

die Engländer immer wieder Handgranaten hineinwarfen.

Benz und ich beschlossen nun, ohne Bescheinigung

zurückzugehen. Wir hingen die Tornister

um, nahmen die Gewehre und schlichen zu dem

rückwàrts führenden Laufgraben. Dort lagen mehrere

Tote im Dreck, die beim Munitionsholen gefallen

waren. Wir schritten über sie hinweg, und etwa

400 m zurück gelangten wir ans Ende des Laufgrabens,

der auf die Straûe mündete. AIs wir um die

Ecke wollten, stand da ein Feldgendarm und verlangte

unsere Ausweise. Trotz allen Redens lief er

uns nicht durch und schickte uns wieder zur Kornpanie

nach vorne. Wir gingen zurück in den Laufgraben;

nachdem wir etwa 50 m zurückgelegt hatten,

                            85
kletterten wir zum Graben hinaus und liefen hinter

einigen Häusern durch, um weiter vorne die Straûe

zu gewinnen. Die Englander, die uns sahen, 5ch05-

sen aufuns, zum Glück, ohne zu treffen. Wir erkundigten

uns nach dem Bataillonsarzt, der sich in einem

Keller aufhielt. Da wir keine Bescheinigung

hatten, sagte el' »Drückeberger!« undjagte uns zum

Keller hinaus. Nun gingen wir zum Regimentsarzt,

der auch in einem Keller wohnte. Ais wir eintraten,

fragte Er: »Na, wo fehlt's?« lch sagte, daß ich starke

Zahnschmerzen hätte. Er schaute mir in den Mund,

und aIs er meine schiechten Zähne sah, schrieb er mir

gieich einen Aufnahmezettel fürs Kriegslazarett II,

Zahnstation in Douai. Mein Kamerad Benz hatte das

gieiche GIück, und wir beide waIzten los. Wir waren

übergIückIich, dem elenden Leben im Graben für

einige Zeit entronnen zu sein. ln Hénin-Liétard bestiegen

wir den Zug und fuhren nach der Stadt

Douai. Dort angekommen, ging ich gieich ins Lazarett.

Sofort wurden mir 2 Zàhne gezogen. Und auch

die nächsten 3 Tage wurden mir je 2 Zahne gezogen.

Es war kein geringer Schmerz, denn es geschah ohne

Einspritzung.

Da wir ausgehen durften, besuchte ich auch langer,

der in einem anderen Lazarett Iag. Seine Wunde

an der Stirn war bald wieder geheilt. Beim Abschied

dachte keiner von uns, daßwir uns 2Jahre lang nicht

mehr sehen würden. Nach 3 Tagen wurde ich aus

der Zahnstation entlassen und mulite mich in der

Kürassierkaserne melden. [Laut Stammrolle des Regiments

112 war D.R. 18 Tage, vom 8. bis 26. Februar

1915, im Lazarett.] Dort wurden aile aus den

Lazaretten Entlassenen nochmals ärztlich u ntersucht

und entweder an die Front oder nach Deutschland

geschickt. Der Arzt stellte bei mir einen schweren,

infolge der Erkältungen zugezogenen Katarrh

fest, und ich wurde zum Ersatzbataillon des Infanterieregiments

112, welches in Donaueschingen/Baden

lag, zurückgeschickt. Wie glücklich war ich, ganz

von der Front wegzukommen! Und doch war es mir

                                    86

nicht ganz recht, da ich meinen Kameraden langer

verlassen mulite. lch ging gleich zum Bahnhof in

Douai und fuhr mit einem bayerischen Lazarettzug

durch Belgien bis Aachen. Dort mubten wir aussteigen,

bekamen etwas zu Essen, und ich fuhr dann mit

einem Personenzug nach Kain. Dort blieb ich einen

Tag, besichtigte die Stadt und den Rhein. Dann bestieg

ich den Schnellzug und fuhr 1. Klasse durch

das herrliche Rheintal. [… ] Am nächsten Morgen

fuhr ich mit dem ersten lug nach Donaueschingen

und meldete mich beim Ersatzbataillon, welches in

Baracken untergebracht war. Bald traf ich mehrere

Kameraden meiner Kompanie, die zu halben Krüppeln

geschossen waren und nun geheilt auf ihre

Entlassung warteten. [… ] Am folgenden Tage meldete

ich mich krank und wurde dem Karlskrankenhaus

überwiesen. Dort pflegten uns katholische

Schwestern, die sehr freundlich und gut zu uns wal'en.

Es gefiel mir dort ausgezeichnet, und ich hatte

den Wunsch, lange dort bleiben zu körmen. Nur zu

bald sollte die Herrlichkeit ein Ende finden, denn

nach 5tagigem Aufenthalt kam der Befehl: Alle EIsasser

des Ersatzbataillons 112 müssen nach Freiburg

zum Ersatzbataillon des lnfanterieregiments

1ß. So mulite ich von den guten Schwestern Abschied

nehmen. Wir fuhren mit der Höllentalbahn

nach Freiburg hinunter. Unterwegs wurde von den

Elsässern weidlich auf die Preuûen geschimpft, und

man horte Ausdrücke, die wenig patriotisch klangen.

ln Freiburg wurden wir in einem Fabrikraum

untergebracht. AIs Nachtlager diente ein am Boclen

liegender Strohsack. Ich meldete mich gleich wieder

krank. Einige junge Arzte horchten an mir herum,

und das Resultat war, daßich wieder Dienst mitrnachen

mulite. lm ganzen war ich etwa 7 Tage in Freiburg.

Eines Abends nach Dienstschluf salien wir, Eine

ganze Menge Elsässer, beisammen. Es waren lauter

junge Soldaten, die noch nicht im Felde gewesen

waren. Sie sagten, ich solle ihnen etwas von meinen

            87

Kriegserlebnissen erzahlen. Ich erzählte ihnen un ter

anderem auch die Ereignisse yom 26. August, von

dem Befehl des GeneraIs Stenger, keine franzüsischen

Gefangenen zu machen und alles zu tüten,

und daßich mit eigenen Augen gesehen habe, wie

französische Verwundete getütet wurden und sa

weiter. Auf eimnal kam der Kompanieschreiber in

den Saal und rief: »Richert sail auf die Schreibstube

kommenl Ich hatte keine Ahnung, weshalb. Bald

sollte ich es erfahren. Der Kompaniefeldwebel sagte

zu mir: »Na, Sie können schone Geschichten erzählen.

Was erzahlten Sie denn soeben den Mannschaften?

« Ich sagte, ich hatte von meinen Kriegserlebnissen

erzählt. Da schnauzte er mich an: »Was, Sie wollen

wahl behaupten, daf ein deutscher General den

Befehl gab, französische Verwundete zu toten P. –

»Herr Feldwebel, der Befehl wurde tatsächlich am

26. August 1914 ais Brigadebefehl gegeben, und der

General Stenger war der Führer der Brigade.« Der

Feldwebel brüllte mm: »Nehmen Sie sofort diese

Behauptung zurück, oder Sie soUen mal sehen Ich

antwortete: »Ich kann meine Aussage nicht zurücknehmen,

da dieselbe auf Wahrheit beruht.. 

»Soooo, scheren Sie sich weg, das Weitere wird sich

finden!« brüllte nun die Kompaniemutter [soldatensprachlich

für Feldwebel].

Am nächsten Nachmittag war ein Übungsmarsch

in die Schwarzwaldberge mit kriegsrûig bepacktern

Tornister. Die Kompanie war angetreten. Da

wurde ich wieder auf die Schreibstube gerufen. Dort

erwartete mich der strenge Hauptmann der Kornpanie.

Seine Augen funkelten wie die eines gereizten

wilden Tieres. »Sie niedertrachtiges, gemeines Rindvieh!

Sie behaupten, ein deutscher General hätte

den Befehl gegeben, feindliche Verwundete zu Wten.

Nicht wahr?« Sa empfing er mich. Ich stand

stramrn var ihrn, schaute ihrn in die Augen und

antwortete: »[awohl, Herr Hauptmann!- Wütend

fuhr er mm auf mich los und schrie: »Sie verfluchter

Vaterlandsverräter! Auch mir gegenüber wagen Sie

            88

es, lhre Aussagen zu behaupten. Sie Schwein, Sie

Kame!, Sie Rhinozeros!« Und nun folgten die Namen

wohl aller wilden und noch einiger zahmen

Tiere, und der Schluû dieser Litanei war: »Scheren

Sie sich zum T'eu f"el, Sie Himmelhund, Sie gottver-

Iluchter!« Ich machte kehrt und ging hinunter in die

angetretene Kompanie. Wir marschierten nun los.

Ais wir eine Bergstraûe hinaufmarschierten, kam

der Hauptmann, der bis dahin hinter der Kompanie

geritten war, neben die Kompanie nach vorne. Bald

bemerkte ich, daf el' mich suchte.

AIs er mich sah, sagte er: »Na, Sie Lümmel, kommen

Sie mal her!« Ich trat aus dem Glied und stand

stramm vor ihm. »Na, packen Sie mal Ihren Tornister

aus! « lch tat es, aber es fehlte nicht ein Stückchen

darin. Da sagte er: »Sie werde ich schon noch

rankriegenl« Damit ritt er der Kompanie nach. Ich

packte meine Sachen wieder ein und muf3te nun

bergauf Laufschritt machen, um die Kompanie wieder

einzuholen.

Des anderen Morgens beim Antreten jagte mich

der Feldwebel aus dem Glied in das Quartier. Dort

kümmerte sich kein Mensch um mich, und ich wulite

nicht, was das eigentlich zu bedeuten habe. Am

nächsten Tage kam ein Unteroffizier mit 2 Mann in

den Saal und fragte nach mir. Ich meldete mich.

»Komrnen Sie mit!«  »Ja«, sagte ich, »sofort, ich will

nur schnell urnschnallen.«  »Das brauchen Sie

nicht«, sagte er, »Sie sind Arrestant.« Ich war gar

nicht überrascht und ging mit. Wir gingen durch

mehrere Straûen, die beiden Soldaten mit ihren Gewehren

links und rechts, der Unteroffizier hinter

mir. Viele Passanten blieben stehen und schauten

uns nach. Und ich horte mehrere Male halblaut

sagen: »Ein Spion.« So kamen wir in die Kaserne

des Infanterieregiments 1ß. Auf einem Korridor

muûten wir lange warten. Da hörte ich aus einem

Zimmer rufen: »Soll eintreten!« Dort san ein Major

mit seinem Schreiber. Lange sah der Major mich an

und musterte mich von oben bis unten. Ich stand

            89

still und sah ihm ungeniert in die Augen. Nun ging

das Verhör los. Narne, Kompanie, Heimat, Eltern,

ob mein Vater bei der deutschen Armee aktiv gedient

und so weiter. lch beantwortete alle Fragen.

»Nun wollen wir zur Hauptsache«, sagt er. »Sie haben

eine ungeheuerliche Aussage gemacht in Betreff

eines Befehls lhres Brigadegenerals Stenger.

Wie kommen Sie dazu? Erzählen Sie mir mal genau

den Hergang der ganzen Sache.. lch erzählte mm

dem Major so, wie sich die Sache tatsächlich zugetragen

hatte, und nannte als Zeugen die Namen

mehrerer Kameraden, die noch bei der Kompanie

im Felde waren. Der Schreiber mußte alles niederschreiben.

Dann schrieb der Major einen Zettel, gab

ihn dem Unteroffizier, der mich dorthin begleitet

hatte, und sagte ihm, er soIlte ihn der Kompanie

abgeben. Zu mir sagte dann der Major: »Sie können

gehen!«

Wir gingen nun wieder zur Kompanie zurück.

Dort hieB es bald: »Richert macht wieder Dienst

rnit.. Am nächsten Tage wurde ein Transport ins

Feld aufgestellt. Natürlich war ich dabei, obschon ich

mich noch nicht gesund fühlte. Bei der ärztlichen

Untersuchung wurde ich gleich zuvorderst gestellt,

und aIs mich der Arzt untersuchen wollte, hörte ich

den daneben stehenden Feldwebelleise sagen: »Es

ist der Richertl- Nun sagte der Arzt gleich: »K. V,« –

das heilit kriegsverwendungsfahig.

So hatte ich meine Strafe, denn viellieber ware ich

ins Cefängnis als wieder ins Feld. Aber was sollte ich

machen? lch war eben wie noch Tausende anderer

ein wiIlenloses Werkzeug des deutschen Militarismus.

Wir wurden nun ganz neu eingekleidet, und da

es am nächsten Morgen um 5 Uhr zur Bahn gehen

sollte, bekamen wir bis nachts Il Uhr Urlaub. Nun

ging's in die Wirtschaften. Da ich mit meinen Angehörigen

keine Verbindung hatte, war es in meinem

Portemonnaie schlecht bestellt. Ich besaf ganze

5 Mark. Die Hälfe davon wurde in Bier umgesetzt.

Diejungen Soldaten sangen übermütige Lieder und

            90

machten Sprüche, wie sie den Feind verhauen wollten.

lch dachte: Wartet nur, nur zu bald wird euch

der Übermut vergehen! Mit einem halben Bierdusel

legte ich mich dann auf meinen Strohsack, und mit

Schaudern dachte ich an die zukünftigen Nachtlager

im Felde, da es noch immer Winter war. Am Morgen

ging's zur Bahn. Wir 1200 Mann, halb Elsässer, halb

Badenser, fuhren nun Baden hinunter nach Karlsruhe,

wo wir in einer Kaserne die Gewehre bekamen.

Dann ging's wieder durch die Stadt zur Bahn;

die Stimmung bei uns Elsässern war nicht gut. AIs

eine Frau fragte: »Wo wollt ihr denn alle hin?«,

antwortete ein Mülhauser: »Ceh verrecka, gottver

 <

lm Bahnhof hielt der Großherzog von Baden eine

Ansprache, um uns Mut zu machen. Er sagte, daf

wir in die Karpaten kommen, und wir sollten im

Verein mit unseren österreichischen Kameraden die

Russen bald aus Osterreich hinauswerfen. lch

dachte bei mir: Der hat gut reden! Dann ging's weiter;

wir fuhren 3.-Klasse-Wagen, 6 Mann in einem

Abteil. Von Karlsruhe ging's nach Mannheim, Heidelberg,

durch das schöne Neckartal, Württemberg.

ln der bayerischen Stadt Würzburg bekamen wir

Kaffee, Wurst, Butter und Brot. Dann ging's weiter

durch den verschneiten Fränkischen Jura, durch das

Fichtelgebirge über Hof nach Sachsen, über Chemnitz,

Freiberg nach Dresden. Die Reise war sehr interessant.

lch saf am Fenster, betrachtete die vorbeifliegenden

Gegenden und rauchte eine Zigarette um

die andere.

ln Dresden blieb unser Zug bis gegen Morgen

stehen. Dann ging's weiter, und als ich erwachte,

befanden wir uns bereits in Osterreichisch-Böhmen.

Dem Elbtal entlang ging's weiter nach Prag, der

Hauptstadt Böhrnens. Dort bekamen wir wieder zu

essen. Die Einwohner von Prag betrachteten uns mit

feindseligen Blicken, denn die Böhrnen sind keine

Freunde der Osterreicher und ebensowenig der

Deutschen. Dann fuhren wir weiter an der schonen

            91

Stadt Brünn vorbei nach der osterreichischen

Hauptstadt Wien. Dort gab es wieder Essen. Nachher

muliten wir in 2 Gliedern antreten, eine osterreichische

Regimentsmusik spielte, und eine österr~

ichisch~ ~roBherzogin verteilte mit ihrem Gefolge

Bilder mit ihrer Photographie an uns. Mir machte

das wenig Freude, denn diese Zeremonien waren

mir sehr verhafit. Von Wien ging's dann weiter der

herrlichen Donau entlang über Preßburg nach Budapest,.

der Hauptstadt Ungarns. [... ] Überall jubelte

die Bevölkerung uns zu und rief: »Heil und

Si.eg!« Auch bekamen wir, wenn der Zug hielt, oft

Liebesgaben, besonders Rauchmaterial. Von Budapest

fuhren wir 2 Tage durch die große ungarische

Ebene. [ ] Und überall dasselbe Bild: Dörfer, einze~

stehende Gehoft~, aile Hauschen weif getüncht,

mit Stroh oder Schmdeln gedeckt, und dabei der

Schwebebaum des Ziehbrunnens. Zur Abwechslung

sah man oft auch Windmühlen. [... ] Der groHe Fluû,

die The, führte Hochwasser, und die Gegend war

weit überschwemmt.

ln der Stadt Debreczin bekamen wir wieder Essen:

Suppe, gebratenes Fleisch und Kartoffeln mit Sauce.

Aber es war uns fast unmöglich, etwas zu genießen,

da alles mit dem roten Pfeffer, dem in Ungarn 50

beliebten Paprika, zu stark gewürzt war. Es brannte

uns im Mund und Hals wie Feuer. Dann ging's weiter

nach der Stadt Tokay. [ ] ln Ungarn sahen wir

sehr viele, sehr hübsche braune Mädchen. Dieselben

trugen ein farbiges Mieder, kurzes Röckchen und bis

an die Knie reichende Husarenstiefel. Wir bekamen

von ihnen massenweise Kufihände zugeschickt, die

wir natürlich erwiderten. Wenn der Zug langsam

fuhr, kamen massenweise Zigeunerkinder und bettelten

um Brot. Oft wurde ihnen ein Stück hinausgeworfen,

und es machte uns Spaû, wie sie sich darum

balgten. Beim Weiterfahren sah ich in der Ferne die

mit Schnee bedeckten Karpatenberge auftauchen.

[…]

Nun erreichten wir die Stadt Munkacs, Die Stadt

            92

liegt am Fuße der Karpaten. Wir mußten dort aussteigen.

Man war ganz steif und wie gerädert vom

langen Sitzen, denn die Bahnfahrt hatte 7 Tage und

Nachte gedauert. Ais unsere jungen Soldaten die

hohen, schneebedeckten, vor Kalte starrenden

~erge sahe.n, verschwand bereits ein großer Teil

ihrer Begeisterung. Mit Sehnsucht dachte ich an

meine nun über 3600 km entfernten Lieben daheim.

Ob ich sie wohl nochmals wiedersehen würde, oder

ob ich in dem Großen Gebirge vor mir mein Grab

finden würde? Die nächste Nacht verbrachten wir in

l'v~assenquartie~en. Am folgenden Morgen bestiegen

wir nochmals die Bahn und fuhren etwa 8 km in das

Gebirge hinein, bis zu dern Dorfe Volocs. Die Ortschaft

bestand aus einigen armseligen Hütten. Dort

stiegen wir aus und kamen in Baracken, um die

nächste Nacht zu verbringen. Da kein Ofen zum

Heizen da war, froren wir schon die erste Nacht

gewaltig. [… ] Die Wände bestanden aus übereinandergelegten

Tannenstämmen. Dazwischen befand

sich Moos, und die Spalten waren mit Lehm verstrichen.

Die Dacher bestanden aus Stroh. Ich hätte

früher nie geglaubt, daßin Europa solche Behausungen

zu finden seien. Einwohner bekam ich keine

zu sehen.

Am folgenden Morgen brachen wir auf. Wir mars~

hiert.en auf einer. Zick~ackStraße einen hohen Berg

hmauf. Dort sah ich die ersten Russen. Es waren

Gefangene, die an der StraHe arbeiteten, alles starke,

groHe Männer. Ihre Mäntel hatten die Farbe von

Lehm. Auf dem Kopfe trugen sie hohe Pelzmützen

ihre Füûe staken in hohen, bis zu den Knien reichenden

Stiefeln. Beim Weiteraufwartssteigen fïng es an,

stark zu schneien, so daßman keine 50 m weit sehen

konnte. Bald sahen wir aus wie Schneemänner. Endlich

führte die Straûe bergab. Das Schneien hörte

auf, wir sahen tief unter uns etwa 20 der elenden

Ha~lser stehen. Das Dorf hießVerecky. Ein Soldat

memte: »Verreck i, das ist noch die Fragel Wir

marschierten weiter und erreichten bald ein ande-

                                    93

res, ebcnso armseliges Dorf. Auf einer Tafe! stand

der Namc: »Also Verecky«. Nun meinte der Soldat:

»Cibt's fûr uns keine Rettung mchr? Dort stehr's:

Also vcrreck i.« Trotz des Ernstes der Situation

rnuûten wir lachen. ln Also Verecky wurden wir

einquartiert. lch ging mil noch einern Kameraden

zu einer dort stehenden üsterreichischen Feldküche

und bat den Koch um etwas Warmes. Der Koch,

obschon er kein Wort Deutsch verstand [irnVielvolkerstaat

Osterreich-Ungarn nur eine Minderheit

deutsch; selbst im osterreichischen Teil der Doppelmonarchie

waren es lediglich rund 36 Prozent], gab

jedem von uns beiden einen Becher sehr guten Tee

mit Rum. Wir dankten und gingen nach der Hutte,

die uns zugewiesen worden war. Dieselbe war aber

derart mit Soldaten vollgestopft, daßwir nicht das

kleinste freie Plätzchen darin fanden. ln den Nachbarhütten

dasselbe Bild.

Ich fragte nun einen der daherkommenden osterreichischen

Soldaten, ob er uns beiden nirgends ein

Unterkommen wülite. Er sagte, wir solIten nur seinen

Fuûstapfen folgen. Wir kärnen nach einer Viertelstunde

zu einer Hütte, die hinter einem kleinen

Tannenwàldchen stehe. Da wir die Nacht nicht

draen im Schnee zubringen woIlten, gingen wir

dahin und erreichten bald unser Ziel. Ich öffnete die

Türe und befand mich in einern Raum, dem ich

keinen Namen geben konnte. Er war Wohnstube,

Stail und Vorratskarnmer. lch war ganz baff, mein

Kamerad ebenfalls. ln der Ecke vor uns standen 2

Kühe; das Wasser derselben lief über den Lehrnboden

bis zur Eingangsr. Dabei hockten zwei halbnackte

Kinder, kratzten den von dem Wasser aufgeweichten

Lehmboden auf und fabrizierten kleine

runde Kügelchen, ähnlich unseren Klickerle [ddeutsch

für Spielkügelchen, Marrneln]. Neben den

Kühen stand eine Ziege an eincn in den Boclen geschlagenen

Pfahl gebunden. Nirgends ein B~tt,

nicht einrnal ein Tisch. An der Wand war ein GesteU

angebracht, das den vier aufeiner Bank Karten spielenden

                                    94

lenden

osterreichischen Soldaten wohl ais Sehlafstelle

cliente. Unter dem Gestel! bernerkte ich den

Kartoffelvorrat der Familie. Aber wie armselig waren

die g-ekleidet! Der Mann lutte zerrissene Stiefel

an, trug das Hemd über die Hosen, wie dies in der

ganzen Cegend üblich war, Über die Schultern hing

ein Sehafpelzmantel, einen derselben Gattung trug

auch die Frau. Der Mann trug einen machtigen Ban

und die Kopfhaare halblang. Der Kopf selbst war

mit einer Pudelkappe bedeckt. Wir beide konnten

gar nicht fertig werden vor lauter Sehauen.

Weder die Soldaten noeh die Bewohner der Hütte

konnten ein Wort Deutsch, und dureh Zeichen gaben

sie uns zu verstehen, Platz zu nehrnen. Ich hing

nun meinen Tornister ab und legte ihn neben den

mächtigen Ofen, der aIs Wärrnespender, Koch und

Backofen diente und wohl ein Viertel des ganzen

Raurnes einnahm. Dann nahm ich den HeIrn ab und

legte ihn auf rneinen Tornister. Klatsch, fiel mir

beim Bücken etwas in den Nacken. Ich griff mit der

Hand hin, und – 0 Schrecken! – Nacken und Hand

waren besudelt von Hühnerdreck. Ich schaute mm

nach oben und gewahrte etwa 10 Hühner, die friedlich

auf an die Balken genagelten Stäben saûen und,

falls sie etwas drückte, ganz gemütlich in die Stube

hinuntersauten. Das war ein nettes Quartier! Aber

immer war es noch besser, als draen im Schnee zu

überriachten. Wir kochten uns im Ofen etwas Kaffee

und alien ein Stück Kommilibrot dazu.

Da wir von dem Marsche ermüdet waren, deuteten

wir an, daßwir schlafen möchten, AIs Schlafstelle

wurde uns das GesteIl angewiesen. Wir legten uns

claraufund deckten uns mit unseren Oecken zu. [... ]

Da es nun dunkelte, nahm der Mann einen langen

Kienspan yom Ofen herunter, steckte ihn zwischen

2 Tannenstämrnen in die Wanel und zünclete ihn an.

Das war die Bclcuchtung. Zwei der Osterreicher legten

sich dann zu uns; die zwei anderen holten einige

Handvoll Stroh, Jcgtcn es auf den Bodcn. Das war

ihre Schlafstelle.leh war Bun gespannt, wo die Fami-

                                    95

lie sich wohl schlafen legen würde.Bald wurde mir

dieses Ratsel gelost. Die Frau kletterte auf den Ofen,

der Mann reichte ihr die beiden Kinder und stieg

dann selbst hinauf. Alle legten sich hin und deckten

sich mit ihren Schafpelzen zu. Von einer Bettdecke

oder Unterlage war nichts zu sehen. Bald schlief alles

friedlich beieinander: wir 2 Deutsche, 4 Osterreicher,

4 Ruthenen [damalige Bezeichnung für die in

Österreich-Ungarn lebenden Ukrainer], 2 Kühe, 1

Ziege und die Hühner. Jedoch etwas wachte, und

zwar ein gefahrlicher Feind: die Lause. Schon in der

Nacht wurde ich dureh das Beißen wach, wubte aber

nicht, daß es Lause waren, da ich vorher noch nie

keine hatte. Am Morgen gingen wir wieder zu unserer

Truppe. Unterwegs biß es mich ganz gewaltig

auf der Brust. lch kratzte drauflos, aber bald bif es

noch mehr. lch knöpfte nun Mantel, Rock, Unterjacke,

Hemd und Finet [UnterhemdJ auf und sah

nun die Urheber des Beißens: Drei Lause, ganz vollgesogen,

saßen auf meiner Brust. Nun zwischen die

Fingernagel, und knacks, hin waren sie. Nun fing es

mich an zu been: auf dem Rücken, an den Beinen

und noch an sonstigen gewissen Korperteilen. Doch

das war nul' ein ganz kleines Vorspiel von dem, was

noch kommen sollte.

Wir erreiehten nun unsere Truppe, die schon zum

Abmarsch angetreten war. Nun horten wir in der

Ferne vor uns Bum-bum-bum – das Artilleriefeuer

an der Front. Mit welchern Unwillen ich weiterrnarschierte,

kann ich niemandem beschreiben. Was erwartete

uns dort? Schnee, Kalte, nachts Draufienliegen,

Lebensgefahr. Wir marschierten nun an einigen

Baracken vorbei, die als Feldlazarett dienten.

leh versuchte es nochmals mit Krankmelden und

ging in die ers te Baracke hinein. Dieselbe lag voll von

Verwundeten und halberfrorenen Soldaten, halb

Deutsche und Osterreicher. Sie waren fast aile graugelb

im Gesicht und sehr niedergeschlagen. Man sah

ihnen an, daß sie sehr viel durchgemacht hatten. lch

meldete mich nun beim Arzte. Er fragte mich

                                    96

barsch, was ich eigentlich wolle. Ich sagte, daß ich an

einem Katarrh litte und sehr entkraftet sei, Da lachte

er mir ins Gesicht und sagte: »Na, mein Lieber, Sie

waren wohl schon im Felde und haben die Nase vol1.

Machen Sie nul' schleunigst, daß Sie raus und zu

lhrer Abteilung kommen! ({Was wollte ich machen?

leh marschierte hinterher und erreichte die Truppe

bei ihrer nächsten Ruhepause. Wir marschierten

wied el' den ganzen Tag bergauf, bergab. Auf der

glatten SO'aße rutschte man oft aus. Ganze Schlittenkarawanen

fuhren an uns vorbei nach vorne, mit

Munition und Lebensmitteln beladen. Zurück kamen

sie leer. Einzelne Schlitten brachten Verwundete

zurück. Gegen Abend erreichten wir wieder

einige Baracken, wo wir die Nacht verbringen sollten.

Man sah, daßder StraJ3e entlang ein Dorf gestanden

hatte. Die Hauser waren bis auf die Erde

abgebrannt, nur die Großen Ofen und die Kamine

standen noch. Auf den verschneiten Bergabhangen

sah man Stacheldrahtverhaue aus dem Schnee hervorragen.

lch sah auch mehrere Bajonette. Ich

fragte nun einen deutschsprechenden Osterreicher,

der zur Barackenwache gehorte, was das eigentlich

zu bedeuten habe. Ererhlte mir, daß an dieser

Stelle hart gekampft wurde. Die Russen seien bis

hier vorgedrungen und mußten sich naeh schweren

Kärnpfen zurückziehen. Untel' dem Schnee lagen

noch viele Tore, die erst im Frühjahr, wenn es taut,

begraben werden können. Nun war es mit dem Mut

der jungen Soldaten, ais sie dies hörten, vorbei. Und

sie machten lange Gesichter.

Am nachsten Morgen ging's dann wieder weiter.

Wir bestiegen nun einen hohen Berg. Oben auf dem

Kamm machten wir eine Ruhepause. An dieser

Stelle befand sich die ungarisch-galizische Grenze.

Die Aussicht von oben war herrlich. Ringsherum die

verschneiten Berge und Schluchten, und an den Abhängen

sah man oft herrliche Tannenwälder. Von

vorne drohnte der Kanonendonner gut vernehmbar

herüber. Nun ging's wieder im Zickzack bergab. ln

                                    97

einer tiefen Schlucht sahen wir ein Geschütz mit

Bespannung liegen. Wahrscheinlich war es auf der

glatten Straße ins Rutschen gekommen, abgestürzt

und hatte die Pferde mitgerissen. ln dem Tai unter

uns war die Haltestelle der Schlitten. Von hier wurde

alles mit Trageseln auf schmalen Saumpfaden nach

der Front geschafft. Wir ging·en nun einer hinter

dem anderen einen solchen Pfad entlang, der in

Windungen um den Berg führte. Wenn uns Tragesel

begegneten, muhten wir uns eng an die Bergwand

drücken, um ihnen das Vorbeikommen zu

errnöglichen, so eng war der Pfad. Endlich erreichten

wir das Dorf Tucholka. Imrner dieselben elenden

Behausungen, dazwischen die dreckigen Bewohner

mit ihren Schafpelzmanteln. Nachdem wir

in Tucholka etwa eine Stunde geruht hatten, muliten

wir in 2 Gliedern antreten. Nun kamen die

Kompaniefeldwebel des 41. und des 43. Infanterieregiments,

und wir wurden den Kompanien zugeteilt.

lch kam mit noch etwa 50 Kameraden zur

7. Kompanie des Infanterieregiments 41. Meine

Adresse lautete nun: Musketier Richert, 7. Kompanie,

Infanterieregiment 41, 1. Brigade, 1. Division,

1.Armeekorps Kaiserlich-deutsche Südarmee.

 

 

 

KÄMPFE UND STRAPAZEN lN DEN

KARPATEN

 

 

Bei Anbruch der Dunkelheit marschierten wir nun

unter Führung der Feldwebel nach der Front. Am

Tage war jene Strecke nicht zu passieren, da sie im

Feuerbereich der russischen Artillerie lag. Wir erreichten

nun das Dorf Orawa, das aus etwa 20 Hütten

und einer Kirche bestand. Die Kirche war mit

Blech bedeckt, und der Turm hatte die Form einer

Kuppel, Das Kreuz auf der Spitze hatte 3 Querbalken,

wovon der untere schrag stand, das Zeichen der

griechisch-katholischen Religion. Das Dorf lag am

                                98

Fuße eines etwa 8 km langen, 1200 m hohen Berges,

welcher die Form eines Daches hatte und stellenweise

sehr steil war. Der Berg hief Zwinin. Die Stellung

der Russen lag den Gipfel entlang. Die Deutschen

hatten sich etwa 200 m tief am Abhang, etwa

1000 m über der Talsohle, eingegraben. Gegen Morgen

wurden wir in die Stellung hinaufgeführt. Der

Schnee lag durchschnittlich etwa 70 cm hoch, in den

Mulden und Schluchten war er mehrere Meter hoch

zusammengeweht. Am Tage war der Verkehr am

Bergabhang unmoglich, da die Russen von einigen

vorspringenden Punkten die Abhange mit Gewehrund

MG-Feuer bestreichen konnten.

Nun kamen wir zu unserer Kompanie. Die Mannschaften

bestanden hauptsachlich aus Ostpreußen,

die einen schlecht zu verstehenden Dialekt sprachen,

und einigen Deutschpolen. [Etwa 10 Prozent

der Einwohner Preuliens geh6rten der diskriminierten

nationalen Minderheit der Polen an.] Bei Tagesanbruch

sah ich, daßfast aIle sehr heruntergekommen

waren und sehr schlecht aussahen. Sie erzählten

uns, wie furchtbar sie hier unter der Kälte zu

leiden haben, und es solle ja keiner von uns wagen,

den Kopf über den Schnee zu heben, denn die Russen,

sibirische Scharfschützen, knallen jeden weg,

der sich zeigt. Da sah ich etwa 30 m vor mir einen

Deutschen den Graben verlassen, um sich den Berg

hinunterzubegeben. Oben knallten einige Schüsse.

Der Mann warf die Arme in die Hohe und stürzte in

den Schnee. Er war der erste 'l'ote von unserem

Ersatz, ein starker, übermütiger.Junge, der während

der Bahnfahrt wohl hundertmal den Gassenhauer

gesungen hatte: »Der Storch, der ist ein Schnabeltier,

er bringt die kleinen Kinder. Er ist aber nul' im

Sommer hier. WeI' besorgt denn die Sache im Winter?

« Nun hatte der arme Tropf ausgesungen. Wie

ich dann horte, wollte er tiefer unten am Abhang

dürre Tannenreiser holen, um sich etwas Kaffee zu

kochen.

Die Ostpreuûen erzählten uns dann, daßsie sch

            99

mehrere Angriffe auf die russische Stellung gemacht

hatten, aber jedesmal mit graßen Verlusten

zurückgeschlagen worden seien. Ihre Toten lagen

noch oben und wurden eingeschneit. Ich hob einen

Moment den Kopf und sah mehrere starre Hande

und Bajonette aus dem Schnee ragen. Auch sah ich

viele Erhohungen im Schnee, worunter die Leichen

der Gefallenen lagen. Das Essen konnte nur des

Nachts geholt werden. Da keine Feldküchehierherkommen

konnte, wurde unten im TaI in kleinen

tragbaren Kesseln gekocht. Bis mm die Essenholer

die 1000 m gestiegen waren, war das Essen erkaltet,

ebenso der Kaffee. Und so bekarn man nul' jeden

dritten Tag etwas Warmes. Wenn die Reihe des Essenholens

an mir war, dann aßich die Portion gleich

unten. Das Kommißbrot war derart gefroren, daß

man kaum mit dem Taschenmesser ein Stück abschneiden

konnte. Ich steckte das abgeschnittene

Stück Brot zwischen Rock und Unterjacke auf die

Brust, um es so auftauen zu lassen. Fast aIle Iitten

infolge der Erkältungen an Leibschmerzen und

Durchfall. Die meisten hatten Blut im Stuhl. Es war

zum Verzweifeln, und nirgends gab es einen Ausweg;

uns drohte entweder der Tod, Verwundung,

Erfrierung von Gliedmaßen oder Gefangenschaft.

Es herrschte eine unglaubliche Mutlosigkeit unter

den Soldaten, und nu r der furchtbare Zwang

machte uns aushalten. Besonders die bitterkalten

Nächte wollten kein Ende nehmen. An Schlaf war

wenig zu denken, denn alles trampelte von einem

Bein aufs andere und schlug mit den Händen um

sich, um sich so etwas zu erwärrnen. Manchmal

schossen die Russen plötzlich mehrere Salven von

oben herab. Da hielten die meisten von uns die

Hände über den Schnee hinaus in der Hoffnung,

einen Handschußzu bekommen und zurück ins Lazarett

zu kommen.

ln besonders kalten Nachten erfroren oft mehreren

Soldaten die Füße, Nasenspitzen und Ohren.

Eines Morgens fand man 2 Horchposten erfroren

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im Schnee. Eines Tages setzte ein furchtbarer

Schneesturm ein. Der Schnee bestand nicht aus

Flocken, sondern aus hartgefrorenen Nadeln. Der

Graben war bald voIlgeweht, und wir mußten dauernd

mit unseren Spaten den Schnee hinauswerfen.

Die Kälte drang uns durch Mark und Bein, und man

_________________

100

im Schnee. Eines Tages setzte ein furchtbarer

Schneesturm ein. Der Schnee bestand nicht aus

Flocken, sondern aus hartgefrorenen Nadeln. Der

Graben war bald voIlgeweht, und wir mußten dauernd

mit unseren Spaten den Schnee hinauswerfen.

Die Kälte drang uns durch Mark und Bein, und man

konnte in dem Cestöber keine 30 Schritte weit sehen.

Dies dauerte 2 voile Tage. Der Verkehr nach rückwärts

war ganzlich unterbrochen, und wir bekamen

nun einige. Tage se~r wenig zu essen. Drei Tage

bekamen WIr gar kem Brot, nur steinharten,österreichischen

Zwieback. Dann gab es mehrere Tage

nul' zu 8 Mann ein Kommißbrot von 3 Pfund pro

Tag. Wir litten in jenen Tagen schwer Hunger und

froren noch mehr.

Eines Tages erhielten wir Schmalz, um es aufs

Brot Zll schmieren. Unser Cruppenführer, Unteroffizier

Will, ein roher Ostpreuûe, machte gleich die

Hälfte für sich in eine Blechbüchse. Die andere

!1alfte wollte er an uns 8 Mann verteilen. Da sagte ich

ihrn, so etwas gehe doch nicht, das Schmalz gehare in

9 gleiche Teile verteilt. Ais er mich noch dazu ans~

11I1a~zte,w~rde ich derart base, daß ich ihm gehöng

meme Memung sagte. Vonjener Stunde an schikanierte

mich der Unteroffizier, wo el' nul' konnte.

Da ich gegen ihn machtlos war, verleidete es mir

noch mehr, und ich nahm mir vor, mich selbst zu

verwunden, um von hier wegzukommen. Zu diesem

Zwecke band ich ein kleines Brettchen vor die Hand.

Das Brettchen sollte die Pulverkorner und den Pulverschleim

auffangen, damit der Arzt beim Verbinden

nicht sehen sollte, dan der Schuf aus nachster

Nähe abgegeben worden war. ln einem geeigneten

Moment wollte ich die Tat ausführen. Ich lehnte das

geladene Gewehr an mein Knie, hielt die Hand mit

dem davorgebundenen Brettchen etwa 20cm vor

den Lauf, falite mit dem rechten Daumen den Abzug,

bif die Zähne zusammen und — schoßdoch

nicht, da mir im letzten Moment der Mut fehlte.

Wir wurden aile von den Läusen sehr gequalt, und

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der Kuckuck wuHte nicht, wo sie aIle hergekommcn

waren. Da es bei der Kälte unmöglich war, sichauszuziehen,

konnten die Lause ungeniert in den Kleidern

nisten und brütcn. Wenn ich vorne an der

Brust bis unter den Arm kratzte, hingen mindestens

vier an der Hand , wenn ich dieselbe herauszog.

Die Kompanie wurdejeden Tag schwachcr, da es

oft Verwundete und viele Schwerkranke gab. Da

bekamen wir eines Nachts ein Bataillon des 43. Regiments

als Verstarkung. Am Morgen kam der Befehl

zum Angreifen. Ich dachte: Unsere Führer sind verrückt,

Angreifen mit uns halbtoten, entkräfteten

Soldaten! Morgens um 10 Uhr ging's los, zum Graben

hinaus. Vorher muliten wir mit dem Spaten

Ausfallstaffeln [provisorisehe Graben, aus denen

heraus der Sturmangriff erfolgte] machen. Kaum

waren wir draen, als es von oben schon zu knallen

anfing. ln dem hohen Sehnee konnte man sehr

schlecht vorwärtskommen. Gleieh stürzten einige

getroffen in den Sehnee. Leiehtverwundete machten

kehrt und liefen in den Graben zurück. Dann,

wie auf ein Kommando, liefen alle zurück in den

Graben. Die Toten und Sehwerverwundeten blieben

liegen, und versehiedene jammerten bis gegen

Abend, bis sie starben.

ln der folgenden Nacht wurden wir endlieh abgelöst

und kamen hinunter in das Dorf Orawa. Wir

waren 16 Tage oh ne Ablüsung oben gewesen. Wie

froh waren wir, uns wieder mal in einer warmen

Stube, auf einem trockenen Boden und zum Sehlafe

ausstrecken zu können! Am folgenden Tage bekamen

wir unsere Löhnung. Wir bekamen für jeden

Tag l Mark Zulage, also l,53 Mark pro Tag. Nach

3 Tagen Ruhe ging's wieder in Stellung, nach 3 Tagen

Stellung wieder 3 Tage in Ruhe und so weiter.

Da, eines 'Lages, gab es plötzlich Tauwetter, ein lauer

Wind strich über die Berge. Der Schnee fing an zu

schrnelzen, und es gab einen unglaubliehen Dreck in

den Cräben. Wir muliten den Graben tiefer machen,

denn je mehr der Schnee schmolz, um so niedriger

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wurde er. Mit der Schneeschmelze kamen auch die

Gefallenen zwischen den Stellungen zum Vorschein,

und es waren viele, die in allen moglichen Stellungen

herumlagen.

 

9. APRIL 1915 – DIE EROBERUNG DES

BERGES ZWININ

 

Am Morgen begaben wir uns vor Tagesanbruch wieder

in Stellung. [... ] Vor dem Aufstieg wurde uns

nicht gesagt, daßwir angreifen sollten, doch wir

ahnten es. Oben angelangt, mubten wir gleich Ausfallstaffeln

graben. Punkt 8 ging's los. "Der Berg

muf um jeden Preis genornmen werden l- lautete

der Befehl. Kaum waren wir zum Graben hinaus, als

oben schon die Russen auftauchten und uns mit

Schnellfeuer ernpfingen. Trotzdem lief und kletterte

alles nach oben. lm Laufen schossen wir unsere

Gewehre nach den sichtbaren Kopfen der Russen

ab. Dadurch wurden sie beunruhigt und zielten

nicht mehr so genau. leh duckte mieh einen Moment

hinter einen Erdhügel. Zur Seite schauend sah ich,

daßdie Deutschen die ganze Lange des Berges angriffen.

Stellenweise hatten sie bereits den Gipfel

erreicht. Es war ein derartiges Geschrei und GeschieHe,

daf man weder die Kommandos noch sonst

etwas unterseheiden konnte. Plötzlich fing ein russisehes

MG an, uns in die Flanke zu schiel3en. Sehr

viele wurden getroffen und stürzten zwischen die

Toten, die bei früheren Angriffen gefallen waren.

An besonders steilen Stellen kollerten die Getroffenen

eine Strecke weit den Berg hinab. Endlich kamen

wir atemlos vor der russischen Stellung an. Einzelne

Russen woJlten sich noch wehrcn und wurden

mit den Bajonetten niedergestochen. Die anderen

hielten ängstlich die Hände in die Höhc oder flohen

rückwarts den Berg hinunter. Die russische Stellung

war nicht stark besetzt gewesen, denn vicie Russen

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waren in den Unterstanden, die sich am Abhang

hinter ihrer Stellung befanden, mit dem Kochen

ihres Frühscks beschaftigt gewesen. Wir gingen

nun bis an den Rand des Berges vor und sahen, daf

den Abhang hinunter alles von Russen wimmelte,

die abwärts flohen. Sie wurden nun massenweise

niedergeschossen. Da der Nordabhang des Berges

ganz kahl war, fanden sie nirgends Deckung. Dieses

Morden war schrecklich anzusehen. Nul' wenigeerreichten

lebend den Fuf des Berges. Manche rollten

300 bis 400 m tief den Berg hinab. An verschiedenen

Stellen lag noch eine Menge Schnee, der vom Winde

zusammengeweht worden war. Die Russen sanken

darin ein bis zum Leib und wurden am schnellen

Fortkommen gehindert, so daßfast aile totgeschossen

und verwundet wurden.

Nun fingen wir an, die Unterstände nach Lebensmitteln

abzusuchen. Ich schob ein Zelt zur Seite, das

vor dem Eingang eines Unterstandes hing, und ging

hinein, prallte aber gleich zurück, denn darin standen

8 Russen, die nicht den Mut hatten zu fliehen.

Sie hielten gleich die Hände hoch. Zwei von ihnen

woIlten mir ihr Geld geben, damit ich ihnen nichts

tue. ln Wirklichkeit war ich froh, daßsie mir nichts

taten. Ich gab ihnen zu verstehen, daßsie hinausgehen

soIlten. Sie wurden von anderen Soldaten in

Empfang genommen und auf den Gipfel des Berges

geführt, wo schon einige hundert Gefangene beisam

men waren. Ich war wahrscheinlich in den Lebensmittelunterstand

einer russischen Kompanie

geraten, denn darin lag ein machtiges Stück Rindfleisch,

eine Seite geraucherter Speck, mehrere Ballen

Butter und eine Menge Zuckerbrötchen in runden

Rollen. Schnell steckte ich Brotbeutel und aIle

Taschen voll Brötchen, schnitt mit meinemTaschenmesser

die Speckseite entzwei und schnaIlte

ein mächtiges Stück unter meinen Tornisterdeckel,

so daßauf beiden Seiten die Enden heraussahen.

Dann schnallte ich mein Kochgeschirr los und

stopfte dasselbe voll Butter. Zum Schluf nahm ich

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noch einige Handvoll Zucker aus einem Sack und

llte damitjedes leere Plätzchen in meinen Taschen

aus. Inzwischen waren noch andere Soldaten in den

Unterstand gekommen, und in wenigen Minuten

war er ausgeräumt. Viele Soldaten hatten nur Brot

und sons tige Kleinigkeiten gefunden. AIs sie meinen

Speck zu beiden Seiten des Tornisters herausragen

sahen, nahmen mehrere ihre Taschenmesser und

schnitten Stücke davon ab. Bald blieb mir nur das

Stück, das unterm Tornisterdeckel war. Es waren

immer noch 10 Pfund, und ich gab einem guten

Kameraden von mir, [... ] Hubert Weiland, der vor

dem Krieg Theologie studiert hatte, ein schönes

Stück ab, ebenso noch kleinere Stücke mehreren

elsässischen Kameraden.

Nun kam der Befehl, alles solle sich auf dem Gipfel

des Berges sammeln. Die Verwundeten, die inzwischen

verbunden worden waren, Deutsche und

Russen, wurden nun auf Zelte gelegt und von den

gefangenen Russen nach Orawa hinuntergetragen.

Eine Abteilung Russen mußte uns helfen, große Löcher

auszuheben; darin wurden die Gefallenen, die

beim Sturm, sowie die, die schon früher ums Leben

gekommenen waren, begraben. Letztere hatten bereits

ein schreckliches Aussehen. Man mußte seinen

ganzen Mut zusammennehmen, um sie herbeitragen

zu helfen.

Wir blieben nun in der russischen Stellung. ln der

Nacht setzte wieder heftiges Schneegestöber ein,

und am Morgen waren Berge, Schluchten und Wälder

wieder in eine weiße Decke gehüllt. Vor uns

befanden sich zwei Berge in Form von Häusern, mit

der Schmalseite gegen uns. Durch die dazwischen

liegende Schlucht sah man in einem Tälchen wieder

einige der armseligen Hütten stehen und im Hintergrund

noch 3 bis 4 Berggipfel, einer höher aIs der

andere. Es wurden nun Patrouillen auf die uns gegenüber

liegenden Berge geschickt, um festzustellen,

ob dieselben von den Russen geraumt seien.

Bald winkten sie von drüben zum Zeichen, daß die

                                    105

Russen weg waren.Wir kletterten nun den Nordabhang

des Zwinin hinunter; wo man hinschaute, lagen

tote Russen. Eingeschneit am Fu Be einer Mulde,

lagen etwa 12 Stück übereinander, die die steile

Mulde hinuntergerollt waren. lm Bach am Fuße des

Berges lagen eine Menge tot im Wasser, mehrere

lehnten noch am Rand. Es war ein trauriges Bild. Die

Russen waren gegen die Kälte viel besser ausgerüstet

als wir. Sie trugen dicke wollene Mäntel mit Kapuze,

auf dem Kopf hohe Pelzmützen, ihre Füfie staken

meist in Filzstiefeln, und ihre Hosen und Westen

waren mit Watte gefüttert.

Wir gingen nun in der Schlucht zwischen den beiden

Bergen vor und warteten die Nacht ab. Bei

Anbruch der Dunkelheit bestiegen wir den rechts

liegenden Berg und hoben in halber Hohe einen

Schützengraben aus. Es war eine kalte Nacht. Ein

Kamerad von mir namens Brüning aus Mühlhausen,

Familienvater, dem es auch sehr verleidet war,

verlangte von mir, ich solle ihm mit dem Kopf meines

Beiles eine Kugel in die Hand schlagen. Er wollte

die Hand auf einen Baumstumpf legen. lch sagte

ihm, daß ich es nicht fertigbrachte. Am Morgen, als

die Sonne aufstieg und wir weit und breit nichts von

den Russen sahen, setzten wir uns hinter den Graben

auf die Tornister, und jeder aû, was er hatte. Plotzlich

ein Sausen durch die Luft und im gleichen Moment

ein furchtbarer Krach. Erde, Schnee, Rauch,

alles wirbelte durcheinander. Eine große russische

Granate hatte kaum 5 m vor unserem Graben eingeschlagen.

Schnell sprangen wir alle in den Graben.

Schon kam die zweite. Sie schlug unter einem MG

ein und schleuderte es hoch in die Luft. Zwei Mann

wurden getatet. Die dritte Granate explodierte dicht

hinter dem Graben, die vierte mitten darin, etwa 7 m

neben mir. Nun war es mir zu bunt. lch sprang aus

dem Graben und lief am Abhang entlang in ein

niedriges Cehölz, das hauptsächlich aus Haselstauden

bestand. Bald war niemand mehr im Graben aIs

die Getroffenen. Nach einer Weile hörte das Schie-

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Ben auf. Wir gingen nun vorsichtig in den Graben

zurück, um nach den Verwundeten zu sehen. Bald

brachten 2 Mann den Brüning; bleich wie der Tod

wankte er daher, streckte die Arme von sich und

rang nach Atem. Verletzungen konnte man keine an

ihm sehen. Plotzlich schof ihm Blut aus dem Mund

und aus der Nase. Er stürzte hin, und nach einigen

Zuckungen war cr tot. Durch den Luftdruck der

neben ihm platzenden Granate war ihm die Lunge

geplatzt. Sieben Tote lagen noch im Graben, mehrere

bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Wir legten aile

in eines der groHen Granatl6cher und deckten sie

mit Erde zu. Dann befestigten wir mit Weiden zwei

Stäbe in Form eines Kreuzes und steckten dasselbe

auf das Grab.

[… ] ln der dritten Nacht verlieBen wir den Berg,

überschritten ein schmales 'TaI und gruben uns jenseits

des Tales ein. Die Russen lagen uns gegenüber

auf einem langgestreckten Berg, der höher war aIs

der unsrige. Am Tage mußten wir standig sitzen

oder liegen, da die Russen von oben in unseren

Graben hineinschießen konnten. Der Abhang vor

uns war mit mannshohem Gebüsch bedeckt. Eines

Abends beim Dunkelwerden stand ich Posten, paßte

aber nicht auf und plauderte mit den Kameraden.

Plotzlich stand ein Russe vor uns auf dem Grabenrand,

das Gewehr in der Hand. lch glaubte, es kamen

noch viele, und schlug mein Gewehr gegen ihn

an. Da hielt er die Hände in die Höhe und sprang in

den Graben zu uns. Es war ein Überläufer, der wohl

schon genug hatte am Krieg. Wir gaben ihm Zigaretten.

Wie glücklich der Mensch war, mm sein Leben

in Sicherheit gebracht zu haben! [… ]

Am 2. Mai horten wir ganz in der Ferne das

dumpfe Grollen der Geschütze. Es war der Durchbruch

der deutschen Armee durch die russische

Stellung bei Corlice-Tarnow. Am 4. Mai hatte ich

Geburtstag, ich war nun 22 Jahre aIt. Nachmittags

fing der Russe mit Schrapnells unseren Graben zu

beschießen an. Wir hatten Bretter über den Graben

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gelegt und oben mit Erde bedeckt, um uns gegen die

Schrapnells LU schützen. Wir standen zu 5 Mann

darunter. Plötzlich ein Sausen, ein Blitz, ein Knall,

ich erhielt einen Schlag auf den Kopf und war besinn

ungslos. Ais ich wieder zu mir karn, drehte sich :llles

im Kreise. Ich lag halb mit Bretterstücken und Erde

zugedeckt im Graben. Aufdem Kopfe hatte ich eine

mach tige Beule, und im Gesicht untel' dem reehten

Auge hatte ich die Haut abgeschürft. Einer der vier

Kameraden Iag tot im Graben. Ein anderer lehnte

sitzend an der Grabenwand, hing den Kopf vornüber

und stöhnte leise. Beim Zusehen bernerkte ieh,

daI:\ el' ein Sprengstück in den Rücken erhalten

hatte. Ich schrie nach den Sanitätern, aber niemand

kam, denn jeder duckte sich in irgendeine Ecke im

Graben. AIs ich mich nach einer Weile wieder naeh

ihm umsah, war el' tot. Von den beiden anderen sah

ich keine Spur; wahrscheinlich waren sie weggelaufen.

Später erfuhr ich, daßmein guter Kamerad

Weiland, der eine Brille trug, leicht verwundet worden

war. Die Brillengläser, von Erdschollen zertrümmert,

staken ihm unterhalb der Augen im Gesicht.

Wir bekamen dort sehr wenig Verpflegung, und

da meine Beute vom Zwinin langst aufgezehrt war,

litt ich wie aIle anderen schweren Hunger. Eines

Tages wurden wir etwa 10 Mann ~urück nach d:m

Zwinin geschickt, um von den russischen Unterstanden

Bretter zu holen; damit soIlten wir unserem

Kornpanieführer einen Unterstand bauen. Am Zwinin

angekommen, sahen wir, daJ3 die Russen noch

unbeerdigt umherlagen. Ihre Kopfe waren schwarz

und ganz dick, der ganze Korper überhaupt derart

aufgedunsen, daßdie Uniform prall ausgefüllt war.

Wir suchten nun nach etwas EGbarem. Ich sah

meine Kameraden Brotkrusten, die im Dreck lagen,

auflesen sie im Ouellwasser waschen und essen. Vor

mir lag ~in Rus~ auf dem Rücken, den Ruck.sack

hatte el' noch aufgeschnallt. Ich sah, daßel' emen

Brustschuf erhalten hatte. Ich schnitt nun mit einem

Taschenmesser die Riemen durch, zog den Rucksack

108

unter ihm hervor, scnitt ihn auf und fand ein

Säckchen Zucker und ein großes Stüek Brot. Jedoch

war sein Blut durch den Rueksack und das Brot

gesickert. Aber mein Hunger war ~lerart, daß ich das

mit Blut besudelte Stüek wegschnitt und das andere

ali. Wir suehten dann noch weiter, Emden aber

nichts mehr. Wir nahmen jecler ein Brett und gingen

zurück zu unserer Kompanie. Wie wir clann erfuhren,

sind am Zwinin im ganzen 12000 Mann auf

deutscher Seite gefallen.

            BEGINN DER GROSSEN OFFENSIVE

                   IM MAI 1915

Am 5. Mai 1915 verlieGen wir unsere Stellung und

marschierten in einem kleinen Tale hinter der Front

entlang nach Osten. Dort wimmelte alles von friseh

angekommenen osterreichischen Truppen. Es hieû,

daßdort die russische Front durchbrochen werden

müûte. Die Russen hatten ihre Stellung hier ebenfalls

dern Karnm eines Berges entlang. Uns graute

var dern Angriff, cloch cliesmal hatten wir mehl'

Glück; wir blieben in Reserve. Wir lagen in Deckung

gegen Sieht in einem Tannenwaldchen. A~ 7: Mai

morgens ging der Tanz los. Einige osrerreichische

Gebirgsbatterien beschossen die russische Stellun?

Bald ging die deutsch-osterreichische 1nfante~le

zum Sturm vor. Furchtbar prasselte das Infanterieund

Maschinengewehrfeuer. Dazwischen hörte man

das Krachen cl~r Schrapnells und Granaten. Wir

konnten dern Verlauf des Karnpfes zusehen. Wir

sahen, dafi viele Getroffene hinter den emporkletternden

Deutschen und Osterreichern liegenblieben.

Trorzdern erreichten sie den Gipfel, und bald

wurden groHe Kolonnen russischer Gefangener den

Berg hinabgeführt. Aber der Karnpf dauerte fort,

ein Zeichen, daßauf derjenseitigen Seite des Berges

die Russen noch Widerstand leisteten.

            lO9

Nun hießes: »Antreten, vor rùckenl- Wir sam melten

uns am Walclrand; plotzlich schlug eine russische

schwcre Granate rnitten in den Haufen Soldaten

und tötete und vcrwundete über 40 Mann. Vor

Sehrecken liefen wir aile auseinan der. Es kamen

noch mehr Granaten, sie flogen aber aile über uns

hinweg. Wir muûten uns aufs neue sammeln und

kletterten nun den Berg hinauf; zwischen der deutsehen

Stellung und clem Gipfel lagen eine Menge

Toter und Verwundeter von unserer Seite. Die Verwundeten

baten mu Hilfe. Wir muliten aber weiter.

Deutsche Sanitater und Arzte waren mit Hilfe russiseher

Gefangener bemüht, die Verwundeten zu verbinden

und wegzuschaffen.

ln der russischen Stellung lagen eine Menge toter

Russen, die fast aile Stichwunden hatten. Am hinteren

Bergabhang lagen überall zerstreut ebenfalls gefallene

Russen, dazwischen auch einige Deutsche.

An einer Stelle sah ich eine vollstandige russische

Schützenlinie tot liegen. Manche hatten noch den

Spaten in der Hand, um sich einzugraben, andere

lagen da, das Gewehr noch im Anschlag. Sie waren

wahrseheinlich mit einem MG niedergemäht, Die

Russen hatten hinter ihrer Stellung eine richtige

Schweinerei, nirgends sah man eine Latrine. Daher

konnte man kaum passieren, ohne in Menschenkot

zu treten.

Wir erreichten die zu verfolgenden Truppen erst

auf der Höhe des nachsten Berges. Die Russen hatten

dort auch eine starke Reservestellung gebaut,

aber keine Zeit mehr, Widerstand zu leisten. Nun

ging die Verfolgung los. Den ganzen Tag ging's

bergauf, bergab hinter den Russen her. Irnrner wieder

kamen einzeln oder in kleinen Gruppen die Russen

freiwillig zu uns, urn sich zu ergeben. Die hatten

wohl auch übersatt an dem Kriege.

Da es heiû war, loschten wir unseren Durst am

klaren Quellwasser, von dem es eine Menge gab. Mit

dern Essen war es mau, denn jeder harre nur ctwa

1Pfund Konservenfleisch und 1Sackchen Zwieback

               110

d. h. die eiserne Portion. Sie darf nur auf Befehl des

Kompanieführers angegriffen werden. Hungrig

verbrachten wir die Nacht oben auf einern Berge.

Bei Tagesanbruch ging es wieder weiter. Vorher

durften wir die halbe Büchse Fleisch essen und

einige Zwieback.

Gegen Mittag wurden etwa :20 Mann, darunter

auch ich, auf den vor uns liegenden Berg geschiekt,

um Umschau zu halten. Kaurn hatten die ersten die

Bergspitze err eicht, ais sie sofort zu schieûen begannen

und uns zuriefen, schnell heraufzukommen.

Von dern Berggipfel sah ich eine tiefe Schlucht unter

uns. Sie wimrnelte von Russen, die sich auf dem

Rückzug befanden. Wir sehossen nun hinunter, was

'lUS den Gewehren ging, und mehrere Russen stürzten

zu Boden. Dann warfen aile die Gewehre weg

und hielten die Hände in die Hohe. Da wir unsere

Schwàche nicht zeigen wollten, blieben wir gedeckt

liegen und erwarteten die Ankunft des Bataillons.

Die Russen muûten sich nun sammeln und wurd en

zurückgeführt. Es waren über 700 Mann. [… ] Das

Cebirge war hier sehr wild und zerrissen. Nirgends

Weg und Steg, noch weniger eine menschliche WohlIung.

Unaufhaltsam ging es weiter. lnfolge des beschwerlichen

Bergauf- und Bergabsteigens und des

Mangels an Lebensmitteln wurden wir sehr müde

und schlapp, aber trotzdern ging es weiter bis zum

Anbruch der Nacht. Nun afien wir den Rest unserer

l.ebensmittel und schliefen im Walde.

Am nächsten Morgen ging es mit hungrigem Magcn

wieder vorwärts; wir kletterten einen Bergabhang

hinab, ais wir plötzlich von dern uns gegenüber

Iicgenden Berge starkes Infanteriefeuer bekarnen.

I,um Glück gab es bei uns mehrere gro[.)e Felsen,

hinter denen wir Deckung fanden. Es war wohl die

russische Naehhut, die den Rückzug ihrer Armee

decken sollte. Balel knallten zahlreiche Schüsse, die

von deutschen Abteilungen karnen, und die Russen

/Ogen sich zurück. Nachdem wir mm den Berg, auf

rlcrn die Russen vorher lagen, erstiegen hatten, er-

                                    111

blickten wir zu unserer angenehmen Überraschung

ein schönes TaI. [… ] ln der Ferne konnte man die

abziehenden Russen mit bloBem Auge sehen. Die

Straße war, so weit man sehen konnte, mit ihren

Kolonnen bedeckt. Wir stiegen nun in das Tai hinunter,

und der Straße folgend, kamen wir bald in das

Städtchen Skole. Da wir durch den Hunger sehr

geplagt waren, ging es auf die Suche nach Lebensmitteln.

Bald wurde eine Quelle entdeckt. Am Stra

Benrand standen zwei Baracken, die mit russischem

Brot und Lachsfischen angefüllt waren. Sie wurden

nun im Sturm genommen. An den Eingängen gab es

ein unglaubliches Cedränge. Bald sah man überall

Soldaten umhersitzen und -liegen, mit einem Großen

Stück Fisch und einem russischen Brot, tapfer

draufloskauend. Wir verbrachten die nächste Nacht

in Skole. [… ] Beim Weitermarschieren am nächsten

Morgen kamen wir bald zu Hindernissen. Die Russen

hatten am Abhang mach tige Tannen abgesagt

und quer über die Straße geworfen. Sie mußten von

uns weggeraumt werden.

Infolge der ungleichmäfiigen Verpflegung litt ich,

wie viele andere, an starkem Durchfall. Die Disziplin

bei den Ostpreuûen war trotz der Strapazen und des

Elends derart groB, daßman je des mal auf dem Marsche

die Vorgesetzten fragen mulite, um austreten

zu dürfen. lch fragte meinen Zugführer, Unteroffizier

Will, um die Erlaubnis. Da er mich immer noch

hte, schickte er mich zum Kompanieführer, ich

solle denselben fragen gehen. Dieser aber ritt an der

Spitze des Bataillons. Ich fragte nun nochmalsUnteroffizier

Will um die Erlaubnis. Und da es mir

unrnöglich war, langer zu warren, ging ich aus der

Kolonie, legte Tornister, Gewehr und Koppelzug

auf den Straûenrand und begab mich in das neben

der Straße stehende Cebüsch. ln demselben Moment

hief es für die Kolonne hait, da vorne wieder

Hindernisse auf der Straûe waren. Unser Kornpanieführer,

ein schrecklich grober Mensch, kam nun

von vorne zu seiner Kompanie geritten, und als er

                                    112

meine Sachen am Stralienrand liegen sah, schnarrte

er: »Wern gehoren die Sachen hier?" Ich schrie aus

dem Gesch: »Mir, Musketier Richertl  »Nun

kommen Sie mal her!« schrie er. Ich brachte meine

Kleider in Ordnung, ging hin und stand still vor ihm.

»Haben Sie um die Erlaubnis gefragt, austreten zu

dürfen?«  »Jawohl, den Unteroffizier Will«, gab ich

zur Antwort. Unteroffizier Will, kommen Sie mal

her l« sagte der Oberleutnant. »Hat dieser Mann Sie

um Erlaubnis gefragt, austreten zu dürfen?« Der

Unteroffizier Will, der hier eine Gelegenheit sah,

mir eins auszuwischen, log nun: »Nein, HerrOberleutnant!

«  "Sie frecher, gemeiner Lürnmel!«

brüllte mich nun der Oberleutnant an. »Ich bestrafe

S~e mit 5 Tagen strengem Arrest wegen Begens

emes Vorgesetztenl« Ich wollte nun dem Oberleutnant

melden, daf es mindestens 20 Mann geh6rt

haben müssen, ais ich Unteroffizier Will um Erlaubnis

fragte. Kaum tat ich den Mund auf, ais er schon

den Arm mit der Reitpeitsche erhob und schrie:

»Wollen Sie die Schnauze halten!« Ich platzte fast

vor Wut, war aber vollständig machtlos. Das war die

e:ste Strafe, die ich nun in meiner damais bald 2jahngen

Militärdienstzeit erhielt. Ich war mehrere

T~ge derart aufgebracht, daßich nur mit gröûtern

Widerwillen meinen Dienst versah.

Da keine Zeit um Absitzen, auch keine Arrestlokale

vorhanden waren, wurden die Bestraften mit

Stricken irgendwo an einen Baum oder ein Wagenrad

gebunden. Zwei Stunden Angebundensein

loschte jedesmal einen Tag Arrest aus. Aiso soUte ich

10 Stunden angebunden werden [eine damais in

allen europaischen Armeen übliche Militarstrafe].

Eine schöne Aussicht, zurnal wenn ich daran dachte

was ich alles schon für diese Preußen ausstehen und

durchmachen mubte. Einen Großen Trost brachte

mir ein Brief aus der Heimat mit der Mitteilung daf

es meinen Lieben gutgehe, alles gesund sei und sie

trotz der Nähe der Front zu Hause bleiben könnten.

Beim Weitervormarschieren kamen wir zum Ge-

                                    113

birge hinaus und sahen vor uns die weite galizisehe

Ebene. Alles grünte und blühte, und wir waren sehr

froh, endlich das schreckliche Gebirge hinter uns zu

haben. Über die weite Ebene blickend, dachte wohl

jeder, ob er wohl dort irgendwo sein Grab finden

würde. Leider wurde dies r die rneisten der FaU.

Wir passierten mehrere Dörfer, ohne auf Russen zu

stolien. Die Bauart der Hauser war etwas besser als in

den Karpaten. Die Bauern liefen auch hier mit dem

Hemd über der Hose herum, und die Weibsleute

waren auch hier unsauber. Mit verwunderten Blikken

sahen sie uns an, denn wir waren wahl die ersten

Deutschen, die sie zu sehen bekamen. Sprechen

konnten wir mit ihnen kein Won, da sie dort polnisch

sprechen. Einmal ging ich in ein Haus, um Eier

zu kaufen. Ich zeigte der Frau 6 Finger und gackene

wie ein Huhn. [… ] Alles half nichts, sie wollte mich

einfach nicht verstehen. Ais letztes Mittel zeigte ich

mein Portefeuille, aus welchem ich einen Geldsehein

zog. Das half. Die Frau langte einen Korb aus der

Ecke und gab mir 6 Eier. Sie verlangte »1 Kuronna «,

daßheiût 1 öster reichische Krone, die den Wert von

80 Pfennig hatte. Ich gab ihr 1 Mark. Ich bekam

noch 2 Eier mehr, anstelle der 20 Pfennig.

Am folgenden Tage hörten wir links von uns dauernd

Kanonendonner, woraus wir erkannten, daf

die Russen unseren Vormarsch aufhalten wollten.

Machtige Rauchwolken stiegen in die Hohe, Dorfer

brannten. Des Nachts war der Himmel über jener

Gegend blutig rot. Am folgenden Tage ging es wieder

weiter. Wir waren ganz kaputt yom vielen Laufen

und sehnten uns nach einem Ruhetag. Auf einmal

knallten vor uns Scsse. Eine Kavalleriepatrouille

kam zurückgesprengt mit der Meldung, daf

sie auf kleinere russische Abteilungen gestoHen sei.

Nun schien es bald wieder ernst zu werden. Wir etwa

20 Mann wurden mit einem Leutnant vorgeschickt,

um den vor uns liegenden Wald abzusuchen. Wir

fanden jedoch keinen einzigen Russen. Yom jenseitigen

Waldrand sahen wir ein Dorf. Mehrere Häuser

                                114

waren mit Ziegeln bedeckt, andere mit Blech und

Schindeln. Am Waldrand entlang zog sich eine

Schlucht von etwa nur 5 m Tiefe. Wir legten uns an

den Rand der Schlucht und beobachteten das Dorf.

Aber nirgends war ein Russe zu sehen. Auf einmal

kam ein Russe in gestrecktem Galopp um eine Biegung

der Schlucht gesprengt. Wir schlugen sofort

die Gewehre auf ihn an. Er warf die Lanze weg, hielt

beide Hande hoch, und ohne die Zügel zu halten,

sprengte er zu uns. Dann schwang er ein Bein über

den Hals des Pferdes, sprang herunter und ergab

sich. Wir muûten aile staunen über diesesReiterkunstsck.

Wir deuteten dem Russen, bei uns zu

bleiben, und er schien recht zufrieden damit.

Da kam ein Bauer aus dem Dorfe, der auf dem

Felde arbeiten wollte. Wir riefen: »Panje, Moskali?«

Das hießungefahr: »He rr, sind noch Russen dort?«

Der Mann antwortete auf gut deutsch: »Nein, vor

einer halben Stunde sind die letzten weg.« Er erzählte

uns, d letzte Nacht das Dorf voller Russen

gewesen sei, und soviel er verstehen konnte, wollten

sie sich in der Gegend verteidigen. Für uns war das

kein angenehmer Bericht. Das Dorf hief Bergersdorf

und war nur von Deutschen bewohnt. Nachdem

der Leutnant einige Mann mit der Meldung

zum Bataillon geschickt hatte, begaben wir uns ins

Dorf, freudig begrüHt von der Einwohnerschaft. Da

wir alle sehr heruntergekommen waren und ein

schlechtes Aussehen hatten, bedauerten uns die

Leute und gaben uns zu essen: Milch, Brot und was

sie sonst hatten. Nach der Ankunft des Bataillons

muûten wir jenseits des Dorfes einen Schützengraben

bauen, mitten durch ein Kartoffel feld. Die Bewohner

des Dorfes schlachteten nun auf Gemeindekosten

ein Schwein, kochten Sauerkraut und Kartoffeln

dazu und brachten uns dieses Essen in den Graben.

Wie das schmeckte! Das war wieder einmal etwas

anderes aIs das ewige Einerlei der Feldküche.

»Morgen ist Ruhetag!- hief es.

Wir schliefen in einer Scheune. Am Morgen

                                115

brachten uns die beiden Töchter des Hausbesitzers

gekochte Milch. Es waren zwei hübsche, sehr

freundliche Madchen, und ich unterhielt mich tagsüber

oft mit ihnen. Am Nachmittag kam ein Unteroffizier

zu mir und sagte, ich solle in einer halben

Stunde an den im Hofe stehenden Apfelbaum gebunden

werden. Den Strick müsse ich selber besorgen.

Ich hätte vor Wut die ganze Welt zertrümmern

können. Nach etwa einer halben Stunde nahm ich

meinen Gewehrwischstrick [Kettenschnur zum Reinigen

des Gewehrlaufs] aus meinem Tornister und

wollte mich damit bei dem Unteroffizier melden. Da

liefen die Kompaniemelder im Dorfe umher und

riefen: »Sofort alles fertigmachen, es geht weiter!«

Obwohl wir ahnten, daß es nun bald zu einem Zusammenstof

mit den Russen kommen würde, war

ich doch wie erlöst, diesmal noch von der Schande

des Anbindens losgekommen zu sein.

Wir marschierten einige Kilometer durch einen

Wald bis an den jenseitigen Waldrand. Dort übernachteten

wir. ln der Nacht hörten wir vor uns dauernd

Infanteriefeuer. Einzelne Kugeln kamen bis zu

uns geflogen. Es war eine sehr schone, laue Mainacht,

und das Schlafen im Freien war gar nicht so

übel. Gegen Morgen mußten wir vorgehen und kamen

durch ein großes, ganz mit Heidekraut bewachsenes

Celände. Dort hatten österreichische Tru ppen

einen Graben aufgeworfen, den wir nun besetzten.

Bei Tagesanbruch sah ich, daß vor uns in etwa 800 m

Entfernung ein mit jungen Tannen bewachsener

Wald lag, der im Halbkreis die Heide einsaurnte.

Rechts von uns knatterte plotzlich starkes Infanteriefeuer.

Dort war bereits ein Gefecht im Gange. Wir

blieben tagsüber ruhig im Graben liegen. Am Abend

lief der Kornpanieführer die Unteroffiziere zu sich

kommen und sagte ihnen, daßeine Patrouille von

2 Mann – wenn möglich aktive Leute, die bis jetzt

den ganzen Feldzug mitgemacht hatten – nach

vorne gehen müsse, um auszukundschaften, wo sich

die Stellung der Russen befinde. Mein Unteroffizier

                                        116

meldete, daß sich ein solcher Mann in seiner Gruppe

befinde. So wurden ich und ein Badenser namens

Brenneisen vorgeschickt. Wir gingen an den vorne

liegenden Horchposten vorbei, und ich fragte, ob sie

das Losungswort wüHten, nicht daßsie bei unserem

Zurückkommen auf uns schießen. [… ] Wir schlichen

mm vorsichtig weiter, legten uns wieder hin

und lauschten in die Nacht hinaus. So ging es langsam

weiter und weiter. Um die Richtung festzustelien,

lutte ich einen Kompaß mit leuchtender Spitze

bei mir. Brenneisen wollte noch weiter vor, ich

zwang ihn aber, sich ne ben mich ins Heidekraut zu

legen, und sagte: »Mensch, bedenke doch, daß du

cine Mutter hast. Was kannst du hier vorne finden?

1Iöchstens den Tod!« Er antwortete leise: »Aber wir

müssen doch die Meldung bringen, wo die Russen

licgen!« – »LaS mieh nur machen. Für eine Meldung

werde ich schon sorgen.« Dann blieben wir ruhig

licgen. Plotzlich hörten wir links von uns das Heidehaut

rascheln und gleich darauf ein leises Flüstern.

Wir brachten leise unsere Gewehre in Anschlag, und

irh raunte Brenneisen ins Ohr, wenn möglich nieht

1.\1 schießen. Da tauchten 8 Russen neben uns auf.

Vorsichtig spahend gingen sie kaum 20 Schritt vor

IIIIS vorüber, sahen uns aber nicht. Wir hielten den

Atem an, aber das Herzklopfen konnten wir nicht

Iwschwichtigen. Ruhig liegenbleibend lauschten wir

ill die Naeht hinaus. Da hörten wir deutlieh in dem

Walde Klopfen, dann den Sehall von Àxten. Es war

111111 kein Zweifel mehr, die Russen bauten am Waldr.

md vor ihrer Stellung ein Drahthindernis. [… ]

Vorsichtig gingen wir nach etwa 2 Stunden zurüc.

k. Bald schallte uns das »Haltl Wer da?« der

Ilorehposten entgegen. Wir sagten >,Helene« und

konnten passieren. lm Graben angekommen, gingCI!

wir gleich zum Kompanieführer, der in einer

Vcke lag und schlief. Ich weckte ihn und meldete:

..Patrouille zurück l- Er stand auf und fragte: »Nun,

W;IS gibt's Neues vorne?« Ich erzählte ihm nun: »Wir

srhlichen bis an den vor uns liegenden Waldrand

                                    117

var. Wir stießen beinahe mit einer 8 Mann starken

russischen Patrouille zusamrnen, die uns aber nicht

bemerkte. Wir legten uns hin und hor ten, wie die

Russen Baume fällten, Pfahle spitzten und in den

Boden schlugen. Auch hörten wir Drahtrollen knirschen,

zum Zeiehen, daßdie Russen vor ihrer Stellung

ein Drahthindernis bauten. Wir schliehen 50

nahe an die Russen heran, daß wir sie gut sprechen

hörten. lm Zurüekgehen schritt ich die Entfernung

ab, welche von unserer Stellung bis an den Waldrand

ungefahr 800 m betragt.« Mit dem letzten Teil der

Meldung belog ich den Kompanieführer in der

Hoffnung, daßer mir die 5 Tage Arrest schenke. AIs

ich gemeldet hatte, klopfte er uns beiden auf die

Sehultern und sagte: »Sie haben die Patrouille

schneidig ausgeführt. lch bin mit Ihnen sehr zufrieden.

Wie heißen Siei'. Wir nannten unsere Narnen.

»Richert? Riehert? Sind Sie nicht der Mann, den ich

mit 5 Tagen strengem Arrest bestrafte '  »[awohl,

Herr Oberleutnant«, gab ich zur Antwort, »So «,

sagte er, »für die schneidige Ausführung der Patrouille

ist Ihnen die Strafe geschenkt. Andernfalls

hatten Sie das Eiserne Kreuz erhaltenl Ich hatte

erreieht, was ieh wollte, und mit dem Angebundenwerden

war's vorbei. Der Oberleutnant ließgleich in

der Nacht die Gruppenführer zu sich kommen und

gab ihnen den Befehl, sämtlichen Soldaten der

Kompanie bekanntzugeben, mit welcher Bravour

ich und Brenneisen die Patrouille ausgeführt hatten.

Von jener Naeht an konnte mieh der Oberleutnant

gut leiden. Sonst war er ein ganz gefahrlicher, grober

Mensch und in der Kompanie sehr gefürchtet.

Einmal sah ieh, wie er einem Soldaten, einem älteren

Mann, ins Gesieht schlug, daßer aus der Nase blutete.

Ein anderes Mal hörte ich, wie er Verwundete,

die vor Schmerzen jammerten, » Kindskopfe« und

»feige Memmen« schimpfte.

Gegen Morgen verlielien wir den Graben, gingen

nach rechts über die Heide dem Walde zu. Gleich am

Waldrand befand sich ein Forsthaus, bestehend aus

                                        118

Wohnhaus und Stallung. Bei dem Haus und in dessen

Nähe lagen viele deutsche Soldaten, die tags

zuvor bei einem Zusammenstoû mit den Russen gefallen

waren. Wir blieben den ganzen Tag im Walde

liegen. Eine 6 Mann starke russische Patrouille lief

aufuns zu und muhte sich gefangen geben. Es waren

starke Kerle, wahrscheinlich aus Südostsibirien,

denn sie waren gelbbraun im Gesicht, hatten etwas

schiefliegende Augen und hervorstehende Backenknochen

(mongolische Rasse).

 

                            26.MA11915

Dm Mitternacht kam der Befehl, leise im Walde

vorzurücken, bis wir Feuer kriegten. Dann hinlegen

und eingraben. Die Nacht war dunkel, und manchmal

stießman an Baume. AIs wir 50 etwa 300 m

zurückgelegt hatten, blitzte es kurz VOl' uns auf, und

es knallten uns Schüsse entgegen. Wir legten uns

hin, bildeten so ungefahr Linien und gruben uns

ein. Es war keine leichte Arbeit bei der stockfinsteren

Nacht, in dem mit Wurzeln durchzogenen Boden.

Schlieûlich brachte ich ein Loch zustande, legte mich

hinein und schlief. Es war immer ein unangenehmes

Gefühl, so in einem grabahnlichen, kühlen Loch zu

liegen, besonders da man immer den Tod zu erwarten

hatte.

AIs ich erwachte, war es bereits heller Tag. Da kam

ein Befehl, der mich immer mit Grauen erfüllte:

»Fertigmachen, Seitengewehr aufpflanzen, vorwärts!

« [... ] Mit Hangen und Bangen ging's nun

vorwärts, Vorsichtig spähten wir nach vorne, konnten

aber nichts entdecken. Da kamen wir an Draht,

der nur von Baum zu Baum gezogen war. Wir korinten

leicht hinüberkommen. Der Wald bestand hier

hauptsächlich aus Großen Buchen und Eichen, der

Boden war mit niedrigem Brombeergebüsch bedeckt.

Sosehr ich au ch nach vorne spähte, ich konnte

                                    119

von einer russischen Stellung nichts sehen. Plotzlich

krachte kaum 50 m vor uns eine Salve. Maschinengewehre

rasselten, kurz, es war ein ununterbrochenes

Knallen. Die Wirkung dieses Feuers war infolge der

kurzen Entfernung furchtbar. Gleich die erste Salve

streckte etwa die Hälfe von uns tot oder verwundet

zu Boden. Die Unversehrten warfen sich ebenfalls

hin, und jeder suchte sich sa schnell wie moglich

einzugraben. Aber viele wurden bei dieser Arbeit

getroffen. Dann lag fast alles still, und die Russen

hörten so ziemlich auf mit SchieI3en. Das Jammern

und Stöhnen der armen Verwundeten war schrecklich

anzuhören. Ich hatte mich ebenfalls bei der ersten

Salve sofort zu Boden geworfen und war hinter

den machtigen Stamm einer Eiche gekrochen. Ein

Badenser, der etwa 3 m seitwärts von mir lag, bekam

einen Schußschräg durch die linke Wange. Er kroch

zu mir hinter die Eiche, stand auf, nahm den Taschenspiegel

und besah sich seine Wunde. »Es ist

nicht schlimrn«, sagte er zu mir, »ein Heimatschuû.«

So nannten wir die leichten Verwundungen. Auf

einmal blickte er starr vor sich, warf die Hände in die

Höhe, wankte. Das Blut schoßihm zu Mund und

Nase hinaus, und er stürzte auf den Rücken quer

über mich, mich mit seinem Blut ganz bespritzend.

Ich rollte ihn von mir hinunter; ob er noch einen

Schußerhalten hatte oder infolge der Verwundung

im Gesicht gefallen war, konnte ich nicht feststellen,

da ich mich fast nicht zu rühren wagte. Es fiel mir

auf, daßmehrere Kugeln von der Seite knapp über

mich zischten. Ich hob ein wenig den Kopf und sah,

daß die russische Stellung schräg lief. Ich konnte

nun feststellen, wie raffiniert sie gebaut war. Der

Graben war mit Brettern bedeckt, darauf lag Erde,

die wieder mit Laub überstreut war. Auch hatten die

Russen Straucher daraufgesteckt, um so die SteUung

fast ganz unsichtbar zu machen. Ihre Schießscharten

waren nur kleine, runde Löcher knapp über dem

Waldboden. Nun durchschlug eine Kugel meinen

Tornisterdeckel und ging quer durch meinen Wäschebeutel

                                    120

Wäschebeutel.

Ich dachte, mm jeden Augenblick von

einer Kugel durchbohrt zu werden, und rief mehr

Heilige an, als im Himmel sind. Ich sah, daßich

hinter der Eiche nicht mehr liegenbleiben konnte,

zog den Tornister vom Rücken, erhob ein wenig den

Kopf und sah etwa 3 m rechts von mir eine kleine,

etwa 20 cm tiefe Vertiefung, ungefahr in der Lange

cines Mannes. Ich kroch, platt auf die Erde gedrückt,

ganz langsam nach der Vertiefung, vorsichtig

das Rütteln des niedrigen Brornbeergestrauches

vermeidend. Meinen Tornister zog ich am Riemen

nach. ln der Vertiefung befand sich nasses, faules

l.aub und Schlamm. Ich legte mich nun auf die Seite

und scharrte es mit den Handen aus dem Loch nach

vorne, nahm dann meinen Spaten heraus und grub

Illich im Liegen tiefer ein. Durch die hinausgewor-

Iene Erde wurden die Brornbeersträucher ins Rüt-

1 cln gebracht, und schon zischten Kugeln knapp

über mich hinweg. Bald war ich so tief, daßich vollst.

indig gedeckt war. Ich lag nun ruhig im feuchten

Loche. Von der rechten Seite streckte ein Toter

se-ine Beine bis ans Loch. [… ] Links etwas hinter mir

w.ilzte sich ein Pole vor Schmerzen hin und her,

srhreckliche J ammertone ausstoûend. Er hatte bei

der ersten Salve einen Bauchschuf erhalten. Dann,

.rls er sich am Boden vor Schmerz krürnrnte, schlug

ihm ein Querschlager 4 Finger der rechten Hand

wcg, eine weitere Kugel zerplitterte ihm das Kinn. Es

war fürchterlich, 50 etwas mit anzusehen. Trotz der

Iurchtbaren Verwundungenjammerte und stöhnte

der bedauernswerte Mensch bis ungefähr 3 Uhr

nachmittags, bis er durch den Tod von seinen

Schmerzen erlöst wurde. Ein Leichtverwundeter

karn von hinten nach vorne gekrochen; ich dachte,

cler Mensch sei verrückt. Da sah ich, daßer seinen

1 ornister holen woUte, den er nach seiner Verwundung

vor dem Zurückkriechen abgehängt hatte. ln

<fun Moment, ais er nach dem Tornister griff, traf

ihn eine Kugel in die Stirn. Er sackte hin und rührte

sich nicht mehr.

                            121

Ich lag nun den ganzen 'l'ag im Loche, ganz aUein.

Ich wußte nicht, lcben noeh welche oder niemand

mehr. Es war sehr unheimlich, denn ich fürehtete,

die Russen kärnen und körmten mieh in rneinem

Loche niederstechen. Zurn Glüek blieben sie jedoch

im Graben. Ich bekarn nun sehr star ken Hunger,

nahm meine eiserne Portion und aßsie ganz auf. Ich

dachte, beim Dunkelwerden zurückzukriechen und

einem Toten die eiserne Portion aus dem Tornister

zu nehmen. Ich meinte, dieser Tag kormte kein

Encle mehr nehmen. Gegen Abend horte ich eine

Stimme halblaut rufen: »Hopp, hopp, ist clenn niemand

mehr da P. Die Stimme karn kaum 3 m rechts

von mir. Ich gab leise zur Antwort: »Doch, ich bin

hier, der Richert.« Wir fingen nun an, im Knien

einen kleinen Graben zu unserer Verbindung zu

graben, und in einer Stunde waren wir beisammen.

Es war mir viel wohler, wieder bei einem Mensehen

sein zu können. Nach und nach machten sieh noeh

andere bemerkbar, und alle traehteten danach,

dureh Auswerfen von kleinen Graben die Verbindung

gegenseitig herzustellen.

Da keine Vorgesetzten zu hören und zu sehen

waren, nahm ich mir vor, bei Anbrueh der Dunkelheit

nach hinten zu verduften. AIs ich mich eben

anschickte auszukneifen, raschelte es hinter uns im

trockenen Laub. Wir bekamen das Infanterieregiment

222 zur Verstärkung. So leise wie moglich gruben

wir die kleinen Graben tiefer. Doeh rnuûten wir

uns oft ducken, da die Russen uns arbeiten horten

und lu stig drauflosknallten. Endlieh war der Graben

fertig. Ieh machte mir nun mit Hilfe von dürren

Asten, die ich zerbraeh, in den nach vorne aufgeworfenen

Erdhaufen eine Schieûscharte, um 50, werm

ctwas vorkommen sollte, gedeckt schießen zu können.

Von meiner Gruppe, die aus 8 Mann und einem

Unteroffizier bestand, waren nur Petersen und Niederfellmann,

2 Westfälinger, die erst kürzlich zum

Regiment gekommen waren, und ich übriggeblieben

                                122

Die Hälfte mui.\te nun wach bleiben und Posten

stehen. Die andere Hälfte, darunter auch ich, saß

oder lag im feuchten, kalten Graben und schlief.

Plötzlich ging eine Schießerei los, und es hien: »Die

Russen komrnen l- Ich sprang schnell auf, schob

mein Cewehr durch die Schießscharte und knallte,

ohne etwas zu sehen, in das Dunkel hinaus. Auch die

Russen, die wahrscheinlich glaubten, daßwir angreifen

wollten, schossen, was aus den Gewehren hinausging.

Auch warfen sie Handgranaten, die kurz vor

unserem Graben mit Iautern Krach zersprangen. Petersen,

der keine Schießscharte gemacht hatte, schof

nun über den Erdhaufen hinweg, Auf einmal sah

ich, daßer nicht mehr neben mir stand. Mich umdrehend,

sah ich seine Gestalt im Graben kauern. Ieh

schrie: »Petersen, Mensch, schief cloch!" Und

knallte weiter. Da Petersen sich nicht erhob, glaubte

ich, er habe wegen der über uns zischenden Kugeln

Angst zu schießen. Ich stießihn mit der Hancl an den

Kopf, ihn nochrnals aufforclernd, zu schießen. Zu

meinem Schrecken blieb meine Hand an seinem blutenden

Kopf kleben. Ich griff in meine Tasche und

holte meine Taschenlampe hervor. Petersen saf zusammengesunken

tot im Graben; eine Kugel hatte

ihm die Stirne durchbort, und das Blut lief ihm über

Gesicht und Brust hinab. AIs die Schieûerei nach

einer Weile aufhörte, hoben ich und Niederfellmann

den toten Petersen zum Graben hinaus und

legten ihn hinter dem Graben auf den Waldboden.

Da die Nacht nun ruhig verlief, setzte ich mich auf

den Grabenboden, um zu schlafen. Niederfellmann

sagte: »Ich lege mich hinter dem Graben auf den

Waldboden. Ich habe Deckung genug durch den

aufgeworfenen Erdwall.« Dann zündete er seine

Pfeife an und legte sich neben den toten Petersen.

Bei Tagesanbruch lag Niederfellmann anscheinend

noch schlafend mit cler Pfeife im Munde da. Ieh

wollte ihn wecken und sagte, er solle dochjetzt in den

Graben kommen, vielleicht könnte el' doch von den

Russen gesehen werden. Trotz meines Rufens und

                                    123

Rüttelns rührte er sich nicht. Beim näheren Zusehen

stellte ich Fest, daf er tot war. Eine Kugel, die die

Spitze des Erdwalles durchschlagen hatte, hatte ihn

von der Seite ins Herz getroffen. Ohne den geringsten

Schmerz zu spüren, war er im Schlafe gestorben.

Er hatte nun alles Elend hinter sich, und ich

beneidete ihn beinahe. Von meiner Gruppe war ich

nun alleine übriggeblieben. Infolge der eben erlebten

schrecklichen Ereignisse war ich sehr niedergeschlagen.

 

                    27. MAI 1915

AIs es hell wurde, sahen wir VOl' der russischen Stellung

eine grone Tafel stehen. Darauf stand auf

deutsch geschrieben: »Ihr dummen deutschen

Schweine, Italien gehtnun auch mit uns!« Es war der

Tag nach dem Eintritt Italiens in den Krieg. Da es

nachmittags sehr hein war und keiner nichts Trinkbares

bei sich hatte, litten wir sehr Durst. Da sah ich,

dan die Soldaten rechts von uns jeder einen Becher

Wasser bekamen. Sie sagten, dan etwa 100 m rechts

eine Mulde bis an unseren Graben heranreiche,

darin konne man gedeckt zurück und im Brunnen

beim Forsthaus Wasser holen. Ich nahm nun mehrere

Kochgeschirre mit. VOl' der Stallung des Forsthauses

lag eine ganze Reihe Schwerverwundeter, die

den heiben Sonnenstrahlen ausgesetzt dalagen. Die

armen Menschen dauerten mich sehr. Sanitäter wal'en

damit beschaftigt, sie auf Tragbahren einzeln

wegzutragen. Da hörte ich leise, mit schwacher

Stimme, meinen Namen rufen. Ich schaute mich um

und erkannte den Unteroffizier Will, meinen frühel'en

Feind, durch dessen Schuld ich unschuldig

5 Tage Arrest bekommen hatte. »Richert, geben Sie

mir um Gottes willen etwas Wasser!« stöhnte er. Ich

ging zum Brunnen. [… ] Das Wasser war sehr unappetitlich

und hatte einen fauligen Geschmack. 

                            124

Wahrscheinlich hatten die Russen ihre Kochgeschirre

dort gespült und das Wasser wieder in den

Brunnen geleert. Ich ging nun zu Will, kniete neben

ihm nieder, hob mit der Hand sein en Kopfund gab

ihm zu trinken. Er trank mindestens einen Liter

dieses schlechten Wassers. Ich sah nun, daß el' einen

Brustschuf erhalten hatte. »Danke, Richertl- sagte

el' dann matt, und ich legte seinen Kopf wieder zurecht.

Ich brachte es nicht fertig, auch nur ein Wort

mit ihm zu reden. Ich füllte nun meine Kochgeschirre

und ging durch die Mulde gedeckt wieder in

den Graben. Alle wollten Wasser haben. Ich gab aber

nur den Soldaten, die links und rechts von mir den

Graben besetzt hielten.

Am folgenden Morgen kam der Befehl, alles, was

zurn Regiment 41 gehüre, solle sich durch die Mulde

zurückziehen und sich beim Forsthaus sammeln.

Wir verlieBen nun den Graben und die im Wald

umherliegenden toten Karneraden, die noch nicht

Iwerdigt waren. Wir sammelten uns, die Kompanie

w.ir noch 30 Mann stark, 126 waren geblieben. Wir

niarschierten etwa 2 km zurück und karnen nach

«iuern kleinen Dorf, wo die Feldküche auf uns waru-

t e. Der russische Kavallerist, den wir bei Bergersdorf

gefangen hatten und der bei der Feldküche

mithelfen mußte, konnte sich ein höhnisches Li-

.hcln nicht verwehren, als er unsere zusammengeschmolzene

Kompanie sah. Wir bekamen nun zu

('sscn, und es hien, heute sei Ruhetag. Nach dem

l'.sscn war Lühnungsappell. Es war se hl' traurig dalni;

der Feldwebel verlas manchmal6 bis 10 Namen,

worauf sich niemand meldete. Wir Übriggebliebe-

11('11 meldeten dem Feldwebel, was wir von dem

Schicksal der Zurückgebliebenen wuûten: tot oder

vr-rwundet. Diejenigen, von denen keiner Bescheid

wu lite, wurden als vermilit eingetragen. Von 30 Ta-

~~('JI bekam ich 46 Mark und noch 20 Mark Beuteg('

ld von den früher eroberten russischen Kanonen

und Maschinengewehren.

lch mach te es mir bequem, zog Stiefel und

                            125

Strümpfe aus, wusch Fübe, Arme und Kopf, boite

eine Welle Stroh aus einer Scheunc und legte mich

an die Sonne. Ich konntejedoch nicht whig licgenbleiben,

denn die Lause qualten und bissen mich

schrecklich. lch zog nun das Hemel aus, und die Jag-d

begann. Es waren zweierlei Lause: großerc und ganz

winzig kleine, die nur wie ein rotes Pünktchen aussahen;

jene waren die gefahrlichsten. Dann legte ich

mich wieder hin und schlief ein. Gegen Abend kam

der Befehl: »Sofort fertigmachen, antreten!« Mit

der Ruhe war es nun vorbei. Wir marschierten los,

kamen in der Nacht in einem kleinen Dorf an und

verbrachten die Nacht in einer Scheune. Am nächsten

Morgen war Feldgottesdienst. Wir bekamen die

allgemeine Absolution, das sichere Zeichen, daß wieder

ein Gefecht in Aussicht war. Die Regimentsmusik

spielte mehrere Stunden, und am Nachmittag

bekam unsere Kompanie über 100 Mann Ersatztruppen

aus Deutschland, alles junge Soldaten, die

noch nicht im Felde gewesen waren. Beim Anbruch

der Nacht legten wir uns wieder in der Scheune

schlafen. Um Mitternacht wurden wir geweckl. Es

war Post angekommen. Ich bekam eine Karte, nahm

meine Taschenlarnpe und las: »Irn Auftrag Ihres

früheren Kriegskameraden August Zanger teile ich

Ihnen mit, daßderselbe an der Lorettohohe von

einer Granate getroffen wurde und auf den Tod

verwundet hier im Lazarett liegt. Krankenscbwester

Soundso; Reservelazarett Schladern an der Sieg

(Rheinland).« Ich war durch die Nachricht sehr niedergeschmettert.

War doch August außer meinen

Angehörigen seit unserern Beisammensein an der

Westfront mir der liebste Mensch auf der Welt. So

einen braven, treuen Kameraden fand ich nicht so

bald.

Mitten in der Nacht muhten wir abmarschieren.

Vor uns in noch ziemlicb weiter Entfernung hörten

wir Kanonendonner. Von Zeit zu Zeit hörten wir den

Abschuf eines sehr schweren Geschützes. Nach einigen

Kilometern kamen wir an einem osterreichischen

                            126

30-cmGeschütz vorbei; die mächtigcn Geschosse

wurden mittels eines Krans geladen. Der

Abschuf aus nachster Nahe krachte derart, daß man

fast zu Boden {log. Bei Tagesanbruch kamen wir in

ein Dorf, in dem cine Menge dcutsche Batterien

schul3fertig standen. Vor dem Dorfe muûten wir

cine IVI uldc in cincrn Wcizcnfcldc besetzen. Keiner

wuf3te, was eigentlich los war, Plötzlich krachte eine

furchtbare Artilleriesalve der deutschen Batterien,

das Trommelfeuer setzte ein. Es war ein furchtbares

Krachen und Sausen in der Luft. Von vorne tönten

die Explosionen der Granaten zurück. Bald kamen

ais Antwort russische Schrapnells, einige Mann wurden

verwundet. Wir hockten am Boden und hielten

die Tornister über die Kopfe. Die jungen Soldaten,

die hier die Feuertaufe erhielten, zitterten wie

Espenlaub. Nun kam der Befehl zum Vorgehen. Das

russische Artilleriefeuer verstummte. Auf der Rohe

angekommen, sahen wir die russische Stellung in

etwa 600 m Entfernung an einem Wald rand entlang.

ln Schützenlinien ging es nun im Laufschritt vorwarts.

Die russische Stellung war fast unsichtbar im

Rauch der krepierenden Granaten und Schrapnells.

Auf einmal wurde es bei der russischen Stellung

lebendig. Erst einzeln, dann immer mehr und zuletzt

scharenweise kamen die russischen Infanteristen zu

lins übergelaufen, die Hande in die Höhe hebend.

Sie zitterten alle heftig, infolge des furchtbarenArtilleriefeuers,

das sie aushalten mußten. Unsere Artillerie

verlegte nun ihr Feuer in den Wald, und wir

kamen ohne Verluste in die russische Stellung. Der

Boden l'und um den Graben war von den Granaten

allfgewühlt, auch lagen zerrissene russische Soldaicn

in cler Stellung herum.

Da kam der Befehl: »Infanterieregirnent 41 bleibt

ill Reserve!« Wir blieben nun liegen, andere Bataillone

gingen vor, und bald hörten wir von vorne

heftiges Infanteriefeuer, das sich langsam entfernte.

Wir mubten nun nachrücken, erreichten denjenseitigen

Waldrand, der sich auf einem Abhang hinzog.

                                    127

Var uns breitete sich die Ebene von Stryi aus. Das

ganze Gelände war von vorgehenden deutsehen und

österreichisehen Schützenlinien überstreut. Dazwisehen

sah man Kolonnen russischer Gefangener, die

zurückgeführt wurden. Überall sah man SchrapneUs

und Granaten platzen. lm Hintergrunde lag

die Stadt Stryi. Dureh die BeschieBung waren dort

mehrere Brande ausgebrochen, und gewaltige

Rauchwolken stiegen gegen den Himmel. Rechts

von Stryi leisteten die Russen zähen Widerstand.

Links der Stadt hatten sie ein Dorf stark besetzt,

welches sie ebenfalls tapfer verteidigten. DieSchützenlinien

schwenkten nun nach rechts und links, um

die Russen von der Flanke zu fassen. Die entstande

ne Lüeke mußte nun unser Regiment ausfüllen; es

ging direkt gegen die Stadt var. Aus einigen Fabriken

bekamen wir heftiges Infanteriefeuer, und wir

waren gezwungen, uns einzugraben. Einige Batterien

nahmen nun die Fabriken untel' Feuer, und die

Russen zogen sieh zurück. Ich muûte mit einer

8 Mann starken Offizierspatrouille vorgehen, um

nachzusehen, ob die Russen die Stadt geraumt hatten.

[… ) Die Russen waren versehwunden und die

Stadt von ihnen frei. Die Einwohner brachten uns

Weckehen [kleine Brötchen], Zigaretten und sa weiter.

Ein alter Jude stellte sieh var mieh und sagte:

»Wir haben gebeten zu Gatt dem Gereehten, daH el'

möchte geben den Deitsehen den Sieg.« Sofort ging

er ins Gesehaftliehe über, langte in die Tasche, halte

ein Päckchen Tabak hervor und sagte: »Kaifen Sie,

gnadiger deutseher Herr, guten, sehr guten russisehen

Tabak, nicht taier, billig, billig.« Ich sagte ihm,

daß ich fast nie rauehte. Trotzdem lief er mir noeh

eine Streeke weit naeh, mieh immer quälend, ihm

doeh den Tabak abzukaufen. [… )

Wir hofften nun, in Stryi wenigstens einen Ruhetag

zu bekommen. Leider vergeblich, denn bei der

Ankunft des Regiments verliehen wir sofort die

Stadt und marschierten naeh links, wo wir am Stra-

Benrand lagerten. Eine deutsche Batterie Feldartillerie 
                                          128

fuhr neben uns auf und schof in die Ferne auf

die abziehenden Russen. Gleieh eine der ersten Granaten

platzte VOl'der Mündung des Rohres. Zwei

Kanoniere wurden dureh die Splitter getötet.

Die nächste Naeht verbrachten wir im Straûengraben.

Am folgenden Morgen ginges wieder vorwärts.

Wir kamen durch eine waldreiche Gegend. Wir marschierten

auf einer guten Strafie; da es sehr heif war

und nirgends ein Tropfen Wasser, litten wir entsetzlichen

Durst. Endlich karnen wir zu einem Brunnen,

der in der einsamen Gegend hart an der Straûe

stand. Alles stürzte darauf los, um seinen Durst zu

Ioschen. Aber welche Enttäuschung erlebten wir!

Die Wasserflache war mit Teer übersehwemmt, den

die Russen in den Brunnen geworfen hatten. Auberdem

schauten zwei Knochen eines verendeten Pferdes

zum Wasser heraus.

Trotzdem wir den ganzen Tag marschierten, sahen

wir keinen einzigen Russen. Wir kamen nun

wieder in eine fruchtbare Gegend, die mit Dörfern

übersät war. Weiter vor uns sah ieh ein Stad tchen

liegen. Ieh nahm nun eine Karte, auf der die Gegend

genau aufgezeiehnet war (ich hatte die Karte einem

toten Feldwebel abgenommen), und stellte fest, daf

es das am Flusse Dnjestr gelegene Stad tchen Zurawno

sein mußte. Der Dnjestr flofi von Westen nach

Osten, und da wir von Süden nach Norden marschierten,

bildete der FIuH für uns ein gefahrliches

Hindernis. Es war daher bestimmt zu erwarten, dan

uns die Russen den Übergang verwehren würden.

ln der Nacht besetzten wir das Städtchen. Es wurde

gemunkelt, dan am foigenden Morgen der Übergang

über den Flun erzwungen werden müsse.                     
                                  129

ÜBERGANG UND KÀMPFE AM DN]ESTR

 

einer hölzcrnen Brücke überquert, die von den Russen

jedoch abgebrannt worden war. Jenseits des

Flusses befanden sich Wiesen in etwa 200 m Breite.

Dann erhob sich ein langgestreckter, steiler Felshügel

von ungefähr 80 m Höhe; die Russen hatten

3 Schützengràben dort angelegt: einen am oberen

Rand, einer befand sich, in die Felsen gesprengt,

am Abhang und der dritte unten am Fuße des

Hügels.

Hinter einer Hecke gedeckt, beobachtete ich mit

dem Glase des Unteroffiziers die russische Stellung.

Es schien mir unrnoglich, daß dieser Übergang ohne

ungeheure Verluste auszuführen sei. Da ich absolut

kein Verlangen danach hatte, zu ersaufen oder auf

eine sonstige Art den vielgerühmten Heldentod zu

erleiden, beschloßich, mich zu drücken. Mit einem

Kameraden, einem Rheinländer namens Nolte,

schlich ich von der Kompanie weg. Wir beide versteckten

uns hinter einem Hause in einem Holzwellenhaufen

und warteten der Dinge, die da kommen

sollten. Morgens, etwa um 8 Uhr, fing plötzlich die

deutsche Artillerie an, mit allen Kalibern die russischen

Graben mit Granaten und Schrapnells zu

überschütten. Ich schaute um die Hausecke und sah,

daß der von den Russen besetzte Felsenhügel einem

Vulkan glich. Überall zuckten Blitze und schossen

Rauchwolken in die Luft. Bald war der ganze Hügel

in schwarzen Granatenrauch eingehüllt. Einige ganz

in meiner Nahe platzende russische Schrapnells

zwangen mich, meinen Beobachtungsposten zu verlassen

und hinter dem Hause Deckung zu suchen.

Nach etwa einer Stunde mischte sich in den Kanonendonner

Gewehrgeknatter, welches uns sagte,

daß der Angriff der Infanterie begonnen hatte. Da

die russische Artillerie dauernd das Stadtchen Zurawno

beschoß, wagte ich nicht, das schützende

Haus zu verlassen und den Verlauf des Kampfes zu  
                                           130

beobachten. Nach etwa einer weiteren Stunde flaute

das Feuer ab, und es wurden ganze Kolonnen russischer

Gefangener zurückgeführt. [… ] Am folgenden

Morgen marschierten wir beide nach vorne, um

unsere Kompanie wieder aufzusuchen, denn es

wunderte uns sehr, wie es den Kameraden beim

Angriff ergangen war. Die deutschen Pioniere hatten

bereits wieder eine Brücke über den Dnjestr

gebaut, die stark genug war,jede passierende Last zu

tragen. Gleich jenseits des Flusses lagen tote deutsche

Infanteristen auf den Wiesen herum. Man war

eben damit beschaftigt, sie zu begraben. Sie wurden

meist in die von der vorgehenden Infanterie gegrabenen

Schützenlocher gelegt und mit Erde zugedeckt.

»Was meinst du, Richert«, sagte mein Karnerad

zu mir, »wenn wir uns nicht gedrückt hatten,

wären wir vielleicht auch dabeil-

Von der Brücke führte eine Straße über die Wiesen

durch einen tiefen Einschnitt auf den vor uns

liegenden Felsenhügel. Gleich rechts von der Straße

lagen etwa zehn tote Deutsche dicht beisammen;

mehrere hatten das Gesicht schrecklich verzerrt und

hielten noch in der starren Hand eine Handvoll Gras

oder Erde, die sie im Todeskampf ausgerissen oder

ausgekratzt hatten. ln einem der Gefallenen glaubte

ich einen Kameraden meiner Kompanie zu erkennen.

Um mich zu vergewissern, ging ich zu ihm hin,

nahm ihm das Soldbuch aus der Tasche und stellte

l'est, daß ich mich geirrt hatte. AIs ich mich wieder

bückte, um ihm das Buch wieder in die Tasche zu

stecken, sah ich, daß seine Kleider ganz von Läusen

wimmelten, die sich von dem toten, kalten Körper

geflüchtet hatten und sich auf den Kleidern sitzend

in der Sonne wärrnten. Dasselbe war bei allen dort

liegenden Gefallenen zu konstatieren. Wir gingen

weiter. ln den am Felsenhügel gebauten russischen

Stellungen sah es auch schrecklich aus. Von Granaten

zerrissene russische Soldaten lagen umher, zer-

Ietztes Gebüsch, losgebrochene Felsstücke und Erdschollen

bedeckten den Boden. Auch sah ich dort                                       
                                      131
Granatlöcher in der Graße eines Zimmers, die wahrscheinlich

von den Geschossen der osterreichischen

30-cm-Motorgeschütze herrührten. Wir marschierten

mehrere Kilometer nach vorne. Da sahen wir auf

einer NebenStraße eine kleine Abteilung von etwa

30 Mann anmarschieren, geführt von einem Leutnant.

»He, warten Sie mal!« rief er uns an. Wir blieben

stehen. Der Leutnant fragte, woher und wohin.

Wir sagten, wir seien von unserer Kom panie abgekommen

und im Begriffe, dieselbe aufzusuchen.

»Kenne das schon l- schnauzte er uns an. »Ihr seid

ebensolche verdammten Drückeberger wie diese

Bande hier!« Wir mußten nun in die Kolonne eintreten,

und vorwärts ging's. Der Leutnant lieferte uns

am Abend bei der Kompanie ab, die eben dabei war,

einen Schützengraben an einem Waldrand auszuheben.

Ich dachte, daß wir gehorig ausgeschimpft werden

würden, aber wir hatten diesmal verhältnisrnä-

Big Glück. Die Nacht verbrachten wir im Schützengraben.

[… ] Von den Kameraden erfuhr ich, daf

die Kompanie beim Kampfe am Dnjestr etwa 30

Mann verloren hatte. [… ]

Da der Graben nur schwach besetzt war, bekamen

wir osterreichische Jager zur Verstarkung. Einige

Mann wurden zurückgeschickt, bei der Feldküche

Kaffee und Brot zu empfangen. Wir waren eben

nach ihrer Rückkehr damit beschaftigt, unseren

Kaffee zu trinken und Brot zu essen, aIs plotzlich

sehr starkes russisches Artilleriefeuer einsetzte. Ihr

Ziel war unser Graben, und sie schossen gut. Wir

waren vollständig überrascht, ließen unsere Kochgeschirre

fallen, ergriffen unsere Gewehre und Iegten

uns dann auf die Grabensohle. Durch dicht vor dem

Graben einschlagende Granaten wurden mehrere

Mann verschüttet. Ohne Großen Schaden genommen

zu haben, wurden sie aber wieder von den Erdmas

sen befreit. Ein österreichischer J äger, der neben

mir lag, stand auf, um nach vorne Ausschau zu

halten. Kaum hatte er den Kopf über dem Graben,

aIs er schrie: »Die Russen kommen!« Alles sprang  
                                 132

auf. Sofort sah ich mehrere russische Schützenlinien,

die im Laufschritt auf uns zukamen. Wir eröffneten

ein prasselndes Schnellfeuer auf sie. lch sah

gleich mehrere stürzen. Aber es bildeten sich neue

Schützenlinien. Wir sahen uns einer erdrückenden

Übermacht gegenüber. Die russische Artillerie belegte

unseren Graben nun mit starkem Schrapnellfeuer.

Viele von uns hatten nicht mehr den Mut zu

schießen und duckten sich in den Graben. Andere

wurden getroffen. Ebenso der neben mir stehende

österreichische J ager. Er erhielt eine valle Schrapnelladung

in Kopf und Brust und war sofort tot. Die

Russen, die immer sprungbereit gegen uns anstürmten,

waren schon ziemlich nahe gekommen. Da sah

ich, wie bereits einige von uns nach hinten aus dern

Graben hinauskletterten und ihr Heil in der Flucht

suchten. Da ich kein Verlangen hatte, von diesen

halbkultivierten Russen aufgespießt zu werden, verlieD

ich, gefolgt von meinem Freund, dem Rheinländer

Nolte, ebenfalls den Graben. Die Russen sandten

uns eine Menge Kugeln nach, doch mit wenigen

Sprüngen waren wir durch das Gebüsch gedeckt

und ihren Blicken entschwunden. Zu unserem

Glück ging's im Walde bergab, so daßwir gegen

Infanteriegeschosse gedeckt waren, die nun durch

die Kronen der Baume zischten. Die Schrapnells,

deren Kugeln in den Wald niederprasselten, waren

Iür uns gefahrlicher. lm Laufschritt suchten wir aus

ihrem Bereich zu kommen. AIs ich mich umsah,

gewahrte ich, daßuns die ganze Grabenbesatzung

Iolgte. Die Verwundeten, die nicht mehr Iaufen

konnten, kamen in russische Gefangenschaft. Wir

liefen hinter dem Wald an einer Batterie Feldartillerie

vorbei. Der Batterieführer schrie, was denn eigcntlich

los sei. »Die Russen sind durchgebrochen!«

.mtworteten wir. Worauf er die Batterie aufprotzen

licb, um weiter zurück wieder das Feuer aufzunehmen.

Hinter uns hörte das lnfanteriefeuer nun ganz

.urf, zum Zeichen, daßdie Russen uns nicht direkt

n.ichfolgten, während rechts von uns der Kampf
        
                            133
noch in vollen Gange war. Ein ununterbrochenes

Geknatter der Infanterie und der Maschinengewehre

tonte vom Dorfe zu uns herüber. Etwas weiter

zurück, bei Zurawno, gewannen wir die Straûe, die

mehrere Kilometer zurück über die Dnjestrbrücke

führte. Bald wimmelte die ganze SUaBevonzurückgehender

deutscher Infanterie. Die russische Artillerie

nahm nun die Straße unter Feuer, und wir

waren gezwungen, über die Felder zurückzugehen.

Jeder lief, wie er wollte, und auf Komrnandos wurde

überhaupt nicht mehr gehort.

So langte ich müde, keuchend, naBgeschwitzt wieder

ob en auf dem Felsgel am Dnjestr an, wo die

Russen ihre alten Stellungen hatten. Mein Plan war,

so schnell wie möglich die Dnjestrbrücke zu überschreiten,

um den Fluf zwischen mich und die Russen

zu bringen. Doch der Soldat den kt, und der

Offizier lenkt! Mehrere Offïziere hielten uns an und

gaben den Befehl zum Halten und Sammeln. Ich tat,

als hörte ich nichts, denn zu gerne hätte ich mich

über die Brücke in Sicherheit gebracht. AIs mich

jedoch ein Offizier mit erhobener Pistole anschrie,

zu halten oder —, blieb mir nichts anderes übrig,

aIs mich der angesammelten Truppe anzuschließen.

ln aller Eile mußten wir eine Schützenlinie bilden

und uns eingraben. Wir sollten die Russen, wenn sie

bis hierher vordringen würden, aufhalten, bis die

Ietzten von uns die Brücke passiert hatten. »Wir

müssen uns, wenn nötig, für unsere Kameradenaufopfern!

« Iautete der Befehl. »Herrgottsakra «,

meinte ein neben mir liegender Bayer, »dösmal

geht's für uns schiefl Vor uns befand sich in etwa

500 m Entfernung ein Wald. Aus demselben stromten

nun die Truppen zurück, die rechts von uns

ebenfalls zum Rückzug gezwungen wurden. Verschiedene

Soldaten trugen ihre verwundeten Karneraden

auf dem Rücken zurück. Auch sah ich einen

ungarischen H usaren, der einen schwerverwundeten

deutschen Infanteristen aufs Pferd hob, um ihn

vor der Gefangenschaft zu bewahren
                               134

Nach etwa einer Stunde kamen nur noch einzelne,

meist Leichtverwundete, aus dem Walde und an uns

vorüber. Sie sagten, daßdie russische Infanterie

nicht mehr weit sei. Von Russen war immer noch

nichts zu sehen. Da auf einmal wurde es vor uns am

Waldrand lebendig. Scsse krachten, und die Kugeln

pfiffen uns unheimlich um die Ohren. Die Russen

kamen aus dem Walde hervor, immer schieHend

auf uns ZU. Wir antworteten, was aus den Gewehren

hinausging. Da kam der Befehl: »Zuck, marschmarsch!

« Das lieû sich keiner zweimal sagen. So

schnell wie moglich sprangjeder aus seinem Loche,

um hinter dern Abhang in Deckung zu kornrnen. Ein

vor mir laufender Soldat stürzte mit lautem Aufschrei

getroffen auf das Gesicht,jedoch keiner nahm

sich Zeit, sich 1ßchihm umzuschauen, noch viel weniger,

ihm zu helfen. Jeder hatte nur den einen

Gedanken, über die Brücke das rettende Ufer zu

erreichen. So kletterten, rutschten und sprangen wir

den steilen Abhang hinab und 50 schnell wie mëglich

über die Wiesen nach der Brücke. Dieselbe war von

Granaten halb auseinandergerissen, doch gelangten

fast aIle heil hinüber. AIs die russischen Infanteristen

oben auf dem Felsenhügel anlangten, waren wir

bereits hinter den Hausern von Zurawno in Dekkung.

Die Bcke wurde nun von unseren Pionieren

gesprengt. Bei Anbruch der Dunkelheit verlieûen

wir das Stad tchen und marschierten nach einern

etwa 5 km weiter zurückliegenden Dorfe. VieJe

Flüchtlinge aus Zurawno begleiteten uns, die ihre

notwendigsten Habseligkeiten mitschleppten. Vor

dern Dorfe trafen wir auf unsere Kompaniefeldküche,

so daf wir unseren Hunger stillen konnten.

Es waren wieder neue Ersatzmannschaften aus

Deutschland gekommen, die nun in die Kompanie

verteilt wurden. Nachher wurden die Kriegsartikel

verlesen, von welchern jeder endete: »Wird mit

Zuchthaus bestraft. Wird mit dem Tode bestraft.«

Nichts aIs bestraft und wieder bestraft. Diese Kriegsartikel

wurden nur verlesen, um dem Soldaten

                                   135

seine Willenlosigkeit und Ohnmacht den Vorgesetzten

gegenüber vor Augen zu führ en. Nachher

muhten wir vor dem Dorfe einen Feldweg entlang

eine Schützenlinie mit 1rn Abstanc! bilden und uns

eingraben. [… ] Am folgenden Tage blieben wir an

derselben Stelle liegcn. Es sprach sich unter den

Soldaten herum, daßdie Russen auf das diesseitige

Ufer des Flusses gelockt werden sollten. Die deutschen

Flieger und die Artillerie sollten dann im

Rücken der Russen die Übergange zerstoren, worauf

wir angreifen sollten und sie gefangennehmen.

Die Russen warenjedoch zu schlau, um in die Falle

zu gehen; nur kleinere Abteilungen setzten über

den Flub. Die Hauptmacht besetzte wieder die drei

übereinander liegenden Stellungen am Felsenhügel

jenseits des Flusses. Von unseren im Vorgelände

herumschleichenden Patrouillen wurden einige

russische Gefangene gemacht. Sie gehbrten einem

Garderegiment an. Es waren alles sehr große, stark

gebaute Männer, so daßwir ihnen gegenüber fast

wie Knaben aussahen. Auûer einigen zwischen den

Patrouillen gewechselten Gewehrschüssen war tagsüber

alles ruhig.

Gegen Abend nahm unsere Artillerie Zurawno

unter Feuer. Bald zeigten uns mehrere Rauchsäulen

an, daßßrande ausgebrochen waren. ln der Nacht

bildete das Städtchen ein einziges Flammenmeer.

Ein schrecklich-schöner Anblick. Der Himmel war

weithin blutig rot. Die Nacht über und den folgenden

Tag blieben wir an derselben Stelle liegen.

 

DER ZWEITE ÜBERGANG ÜBER DEN

DNJESTR~ MITTEJUNI 1915

Bei Anbruch der Dunkelheit kam der Befehl: »Sofort

fertigmachen!« ln kaum 10 Minuten stand Ul1-

ser Bataillon marschbereit auf der StraGe. Schnell

wurde die Munition erganzt. Auch erhieltjcder eine
                                   136

Büchse Fleisch und ein Sackchen Zwieback für den

FaU, daf:\wir die Verbindung zur Feldküche verlieren

sollten. »Vorwarts, marsch!« Und los ging's. Die

5 km nach Zurawno waren bald zurückgelegt. Fast

das ganze Stadtchen war abgebrannt. Untel' den

Trümmern glimmte noch das Feuer und verbreitete

einen ekligen Brandgeruch. Wir gingen bis an das

Ufer des Dnjestr vor und gruben uns in an den FIuH

angrenzenden Cernüsegärten ein. Da wurde es vor

uns auf dem FluHlebendig. Sehen konnten wir nicht

viel, doch hörten wir leises Klopfen und Ruderschlage.

Unsere Pioniere bauten 2 Stege über den

Fluû, Sie verbanden starke Bohien mittels Klammern

und Draht. Auf beiden Seiten wurden Pfähle

in das Ufer getrieben, der Steg mittels Draht darnit

verbunden, um einem allzu groHen Schwanken vorzubeugen.

Um Mitternacht begann der Übergang.

Zuerst unser 1. Bataillon, dann folgten wir ais zweites.

Um den schwankenden Steg nicht zuviel zu belasten,

durften wir nur mit 4 Schritt Abstand von

Mann zu Mann hinübergehen. Nun setzte noch Regen

ein, und es wurde so dunkel, daßman kaurn die

Umrisse des Vordermannes sah. Bei jedem Schritt

muûte man mit den Füben tasten, um nicht neben

den Steg zu treten und in den Fluf zu stürzen. ln der

Mitte senkte sich der Steg durch unser Gewicht ins

Wasser, so daI3 es uns oben in die Stiefel hineinlief.

Jeder atmete erleichtert auf, ais er jenseits des Flusses

wieder festen Boden unter den Fülien hatte. Dort

stand ein Feldwebel und sagte jedem, sich nach

rechts zu begeben und eine Linie zu bilden. Wir

legten uns nun auf den Flulikies und warteten auf

weitere Befehle. Die Russen, die genau wieder dieselben

Stellungen am Felsenhügel wie beim ersten

Übergang besetzt hatten, knallten die ganze Nacht in

Richtung des Flusses. Doch ihre Kugeln sausten fast

aile über uns. Ais das ganze Regiment übergegangcn

war, kam der leise Befehl, langsam vorzugehen,

wenn wir Feuer bekommen würden, uns hinzulegcn

und uns cinzugraben. Da das Wiesengelände, auf 
                                  137

dem wir vorgingen, zwischen dem Fluf und der

russischen Stellung nur etwa 200 m breit war, bemerkten

uns die Russen bald und knallten uns einzelne

Sehüsse entgegen. Ieh warf mieh sofort zu

Boden, um mich mit dem Spaten einzugraben. lm

Dunkel konnte ich nieht einmal meinen Nebenmann

sehen. Da horte ich leise meinen Namen ru-

Fen: »Richert, komm her, wir wellen uns zusammen

eingrabenl Es war mein Freund, der Rheinlander,

der mich rief. Kaum hatte ich drei Sehritte getan,

als ich in der Dunkelheit in ein Loch stürzte. Ich

tastete mit den Händen umher und stellte Fest, daf

es ein Sehützenloeh war, wohl noeh vom ersten

Übergang herrührend. lch rief nun den Rheinländer

zu mir. Da die Russen stark zu schieûen begannen,

waren wir beide froh, in dem Loche Deckung

zu haben. Ein Aufsehrei und darauffolgendes Stohnen

sagten uns, daßein Mann in unserer Nahe getroffen

worden war. Von Mann zu Mann wurde

nun der Befehl weitergegeben: »Sanitäter nach

Iinksl Bald kamen zwei derselben an uns vorüber.

Zu verbinden brauehten sie den jungen Mann nicht

mehr, denn el' war bereits gestorben. Es war ein

junger Freiwilliger aus Ostpreulien. Er hatte das

Elend nun überstanden.

[... ] Etwa um 8 Uhr morgens kraehte hinter uns

ein Kanonenschuß, das Zeichen der Eroffnung .des

Trommelfeuers, um die russisehen Stellungen

sturmreif zu schiehen. Ein furchtbarer Krach zerrif

plotzlich die Luft. Sàrntliche deutschen Batterien aller

Kaliber schleuderten ihre Gesehosse auf die russisehe

Stellung. [… ] Wir fühlten am Boden liegend

ganz deutlich den Einschlag der sehweren Gesehosse.

Wie das zisehte und sauste über uns! Von

den kleinen Kalibern hörte man nur Tsehing-bum,

Abschuû, Flug und Einsehlag in wenigen Sekunden.

Die mittleren Kaliber erkannte man im Flug an dem

etwas langer gezogenen Tsch-sch, und die sehweren

Granaten kamen mit einem lauten Tsch-sch-sch herangesaust.

Ich hob ein wenig den Kopf, um mir das
                                  138

furehtbare Sehauspiel anzusehen. Der ganze Felsenhügel

glieh einem feuerspeienden Berg; überall

schlugen die Gesehosse ein, Gebüsch, Erde, Felsstücke

umherschleudernd. Verschiedene Splitter

und Erdschollen kamen bis zu uns geflogen. Überall

sah ich die Köpfe unserer lnfanteristen aus den

Löchern hinausragen, das Furchtbare anzusehen.

Manche standen aufrecht, den russischen Infanteristen

ein schones Ziel bietend. Doch die Russen lagen

wohl aile in Todesangst auf dem Grabenboden,

denn wehrlos waren sie dem auf sie niederprasselnden

Eisenhagel preisgegeben. Naeh etwa einer halben

Stunde wurde es im vorderen russischen Graben,

der sich am FuJ3e des Hügels hinzog, lebendig.

Zwischen den einschlagenden Geschossen hindureh

kam die ganze noch marschfähige Grabenbesatzung

mit erhobenen Handen zu uns übergelaufen. Sie

waren fast aile vor Angst bleieh wie der Tod und

zitterten von den ausgestandenen Schrecken heftig.

Sie mußten sich samrneln und sich hinter unseren

löchern auf die Wiesen hinlegen, um gegen die

russischen Anilleriegeschosse, die noch immer vercinzelt

herangesaust kamen, besser gedeekt zu sein.

1lie Besatzung des obersten russischen Grabens

xuchte ihr Heil in der Flucht. Nun war nur der mittle-

re Graben besetzt, der sich im Abhang hinzog.

Da kam der BefehI, den einer dem anderen zurur('

11 mufite: »Fertigrnachen, Seitengewehr aufpflan-

/('11.« [ .•• ] Den kurzen Spaten steckte ich wie immer

lx-im Vorgehen vorne mit dem Stiel in das Koppel,

11111 so durch den Spaten gegen einen Bauchschuf

("1 was geschützt zu sein. Die deutsche Artillerie ver-

Icgte ihr Feuer nun weiter vor. »Zurn Sturm vorw.

irts, marschmarschl erscholl das Kommando. AIlt-

s stürzte aus den Löchern, und im Laufschritt unln

Hurrageschrei stürmte alles auf die russischen

( -räben los. Doch die Hauptarbeit hatte unsere Artilk-

ric besorgt; wir stießen auf nur ganz geringen Wi-

.k-rstand. lm unteren Graben lagen nur Tote und

Vr-rwundete. Aus dem mittleren Graben knallten
                                 139

Oberleutnant das Knie zerschmettert. Der Mann,

der früher die jammernden Verwundeten »Kindskëpfe

und »feige Mernrnen geschimpft hatte,

schrie und jammerte nun wie besessen. Ich konnte

be~m besten Willen kein Mitleid für ihn empfinden.

"':Il~ kletterten nun den steilen Abhang hinauf.

Einige Russen aus dem mittleren Graben wollten

fliehen und kletterten, so schnell sie konnten, nach

oben. Aber wie Hasen wurden sie abgeschosscn und

kollerten in den Graben zurück. Ais wir vor dem

Graben ankamen, streckten aile noch Lebenden die

Hände in die Höhe. Sie wurden hinunter zu den

schon vorher Gefangenen auf die Wiesen geschickt.

Oben kamen auch noch einzelne heruntergeklettert,

um sich zu ergeben. Jene hatten leicht ausreiûen

kënnenl Sie gingenjedoch lieber in Gefangenschaft,

ais den Krieg noch langer mitzumachen. Durch zerfetztes

Gebüsch und Löcher bahnten wir uns nun

einen Weg nach dem Gipfel, wo sich das Regiment

sammelte. Von oben sahen wir, wie eben die gefangenen

Russen rückwärts den Fluf überschritten. Sie

waren jedenfalls glücklicher als wir, denn sie hatten

die Morderei hinter sich

 

DER WEITERE VERLAUF DER OFFE SIVE

 

Das 2. Bataillon muhte nun langsam in Schützenlinien

vorgehen. Einzelne Patrouillen wurden vorausgeschickt.

~as 1. und das 3. Bataillon folgten geschl?

ssen. Lmks und rechts von uns gingen andere

Regimenter vor. Den ganzen Tag stiel3en wir auf

keinen Widerstand. Hie und da kamen einzelne Russen

aus dem Getreide oder Gebüsch, wo sie sich

versteckt hatten, um sich zu ergeben. [… ]

Eines Morgens bekamen wir auf einem mit Weizen

bepflanzten Hügel den Befehl, die unten im

Tale liegende Wassermühle zu besetzen. Etwa 2 km
                                   140

links von uns lag das Stad tchen Rohatyn. Die russische

Batterie richtete ihr Feuer nun auf die Mühle.

[... ] Vier Schrapnells kamen zusammen angesaust.

Alle platzten um und über der Mühle. Die aus Holz

gebauten, mit Stroh bedeckten Cebäude boten uns

nur wenig Deckung. Von einem über dem Holzschuppen

platzenden Schrapnell wurden 4 Mann

verwundet, darunter mein Freund, der Rheinländer,

der schrag von oben eine Kugel in den Oberschenkel

bekommen hatte. Ich schnitt ihm die Hosen

auf und wickelte seine beiden Verbandspäckchen

um die Wunde. Dann trug ich ihn mit Hilfe

eines Karneraden in die Wohnstube, wo etwas mehr

Deckung war. Die Stube lag ganz voll von Soldaten,

die den Wänden entlang aufihren Tornistern lagen.

ln allen Gesichtern lag der Ausdruck angstlicher

Cespanntheit, denn keiner konnte wissen, wem die

nächste Artilleriesalve galt. Nun kamen immer 2

Schrapnells, die in der Luft zerplatzten, und 2 Cranaten,

die beim Aufschlag auf den Boden krepierten,

zusammen angeflogen. Ein Soldat namens Spiegel,

der in der vorderen Ecke der Wohnstube lag,

stand auf, ging durch den Hausflur zur Tür, um zu

schiffen. lm selben Moment krepierte eine Granate

an der vorderen Hausecke, ein gr(1)es Loch in die

Wand reil3end. Splitter, Holzstücke und der Tornister

des Soldaten Spiegel flogen an die Decke. Die

ganze Stube war mit stinkendem Pulverrauch gefüllt.

Spiegels Tornister und Kochgeschirr waren

vollstandig zerrissen und zerfetzt. Ais dieser beim

Hereinkommen sein Zeug betrachtete, wurde er totenbleich,

und ais einer der Soldaten bemerkte, daf

er sein Leben einem glücklichen Zufall zu verdanken

habe, antwortete er: »Ich habe eine Mutter zu

Hause, die täglich für mich betet.. [ ] Da kam der

Befehl: »Sofort die Mühle räurnen!« Wir sollten uns

nun dem Bächlein entlang, durch die Erlen und die

Weidenbüsche gedeckt, nach dem einige hundert

Meter weiter unten liegenden Dorf begeben. Die

Verwundeten wurden mitgetragen. Die Russen be  
                                141

schossen mm bis gegen Abend die Mühle, bis sie in

Brand geschossen war, obwohl kein einziger von uns

mehr dort war. [… ] Ich begab mich in eine Hütte,

urn cin paar Eier zu kaufen. lch harre Glück, dcnn

ich konnte ein halbes Dutzend bekommen. Da noch

Milch vorhanden war, mußte die anwesende Frau

mir 1 Liter kochen, natürlich gegen Bezahlung. So

verging eine halbe Stunde. Meine Kornpanie war

inzwischen bis zumjenseitigen Dorfrand vorgegangen,

wo sie auf Russen gestoßen war, derm plötzlich

knatterte lebhaftes lnfanteriefeuer dureh den still en

Morgen. Gleieh darauf sah ich einzelne unserer Infanteristen

zurücklaufen. Ich fief zum Fenster hinaus,

was denn eigentlich los sei. Sie wußten selbst

nichts Riehtiges und liefen weiter. Sehnell trank ich

meine Milch aus und steekte den Rest der Eier in

meinen Brotbeutel. Da immer mehr Soldaten zurückliefen,

schlof ich mich ihnen an. Was eigentlich

los war, wußte ich nicht.

Wir liefen nun durch ein Wiesental bis zu einem

Bach. ln dem ausgetrockneten Bachbett nahmen wir

wieder Stellung. Nach kurzer Zeit befand sich die

ganze Kompanie dort. Einige Mann fehlten. Sie waren

wohl im Dorfe gefallen oder verwundet worden.

Gegen Mittag sahen wir einige Russen am Dorfrand.

Da wir auf sie zu schießen begannen, verschwanden

sie hinter den Häusern. Am Naehmittag hörten wir

reehts von uns starkes Artilleriefeuer. Bald wurde

dasselbe yom Geknatter der Infanterie und der Masehinengewehre

unterbrochen. Gegen Abend hieß

es, daßdie Unseren die russische Front dort durchbrochen

hatten. Die Nacht verbrachten wir im ausgetrockneten

Baehbette. [... ]

Ohne von der Fe!dküche cine Spur zu sehen, ging

es mit hungrigem Magen weiter. lch se!bst konnte

von Glück reden, denn ich hatte noeh 3 Eier im

Brotbeute!, die mir trefflich mundeten. Nach einigen

Kilometern stiegen wir wieder in ein breites,

Haches T~lI, das in der Mitte etwa 500 m breit mit

meterhohem Schilf bewachsen war. Auf der diesseitigen
                                  142

Talseite standen einzelne Cehöfte. Ais wir uns

den ersten naherten, saustc es heran, und mehrere

Schrapnells platztcn über uns. Ieh sprang hinter den

Stamm einer Weide, die anderen Soldaten Iiefen

hinter die Hauser. Ein Schrapnell riß nun mehrere

Aste von der Weide, hinter der ich stand, so dan mir

ganz unheirnlich zumute wurde. Da horte ich den

Befehl: »Der 2. Zug soli einzeln hinter die links liegenden

Hauser springenl lch gehörte auch zum

2. Zug. Ais die ersten hinübersprangen, bekamen sie

von der jenseitigen Talseite lnfanteriefeuer. leh

schaute scharf hinüber und entdeckte vern am Rand

eines Weizenfeldes, das sanft oberhalb des Schilfes

anstieg, einen langen Erdwall, die russischelnfanteriestellung.

Ich entschlof mich, hinter dern Weidenstamm

zu bleiben und mich hier einzugraben. Kaurn

hatte ich einige Spatenstiche ausgehoben, ais unser

Feldwebel, der hinter dem Hause stehend mich sah,

zu mir herüberschrie: »Richert, wollen Sie schleunigst

machen, daJ3 Sie zu Ihrem Zuge kornmen!« So

sehnell ich konnte, rannte ich über die Acker, den

beiden Hausern zu. [... ] Eine Kuge! schlug knapp

vor mir in die Erde, so daß ich unwillkürlich einen

Luftsprung mach te. Einige Schritte weiter Iag ein

Soldat rot am Boden. Ich selbst kam heil hinter den

Häusern an. Wir waren gezwungen, uns dort einzugraben,

da die Kugeln der Russen durch die Holzwände

und die niedrigen Strohdächer zischten. [... ]

Wir litten sehr Durst, da die Sonne den ganzen Tag

herunterbrannte. Keine 100 m vor uns floß ein

Bach. Da das Wasserholen jedoch mit Lebensgefahr

verbunden war, hatte keiner den Mut dazu. Wir

lagen in den Löchern, bis es dunke!te.

Bei Anbruch der Nacht mußten wir einen Steg

über den Bach machen, jenseits desselben im Schilf

vorgehen und lins etwa 200 m vor der russischcn

Infanteriestellung eingraben. Das war leichter gesagt

als getan. Kaum einen Spatenstich tief sammelte

sich das Wasser im Loch, an ein tieferes Graben war

nicht zu denken. lch stach eine Menge Wasen [Ra- 
 
                                143

senscke, Grassoden] ab und baute sie var mir auf,

um doch etwas Deckung zu haben. Sa hoekten wir

die Naehtim feuchten Schilfe. Trotz allem sehliefich

ein. Gegen Morgen erwachte ich, da ieh kalt fühlte.

Ich saß im Wasser. Sa erging es fast allen Soldaten.

Die Russen hatten nämlich wei ter unten den Bach

gestaut und uns so unter Wasser gesetzt. Die ganze

Naeht knaIlten vom russisehen Graben her einzelne

Gewehrschüsse. AIs es morgens hell ge,vorden war,

hörte ich einen Kameraden rufen: »Die Russen winken,

sie wollen sich ergeben.« leh hob den Kopfund

spähte über das Sehilf. Richtig, ich sah die Russen

winken mit ihren Mützen und weißen Tüchern. Da

wir jedoch der Geschichte nicht recht trauten, wurden

einige Mann vorgesehickt. AIs dieselben vor die

russische Stellung kamen, kletterten die Russen,

etwa 20 an der Zahl, zu ihrem Graben hinaus und

ergaben sich. Sie waren zurückgelassen worden, um

uns durch ihre Schüsse zu täuschen, während sich

die Hauptmacht zurückzog. lm Graben lagen noch

Brotstücke umher, die von uns gierig versehlungen

wurden. Viele Soldaten rissen von den noch grünen

Weizenähren ab, rie ben die Körner aus, bliesen die

Streu weg und allen die Körrier, um sa den Hunger

etwas zu stillen.

Dann wurden mehrere Patrouillen ausgeschickt,

um auszukundschaften, ob noch Russen in der Nahe

seien. Ich selbst wurde mit 2 Mann nach einem etwa

1km rechts vor uns liegenden Dorf geschickt, um zu

sehen, ob dasseJbe von den Russen frei sei. Vorsichtig,

gebückt gingen wir durch die Weizenfelder dem

Dorf zu. Von dem an den Ähren und Halmen hangenden

Tau wurden wir ganz durchnäût. Am Rande

des Weizenfeldes legten wir uns hin und spähten

nach dem nur etwa noch 200 m entfernten Dorfe.

Aus einigen Kaminen stieg Rauch. Russen konnten

wir keine sehen. So schnell wir konnten, liefen wir

nun nach dem nächsten Haus hinüber und spähten

um die Hausecke die dreckige Dorfgasse hinunter.

Von den Russen keine Spur. Da ging eine Haustür 
                                          144

auf, eine Frau kam heraus. An einem Stock, den sie

auf der Schulter trug, hingen 2 hölzerne Wasserbehälter.

Sie ging zu dem neben uns stehenden Ziehbrunnen.

Da wir uns an die Giebelwand lehnten,

erblickte sie uns erst, als sie das Wasser heraufziehen

wollte. Sie ersehrak heftig, stief einen Sehrei

au s, aIs ob sie schon an unseren Bajonetten hinge,

ließ alles faUen und rarinte wie besessen zur Haustür

hinein, die sie sofort verriegelte. Ich ging nun

um das Haus herurn zur Hintertür, denn wir hatten

gern von der Frau erfahren, ob noch Russen im

Dorf seien. AIs ich eben die Hand auf den Drücker

legte, ging die Tür auf. Die Frau wolIte allem Ansehein

naeh mit einem kleinen Kind auf dem Arm

durch die Hintertür entfliehen. AIs sie mi ch sah,

fiel sie vor Sehreek in die Knie und hielt mir ihr

Kind entgegen. Sie sagte etwas in ihrer Spraehe,

wahrscheinlich, ich solle sie doch um des Kindes

wilIen schonen. Um sie zu beruhigen, klopfte ich ihr

freundIieh auf die Sehulter, liebkoste das Kind und

machte demselben ein Kreuzzeichen, damit sie sah,

daf ich aueh ein Katholik sei wie sie. Dann zeigte ich

auf mein Gewehr und auf sie und sehüttelte den

Kopf, um ihr zu zeigen, dan ich ihr nichts tun

würde. Wie glüeklich sie nun war l Sie erzählte mir

eine ganze Menge, wovon ich kein Wort verstand.

Ich muhte nun meine beiden Karneraden hereinrufen.

Sie gab uns gekochte Milch, Butter und Brot.

Wie uns das sehmeckte! Ich fragte nun: »Moskalirund

deutete durch das Fenster nach dem Dorf. Da

ging sie nach der Uhr in der Stube, wo sie auf

12 Uhr zeigte und mit der Hand fortwinkte. Nun

wubten wir, daßdie Russen das Dorf um Mitternacht

verlassen hatten.

Ich ging nun hinter das Haus, bestieg einen dort

liegenden Erdhaufen, steckte meinen Helm aufs

Bajonett und winkte der Kornpanie herzukommen.

Wir marsehierten zusammen ins Dorf. Dort wurde

haltgemaeht, die Gewehre zusammengesetzt und

auf die Feldküche gewartet. Von allen Seiten kamen  
                                      1
45

Madchen und Frauen und brachten gekochte Milch, , '

Brot und andere Lebensmittel. Auch befestigten sie"

Blumen an unseren Gewehren und Helrnen. Wir

waren ganz verwundert, denn sonst sahen wir in den

galizischen Dörfern bei unserer Ankunft wenig

freundliche Gesichter. Wie wir dann erfuhren, hatten

die Russen in dem Dorfe vor ihrem Abzug mehrere

Frauen und Madchen vergewaltigt. Daher sahen

sie in uns ihre Befreier. Endlich kam die Feldküche

heran. Sie hatten guten Reis und Rindfleisch

und einige Hühner gekocht, und das Ende vom Lied

war, daß wir aIle die Magen überladen hatten,

Am Nachmittag bekamen wir wieder Ersatzrnannschaften,

meist Lothringer. Sie wurden von der

Westfront weggenommen, da einige Lothringer desertiert

waren. Auch einige OstpreuJkn waren dabei.

Ebenso mein guter Kamerad Hubert Weiland,

der Theologe, der am 4. Mai in den Karpaten leicht

verwundet worden war und nun geheilt aus dem

Lazarett zu seinem Truppenteil zurückgeschickt

wurde. Wir freuten uns beide über das Wiedersehen,

denn er traf nur noch wenige der früheren

Kameraden in der Kompanie. Die meisten waren

gefallen, verwundet oder krank geworden. Beim

Neueinteilen der Kompanien baten wir den Feldwebel,

uns derselben Gruppe zuzuteilen, was er auch

tat. Bei der Gruppe befand sich noch ein junger

Lehrer sowie ein reicher Student, Sohn einesRittergutsbesitzers,

beide aus Ostpreußen. Wir vier wurden

bald sehr gute Kameraden. [, , ,] Die acht verbrachten

wir im Dorf. Am frühesten Morgen ging es

wieder weiter. Gegen Abend wurde in einem Wald

haltgemacht, wo wir 2 Tage verblieben. Dort konnten

wir uns mal richtig ausruhen.

Am 30.juni morgens ging es wieder weiter. Wir

stieûen auf schwächere russische Abteilungen, die

sich schleunigst zurückzogen. Mehrere ihrer Verwundeten

kamen in un sere Gefangenschaft. Am

l.juli 1915 besetzten wir am Morgen eine Höhe. Es

war uns verboten, uns oben auf der Höhe zu zeigen.   146

So lagen wir bis Mittag gedeckt am hinteren Abhang.

Ich war sehr neugierig, was eigentlich vor uns los sei,

kroch auf die Hohe, legte mich hinter den Stamm

einer dort stehenden mächtigen Hainbuche, nahm

mein Glas und betrachtete die Gegend vor mir. [... ]

lch nahm rneine Karte. Bald hatte ich festgestellt, wo

ich mich befand. Das Dorf vor uns hief Livtira

Corna, der Bach Zlota Lipa. Arnjenseitigen Abhang

entlang zogen sich quer einige Haferacker , dazwischen

befanden sich mit Gebüsch bewachsene Boschungen.

Da entdeckte ich etwas, was mich mit

Schrecken erfüllte: einen durch das Gesch teilweise

gedeckten, frisch aufgeworfenen Erdwall, die

russische Stellung. Da gab's sicher wieder etwas zu

stürrnen, die beste Gelegenheit zurn Sterben. Ich

krach zurück und erzàhlte rneine Entdeckung den

Kameraden. Sie waren aile – besonders die jungen

Soldaten, die noch kein Gefecht mitgemacht hatten

– sehr niedergeschlagen. Von dem Mut oder Draufgängertum,

von dem Uiglich in Zeitungen und chern

zu lesen war, konnte man keine Spur sehen.

 

DIE KÀMPFE AN DER ZLOTA LIPA-

             1./2. JULI 1915

Am Nachmittag des l.Juli kam der Befehl zumFertigmachen.

Wir sollten uns, wenn möglich gedeckt,

ins TaI hinunterschleichen und uns hinter der hohen

Boschung der Eisenbahn sammeln. Zu unserem

Clück zog sich eine mit dichtem Gesch bewachsene

Mulde ins Tai hinunter. Dadurch gelangten

wir, von den Russen ungesehen, hinter den Bahn-

.lamm. Die Kompanien, die links von uns den Bahndamm

zu besetzen hatten, konnten schlechter als wir

dahin gelangen, denn sie muliten den mit freiem

!\ckerfeld bedeckten Hang hinunterlaufen. Jeder

licf, wie er wollte. AIs die ersten oben erschienen,

croffneten die Russen sofort ein lebhaftes Schützen-

                                    147

feuer auf sie. Bald war der ganze Abhang mit im

schnellsten Tempo talwärts strebenden Soldaten

überstreut. Wir sahen deutlich die Einschläge der

russischen Infanteriegeschosse, denn bei jedem

Aufschlag flog ein Staubwolkche n auf. Von 3 Kompanien

bliebenjedoch nur etwa 10 Mann getroffen

liegen. Die Russen belegten nun den Bahndamm mit

Schrapnellfeuer. "Vil' waren gezwungen, zur besseren

Deckung Lecher in den Bahndamm zu graben.

Weiland und ich schrieben nun Feldpostkarten nach

der Heimat. Wir hatten jedoch keine Ge\egenheit

mehr, diese\ben bei der Fe\dche abzugeben an

jenem Tage. Gegen Abend mußten wir uns hinter

dem unten am jenseitigen Abhang hinziehenden

Bahndamm vorarbeiten. Auch hier hatten wir

Glück; durch das Gebüsch, das sich neben einem

dorthin führenden Bächlein hinzog, gedeckt, gelangten

wir ohne Verluste hin. Ais die Sonne bereits

am Horizont verschwunden war, glaubte ich, daß wir

hinterm Bahndamm übernachten würden und der

Angriff erst am folgenden Morgen erfolgen würde.

Ich soli te mich jedoch getauscht haben. Hinter uns

donnerten Artillerieschüsse; die Geschosse sausten

über uns und explodierten oben bei der russischen

Stellung. Vie\e Sprengstücke schwirrten bis zu uns

herunter. Vorgehen schrie unser Regimentskommandeur

von dem hinteren Bahndamm herüber.

Wie mich dieses Wort erschaudern machte! Denn

jeder wußte, daf es für man chen das Todesurteil

war. Am meisten fürchtete ich den Bauchschuß,

denn die armen, bedauernswerten Menschen lebten

gewëhnlich noch 1 bis 3 Tage, bis sie unter den

furchtbarsten Schmerzen ihr Leben aushauchten.

»Seitengewehr aufpflanzen! Zum Sturm vorwärtsl

Marschmarschl Alles lief nun nach oben. Eine

Strecke weit waren wir durch Gebüsch gedeckt. Ais

wir jedoch das schützende Gebüsch durchbrachen,

wurden wir von einem knatternden Schnellfeuer

empfangen. Aufschreie hier und dort. [… ] Schrecklich

war das Schreien der Verwundeten anzuhören.

                                     148
Leichtverwundete rannten, so schnell sie konnten,

zurück hinter den schützenden Bahndamm. Aber

trotz allem ging's vorwärts. ln das Knattern desInfanteriefeuers

mischte sich noch das Rasseln der russischen

Maschinengewehre. Schrapnells platzten

über unsren Köpfen. lch war derart aufgeregt, daß

ich bald nicht mehr wußte, was ich tat. Abgehetzt,

keuchend kamen wir vor der russischen Stellung an.

Die Russen kletterten nun aus dem Graben und

rannten den Hügel hinauf, dem nahen Wald zu.

Jedoch die meisten von ihnen wurden niedergeknallt,

ehe sie den Wald erreicht hatten. Wir gingen

noch weiter vor bis zum Waldrand, wo wir uns hinlegten,

um Atem zu schopfen.

Langsam senkte sich der Abend nieder, das Schie

Ben hörte fast ganz auf. Nur vereinzelte deutsche

Granaten sausten über uns, die oben im Walde explodierten.

Auf einmal prasselte links von uns aus

einem vorspringenden Waldstück Infanteriefeuer.

Zing-zing, zischten die Kugeln über uns hinweg. Ein

vielstimmiges Uräh-Ceschrei scholl uns entgegen;

im Dunkel konnte ich no ch sehen, wie die Russen aus

dem Waldstück heraus mit gefaUtem Bajonett auf

uns zugelaufen kamen. Da sie uns von der Flanke

her angriffen, konnten die meisten von uns nicht

gleich schieBen, ohne die VOl' ihnen knienden oder

liegenden Kameraden zu treffen. Einige von uns

zogen sich zurück. achdern ich einige Scsse abgegeben

hatte, schlich ich mich ebenfaUs zurück. Die

Russen hatten sich hingelegt, und beide Parteien

beschossen sich aus nächster Nähe. Hinter einer B6

schung gedeckt, wartete ich der Dinge, die da kommen

soUten. Inzwischen war es Nacht geworden,

jedoch konnte man seine Umgebung deutlich sehen.

Mehrere Soldaten huschten an mir vorüber und verdufteten

sich. Die Knallerei hielt imrner noch an,

jedoch schwächer werdend. Da horte ich VOl' mir

Schritte; ein Soldat rutschte die Böschung hinunter,

wo er stohnend neben mir sitzen blieb. »Bist du

verwundet, Kamerad?« fragte ich. Worauf ich die

                                    149

stöhnende Antwort bekam: »ja, Arm und Erust tun

mir so weh.« Ich leuchtete mit der Taschenlarnpe

und sah, daßer eine tiefe Rinne am Hals hatte, aus

der das Blut lief. »Es ist nicht schlimrn«, sagte ich,

»ein Streifschuû am Hals.«  »Am Hals spüre ich gar

nichts. Nul' im rechten Arrn und in der Brust.«

Nachdem ich sein en Hals mit einem Verbandspäckchen

verbunden hatte, wollte ich ihn den Hügel hinunterführen.

Er hatte jedoch nicht mehr die Kraft

zu gehen. Erst da bemerkte ich, daf sein rechter

Arm schlaff herabhing. lch leuchtete nochmals. Da

sah ich am rechten Oberarm seitwàrts den Einschu li.

Der Arm war durchschlagen und die Kugel zwischen

den Rippen hindurch in die Brust eingedrungen. lm

selben Moment liefen wieder mehrere Soldaten an

uns vorüber. lch rief sie an, mir den Verwundeten

hinuntertragen zu helfen. Aber aIle rannten weiter.

Nach einigen Minuten kam ein anderer, der war

gleich einverstanden, mir zu helfen. Wir setzten den

Verwundeten auf mein Gewehr, der eine hielt am

Lauf fest, der andere am Kolben. Der Verwundete

legte seinen gesunden Arm um meinen Hals, und

vorwàrts ging's den Abhang hinunter. Aber wir kamen

nicht weit. Bei der steilen Böschung kamen wir

aile beide ins Rutschen, 50 daf wir mitsamt dem

Verwundeten zu Boden stürzten. lch sagte zu dem

Soldaten, el' solle mein Gewehr und meinen Tornister

tragen; mit seiner Hilfe nahm ich den Verwundeten

auf den Rücken und trug ihn, solange ich

konnte. Dann wechselten wir uns ab. So erreichten

wir das Dorf. Einen Sanitäter, der auf uns zulief und

den ich trotz der Dunkelheit an der weiûen Binde am

Arrn erkannte, fragte ich nach dem Ante. »Das

dritte Haus links ist der Verbandsplatz.. Wir gingen

hin und lieferten unseren Verwundeten ab. Wir

beide hielten uns dort nicht lange auf, denn das

Jammern und Stöhnen sowie das Blut griffen uns an

die Nerven. »Wohin wollen wir P. fragte mich mein

Kamerad. Am liebsten wollte ich in einer Scheune

übernachten, doch ich hatte keine Ruhe. lch wufite

                                        150

nichts über das Schicksal von Weiland und den beiden

anderen ostpreuBischen Kameraden. Also entschlossen

wir uns, die Kompanie zu suchen. Unterwegs

trafen wir am Straßenrand sitzend einen Soldaten,

der einen Schuf durch die Ferse erhalten

hatte. Er hatte sich bis hierher geschleppt, bis er vor

Blutverlust, Schmerzen und Müdigkeit nicht mehr

weiter konnte. Wir beide trugen ihn nach dem Verbandsplatz.

Der Verwundete, den wir vorher dahin

gebracht hatten, lag besinnungslos auf dem Stroh

und schien dem Tode nahe. lnzwischen war es Mitternacht

geworden. Nun machten wir uns erneut

auf die Suche nach unserer Kompanie. Wir trafen

sie hinrer dem Bahndamm, von dem wir den Angriff

unternommen hatten. Die Soldaten lagen oder

hockten dort, die einen schliefen, die anderen stierten

in die Nacht hinaus. leh ging den Bahndamm

entlang und fragte jeden: »Lst Weiland hierP. So

kam ich bis zur Nachbarkompanie. Aber den Weiland

habe ich nicht gefunden. Da sagte mir ein Soldat,

er habe ihn taumeln und stürzen sehen. Er

wisse aber nicht, ob er tot oder schwer verwundet

sei. Eine Nachricht, die mich ganz niederschmetterte.

Gerne wäre ich ihn suehen gegangen, aber

erstens hatte es in der dunklen Nacht keinen Zweck,

und zweitens war es zu gefahrlich, da die Russen,

wie Patrouillen festgestellt hatten, wieder ihre Stellung

besetzt hatten. Die Toten und die meisten

Schwerverwundeten blieben oben liegen und befanden

sich in den Händen der Russen. Nun traf

ich meinen anderen Kameraden, den ostpreuBischen

Studenten. Er sagte mir, daß der junge Lehrer

einen Schuf quer durchs Gesicht erhalten hatte,

der ihm einige Zähne ausgeschlagen und die Zunge

verletzt hatte. Also waren wir von vier guten Kameraden

nur noch zwei. Auch unser Gruppenführer,

Unteroffizier Hiller, fehlte. Die Kompanie hatte

schwer gelitten.

ln meiner Nähe saf der Kompanieführer; er unterhielt

sich mit einem jungen Leutnant, der erst in

                            151

der Nacht zu unserer Kompanie kornmandiert worden

war. Ich hörte, wie letzterer sagte, daf3 dies wohl

die letzte Nacht seines Lebens sei, denn bei dem

Sturm morgen früh werde er wahrscheinlich fallen,

da doch sein Zug voranmüsse. Auch der Kornpanieführer,

ein erst 19j;ihriger Junge in jageruniform,

seufzte. Ihm graute es ebenfalls vor dem kommenden

Tag. Ich nahm mir fest vor, den Angriff, wenn

irgend möglich, überhaupt nicht mitzumachen.

Langsam graute der Morgen. Einige Mann WUl'

den zur Feldküche geschickt. Sie brachten Essen,

Kaffee und Brot. Einige Soldaten aßen überhaupt

nichts, aus Furcht, einen Bauchschuf zu bekornmen,

was natürlich mit vollern Magen weit gefahrlicher ist

aIs mit leerem. »Da oben kommt noch ein Verwundeter

«, hörte ich einen Kameraden rufen. Ich

schaute über die Geleise nach oben. Wirklich, da

walzte sich ein Verwundeter immer über und über

den Abhang hinunter auf uns zu. lm Graben jenseits

der Bahn machte el' haIt. Einige Soldaten sprangen

hinüber und holten ihn hinter den schützenden

Damm. Wie der Mensch aussah! Er hatte ein lnfanterie

Explosivgeschoß in die rechte Wade erhalten.

Die Wade war an drei Stellen, von oberhalb des

Knöchels bis zum Knie, auseinandergerissen. Ein

schrecklicher Anblick! Seine Lippen waren vom

Wundfïeber trocken und aufgespalten. Er verlangte

immer wieder zu trinken und trank mindestens

2 Liter Kaffee. Durch die Büsche gedeckt, wurde er

zurückgetragen.

Mit Grauen erwarteten wir alle den Befehl zum

Sturm. Da setzte das deutsche Artilleriefeuer ein,

jedoch viel zu schwach, um die russische Stellung zu

erschüttern. Welche Niedergeschlagenheit unter

den Soldaten herrschte, laßt sich nicht beschreiben.

Man kam sich vor wie ein zum Tode Verurteilter,

der seine Henker erwartet, die ihn zum Schafott

führen. Sich weigern mitzumachen, das ging nicht,

denn ein Kriegsartikellautet: »Wer var dem Feinde

den Gehorsam verweigert, wird mit dem Tode  
                      
152

bestraft!

« Also blieb nur ein Weg: mitzumaehen oder

sich unauffallig irgendwo zu verkriechen.

    »Fertigmachen!« Wir mußten uns hinterm Bahndarnm

aufstellen. Eine Kompanie sollte am Bahndamm

in Reserve bleiben, um im Falle eines russischen

Gegenangriffs denselben abzuschlagen. »Vorwärts!

Marschmarsch !>> Über die Bahnlinie ging's.

loch fiel kein Schuû. Wir waren noch durch Gebusch

gedeckt. Absichtlich blieb ich etwas zurück

und kroch blitzschnell unter einen an der ersten

Boschung stehenden, verkrüppelten Eichenbuseh.

Nun ging oben das Geknatter und Hurrageschrei

los. Ich war sehr gespannt, wie der Angriff ausfaIlen

würde. Bald hatte ich die Gewißheit, daß das Schie-

Ben nachlieb. Eine Menge russischer Gefangener,

begleitet von einigen unserer Soldaten, kamen den

Abhang herunter. Der Angriff war geglückt. Zu

meinern nicht geringen Staunen kam nun unser

Kompanieführer, der sich sicher auch gedrückt

hatte, in beiden Händen Munitionspakete tragend,

von unten herauf. Ich dachte: Wenn der sich mit

seinern Leutnantsgehalt [damais etwa 280 Mark im

Monat] drücken konnte, warurn sollte ich's nicht mit

meinen 53 Pfennig Löhnung pro Tag [also 16 Mark

im Monat]! lch selbst holte nun hinter dem Bahndarnm

auch einige Munitionspakete und ging den

Abhang hinauf wieder zur Kompanie, um sa den

i\nschein zu erwecken, aIs wäre ich zum Munitionsholen

zurückgeschickt worden. Mein Zurückbleiben

war nicht aufgefallen. Unterwegs hielt ich unter den

Toten, von denen wohl die Hälfte auf dem Gesicht

lag, Umschau nach Weiland, konnte ihnjedoch nicht

eutdecken ...

Am Waldrand befanden sich mehrere StelIen, die

mit sehr schonen Blumen wie mit einem Teppich

hedeckt waren, Dazwischen lagen einige auf der

Flucht niedergeschossene Russen. Welcher Gegensatz,

die herrliche Natur, dazwischen die armen, unschuldigen,

aus ihrer Heimat gerissenen Opfer des

europäischen Militarisrnusl

                                    153
Die Kompanie war oben damit beschäftigt, sich

cinzuschanzen. lch ging zum Kornpanieführer, bat

um die Erlaubnis, meinen Kameraden Weiland suchen

zu dürfen, da er mir den Auftrag gegeben

hatte, im Falle, daß ihrn etwas zustoûen sollte, seine

Angehörigen zu benachrichtigen. Ich bekam die Erlaubnis

und ging zurück zur SteHe, wo unsere Kornpanie

vorgegangen war, und hielt Urnschau unter

den armen Toten. Viele lagen auf dem Gesicht, und

ich rnubte sie umdrehen. lch erschrak mehrrnals, ais

ich gute Kameraden von mir erkannte. [… ] Dicht

vor der russischen Stellung fand ich meinen Cruppenführer,

den lothringischen Unteroffizier Hiller.

Er lag auf dem Rücken und hatte einen Bauchschuf

erhalten. Er hatte die Hosen heruntergeschoben,

das Hemd hochgezogen, sein Verbandspackchen

zweimal um den Leib geschlungen. Wahrscheinlich

hatte er dabei das Bewußtsein verloren. Seine Tressen

waren an Kragen und Armel abgetrennt; wahrscheinlich

hatten sie die Russen ais Andenken mitgenommen.

Trotz meines Suchens fand ich von Weiland

keine Spur. Ich konnte es mir nicht anders

erklären, ais daß ihn die Russen im schwerverwundeten

Zustand mitgenommen hatten. ln diesem

Sinne teilte ich den Eltern Weilands das Schicksal

ihres Sohnes brieflich mit.

Weiter oben untersuchte ich die Rucksäcke von

zwei toten Russen; aus dem einen nahrn ich ein Säckchen

Zucker und ein Stück Schwarzbrot, aus dem

anderen ebenfalls ein Säckchen Zucker und ein

neues Hemd. Sofort zog ich es an, nahm mein altes,

von Schmutz und Läusen wimmelndes Hemd und

warf es weg. [… ]

Morgens in aller Frühe nahmen andere Regimenter

die Verfolgung auf. Unsere Division muJ3te sich

bei Livtira Gorna samrneln, um an einem anderen

Frontabschnitt eingesetzt zu werden. Ais wir uns in

Marsch setzten, glaubte ich, hinter mir ein lei ses

Schluchzen zu hören. lch schaute mich um und sah

einen Soldatcn unterdrückt weinen. Sie waren zwei  
                                   154
Brüder bei der Kornpanie gewesen, der cine aktiv,

der andere freiwillig mit 18 Jahren. Dieser war ein

munteres Kerlchen, den alle gLlt leiden konnten und

der in der Kompanie nur »Bubi« genannt wurde.

Bubi war auch gefallen. Wie mir mm sein Bruder

crzählte, hatte el' ihn selbst begraben.

Gegen Mittag fragte ich den Kompanieführer

ums Austreten und blicb absichtlich zurück. AIs die

ganze Division durchmarschiert war, ging ich gemütlich

hinterher. lm nächsten Dorf traf ich einen

Soldaten rneines Bataillons, der auch genug hatte

und sich einige Tage drücken wollte. Wir kauften im

Dorfe Brot, Milch und Eier und blieben in einer

Scheune über Nacht. So bummelten wir mehrere

Tage hinterher. Mehrere Male wurden wir von Offizieren

aufgehalten und gefragt, woher und wohin.

lch sagte, wir seien von unserer Truppe abgekornmen

und eben im Begriffe, dieselbe aufzusuchen.

lch wuûte ganz genau, daßman, werm man 7 Tage

von der Kompanie weg war, für fahnenflüchtig erklärt

wurde und eine harte Strafe in Aussicht hatte.

So gingen wir zu mehreren österreichischen Abtei-

lungen, die eben in den Dörfern lagerten, meldeten

uns bei irgendeinem Kornpanieführer und baren

ihn, uns seiner Truppe anschließen zu dürfen, bis

wir wieder deutsche Truppen antreffen würden.

Wir wurden dann von der Feldküche verpflegt. lch

hat dann den Kompanieführer um einen Ausweis,

damit ich bei der Ankunft bei meiner Kornpanie

vorzeigen konnte, wo ich mich während meines

Fernbleibens aufgehalten hatte. Sobald wir im Besitz

dicses Ausweises waren, verschwanden wir bei der

nächsten Gelegenheit.

     Langsarn näherten wir uns wieder der Front in

Richtung des Stadtchens Brzezany in Nordostgalilicll.

Vor uns in gaI' nicht weiter EnLfernung war ein

schweres Gefecht im Gange; den ganzen Nachmittag

klamgen der Donner der Kanonen, das Rasseln der

Maschinengewehre und das Infanteriefeuer von

vorne. Wie schon es doch war, cincm Gefecht von

                                    155

weitern zuzuhoren, statt dasselbe mitzumachen. Gegen

Abend flaute das Feuer ab. Viele Leichtverwundete,

die meisten mit Arrn- oder Handschüssen, kamen

an uns vorüber. Es waren Soldaten meiner Division,

ebenso viele Österreicher. Nach einer Weile

ging eine große Kolonne gefangener Russen, geführt

von einigen deutschen Soldaten, ebenfalls an

uns vorüber.

      Erst am anderen achmittag gingen wir wieder

weiter. Eine Brücke führte über einen Bach. Mich

überkam grol3e Lust zu baden, denn den ganzen

Sommer hatte ich noch keine Gelegenheit dazu gehabt.

Wir beide zogen uns aus und unterzogen uns

einer gründlichen Reinigung. Ich erschrak, ais ich

meinen nackten Körper betrachtete. Derselbe hatte

eine gelbgraue Farbe und war zum Skelett abgemagert.

Überall war die Haut wegen der Lause aufgekratzt,

besonders unten bei den Knöcheln, Soweit

die wollenen Chaussettes [Socken] reichten, waren

mehrere Wunden vom Kratzen. Der Korper meines

Kameraden bot dasselbe J ammerbild. Nach dem Baden

setzten wir uns an die Sonne und fïngen in

unseren Hemden und Kleidern Lause. Jeder fïng

mehrere hundert dieser schrecklichen Qualgeister.

Nachher ging es wieder weiter. Links und rechts von

der Stral3e befanden sich viele Weidenbüsche,dazwischen

sah ich viele Schützenlöcher. Ais wir aus

dem Gebüsch herauskamen, befanden wir uns auf

der Stelle, auf der tags vorher das Gefecht stattgefunden

hatte. Aus den Weidenbüschen heraus war

der Angriff der deutsch-österreichischen Infanterie

erfolgt. Die russische Stellung hatte sich auf einer

kleinen Anhöhe befunden. Vor dem Graben zog

sich ein teilweise zerschossener Drahtverhau hin.

Von dem Weidengebüsch bis zur russischen Stellung

dehnten sich flache, deckungslose Wiesen aus. Darauf

lag zerstreut eine Menge Gefallener, Deutsche

und Österreicher. Vorne lag eine Zickzacklinie dieser

Annen. Wir beide gingen von der Stralie herab,

um sie naher anzusehen. Viele hatten noch den Spa-  
                                156

ten in der Hand, sie waren beim Eingraben getroffen

worden. Die Deutschen waren vom 43. Infanterieregiment,

aiso von unserer Division. Viele waren

ganz neu eingekleidet und ausgerüstet. Sie waren

allem Anschein nach erst vor wenigen Tagen aus

Deutschland angekommen und hatten hier den Tod

gefunden. ]edenfalls waren sie glücklicher zu schätzen

aIs diejenigen, die jahrelang das Elend mitmachen

und dann doch fallen muûten. An einer Stelle

führte eine Auffahrt nach der höher gelegenen

Straße, dahinter lagen 15 bis 20 Gefallene in- und

übereinander. Dieselben waren wohl von einem russischen

MG, das sie schrag von der Flanke hatte

fassen können, zusammengeschossen worden. Ich

schnallte dort von einem Tornister ein neues Kochgeschirr,

warf mein altes, unappetitliches, verrostetes

weg und schnallte das neue auf. Dann gingen wir

wieder weiler. ln der russischen Stellung sahen wir

nur sehr wenige Gefallene Iiegen.

       Wir kamen nun in ein Dorf, das von der deutschen

Artillerie zur Halfte in Brand geschossen worden

war. Überall umstanden die Bewohner jammernd

ihre verbrannten, noch rauchenden Wohnstätten.

Eswohnten meist deutsche Ansiedler in jenem Dorf.

Fine Frau, die bei ihrem verbrannten Hause stand,

«rzählte uns, daß ihr Haus bereits vorigen Herbst,

"ci dem Vormarsch der Russen, verbrannt sei. lm

Frühjahr hatten sie es wiederaufgebaut, und nun

stehe sie wieder obdachlos da. Sie weinte zum Herzzcrbrechen.

Von ihrem Mann, der in der Festung

Przemysl war, hatte sie, seit die Russen die Festung

erobert hatten, auch keine Nachricht mehr. Was 50

ein KriegJammer und Herzeleid unter die Menschhcit

bringt!

       Zwei Tage spater kamen wir wieder zur Kornpanic,

Ich woilte mich unauffällig dazugesellen, doch

der Kompaniefeldwebel hatte mich bald entdeckt.

Wir hatten wieder einen neuen Kornpanieführer,

dell ich nicht kannte. Zu diesem führte mich der

leldwebel. Ich wurde ganz gehörig abgekanzelt,

                                157
und mit der guten Nummer in der Kompanie war es

natürlich vorbei. Es war mir alles einerlei, so gleichgültig

war ich geworden. »Sie gehoren exemplarisch

bestraftl tobte der Feldwebel. Da langte ich meine

Brieftasche aus der Rocktasche, kramte die Bescheinigungen

hervor und hielt sie dem Feldwebel hin.

»Was haben Sie da für einen Wischj'. schrie er.»Bescheinigungen

über meinen Aufenthalt seit meiner

Abwesenheit von der Kornpanie«, antwortete ich.

Ais der Feldwebel alles durchgelesen hatte, sagte er:

»Sie scheinen ein schlaues Schwein zu sein, aber ich

werde Sie noch rankriegen. Machen Sie, daß Sie mir

aus den Augen kommen! «

          [… ] Ich traf auf viele unbekannte Gesichter. Es

waren neue Ersatzmannschaften, die aus Deutschland

gekommen waren. Auch hatte die Kompanie

seit meiner Abwesenheit mehrere Verluste erlitten.

Ich kam zufällig' zu der Gruppe, in der mein Kamerad,

der Student aus Ostpreußen, sich befand. »]a,

Richert, wo kommst denn du blof her? Wo warst du

denn die Tage? Ich dachte schon, dir sei etwas zugestoûen!

« sagte er. »Ich habe bloß einige Tage Erholungsurlaub

gehabt hinter der Front«, antwortete

ich, worauf wir beide lachen mußten.

Nun ging es wieder weiter. Infolge der graßen

Hitze litten wir sehr Durst. Auf den schlechten

Straßen und Wegen lagerte bei dem trockenen

Wetter eine Unmasse Staub; durch die rnarschierenden

Kolonnen wurde er so aufgewirbelt, daß

man sich in einer regelrechten Staubwolke vorrts

bewegte. Der Staub legte sich auf Uniform und

Tornister, drang in Nase, Augen, Ohren. Da die

meisten unrasiert waren, setzte sich der Staub in

die Bärte, der Schweiß rann unaufhorlich hinab,

wahre Bachlein in den bestaubten Gesichtern bildend.

Bei solchen Märschen sahen die Soldaten

ganz ekelhaft aus.

   Infolge der unregelmaûigen Verpflegung, der

Uberanstrengung, des schlechten Trinkwassers, der

Hitze und der abgeschwächten Kërper brachen unter
                                    158
de Truppen Krankheiten aus, so die Ruhr, der

Typhus, Magen- und Darmkatarrh, welche viele Opfer

forderten. lch selbst litt oft an Durchfall. Ich

meldete Illich mehrmals krank, bekam dann auch

einige Arzneimittel, kam aber doch nicht ins Lazarett,

da ich noch kr äftig genug war, mich mitzuschleppen.

Wir wurden oft g'egen die ansteckenden

Krankheiten geimpft, was manchmal schmerzhaft

war. Die Stelle der Einimpfung auf der Brust schwoll

manchmal hoch an. Nach diesen Impfungen machten

viele Soldaten auf den Märschen schlapp und

wurden auf von Bauern requirierten Wagen hinten

nachgeführt.

         Wir marschierten noch 2 Tage, bis wir in die Nahe

des Städtchens Brzezany kamen. Am 18.Juli abends

erwarteten wir, gedeckt hinter einem mit Weizen

bepflanzten Hügel, die Nacht. Am Tage hörten wir

dauernd Kanonendonner. Ais die Nacht sich niedersenkte,

sahen wir über die Höhe hinweg, daßsich

der Himmel blutig rot farbre: es schienen gewaltige

Brande ausgebrochen zu sein. Nun kam der Befehl,

den Hügel zu besetzen. Wir kamen an mehreren

Gruppen Osterreichern vorbei, die eben dabei waren,

Tate zu begraben. lm Vorbeigehen fragte ich,

was hier eigentlich los sei, erhieltjedoch keine Antwort,

da keiner der Österreicher Deutsch verstand.

Ais wir die Hohe überschritten, sahen wir tief unter

uns mehrere Dërfer sowie einzelnstehende Cehöfte

lichterloh brennen. Es schien uns, als ob die Brande

mit Absicht gelegt worden waren. Mitten in einem

Weizenfeld, das nach vorne schrag abfiel, muûten

wir uns eingraben, etwa in 10 m Entfernung von

Mann zu Mann. Es wurde uns streng verboten, uns

bei Tagesanbruch zu zeigen, da die Russen die Stelle,

\VO wir lagen, gut übersehen konnten. So lagen wir

den ganzen Tag im Loche,jeder einzeln für sich. Die

Sonne brannte den ganzen Tag unbarmherzig hernieder,

qualender Durst stellte sich ein, und jeder

sehnte sich na ch dem kühlen Abend in der Hoffnung,

dass  dann von der Feldküche Kaffee oder

                                     159
doch wenigstens Wasser geholt werden konnte. Ich

war in meinern Loch eingeschlafen, als ich plotzlich

von einern lauten Krach aufgeschreckt wurde.

Gleich darauf schwebte eine Wolke schwarzer, stinkender

Granatrauch über mich. Eine Granate hatte

kurz vor mir eingeschlagen. Wahrscheinlich hatten

uns die Russen im Weizen entdeckt. Nun karn Granate

auf Granate, welche teils kurz hinter oder seitwarts

von mir explodierten. Es war mir ganz unheimlich

zumute, und ich vergaf sogar den qualenden

Durst. Endlich hörte die Schießerei auf, und

langsam senkte sich der Abend nieder. Der Tau

setzte sich an Gras und Halm. Um etwas Kühle und

Feuchtigkeit in den Mund zu bekommen, leckte ich

den Tau ab. Wir hofften, abends da wegzukornmen,

mußten jedoch bis in der Frühe des nachsten Morgens

bleiben. Da hieß es, die Russen hatten sich zurückgezogen.

Wir standen auf und betrachteten die

Gegend vor uns. Nirgends fiel ein Schuß, ebenso sah

man keine Spur von den Russen. Die Feldküche kam

angefahren, wir erhielten Essen: Kaffee, Brot sowie

Rauchrnaterial. Dann ging es wieder vorrts durch

verbrannte Dörfer, die die Russen absichtlich eingeäschert

hatten.

       Am Nachmittag stief3en wir wieder mit der russischen

Nachhut zusammen. Wir mußten in Schützenlinien

ausschwarrnen und gegen die Russen vorgehen.

Sie zogen sich bald zurück. ur von einem

runden Hügel, etwa 1500 m rechts var uns, bekamen

wir in die Flanke lebhaftes Infanteriefeuer. Durch

die große Entfernung hatte das Feuer jedoch nur

geringe Wirkung. Plötzlich stief mein Nebenmann

einen markerschütternden Schrei aus, ließ das Gewehr

fallen, drückte beide Hände VOl'das Gesicht

und schrie immerfort herzzerbrechend. Ich sprang

zu ihrn hin und sah das Blut zwischen seinen Fingern

hindurchlaufen. »Was hast du, Karnerad>. schrie

ich. »Die Augen, die Augenl rief el' weinend. »Ich

sehe nichts mehr! « Ich zog ihm die Hände vom Gesicht

weg und erschrak heftig. Der arme Mensch war

                            160

blind geschossen. Eine Kugel hatte ihm beide Augen

aufgerissen, sa daf sie ausliefen. Ein Jammerbild,

wie ich noch wenige gesehen hatte. DasJammern des

Kameraden ging mir, sosehr ich auch abgehartet

war, so sehr zu Herzen, daß mir selbst die Tranen

herunterliefen. »Ach, wenn mich doch nur eine Kugel

toten rdel jamrnerte er. Da immer noch Kugeln

um uns schwirrten, zog ich ihn auf den Boden

nieder und wickelte meine beiden Verbandspackchen

mn seinen Kopf, tröstete ihn, so gut ich konnte,

und versprach ihm, bei ihm zu bleiben und ihn dann

zurückzuführen, sobald das Feuer nachließ. Nach

einer Weile kamen 2 Sanitäter, die uns hatten liegen

sehen, und führten ihn zurück. Ich selbst lief der

Schützenlinie nach.

      Wir rasteten auf einer Anhöhe, von wo man eine

weite Sicht nach vorne hatte. Wir konnten mit dem

bloßen Auge die Kolonnen der zurückgehenden

Russen sehen. ln einem flachen Tale var uns lag ein

Dorf. Wir sollten dasselbe besetzen. Die Einwohner

hatten ihre paal' Mobel sowie Fenster und Türen von

ihren Hütten weg ins Freie getragen, im Falle, dass

ihr Dorf in Brand geschossen wurde. Eine Frau gab

mir im Vorbeigehen ein grolks Stück Brot. [... ]
 

 

 

 

         DER MARSCH NACH RUSSISCHPOLEN
 

Am anderen Morgen muûte sich das Regiment sammeln.

Es hi, wir sollten an eine andere Front transportiert

werden. Die einen sagten, nach Italien, die

anderen, nach Frankreich, wieder andere, nach Serbien

hinunter. Am liebsten wäre es mir gewesen,

wenn es nach Frankreich gegangen ware. Erstens

wurde man während der Reise nicht totgeschossen,

und zweitens hoffte ich dort auf eine baldige Gelegenheit,

auszukneifen und in Gefangenschaft zu gehen.

Den Russen traute ich nicht, und es wurde uns

vorgelogen, die gefangenen Deutschen würden

                                        161

nach Sibirien geschickt, um dort in den Bergwerken

zu arbeiten, wo die meisten balel vor Kälte undEntbehrungen

zugrunde gehen rden.

Bald wurden wir gewahr, daf wir uns aile getäuscht

hatten. Den ganzen folgenden Tag marschierten

wir hinter der Front entlang in westlicher

Richtung. Gegen Abend kamen wir vor das Städtchen

Przemyslany. Dort wurde haltgemacht. Wir

mußten in Gruppenkolonnen antreten und soUten

vor einigen öster reichischen Generalen im Parademarsch

vorbeimarschieren. Das fehlte noch! Mit unseren

müden Knochen! Ich selbst mußte mich an

den rechten Flügel der Gruppe stellen, da ich ais

aktiver Soldat den Parademarsch vorschriftsmäûig

gelernt hatte. Eine osterreichische Regimentsmusik

fing an zu spielen. »Irn Gleichschritt, marschl- Erst

etwa 30 Schritt vor den Cenerälen sollten die Beine

rausfliegen. Ais ich die beiden vollgefressenen, mit

Orden und Auszeichnungen vollbehängten Dickwanste

sah, die mit der kältesten Miene der Welt den

Vorbeimarsch abnahmen, erfaûte mich eine derartige

Wut, daßich es nicht über mich bringen konnte,

im Paradeschritt zu marschieren, und es ging im

Gleichschritt vorüber. Ein Feldwebel, der hinter mir

an der Spitze des dritten Zuges war, sagte dann zu

mir: »Na, Richert, warum sind Sie nicht marschiert?

«  »Ich war zu müde«, antwortete ich ihm.

»Sie hatten ganz recht«, sagte el' dann zu mir, »solchen

Blödsinn braucht man eigentlich nicht in

Kriegszeiten.« Die Nacht und den folgenden Tag

verbrachten wir in einem Dorfe. [... ] Statt dass wir

uns richtig ausruhen durften, mussten wir allen möglichen

Blödsinn exerzieren: Crüssen üben, Parademarsch,

Einzelmarsch, kurz: wie auf dem Kasernenhof.

       Von da ab sollte nur des Nachts marschiert werden,

um den russisehen Fliegern unmüglich z.u rnachen,

die Truppenbewegung zu beobachten. Mit

dem Dunkelwerden ging es weiter. [… ] Nach etwa

15 km trat ich zur Kolonne hinaus, um zu lesen, was

                                        162

an einern Kilorneterstein stehe. »Lwow J 3 krn «, las

ich. Lwow heilit auf deutsch Lemberg, die Hauptstadt

Galiziens. Diese Stadt will ich mir ansehen:

auch kann ich dort sichcr allerhand einkaufen,

dachte ich. Ich wulite ganz genau, daßman nie in

einer gsseren Stadr einquartiert wird , Also musste

ich auf eigene Faust dorthin gelangen. lch trat aus

der Kolonne und fragte den hinter der Kompanie

reitenden Kornpanieführer, austreten zu dürfen.

»Ja«, antwortete er, »aber machen Sie, dass sie so

schnell ais moglich wieder in Ihr Loch kommenl 

»Jawohl, Herr Leutnant«, antwortete ich, sprang

über den Straßengraben, ging hinter einen Busch,

stellte den Tornister auf den Boden und setzte mich

darauf. Der Vorbeimarsch der Division wollte kein

Ende nehmen. Da ich unter dern Tornister geschwitzt

hatte, bekam ich in der kühlen Nacht ganz

kalt auf dem Rücken. Endlich, nach etwa 2 Stunden,

fuhren die letzten Bagagewagen vorbei. Ich hing

rneinen Torriister um, mein Gewehr um den Hals,

zündete eine Zigareue an und ging gemütlich hinterher.

Nach etwa einer halben Stunde kam ich zu einem

einzelnstehenden Cehoft. Das Scheunentor war unverschlossen.

Ich ging hinein, kroeh ins Stroh und

schlief bald ein. Ich erwachte, ais mir die Sonne

durch ein Loch im Schindeldach ins Gesicht schien.

Eine Frau, die eben im Hof die Hühner fütterte, war

ganz erstaunt, als sie einen deutschen Soldaten aus

der Scheune kommen sah. Ich ging ZlI ihr hin und

grüßte sie auf polnisch: »Tschen dobra, madka!«

Worauf sie erwiderte: »Tschen dobre, pan! Das

heißt: »Cuten Morgen, Frau. Guten Morgen, Herr.«

Ich fragte sie nun um »rnilka«, »jaika«, »rnasla« und

»kleba« (Milch, Eier, Butter und Brot), zeigte ihr

meine Brieftasche und sagte: »Pinunze«, das heiût

»bezahlen«. Die Frau winkre mir, hineinzukommen,

und setzte balel das Verlangte auf den Tisch. Sie

mußte làcheln, ais sie sah, welches Quantum ich vertilgte.

AIs ich sart war, steekte ich noch etwas Brot

                                        163
 

und einige Eier in rneinen Brotbeutel, bezahlte, bedankte

mich und ging hinaus, denn ich hö rte a us der

Richtung, aus der wir gestern nacht gekommen waren,

WagengerasseI. Eine Trainkolonne karn angefahren.

Vorne ritt ei n Leutnant. Obwohl mir absolut

niehts fehlte, hinktc ich nach der nahen Straûe, bat

den Leutnant, mitfahren zu dürfen, da ich fuûkrank

geworden sei und meiner Truppe nicht mehr nachfolgen

konne. Der Leutnant, der ein gutes Herz zu

haben schien, schrie zurück, man solle mir in einem

Wagen Platz machen. Ich bestieg den zweiten Wagen

der Kolonne, legte mich hinter den Fuhrrnann auf

einige Sacke unter das gewülbte Zeltdach. Wir unterhielten

uns eine Weile; der freundliche Trainsoldat

gab mir auch aus einer Flasehe Cognac zu trinken.

Diese Gelegenheit wurde von mir gehorig ausgenützt.

Dann schlief ich ein. Durch ein seltsam surr endes

Ceràusch wurde ich aufgeweekt. Ich kroeh untel'

dern Zeltdach hervor und sah, daßieh mich in einer

Stadt befand. Das konnte nur Lemberg sein. Das

Ceräusch rührte von einem eben vorbeifahrenden

Trambahnwagen her. Auch fuhren wir eben an einem

Mar kt vorbei, wo auf Verkaufsstanden alles

mögliche zum Kaufen feil war. Sehnell nahm ich

Abschied vom Trainsoldaten und kletterte den Wagen

hinab. Nun ging es ans Einkaufen. Schokolade,

Wurst, Süßigkeiten vom Zuckerbacker und so weiter.

Dann ging ich in ein Gasthaus und lief mir ein

gutes Mittagessen vorsetzen. Nach dem Essen besichtigte

ich die Stadt. Es befanden sieh herrliehe

Straßen und sehr schone Gebäude darin, die ich in

Galizien nicht gesucht hätte. Zufällig karn ich zu

einem Militärauskunftsbüro, ging hinein und fragte,

wo das 2. Bataillon, Infanterieregiment 41 sieh gegenwartig

befande. [… ] lch karn eben bei meiner

Kompanie an, als sie sich zum Weitermarseh fertigmachte.

Unauffällig gesellte ich mich lU meiner

Gruppe. »Hcute nacht geht's bis zum Städtchen

Rawa Ruska, 35 krn«, hief es. Aulierhalb des Dorfes

gab es eine Stockung auf dern Marsche. Wir sollten
                   164

wieder im Paradeschritt VOl'einigen deutschen und

österreichischen Ceneràlen und höheren Offizieren

vorbeimarschieren. Von hinten tönte cler Ruf:

»Rechts ran l- Eine Kraftlastwagenkolorme fuhr

langsam an uns vorbei. »Wohin fahrt ihr P. horte ich

hinter mir einen Soldaten den Chauffeur fragen.

»Nach Rawa Ruska«, lautete die Antwort. Sofort

kletterten mehrere Soldaten auf die Camions [Lastwagen],

ich ebenfalls, trotz der wütenden Rufe der

Offiziere und Unteroffiziere. Nach etwa l y~ Stunden

hatten wir Rawa Ruska erreicht. Verschiedene

Einwohner waren noch nicht zu Bett. Wir gingen in

eine Bäckerei und kauften uns eine Menge Milchweeken,

koehten in einem Bauernhaus Miich dazu

und legten uns nach dem Essen ins Stroh, während

unsere Karneraden in der dunklen Nacht hierher

tappten. Am Morgen suehten wir unsere Kompanie,

die in einem Obstgarten schlief. Jeder von uns legte

sich zu seiner Gruppe. Am Abend ging's dann wieder

wei ter. Bei Rawa Ruska schienen schwere

Kämpfe stattgefunden zu haben. Überall sahen wir

Schützenlocher, Granattrichter und Soldatengräber.

Wir begegneten sehr oft Abteilungen russischer

Gefangener, die se hl' glücklieh schienen, in Cefangenschaft

gekommen zu sein. Der Marsch dauerte

6 Tage, dann hörten wir VOl' uns Kanonendonner.

Wir näherten uns wieder der Front. Wir befanden

uns nun in Russisch-Polen, links yom Flusse Bug.

Hier waren fast alle Dörfer und Cehöfte abgebrannt,

nur die gemauerten Ofen und die Kamine

standen noeh. Die Gegend war hier fast ganz eben.

Am Tage sahen wir nicht allzu weit VOl'uns Brande

und Schrapnellwolkchen in der Luft. »Morgen früh

werden wir eingesetzt, um die hier starke russische

Stellung zu durchbrechen!« hief es. Eine schöne

Aussicht!

                            165
 

 

 

 

 

              KÀMPFE lN RUSSISCH-POLEN

                     ENDE JULI 1915
 

ln der Nacht mußten wir vorgehen. Wir kamen an

vielen deutschen Batterien vorbei, die hauptsächlich

an den Waldrändern aufgestellt waren. ln einem

groûen Kartoffelfeld muêten wir uns eingraben. Die

Scsse der Infanterie knallten weiter vorne, sa daß

ich Hoffnung hatte, daf wir beim Angriff in Reserve

bleiben würden. AIs der Tag graute, fing die deutsche

Artillerie an, die russisehe Stellung zn beschie

Ben. [... ] Das Kleingewehrfeuer dauerte lange an, 50

daßwir nicht wissen konnten, wie der Kampf ausgefallen

war. Endlich ka men viele russische Gefangene

mit erhobenen Händen an uns vorübergelaufen. Ich

sah mehrere, die ganz gekrümmt daherkamen, sich

mit den Händen den Bauch hielten und stohnten.

Das waren Kranke, die mit der Ruhr oder Magenund

Darmkatarrh befallen waren. Diese armen Teufel

hatten aueh eine gute Pflege in Aussieht. »Fertigmachen,

vorwartsl- Tornister wurden umgehangt,

und vorwarts ging's. Bald kamen wir var die rus sisehe

Stellung. Gott, wie sah es dort aus! Sehr viele

gefallene Deutsche lagen vor und in dem Drahtverhau,

der teilweise von Granaten auseinandergerissen

war. Die Deutsehen muliten hier sehon vor einigen

T'agen ohne Erfolg angegriffen haben, denn

viele der Toten waren bereits in Verwesungübergegangen

und strömten einen entsetzlichen Gestank

aus. Es waren Bayern; dies sah ich an den Lowen, die

sieh auf den Knopfen ihrer Uniformen befanden.

Die preufiischen Regimenter hatten Kronen auf

ihren Rockknöpfen. Ieh sah dort Gefallene mit

sehrecklichen, angefaulten Kopfwunden, die bereits

von Würmern und Maden wimmelten. Schnell

bahnte sich jeder einen Weg über Cranatlocher und

wirren Draht, um aus dem Bereich dieses Geruchs

herauszukornmen. Dicht vor der russischen Stellung

sah ich einen Russen liegen. Er sah aus wie ein Sack

KartoffeIn, an dem ein Bein war. Kopf, beide Arme

                        166
sowie ein Bein waren weggerissen, die Wunden waren

ebenfalls mit Würmern bedeckt.

Die russische Stellung war sehr stark ausgebaut,

mit Balken bedeckt, darauf waren Bretter gelegt,

und das Ganze war mit Erde zugedeckt. Nur vorne

über dem Erdboden befanden sich die offenen

Schieûscharten. Die Russen hatten nur sehr wenig

Verluste, einige von Volltreffern in der Stellung Getroffene.

ln Sctzenlinien ging es wieder weiter.

Var uns sahen wir das Städtchen Grubeschow. Wir

glaubten dort auf Widerstand zu stoûen, konnten es

jedoeh kampflos besetzen. Es dauerte nicht lange, da

kamen russische Schrapnells herangeflogen. Wir

suchten hinter den Häusern Deckung. Zwei Frauen,

wahrscheinlich Flüchtlinge, suchten auf dem freien

Platze ein graßeres Kalb festzuhalten, das durch das

Sausen und Krachen der Schrapnells wild geworden

war. Trotz der um sie einschlagenden Schrapnellkugeln

lieben die beiden Frauen nicht von dem Kalb

ab. Wir sehrien und winkten, sie sollten doch zu uns

in Deckung kommen; alles half nicht. Da, ein Schrei,

eine der beiden war am Arm von einer Schrapnellkugel

durehsehlagen. Die andere Frau lief nun das

Kalb ebenfalls los, welches in tollen Sprüngen davonjagte.

Ich sprang mit noch einem Kameraden zu

der Frau. Wir beide schieppten sie hinter die Hauser

in Deckung, wo sie ein Sanitäter verband.

Gegen Abend hörte das Feuer auf. Ich schaute

nun um eine Hausecke und sah die russischeInfanteriestellung

am Rande eines Weizenfeides, etwa

700 m entfernt. Zwischen uns und den Russen befand

sich eine Mulde, durch welche ein Bach floû.

Hier müssen wir jedenfalls wieder angreifen, dachte

ich. Da es nachts zu regnen anfing, schiiefen wir in

den Häusern. Diese waren mit Soldaten vollgestopft,

so daßmir nichts übrigbIieb, aIs mich vorne in ein

Bett zn legen, in dem hinten an der Wand ein jüdisehes

Flüchtlingsmädchen schiief. Ich betete Ieise

den Rosenkranz, um beim morgigen Angriff wieder
wohlbehalt
en durchzukommen 
                    
167
 

 

 

 

 

   DER ANGRIFF BEI GRUBESCHOW

             30.JULI 1915

 

Am nachsten Morgen mullten wir hinter den Häusern

mehrere schmale, tragbare Brücken bauen, da

Patrouillen in cler Nacht festgestellt hatten, daf der

zwischen uns und den Russen vorbeifließende Bach

tief mit Treibsand angefüllt war, so daßein Durchschreiten

unrnöglich war. lch clachte bei mir: Das

wird was abgeben, wenn wir beim Angriff auf so

freiem Celande die Brücken zum Bach tragen und

ihn dann im Gänsemarsch überschreiten müssen!

Dieses Unternehmen schien mir tollkühn. Gegen

Abend ging's los; im Laufschritt wurden die Brükken

zum Bach getragen, dann folgten – ebenfalls im

Laufschritt-die lnfanteristen. Aber, 0 Wunder, von

drüben fiel kein Schuß. Ich dachte: Entweder haben

sich die Russen zurückgezogen, oder sie wellen uns

nur naher herankommen lassen, um uns mit

Schnellfeuer zu vernichten. Erst als wir die Brücken

überschritten hatten, fielen var uns einige Schüsse.

Ein Soldat fiel, durch die Stirn geschossen, einem

anderen wurde die Kinnlade zersehmettert. Dann

fiel gar kein Schuf mehr. lm Laufschritt ging es nun

mit Hurrageschrei auf die russisehe Stellung los.

Nichts regte sich. Ais wir vor dem Drahtverhau ankamen,

sahen wir auf einmal eine Menge Gewehre

mit Bajonett, auf denen russische Mützen hingen

oder weiûe cher angebunden waren, hin- und

herschwenken. Es wagte keiner der Russen, auch

nur den Kopf zum Graben herauszustrecken. VoU

Freude kletterten wir über den Drahtverhau. AIs ich

in den Graben hineinschaute, standen die Gewehre

an den Wänden umher. Die Russen waren wieweggeblasen.

lch rief in den Graben hinein. Da wurde

unter mir ein angstliches Gesicht sichtbar. Es befanden

sieh nach vorne, unter unseren lien, Höhlen:

in diese hatten sich die Russen in ihrer Angst verkrochen.

lch lachte gegen den Russen und deutete ihm,

nur herauszukommen. Nun kamen sie, einer nach

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dem anderen, heraus. Einige wollten uns Geld geben,

andere Butter, Brot und so weiter, daf wir

ihnen nichts tun sollten. Wir waren ihnen jedoch

sehr dankbar, denn durch ihr Verhalten hatten sie

manchem von uns sozusagen das Leben geschenkt.

Sie wurden nun aufgestellt und gezahlt. Es waren

450 Mann, 5 Offiziere mit 4 Maschinengewehren.

Wenn sie sich verteidigt hatten, wäre von uns kein

einziger vor ihren Graben gelangt. Wir übernachteten

in der russischen Stellung. Zur Sicherung wurden

Feldwachen und Vorposten aufgestellt. Jedoch

blieb alles ruhig.

Ais es morgens hell wurde, wurden ich, der ostpreuliische

Student und noch ein Soldat nach einem

etwa 1km vor uns liegenden Waldstück geschickt,

um dasselbe abzusuchen, Solche Befehle waren selten

gut auszuführen. Ohne das geringste zu bernerken,

kamen wir in den Wald. Der Student legte hier

die groHte Unerschrockenheit an den Tag. Jede

Vorsicht auber acht lassend, ging er vor uns her, mit

dem Gewehr im Arrn wie auf der Hasenjagd. Am

jenseitigen Wald rand schauten wir durch die Büsche

und sahen in etwa 1500 m Entfernung russischeInfanterie,

die eben mit dem Aufwerfen von Schützengraben

beschäftigt war. »Herrgott, schon wieder

eine Front vor uns! Wo blof die Russen diese Soldateri

alle hernehrnen!« sagten wir uns. Der Student

und ich blieben innen am Waldrand liegen, der andere

Soldat ging mit der Meldung zur Kompanie

zurûck. Abwechselnd beobachteten wir nun mit meinem

Glas die Russen. Viele von ihnen rupften Hafer

und Gras aus und streuten es auf die frisch aufgeworfene

Erde, um so die Stellung unsichtbar zu machen.

Dann kam der Soldat zurück mit dem Befehl,

wir sollten am Waldrand liegenbleiben, bis wir durch

Truppen abgelost werden würden. Gegen Mittag

besetzte ein Reserve-Infanterieregiment den Wald.

Am Nachmittag sollten einige Kompanien eine

Mulde rechts von uns, die mit Büschen bewachsen

war, besetzen. lm Laufschritt liefen die Soldaten

                                169

zum Walde hinaus. Sofort kamen russische Schrapnells

angeflogen. Wie vom Blitz getroffen sah ich

einen Soldaten gleich vor dem Waldrand zu Boden

stürzen. Hinter einer Eiche lag ein Leutnant mit

seiner Ordonnanz. Von rechts kamen aus weiter

Ferne groHe Granaten herangeflogen. Eine der selben

schlug neben der Eiche ein, hinter der die beiden

lagen. Sic wurden zur Seite geworfen und blieben

tot liegen. Wir drei liefen nun, von Zeit zu Zeit

hinter den Stämmen Deckung suchend, zurück. Ein

Kornpanieführer legte die Pistole auf uns an und

schrie, wenn wir noch einen Schritt zurückgehen

würden, knalle er uns nieder. Er glaubte, wir seien

Soldaten seines Regiments. Ich lief zu ihm hin und

teilte ihm den Befehl mit, den wir von unserer Kornpanie

erhalten hatten. Dann gingen wir zurück zu

der russischen Stellung, wo wir unsere Kompanie

verlassen hatten, doch dieselbe war weggerückt. Wohin,

hatten wir keine Ahnung. Wir gingen zurück

nach Grubeschow, kauften uns Lebensmittel und

übernachteten bei einer Judenfamilie, wo wir in einem

Zimmer am Boden schliefen.

         Wir suchten 2 voIle Tage, bis wir unsere Kornpanie

wiederfanden. Drei Kompanien des Bataillons

lagerten bei einem Gute, die vier te kampierte einige

hundert Meter weiter weg auf freiem Feld. Bald

erfuhren wir die Ursache. Injener Kompanie waren

2 Cholerafälle vorgekommen, die todlich verlaufen

waren. Viele Soldaten, die an Durchfall litten, kamen

zur Beobachtung in Seuchenlazarette. Cholera,

das fehlte noch, um die Serie der Leiden vollzurnachen!

Diese Seuche war gefahrlicher als die Kugeln

der Russen, denn dagegen gab es keine Deckung.

Wir wurden mehrere Male dagegen geimpft. Die

Nacht und den folgenden Ruhetag verbrachten wir

in einem armseligen, dreckigen polnischen Dorfe.

lch ging in ein Haus, um Eier zu kaufen. AIs ich die

Stubentür öffnete, fuhr ich erschrocken zurück. ln

der Stube lagen zwei tote Frauen am Boden, wahrscheinlich

Opfer der Cholera. Der eine der beiden

                                    170

Köche bei der Feldküche, der uns am Morgen noch

den Kaffee ausgeteilt batte, lag, ais wir das Mittagessen

holten, tot in einern Holzschuppen. Ebenso starben

am selben Tage noch 2 Soldaten an Cholera. Es

war ein schrecklicher Tod; sie wälzten sich am Boden

hin und her, krürnmten sich wic ein Wurm und

drückten fest immer die Hände gegen den Leib. Sie

muliten sich immer erbrechen, ebenso HoHder Sruhl

dauernd. Die Augen hatten schon die Farbe des

Todes angenommen, als die Ärrnsten immer noch

bei Verstande waren. Gegen Abend muûten wir antreten.

Unser Regimentskommandeur, ein Freiherr

von und zu, hielt hoch zu RoHeine Rede: »Kameraden,

ich fühle mich etwas unwohl. Morgen muf ich

mich für einige Tage zur Erholung in ein Lazarett

begeben. Ich wünsche und hoffe, euch aIle bei meiner

Rückkehr gesund anzutreffen. Wegtreten!« Am

anderen Morgen in aller Frühe hief es, der Regimentskommandeur

sei gestorben, ebenfalls an der

Cholera. Es wurde uns allen unheimlich zumute. Da

die meisten einen verdorbenen Magen und aft

Durchfall hatten, befürchtete man immer, ebenfalls

von der Krankheit befallen zu sein. Es wurde streng

verboten, Wasser zu trinken, das nicht abgekocht

war.

 

 

 

 

 

 

GEFECHT BEI CHELM (RUSSISCH-POLEN)

                     ANFANG AUGUST 1915

 

Morgens in aller Frühe verlielien wir das von der

Cholera verseuchte Dorf. Wir waren etwa 2 km

marschiert, als vorne schon die Knallerei losging.

Unsere Vorhut war auf Russen gestoHen. Wir muliten

uns hinlegen und abwarten. Allem Anschein

nach waren die Russen stärker aIs zuerst angcnommen,

denn plötzlich karn der Befehl: »Ausschwärmen

und vorgehen!« Vorläufig waren wir noch

durch eine sanft ansteigende, mit Hafer bepflanzte

                                171

Anhöhe gedeckt. Auf der Höhe angekommen, sah

ich var uns wellenförmiges Hügelland, meist mit

Hafer bepflanzt, dazwischen ein weit verstreutes

Dörfchen. Von den Russen konnte ich nichts sehen,

obwohl uns sofort Infanteriegeschosse umschwirrten.

»Hinlegen, eingraben!« Kaum hatten wir

einige Spatenstiche getan, aIs 4 Schrapnells über

uns platzten; mehrere Mann wurden verwundet,jedoch

keiner schwer. Sie konnten aIle ohne Hilfe

zurücklaufen. Die Batterie schoß mindestens 20 SaIven,

aber alles knapp über uns hinweg. Jeder arbeitete,

so schnell er konnte, mu so bald als moglich

gedeckt zu sein. Dann saßen wir in unseren Lachern,

die Sonne brannte uns unbarmherzig auf

den Pelz. »Becker, hast du noch etwas zu trinken?«

rief ich einen Kameraden an, der ein Loch vieUeicht

1Y2 m von mir gegraben hatte. Keine Antwort. Ich

dachte, er sei eingeschlafen, und kroch zu ihm hinüber.

Aber welches Bild bot sich mir! Becker saf in

seinem Loch und starrte mich an. Ich sah, daß el'

etwas sagen wollte, er brachte aber keinen Ton heraus.

Er mußte sich immer wieder erbrechen. Rock

und Bose waren ganz voU davon. Ich untersuchte

ihn und entdeckte eine Schußwunde im Nacken.

Die russische Infanteriekugel hatte die locker aufgeworfene

Erde durchschlagen, war in den Nacken

eingedrungen, wo sie dann wahrscheinlich in der

Kehle sitzen geblieben war. Ich verband ihm den

Hals, weiter konnte ich ihm nicht helfen. Matt griff

er nach meiner Band und schaute mich flehend an.

Ich verstand die Cebärde und sagte: »[a, Becker,

ich bleibe bei dir.« Ich steckte unsere beiden Seitengewehre

links und rechts von ihm in die Erde,

schnaUte sein en Mantel vom Tornister und spannte

denselben über die Seitengewehre, damit er vor

den heiBen Sonnenstrahlen geschützt war. Von

links kam der Befehl: »Fertigmachen zum Vorgehenl-

Ich bat noch 3 Kameraden, doch hierzubleiben,

um Becker am Abend zurückzutragen. Sie waren

gleich zufrieden, denn es war ihnen wie mir

                            172

lieber, im Loche zu liegen, als vorzugehen. Unser

Gruppenführer war vorher von einem Schrapnell

verwundet worden und zurückgelaufen, so daß niemand

da war, uns vorzutreiben. »Vorwärts, marschrnarsch!

« scholl das Kommando. Die Soldaten

sprangen aus den Löchern, und schon fingen die

Russen wie wahnsinnig zu schieûen an. Viele Kugeln

pfiffen über uns hinweg und durch den Hafer.

Was vorn los war, wußten wir nicht. Auch hatte keiner

von uns vieren den Mut, den Kopf über den

Hafer hinauszustrecken und Ausschau zu halten.

So lagen wir bis gegen Abend in den Löchern. Dann

breiteten wir Beckers Zelt auf den Boden, legten

ihn darauf. Zwei Mann zogen vorne an den Zipfeln,

2 Mann schoben hinten. Das war ein Transport!

Alles rnuûte im Kriechen geschehen, denn wir durften

über dem kurzen Bafer nicht sichtbar werden.

Endlich, nach vieler Müh' und Schweiß, kamen wir

hinter die Höhe, wo wir aufrecht gehen konnten.

Für Becker war dieser Weg der wahre Kreuzweg.

Er winkte mit beiden Händen zum Zeichen, daß el'

gehen wollte. Ich faßte ihn auf einer Seite, ein Kamerad

auf der anderen. Wir hoben ihn auf und

führten ihn eine Strecke weit, dann knickte er wieder

zusammen. Wir legten ihn wieder aufs Zelt und

schleppten ihn ins Dorf zum Bataillonsarzt. ln einer

Stube, in der schon viele Verwundete lagen, legten

wir Becker aufs Stroh. Ich bat den BataiUonsarzt,

sich doch seiner anzunehmen. Er kam, besah die

Wunde und gab mir durch einen Blick zu verstehen,

daß hier jede Hilfe nutzlos sei. Dann ging er

wieder zu anderen Verwundeten. Wir nahmen Abschied

von Becker. Er schien schon halb bewuûtlos,

denn er lag ganz still.

    AIs wir aus dem Haus traten, wurde eben eine

Truppe gefangener Russen zurückgeführt. Zwei

von uns steckten ihr Bajonett aufs Gewehr und gingen

aIs Begleitmänner mit. Da es nun dunkelte,

suchten wir bei den anderen Quartier für die Nacht,

schleppten Stroh in eine leere Stube und legten uns

                                 173

darauf. Jedoch der Magen fing an zu knurren, und

zum BeiBen hatten wir nichts. Ich stand auf, ging

hinter das Haus und machte im Gemüsegarten beim

Mondschein ein Kochgeschirr von Kartoffeln aus.

Nun sollten wir noch Wasser haben, um sie zu waschen

und zu kochen. Ich ging zu einem Ziehbrunnen,

der an der Straße stand. [... ] Da kam ein Soldat

und sagte: »Karnerad, du mußt hier kein Wasser

nehmen, es ist choleraverdàchtig. Siehst du, da

hängt ein Verbot am Brunnengestell.« Ich hörte

gleich am Akzent, daßder Soldat ein Elsässer war.

Auch kam mir die Stimme bekannt vor. Ich schaute

ihm in sein vom Mond beschienenes Gesicht, und

wirklich, es war der Schorr Xavier von meinem

Nachbardorf Fülleren. »Bisch  net der Schorr

Xeri vo Füllera?« redete ich ihn an. Er fiel fast auf

den Hintern, ais er sich so angesprochen horte.

»Doch, wer bisch denn dü?« Ich leuchtete mir mit

meiner Taschenlampe ins Gesicht. Er konnte mich

aber nicht erkennen, so abgemagert war ich. Auch

war ich noch unrasiert. Wir gingen nun zusammen

in mein Quartier. Schorr war Unteroffizier und

hatte die Aufsicht über die MGKompaniewagen,

brauchte so au ch kein Gefecht mitzumachen und

hatte immer genug Lebensmittel. Er holte in seinem

Quartier ein Kommißbrot, eine Büchse Fleisch, ein

Säckchen Zucker und Zwieback. Ais wir gegessen

hatten, legten wir uns aufs Stroh und erzählten uns

von der Heimat. Ich hatte kurz vorher einen Brief

aus der Heimat erhalten mit der Mitteilung, daßdie

Einwohner von Fülleren trotz der Nähe der Front

noch zu Hause seien. Darüber war Schorr sehr erfreut,

denn er hatte lange keine Nachricht von zu

Hause mehr erhalten. Wir erzählten uns, bis der

neue Tag zum Fenster hereinsah. Da nun Schorr

seinen Dienst versehen mußte, nahmen wir Abschied.

Ich selbst schlief dann bis zum Nachmittag.

Dann brachen ich und mein Kamerad auf, um unsere

Kompanie wieder aufzusuchen. Wir kamen

durch das Celände, wo tags zuvor das Gefecht stattgefunden

                                174

hatte. Überalliagen vereinzelte Tote, zuerst

Deutsche, dann Russen. [… ] Wir brauchten 2

Tage, bis wir unsere Kompanie wieder trafen. Wir

hatten es auch gar nicht eilig.

 

 

 

 

                GEFECHT BEI WOLODAWA

                        ANFANG AUGUST 1915

 

ln der folgenden Nacht marschierten wir wieder

mehrere Stunden. Dann mußten wir uns an einer

sanft ansteigenden Anhöhe zugweise in Reihen eingraben.

lm Dunkel gingen mehrere unserer Bataillone

leise nach vorne an uns vorüber. Keiner von uns

wulite, was los war. Mit Tagesanbruch fingen mehrere

Batterien hinter uns zu schießen an. Der Einschlag

der Geschosse erfolgte ziemlich weit vor uns.

Also lagen wir wieder in Reserve. Vorne ging das

Infanteriegefecht los. Es war aber nur von kurzer

Dauer, die Russen ergaben sich nach geringem Widerstand.

Ihre Artillerie streute mit kleineren Kalibern

das Celände ab. Auf einmal schlug eine

schwere Granate etwa 300 m vor uns ein. Gleich kam

die zweite, sie schlug etwa 200 m vor uns ein, die

dritte 100 m, alle drei genau in der Richtung auf uns

zu. »Du«, sagte ich zu dem ostpreuûischen Studenten,

der bei mir im selben Loche lag, »paf auf, die

nächste sitzt in der Kompaniel Es war uns unheimlich

zumute; wir duckten uns, so tief wir konnten, in

unser Loch. Dann kam die vierte angesaust. Sie

schlug in ein Loch etwa 3 m vor uns, in welchem 2

Soldaten des ersten Zuges lagen. Ais sich der Rauch

verzogen hatte, sahen wir einzelne Gliedmaßen von

ihnen herumliegen, Teile von Eingeweiden hingen

in der N ähe in einem Strauch, ein schrecklicher und

doch leichter Tod. Die nächste Granate flog über

uns hinweg. Dann hörten die schweren Geschütze zu

schießen auf. Nur noch einzelne Schrapnells kleiner

Kaliber kamen hie und da angeflogen. Da sagte der

                                175

Student: »Ich rnuf mal austreten« und ging hinter

einen in der Nähe stehenden Busch. Da kam ein

Schrapnell, platzte über ihm. Eine Kugel drang ihm

an der Schlafe in den Kopf. Er war sofort tot. Ich

halte ihn mit Hilfe meiner Kameraden und legte ihn

in das Granatloch, das die große Granate geschlagen

hatte. Die aufgelesenen Leichenteile der beiden anderen

Soldaten lagen bereits darin. Sie wurden nun

zugeschüttet. Ich schnitt mit dem Taschenmesser

2 dicke Stäbe aus dem Gesch, nahm eine Weide,

verband damit die beiden Stabe in Form eines Kreuzes

und steckte dasselbe auf ihr Grab. Ein Unteroffizier

schrieb ihre Namen auf ein Blatt Papier, welches

er mit einer Schnur am Kreuze oben festband. Nun

hatte ich den letzten meiner besten Kamer aden verloren.

Es war mir 50 sehr verleidet, daû ich mir bald

nicht mehr zu helfen wuûte.

»Vorwärts, marschl « hief es nun. Wir gingen über

die Felder der russischen Stellung zu. Davor lagen

einige gefallene Deutsche. ln der russischen Stellung,

die wunderbar angelegt und ausgebaut war,

sah ich nur zwei tote Russen liegen. Wir gingen nun

weiter vor und folgten den Truppen nach, die be-

, reits die Verfolgung aufgenommen hatten. ln einem

bis an den Boden abgebrannten Hause bot sich uns

ein grauenhaftes Bild, das uns fast alle erschaudern

machte. ln dem Hause hatte sich wahrscheinlich der

Verbandsplatz der Russen befunden. Ein Haufen

vollständig verkohlter Leichen lag am Boden. Eine

davon war einige Meter entfernt und nur auf der

einen Sei te verbrannt. Wahrscheinlich war es ein

Verwundeter, der sich retten woIlte, aber nicht mehr

weiterkriechen konnte. »Den Heldentod fürs Vaterland

gefallen!« Heldentod! Welche Lüge ist doch

dieses Wort. lch habe sa viel erlebt und durchgemacht.

Aber ich habe unter 1000 kaum einen Helden

entdecken können.

    Die Russen hatten sich wieder ganz aus der Gegend

verduftet. Wir marschierten mehrere Tage,

ohne daßein Schuf fîel. Wir kamen in wellenformiges

                                        176

Hügelland, welches meist mit Hafer und Gerste

bepflanzt war. Dort stießen wir mit Russen zusammen.

Ausgeschwarrnt in Schützenlinien ging's var.

Plotzlich bekamen wir starkes Schrapnellfeuer. Von

einem Schrapnell wurde mein Kamerad Anton

Schmitt aus Oberdorf schwer verwundet. Er bekam

3 Kugeln durch Schulter und Oberarm. Ich

schleppte ihn hinter eine in der Nähe stehende

Hütte, wo ich ihn mit Hilfe eines hinzukommenden

Sanitäters verband. Ein Feldwebeljagte mich wieder

in die Linie. Eine Gruppe unter Führung des elsässischen

Unteroffiziers Walter ging ausgeschwärrnt

etwa 100 m VOl' uns. Das Schrapnellfeuer hielt imrnerfort

an. Russische Infanterie konnte ich keine

sehen. Auf einmal wurde es var uns irn Hafer lebendig.

Russen, in Massen, standen plötzlich vor uns. Sie

liefen unter Uräh-Geschrei auf uns zu. Bald hatten

sie die Gruppe Walter erreicht. Die Soldaten Walters

warfen die Gewehre weg und ergaben sich den Russen.

Sie wurden sofort abgeführt. Wir waren alle

sehr aufgeregt, knieten irn Hafer nieder, und jeder

schoû, so schnell el' nur konnte. Wir standen einer

etwa 10- bis 15fachen Überrnacht gegenüber. Die

vordersten Russen schossen irn Vorgehen immer auf

uns. Wir hatten bereits mehrere Verluste. Sie waren

nur noch etwa 50 Schritt von uns entfernt. Ich wollte

eben mein Gewehr wegwerfen, um mich zu ergeben

– ein furchtbarer Moment, wubte man doch nicht,

ob man niedergestochen wird oder nicht-, da ertonte

hinter uns Hurrageschrei, und aus einer

Mulde stürmten 2 Kompanien unseres Regiments.

Sofort schossen sie über unsere Köpfe hinweg auf

die Russen. Die vordersten Russen stutzten. Sie wufiten

nicht, wie stark ihre neuen Angreifer waren.

Einige machten kehrt und rissen die anderen mit

sich. ln wenigen Minuten befanden sich aile auf der

Flucht. Wir schossen ihnen nach, was aus den Gewehren

ging. Sie hatten furchtbare Verluste.

    AIs wir nachher durch den Hafer vorgingen, lagen

überall von ihnen die Toten, fast aile auf dem

                            177

Gesicht. Die Überlebenden waren in einer Mulde im

Felde verschwunden. Die Verwundeten beider Parteien

wurden verbunden und an einen Fahrweg getragen.

Wir muliten wieder weiter. ln Schützenlinien

näherten wir uns einem Wald. Einzelne Schüsse

knallten uns entgegen. Plötzlich glaubte ich, einen

Peitschenhieb auf den rechten Ellenbogen bekornmen

zu haben.lch lief rnein Gewehr fallen, faßte mit

der linken Hand da hin und sah, daßmein Rock von

einer Kugel durchbohrt war. Am Ellenbogen fühlte

ich ein heftiges Brennen. Mein erster Gedanke war:

Gott sei Dank! Jetzt kornm' ich ins Lazarett! Ich lief3

mich zu Boden fallen, um den Russen kein lie! mehr

zu bieten, stülpte den Armel auf und erlebte eine

grof3e Enttäuschung. lch hatte nur einen Streifschull:

Eine Kugel hatte nur eine Rinne in die Haut

gerissen. Ich verband mich mit der linken Hand,

unter Mithilfe der Zähne, und blieb liegen. Ais die

Schüsse vorn aufhörten, ging ich zurück und lief

gerade auf den Bataillonsarzt zu. Ich wollte mich

eben vorbeidrücken, um mich weiter nach hinten zu

begeben, aIs er mich anrief: »Na, Mensch, was haben

Sie eigentlich? Kommen Sie mal her!« lch ging zu

ihm und wickelte meinen Verband auf. »]a, Junge,

das langt nicht fürs Lazarett! Sie bleiben vorläufig

2 Tage bei der Feldküche Ihrer Kompanie. Nachher

melden Sie sich wieder bei mir l- Ja, Feldküche! Wo

bist du? Gegen Abend kam sie angefahren, und ich

ging hinterher, nachdem ich mein Gewehr und meinen

Tornister aufgeladen hatte. [… ]

    Nach 2 Tagen meldete ich mich wieder beim Bataillonsarzt.

»So, Sie können wieder in Ihre Kornpanie

eintreten!« Ich wartete bis zum Abend und ging

mit den Essenholern wied el' zur Kompanie. Am

nachsten Tag marschierten wir an der Stadt Brest-

Litowsk vorbei und wandten uns ostwarts durch die

Rokitnosümpfe in Richtung Pinsk. Seit einigen Tagen

hatte ich wieder sehr an Leibschmerzen und

Durchfall zu leiden. Dadurch wurde ich derart abgeschwächt,

daß ich kaum nachlaufen konnte. lch meldete

                                178

mich wieder krank, muûte wieder zur Kompanie,

Dienst mitmachen. Wir kamen nun in eine waldreiche

Gegend, unsere Kompanie marschierte auf

einem schlechten Waldwegdahin. Pang-päng, knallten

vor uns einige Schüsse. Ein Aufschrei! Einer der

Soldaten hatte einen Schuf mitten durchs Knie erhalten.

Wir mußten uns hinlegen. Die russischen

Vorposten waren fortgelaufen. [… ] Wir muûten uns

im Walde eingraben und abwarten. Am Morgen

hieß es: »Vorgehenl- Es war wieder ein sehr heilier

Tag. [... ] Der Schweiß floß wie Bächlein an unserem

Korper hinab, und der Tornister drückte. Die Füûe

in den Stiefeln brannten wie Feuer. Es war Vorschrift,

daßjeder 300 Patronen mitschleppte. Das

war mir zu schwer. lch warf einfach 200 davon weg.

Meine Leibschmerzen nahmen derart zu, daßich es

nicht mehr langer aushalten konnte. Beim nachsten

Hait meldete ich mich krank. Ieh durfte Gewehr und

Tornister auf die Feldküche laden, mulite jedoch

weiter mitlaufen. Wir übernachteten in einem Gebüschwald.

Dort wurde ich vom Bataillonsarzt für

krank befunden: Magen- und Darrnkatarrh. HeITgott,

wie gcklich ich warl Das kann ich niemandem

beschreiben! Nun wußte ich, daßich von der Front

weg in ein Lazarett kommen würde.

    Beim Weitermarseh am nächsten Morgen mufite

ich wieder mit, denn der Bataillonsarzt sagte zu mir,

daß wegen mir alleine kein Sanitätswagen zurückgesehiekt

werden könne; ich solle noch dableiben, bis

mehrere Verwundete und Kranke beisammen seien.

Ich ging nun mit der Bataillonsbagage. Auf einem

fast unbefahrbaren Waldweg trafen wir auf eine

Flüehtlingskolonne. Diese armen Menschen waren

von den Russen zum besten gehalten worden: Wir

würden bei unserer Ankunft alles niedermetzeln.

Hals über Kopf warfen sie einige Lebensmittel und

das Notwendigste auf Wagen und flohen vor uns

her. ln jenem Walde hatten wir sie eingeholt. Es war

eine einsame, fast ganz unbewohnte Gegend. Die

Pferde der Bagage konnten fast nicht mehr weiter-

                                    179

kommen auf dem schlechten Weg. Da wurden einfach

die Pferde der arrnen Flüchtlinge ausgespannt

und als Vorspann genommen. Das Jammern und

Bitten dieser armen Menschen ging mir sehr zu Herzen.

Manche Frauen fielen vor den Soldaten auf die

Knie und baten und flehten, ihnen doch die Pferde

zu lassen. Alles war vergebens. Einige der rohesten

Soldaten kletterten noch auf die Flüchtlingswagen

und stahlen die Lebensmittel. Nun ging's wieder

weiter. Diejammernden Flüchtlinge wurden einfach

stehengelassen.

    Vorne fielen einige Schüsse der Patrouillen. Ein

Soldat kam zum Bataillonsarzt mit einem Armschuß.

Am Abend wurden noch zwei krank befunden. Der

eine hatte dieselbe Krankheit wie ich, der andere

Blutbrechen. Die folgende Nacht, die letzte an der

Front, schliefen wir vier unter einem Zelt. Am Morgen

in der Frühe kam ein Sanitater mit einem mit

2 pferden bespannten, leichten Wagen, wie sie in der

Gegend in Gebrauch waren. Wir setzten oder legten

uns darauf, und fort ging's nach rückwärts, Trotz

meiner Leibschmerzen hätte ich aufjauchzen können.

Nun war es sicher, daßich für einige Zeit nicht

totgeschossen werden würde. Auch freute ich mich

rie sig darauf, wieder in einem Bett schlafen zu können.

Meine drei mitfahrenden Kameraden befanden

sich trotz ihres Zustandes in der freudigsten

Stimmung. [… ]

    Der Sanitäter gab uns zu Mittag Kommihbrot und

Büchsenfleisch. lch wagte jedoch nicht zu essen aus

Furcht vor den danach wiederkehrenden Leibschmerzen.

[… ] Des anderen Morgens früh fuhren

wir mit einem Krankenauto, etwa 15 Mann an der

Zahl, meist Ruhrkranke, nach Grubeschow, wo wir

in der Nacht ankamen. Die russische, ganz neue

lnfanteriekaserne in Crubeschow war in ein Feldlazarett

umgewandelt worden. Ein verschlafener Sanitäter

empfing uns. Jeder erhielt eine Tasse Tee,

dann wurden uns Betten angewiesen, Soldatenbettstellen,

wie sie eben in der Kaserne üblich sind. Todmüde

                                180

 180

müde legte ich mich hin, deckte mich mit der darüber

liegenden weiûen, wollenen Decke zu und

schlief sofort ein. lch erwachte. Am ganzen Körper

bif und juckte es mich, so daßich mir nich t zu helfen

wuûte. An die Lause war man ja gewühnt, aber so

etwas, das war fast nicht mehr zum Aushalten.

Trotzdem schlief ich gegen Morgen wieder ein. AIs

ich erwachte, war es bereits heller Tag. Ich besah

meine Decke. Herrgott, die wimmelte ganz von Lausen!

[… ] Cerne wäre ich langer liegengeblieben,

aber es war mir unmüglich. lch erhob mich, kleidete

mich an, eine Arbeit, die ich auch nicht mehr gewöhnt

war, denn seit Februar (1915), also bald

6 Monate, hatte ich keine einzige Nacht unangekleidet

geschlafen.

    Gefangene Russen, die ais Krankenwärter fungierten,

brachten uns Tee und Kommißbrot. lch

ging hinaus, um mir die Umgebung anzusehen.

Gleich hinter der Kaserne war ein neu angelegter

Soldatenfriedhof. Etwa 10 Russen waren damit beschaftigt,

Graber zu graben. Aus dem ehemaligen

Exerzierhaus, das in ein Lazarett fur Cholerakranke

umgewandelt worden war, wurden eben zwei Leichen

herausgetragen und ohne Sang und Klang von

den Russen beerdigt. Auf allen Gräbern standen

schöne schwarze Kreuze, auf welchen mit weiûer

Farbe der Name, das Regiment und die Kompanie

der Toten verzeichnet waren. Auf den Kreuzen der

Russen stand nur: »Hier ruht ein tapferer Russe«

oder auch: "Hier ruhen drei tapfere Russen«, je

nach der Zahl der Soldaten, die in dem Grabe beerdigt

waren. Auf einem Kreuz las ich: »Musketier

Schneidmadl, 7. Kompanie, 1. Regiment 41«. Ein

Soldat, mit dem ich gut befreundet war. Es war mir

bei der Kompanie schon einige Tage aufgefallen,

daßer fehlte. So mulite ich ihn wiederfinden. lm

Feldlazarett wurden wir unserer Krankheit entsprechend

sehr schlecht verpflegt; es war eben noch

nicht richtig eingerichtet. Mit einem Kameraden

ging ich am Nachmittag in das Stad tchen Grube-

                                    181

schow. Wir hatten Glück. Jeder konnte einen schonen

Laib Weifibrot kaufen, welches jedenfalls für

unsere kranken Magen besser war als das Kommif3-

brot. Auf dem Heimweg wurden wir von einem J uden,

der vor seiner Haustür stand, angehalten.

»Gnädiger Herr, kommen Sie rein, trinken Sie eine

Tasse Tai, können Sie maehen Sehw ... für 2 Mark

mit meiner Tochter, soviel Sie wollen.« Mein Kamerad

haute ihm eine ganz Cehorige ins Gesieht, und

wir gingen wieder ins Lazarett. Viele dieser polnischen

J uden suchten auf aIle mëglichen Arten Geld

zu verdienen, niehts war ihnen zu gemein. Nur Geld,

Geld, weiter schienen sie niehts zu kermen.

    Jeden Tag kamen neue Verwundete und Kranke

in das Lazarett, manche waren dem Tode nahe. So

lag aueh ein Soldat neben mir, der sich vor Leibschmerzen

krürnmte wie ein Wurm in der Sonne. Er

hien Simon Duka, aus Obersehlesien. Ais der Arzt

ihn untersuehte, sagte er zum Wärter: »Bringen Sie

diesen Mann nach der Abteilung C!« Das war das

Exerzierhaus, in dem die Cholerakranken untergebracht

waren. Nach 2 Tagen ging ich über den

Friedhof. Auf dem Kreuze, das auf einem ganz frischen

Grab stand, las ich den Namen Simon Duka.

Die Cholera hatte ein Opfer mehr gefordert. Ich

hatte nur den einen Wunsch, so bald aIs möglich von

hier wegzukommen. Ich war 6 Tage in Grubeschow,

aIs wir aIle vom Arzt untersucht wurden. Alles, was

transportfähig war, soIlte anderntags weiter zurückbefördert

werden. Wir fuhren einen halben Tag auf

requirierten Bauernwagen, dann kamen wir zu einer

Feldbahn. Dieselbe war schmalspurig, und die

Züge, bestehend aus kleinen Plateauwagen, wurden

von Pferden gezogen. [... ] Die Gegend war sehr

langweilig und wenig bevölkert, die meisten Cehofte

und Dorfer abgebrannt. [… ] Wir passierten [am anderen

Morgen] die russisch-galizische Grenze. Auf

dem Bahnhof der Stadt Unow bestiegen wir den

Zug, der uns über Rawa Ruska nach Lemberg

brachte, wo wir des Nachts ankamen.

                                182

 

 

 

 

           IM KRIEGSLAZARETT lN LEMBERG

 

 

Das Kriegslazarett in Lemberg, in dem wir untergebracht

wurden, war ein grones Gebäude, eine frühere

Schule. ln dem Saale, der mir zugewiesen

wurde, befanden sich lauter Soldaten, welche an

Ruhr, Magen- und Darmkatarrh sowie Typhus litten.

Alles arme Menschen, welche die Hàlfte der Zeit

auf dem Abort sitzen muHten. AIs Lager dienten uns

am Boden liegende Strohsäcke. Die Verpflegung

war schleeht. Es herrschte überhaupt keine Ordnung;

österreichische Zuständel Langsam sehlichen

die Tage dahin. Es wurde sehr wenig erhlt, denn

fast aile Iitten furchtbare Leibschmerzen. Wenn einer

zu sehr jammerte, karn ein Wàrter, steekte ihm

das Thermometer unter den Arm, um das Fieber zu

messen. Ais ob das etwas nützen körinte. Ein Soldat

war darüber derart aufgebracht, dan er das Thermometer

an die Wand schleuderte, wo es in kleine

Stücke zerschellte. AIs ihn der Arzt deswegen zur

Rede stellte, sagte der Soldat, er verlange, wie ein

Mensch behandelt zu werden. Wir alle konnten

kaum den Tag erwarten, wo wir weitertransportiert

wurden.

 

 

                REISE ACH DEUTSCHLAND

 


 Endlich nach 6 Tagen ging's zur Bahn. Wir fuhren

3. Klasse. Die Reise ging durch Galizien an der Festung

Przernysl vorbei, dann über Jaroslau, Tarnow

nach Krakau. Wir fuhren auf einer zweigleisigen

Bahn. Alle 5 Minuten fuhr ein Zug aus Richtung

Deutschland an uns vorüber, beladen mit Mannschaften,

Kriegsgerät, Munition und Lebensmitteln.

Die Russen hatten auf ihrem Rückzug rntliche

Brücken zerstort, überall waren hölzerne Notbrükken

erbaut, über welche die Züge nur im Schritt

fahren durften. Manche dieser Notbrücken führten

                                     183

über tiefe Schluchten, 50 daßman sich kaum getraute

hinunterzusehen, Vor der Festung Krakau

hatten wir Aufenthalt; Tausende russischer Gefangener

waren gleich neben der Bahn mit Erdarbeiten

beschaftigt. Ein Gewitter kam, und es fing an zu

regnen, wie ich es noch selten erlebt habe. ln wenigen

Minuten waren die Russen bis auf die Haut

durchnäbt. Die Arbeitsstelle zu verlassen schien ihnen

verboten zu sein. Beim Weiterfahren passierten

wir die galizisch-deutsche Grenze. Unser erster Hait

in Deutschland war die Station Annaberg. Alles

mußte aussteigen, antreten, dann ging' es in die Entlausungsanstalt.

Diese war so groß wie ein kleines

Dorf. Jeden Tag wurden dort Tausende von Soldaten

von ihren Läusen befreit. Wir kamen dort aile

zuerst in einen Großen, erwärrnten Raum, wo wir uns

ausziehen mußten. Alles befand sich im Adamskostüm;

die meisten Soldaten waren derart abgemagert,

daß sie aussahen wie ein Knochengestell. Doch

aile schienen glücklich, weil sie mm wieder in ihrem

Heimatland waren und das angenehme Lazarettleben

in Aussicht hatten. Nun ging es in den Baderaum.

Von oben spritzte das warme Wasser in mehr

ais 200 Strahlen hernieder. Jeder stellte sich untel'

eine Brause. Wie wohl das tat, ais das warme Wasser

den Korper herunterrieselte. Seife war genug vorhanden,

bald waren wir aile ganz weif von Seifertschaum.

Nun noch einmal untel' die Brause, dann

ging es in den Ankleideraum. Jeder bekam ein neues

Hemd, Unterhosen sowie Strümpfe. Unsere Uniformen

waren inzwischen in Großen, eisernen Rohren

aufgefangen worden, die nun bis zu 90 Grad erhitzt

wurden. Die Hitze tötete Lause und Nissen, die sich

in den Kleidern befanden. Die Kleider selbst waren

arg zerknüllt und gelblich geworden. Das war uns

aber einerlei. Wir bekamen Verpflegung, die Magenkranken

Schleimsuppe, die uns weniger Leibschmerzen

verursachte ais festere Speisen.

    Nun ging es wieder zur Bahn, Wie wohl uns war,

làusefrei zu sein, kann nur der verstehen, der schon

                                    184

von diesem Ungeziefer gequalt wurde. Auf einem

Bahnhof trank ich ein Glas Bier; ebenso aHich einen

Apfel, den ich von einer Frau geschenkt erhalten

hatte. Es war eine große Unvorsichtigkeit von mir,

die so gut wie den Tod zur Foige hätte haben können.

Ich bekam derartige Leibschmerzen, daß ich

mich im Abteil herumwälzte. Nach und nach ging es

wieder besser. Die Nacht senkte sich nieder. Wo wir

des Nachts hinfuhren, wußten wir nicht. Am andel'en

Morgen hielt der Zug injedem Stad tchen. J edesmal

muliten so viele Kranke und Verwundete aussteigen,

ais Plätze in den Lazaretten frei waren. Die

letzten, darunter auch ich, verlielien in Fraustadt

(Provinz Posen) den Zug. Diejenigen, die nicht lau-

Fen konnten, wurden mit Wagen abgeholt. Das Lazarett

war in der dortigen Infanteriekaserne eingerichter,

darin lagen über 2000 Verwundete und

Kranke. Diejenigen, die an Magen- und Darrnkatarrh,

an der Ruhr und an Typhus litten, kamen in

die Seuchenabteilung, welche sich im Exerzierhaus

der Kaserne befand. Das große, geraumige Exerzierhaus

war in mehrere groHe Zimmer eingeteilt,

darin standen die weilien, reinlichen Betten. Neben

jedem Bett stand ein Nachttischchen, in der Mitte

lange Tische, mit allerhand Büchern, Zeitungen und

Zeitschriften bedeckt. Alles war peinlich sauber gehalten.

Hier wäre es zum Aushalten, dachte ich bei

mir. Neugierig blickten die in den Betten liegenden

Kranken uns an. Jeder von uns bekam ein Bett angewiesen.

Dann kam der Arzt und untersuchte uns

nochmals. Ich muûte mich sofort zu Bett legen. Wie

wohl das tat, ausgezogen, läusefrei in einem weichen,

sauberen Bett liegen zu könnenl

    Ich mulite jedoch of t, sehr oft aufstehen und

den Abort aufsuchen. Dabei hatte ich derartige

Schmerzen in den Cedärrnen, daßich mehrere

Male bewulitlos wurde. Es war, ais ob mit rnehrel'en

Bohrern darin herumgearbeitet wurde. Ich

durfte nichts, gar nichts zu mir nehmen ais Haferschleim

oder Reisschleimsuppe. Der Arzt warnte

                                    185

mich, sonst etwas zu genießen, da er sonst fÜT

nichts garantieren könne.

Die Behandlung war sehr gut, Schwestern, Arzt

und Wärter sehr freundlich. Jeden Morgen beirn

Erwachen stand auf jedem Nachttischchen ein

schöner Blumenstrauß, daneben ein Glas Wasser

mit etwas darin zum Mundausspülen. Jeden Tag

kam der Arzt zweimal durch. Nach und nach

wurde ich derart schwach, daßieh nicht mehr aufstehen

konnte. Jeden Samstag wurden wir gewagen.

Das erstemal wog ich noch 118 Pfund in Rock

und Hose, jedoch ohne Stiefel, das zweitemal im

Hemd 115 Pfund, das drittemal 114 Pfund [D. R.

war 1,78 Meter groß]. Fast alles Blut ging im Stuhl

fort. leh mußte oft stundenlang im Bett auf der

Bettpfanne liegen. Die Leibschmerzen wollten kein

Ende nehmen. Meinen Kameraden ging es nicht

viel besser. Manchen sogar schleehter. Von vielen

Kranken kamen die Angehörigen zu Besuch. Wie

gerne hätte auch ich meine Angehörigen gesehen.

[...]

    Eines MOIgens war mein Nachbarbett leer. Der

Kranke, der darin gelegen hatte, ein Familienvater,

war schon mehrere Tage so schwach gevvesen,

daßer kaum noch spreehen konnte. Nun war er in

der Naeht gestorben. Die folgende Nacht starb

wieder ein Ruhrkranker im selben Zimmer. lch erwachte

im Moment, ais die Wärter seine Leiche

hinaustrugen. Trotzdem ich immer Hoffnung

hatte durchzukommen, war mir manchmal nicht

einerlei [sic!], ich tat nichts ais leise beten, bis ich

vor Schwàche wieder einschlief. lch konnte nicht

einmal mehr die Schleimsuppe alleine schlürfen;

die Schwester mulite mir die Tasse an den Mund

halten und mich am Rücken etwas hochheben, so

schwach war ich. 16 Tage bekam ich weiter nichts

ais Schleimsuppe. Wie mir das zuwider wurde!

Wenn ich die Schwester damit kommen sah, ekelte

ich mich zuletzt sehr.

    Einmal bei der Visite tat ich, aIs ob ich schliefe.

                                186

Arst und Schwester traten leise an mein Bett.

»Nun, Herr Doktor, was halten Sie von Richert?«

fragte die Schwester leise. » lch habe bestimmte

Hoffnung, ihn durchzubringen. Er hat ein äuûerst

zähes Leben«, antwortete der Arzt ebenso leise.

Wie mich diese Worte glücklich machten! Ich war

von neuer Hoffnung beseelt, denn sterben, das ist

immer etwas Schweres im Alter von 22 J ahren.

    Nach und nach fühlte ich mich etwas kraftiger,

ich konnte mich wieder alleine erheben im Bett.

[... ] Wie ein Kind wurde ich wieder ans Essen

gewohnt. Endlich durfte ich etwas anderes genie

Ben. [... ] ln der ersten Woche, in der ich essen

konnte und durfte, nahm mein Körpergewicht

um 7 Pfund zu. Rasch kehrten die Kräfte zurück,

so daßich wieder gut aufstehen konnte.

Oft saûen wir draußen in bequemen Sesseln und

ließen uns von der Herbstsonne anscheinen. Mir

war so wohl wie noch nié seit Kriegsausbruch. ln

unserem Saal war kein Schwerkranker me hl', so

ging es manchmal laut zu. Es wurden Karten,

Dame, Domino und aile moglichen Spiele gespielt,

um die Zeit zu vertreiben. Es gefiel mir

sehr gut, doch schon oft dachte ich daran, daß

die Herrlichkeit ein jähes Ende finden könne,

denn immer weiter tobte der Krieg. Die gesund

aus dem Lazarett Entlassenen kamen gewohnlich

noch kurze Zeit in ihr Ersatzbataillon, dann wieder

an die Front; davor grau te mir, denn der

Winter stand wieder vor der Tür.

    Mein Kamerad Zanger August, mit dem ich immer

in regem Briefverkehr stand, war bald wied erhergestellt,

jedoch untauglich, um nochmals Soldat

zu spielen. Er befand sich noch immer im Reservelazarett

im Rheinland. Er schickte mir einen Aufnahmeschein

vom dortigen Lazarett. Ich freute mich

schon, daßdie Aussicht bestand, wiederzusamrnenzukommen.

Ich zeigte den Aufnahmeschein dem

Arzt und bat ihn, mieh dorthin reisen zu lassen. Er

sagte mir jedoch, daßdas unrnöglich sei, da mein

                                187

Ersatzbataillon vom Infanterieregiment 41 in Speyersdorf

bei Kënigsberg in Ostpreußen liege. Dann

sagte der Arzt zu mir: »Richert, Sie konnen

einen Erholungsurlaub von 4 Wochen beantragen;

ich werde denselben befürworten.«  »Das

ist mir unmöglich, Herr Doktor«, antwortete ich.

» Meine Angehörigen und Verwandten befinden

sich aile in dem von den Franzosen besetzten

Teil des Elsall.« [… ] »Sie sind wirklich zu bedauern,

Richert«, sagte der Arzt, erkundigte sich

noch, ob ich Nachricht von zu Hause bekommen

hätte, und ging dann wieder weiter. Am nächsten

Tag fragte ich den Arzt, ob ich nicht einem Erholungsheim

für 4 Wochen überwiesen werden

könne. »[a, das ist zu machen«, sagte der Arzt

und brachte mir einen Aufnahmeschein fürs Erholungsheim

bei den katholischen Grauen Schwestern

in Fraustadt. [… ]

    Dort wurde ich bei meiner Ankunft sehr freundlich

aufgenommen. Das Erholungsheim war das

frühere Bürgerspital der Stadt Fraustadt. Die Soldaten,

die sich dort befanden, hatten fast durchweg

ein gutes Aussehen. Sie waren bald wieder

reif, um auf die Schlachtbank geführt zu werden!

Die Verpflegung war ausgezeichnet und reichlich,

die Schwestern sehr freundlich und gut. Zwei

freundliche junge Mädchen servierten bei Tisch

die Speisen mit einem freundlichen "Bitte schönl

Des Morgens wurde bis 8 Uhr geschlafen, dann

wurde aufgestanden, gewaschen, dann erhielten

wir Kaffee, guten Mi1chkaffee mit Semmeln, die

entzweigeschnitten und mit Butter oder Marmelade

bestrichen waren. Um 10 Uhr eine Tasse

Fleischbrühe. Zu Mittag Suppe, Fleisch und Gemüse

oder Gebratenes und Nudeln. Dazu bekam

jeder eine kieine Flasche Bier. AIs Nachtisch Äpfel,

Birnen und hie und da Trauben. Um 4 Uhr am

Nachmittag Tee mit Semmel, natürlich mit Butter

oder Marmelade, manchmai belegt mit Schinken

oder Wurst. Abends 6 Uhr Bratkartoffeln mit  

                                188

Würstchen, nachher Milchkaffee. jeder konnte soviel

nehrnen, wie er wolIte.

Das war eine herrliche Zeit, rrur gingen die Tage

zu schnell um, und die 4 Wochen näherten sich

ihrem Ende. Oft brachten reiche Damen und

Fräuleins aus der Stadt Liebesgaben und unterhielten

sich rnit uns. Die Schwestern spielten oft mit

uns Domino, Dame und so weiter. Die jungen Soldaten,

die oft in einer kleinen Spitalkapelle der

heiligen Messe beiwohnten und auch hie un? da

die heiligen Sakramente empfingen, waren bel den

Schwestern besondes gut angeschrieben.

    Jede Woche nur einmal kam ein Arzt, der uns

untersuchte. jedesmal wurden Soldaten gesund erklart

und muûten uns verlassen und sich zu ihrern

Ersatzbataillon begeben. Nun waren meine 4 Wochen

ebenfalls vorüber. » Morgen kommt der

Arzt«, hi es. An jenem Morgen aß ich gar nichts,

rauchte schnell hintereinander emlge ZIgaretten,

trank den Magen voll kaltes Wasser, rannthinten

beim Aborr kurz vor der Visite wie wahnsmmg hm

und her und ging dann zur Unternuchung. Der

Arzt konstatierte zu rege Herztaugkelt. Auch hatte

ich infolge des Rauchens und Wassertrinkens auf

nüchternen Magen cin blasses Aussehen. "Sie bleiben

vorlaufig noch eine Woche hier.'" sagte der

Arzt zu mir. Ich hatte vorläufig erreicht, was ich

wollte, und konnte noch sieben der schönen Tage

verleben. ln der letzteu Woche wurden wir wieder

gewogen. Ich wog in Hernd und Hosen 157 Pfund.

Also hatte ich 43 pfund zugenommen. AIs diese

Woche vorbei war wurde ich gesund erklärt und

hekam die Reisebescheinigung nach Speyersdorf

bei Konigsberg. Ich schlief schlecht die letzte

acht, traumte vom Kasernendrill und vom Leben

an der Front. 28. Oktober 1915: ln jener Nacht fiel

der erste Schnee. [... ] 

                            189

 

 

 

            IM ERSATZBATAlLLON DES

          lNFANTERIEREGlMENTS 41 lN

             SPEYERSDORF UND MEMEL

 

Am Bahnhof bestieg ich den Zug Richtung Kéinigsberg.

Die Reise war langweilig, da es kalt und alles

versehneit war. lch fuhr den ganzen Tag und die

folgende Nacht. [… ] Das Ersatzbataillon des Infanterieregiments

41 war vor dem Orte Speyersdorf

gleich neben der Stralie in hölzernen Baracken untergebracht.

[… ] Der Feldwebel wies mir eine Baracke

an und sagte, daßich mieh um 9 Uhr bei der

Visite des Arztes untersuchen lassen müsse. lch ging

in die Baracke, wo mir ein Bett angewiesen wurde.

leh bekam Kaffee und Kommißbrot. AIs ich den

ersten Bissen Kommillbrot aß, glaubte ich, ein Stück

Erde im Mund zu haben. lch bekam eine große

Sehnsueht nach der guten Verpflegung bei den guten

Sehwestern in Fraustadt. Das war jedoeh vorbei,

und ich mußte mieh ins Unabänderliche fügen. Yom

Arzte erhielt ich 10 Tage dienstfrei und kam in die

Genesungskompanie. Naeh der Untersuchung ging

ich im Hofe spazieren. Es waren viele Soldaten da,

die zu halben Krüppeln geschossen waren und auf

ihre Entlassung warteten. Eben humpelte ein Soldat

an mir vorbei, der in jeder Hand einen Stock hielt,

um sich zu stützen. lch dachte: Der hat sicher beide

ße durchgesehossen. lm Vorbeigehen sah er mir

ins Gesieht, blieb stehen und rief: »Menschenskind,

bist du nieht der Richert?« – »Ja, der bin ich«, antwortete

ich. »Na, kennst du mieh denn nicht mehr?«

sagte er, worauf ich verneinte. »Wir waren doch in

den Karpaten zusammen, bis mir am Berge Zwinin

beide Füße erfroren!« Nun erkannte ich ihn. Sein

Gesicht war jetzt fast doppelt so breit als darnals in

den Karpaten. Deswegen konnte ich ihn nicht gleieh

erkennen. Er erzählte mir, daß ihm nun alle 10 Zehen

abgenommen worden seien. Jedoch er freute

sich darüber und sagte: »Es ist mir lieber, oh ne Zehen

zu leben, als mit Zehen irgendwo an der Front

                                    190

 

verscharrt zu werden. Für mich ist der Krieg vorbei,

und ich bekomme 70 Prozent Rente.« Wirklich, er

war zu beneiden, wenn er auch zeitlebens ein halber

Krüppel war. Ich traf an jenem Tage noch mehrere

Soldaten meiner Kompanie aus dem Felde. Mehrere

von ihnen humpelten oh ne Zehen umher. Einer

hatte einen Arm abgenommen, ein anderer einen

    Arm und ein Bein steif. Sie schienen jedoch aile

g-lücklich, denn bald konnten sie für immer zu ihren

Eltern zurückkehren.

Am folgenden Tage traf ich Anton Schmitt aus

Oberdorf, den ich im Felde verband, als er von

😉 Schrapnellkugeln verwundet worden war. Er

mulite jeden Tag nach Königsberg, um sich seinen

Arm, der geheilt, aber doch steif war, elektrisieren

und massieren zu Iassen. (Er wurde vollständig wiederhergestellt,

kam später ins Feld, wo er fiel.)

    Eines Tages traf ich auch den jungen ostpreußischen

Lehrer, der beim Angriff auf Livtira Gorna

am l.Juli 1915 einen Schuf quer durehs Gesieht

bekornmen hatte. An beiden Wangen hatte er rote

Punkte, Ein- und Austritt der Kugel. Da die Zunge

verietzt war, konnte er nieht mehr so gut spreehen

wie vorher. Er war Vizefeldwebel geworden, da er

das Einjahrige hatte. ln nächster Zeit sollte er Leutliant

werden. Er Iud mieh ein, einen Abend mit ihm

in Kéinigsberg zu verbringen. Wir amüsierten uns

recht gut. Es war jedoch für mieh das erste- und

letztemal, denn mein Portefeuille hielt das nieht

aus. leh hatte weiter niehts als 33 [sic!] lumpige

Pfennig Léihnung pro Tag. Und das reiehte nieht

einmal, um das Néitigste zu kaufen. So konnte ich

zusehen, wie andere Soldaten, die Verbindung mit

der Heimat hatten, Geld und Pakete mit Eûwaren

crhielten und sich's gut sein lieûen, wie sie Theater,

Kinos und Wirtschaften besuchen konnten, während

ich auf die lumpige Soldatenkost angewiesen

war und mit Ieeren Tasehen in den Mond gueken

konnte. Trotzdem fühlte ich mieh glücklieh, werm

ich mein Leben mit dem an der Front verglich, und

                            191

ich wünschte, dass es immer bis Kriegsende so bleiben

möge.

    Ich war vielleicht eine Woche in Speyersdorf, als

das ganze Ersatzbataillon an der Bahn verladen

wurde. Wir fuhren über 1nsterburg, Tilsit, Heydekrug

nach Memel hinauf, wo die Kaserne desInfanterieregiments

41 sich befand. ln der Nacht kamen

wir dort an. [... ] Das Leben dort war doch angenehmer

als in den Baracken. Es war viel wärrner in den

Stuben und besser sauberzuhalten.

Memel ist eine Hafenstadt an der nordostlichen

Spitze Deutschlands, an der Ûstsee gelegen. Da ich

noch nie das offene Meer gesehen hatte, hatte ich

großes Verlangen danach, es zu betrachten. [... ] Ich

ging ohne Urlaub am Torposten vorbei durch die

Stadt nach dem Hafen. Yom Hafen ging ich auf die

Mole, auf welcher vorne an der Spitze ein Leuchtturm

aus Beton stand. [… ] Eben war stürmisches

Wetter, ich konnte mich nicht satt sehen an dem

Bild, das sich mir bot. Immerfort kamen rnehrere

Meter hohe Wellen herangerollt, die sich an der

Mole brachen und zum Teil darüber hinwegspritzten.

Es war, als ob eine Woge die andere jagte. Es

war, aIs ob das Wasser bis auf den Grund aufgewühlt

wurde. [... ]

    Am nächsten Tag lief mich der Feldwebel rufen.

Er hatte in meinem Soldbuch gesehen, daf ich seit

Kriegsausbruch im Felde stand und noch keinen

Urlaub erhalten hatte. Ich bekärne 14 Tage Urlaub,

sagte er. »Ich kann denselben nicht annehrnen«,antwortete

ich, »denn ich weif nirgends hinzufahren«,

und klärte den Feldwebel über meine Verhältnisse

auf. »Donnerwetter!« sagte er. »Das ist allerhand.

Na, wir wollen sehen. Es liiI3t sich auch hier leben,

und ich werde Sie beim Dienst berücksichtigen!«

Dieser Feldwebel war ein Mann, wie sie in der deutschen

Armee nicht zahlreich herumliefen. ln den

folgenden T'agen mulite ich wenig Dienst mitmachen,

obwohl die 10 vom Arzt befohlenen dienstfreien

Tage vorüber waren. [… ]

                                    192

    Einmal war ich auf Hafenwache abkommandiert.

Ich muûte an dem Tore Posten stehen, das aIle ausund

in den Hafen gehenden Pers onen passieren

mußten. Der ganze Hafen war nämlich mit einem

Gitterzaun umgeben. Wenn die Hafenarbeiter zu

Mittag essen gingen, gab es viel Arbeit, um aIle Passe

nachzusehen. Ebenso, wenn sie wieder ZUT Arbeit

kamen. Es war meist ein ganz gemeines, grobes Volk,

das einen Dialekt sprach, den der Teufel nicht verstehen

konnte. Mehrere fuhren mich grob an, aIs ich

ihre Passe verlangte, denn ich hätte sie doch erst vor

einer Stunde gesehen, als sie zum Essen gegangen

waren. Ich hatte jedoch den strikten Befehl, keine

Person ohne Paß passieren zu lassen. Mir wäre es ja

ganz gleichgültig gewesen, aber ich wußte ja nicht,

ob ich von einem Vorgesetzten beobachtet wurde.

Da hätte ich gleich meine 3 Tage Loch weggehabt.

Ich konnte sie alle beschwichtigen bis auf einen, der

ein ganz gemeiner Mensch zu sein schien. Er wollte

mir unbedingt den PaH nicht vorzeigen. Da trat ich

etwa 2 Schritt zurück, rif mein Gewehr an die Backe

und forderte ihn noch mal auf, den Pa/3 vorzuzeigen

oder sich zu entfernen. Nun gab er nach, zeigte den

Paß und ging brummend hindurch. Am Abend wollten

einige liederliche Dirnen zu den auf den Schiffen

befindlichen Matrosen. Ich lief sie jedoch nicht

durch. Sie gingen zurück. Doch später sah ich, daf

sie über den Zaun kletterten und doch auf die

Schiffe gingen. Was wollte ich mach en? Ich tat, aIs

hatte ich nichts gesehen.

    Am nächsten Morgen kam ein etwa 17jahriger

Junge zu mir und ließ sich in ein Cesprach mit mir

ein. Er wollte sich freiwillig zum Kriegsdienst melden.

lch riet ihm davon ab und malte ihm das Leben

an der Front derart vor, daßihm die Haare zu Berge

standen. »Nein, wenn es so ist, will ich lieber warten,

bis ich eingezogen werde..  »Es wird dann noch viel

zu früh sein«, sagte ich. Er bedankte sich und ging

weg. Ich hatte das GefühI, ein gutes Werk getan zu

haben.

                                    193

    Am folgenden Tag war Löhnungsappell, ln Memel

erhieltenwir 53 Pfennig Kriegslöhnung statt 33.

Ais alles entlöhnt war, rief der Oberleutnant: »Musketier

Richert solI vortreten!« Ich hatte keine Ahnung,

weshalb, trat vor und stand still. »Es ist meine

Pflicht«, fing er an, »der Kompanie von Ihrer mutigen

und energischen Haltung auf Posten bei der

Hafenwache Mitteilung zu machen. Ich spreche Ihnen

meine voile Anerkennung aus. Sie sind närnlich

yom Offizier der Runde beobachtet worden, ais Sie

jenen rohen Lümmel von Hafenarbeiter zum Vorzeigen

des Passes zwangen.« Ich war ganz überrascht.

Nun, schaden kann esja nichts, wenn man bei

den Vorgesetzten eine sogenannte gute Iumrner

hat.

    Eines Sonntagabends wurde ich zur Wirtschaftspatrouille

kommandiert. Wir waren ein Unteroffizier

und 2 Mann. Wir mußten die Gewehre mitnehmen

und den Helm aufsetzen. Der Unteroffizier war

ein ganz gemütlicher Mensch, der den Kopfvoll von

Spaûen hatte. Er benahrn sich gar nicht ais unser

Vorgesetzter, sondern ais Kamerad. Wir hatten den

Auftrag, nach der Polizeistunde in den Wirtschaften

Feierabend zu bieten und Soldaten, die keinenUrlaubsschein

hatten, aufzuschreiben und zu melden.

Wir besuchten mehr ais 20 Wirtschaften. Kaum

blinkten unsere Helrne in der Gaststube, ais der Win

oder die Wirtin uns zum Schanktisch rief, einem

jeden einen Humpen oder ein Cläschen Cognac hinstellte

und uns zum Trinken aufmunterte. Nach und

nach bekamen wir ganz gehorige Schwipse. Den SoIdaten,

die wir auf der Straße trafen und die keinen

Urlaubsschein hatten, sagte der Unteroffizier, sie

sollten nur hinter der Kaserne über die Mauer klettern

und sich nicht erwischen Iassen. Die Soldaten

waren sehr froh, denn aIs wir sie anhielten, glaubten

sie bestimmt, ins Loch zu fliegen. So kamen wir auch

in ein öffentliches Haus. Herrgott, wie die halbnackten

Dirnen zusammenfuhren, als wir eintraten.

Denn sie wußten, daß ihnen, wenn sie nach der Polizeistunde

                                    194

Polizeistunddie Bude nicht geschlossen hatten und

erwischt wurden, das Haus geschlossen wurde. Unser

Unteroffizier tat, ais wolle er eine Meldung

schreiben. Die Dirnen baten und flehten, wollten

uns schmeicheln und küssen und alles mögliche. Der

Unteroffizier jagte ihnen eine ganz gehorige Angst

ein. Schließlich muI3te er doch lachen, zerriI3 die

angefangene Meldung und sagte, sie brauchten

keine Angst zu haben; worüber sie sich nicht wenig

freuten und gleich 2 Flaschen Bier hinstellten. Wir

hatten jedoch genug getrunken und gingen in die

Kaserne, um unseren Rausch auszuschlafen.

Am nachsten Tag hieß es, daI3 ein Transport Ersatzmannschaften

von unserem Ersatzbataillon nach

der russischen Front geschickt werden sollte. Das

wirkte wie eine Bombe. Jeder befürchtete, nach der

Front geschickt zu werden. Vor dem russischen Winter

hatten aile einen heiligen Respekt. Es war eben

erst Ende November. 1ch wußte bestimmt, daß ich

auch an der Reihe war, denn ich war ganz gesund

und hatte 110ch ein gutes Aussehen von der guten

Lazarettverpflegung.

Da kam plotzlich der Befehl: »Alles antretenl Das

Ersatzbataillon soIlte ~O Mann nach Pillau senden,

zur 1. Ersatzmaschinengewehrkompanie des 1.Armeekorps.

»Wer freiwillig zu den Maschinengewehren

gehen will, soli sich meldenl Ich war einer der

ersten, der vorsprang. Denn ich dachte: Sei es, wie es

will, es ist immer besser aIs an der Front. Und die

MG-Mannschaften brauchen nie einen Bajonettangriff

mitzumachen, das ist auch was wert! Also

wurde ich nach Pillau bestimmt. 

                                195

 

 

 

                        BEI DER

ERSATZMASCHINENGEWEHRKOMPANIE

            DES I. ARMEEKORPS lN PILLAU

 

Am folgenden Tag- fuhren wir ~() Mann mit der

Bahn nach Königsberg, von da nach Pillau. Das

Städtchen liegt an der Spitze einer [… ] Landzunge,

die vom Festland in die Ostsee hinausragt. Pillau ist

von drei Seiten mit Wasser umgeben: nach Nordwesten

von der Ostsee. nach Südwesten von der Einfahrt

ins Frische Haff und nach Osten yom Frischen

Haff selbst. PilIau selbst ist eine Seefestung. Gleieh

hinter dem Städtchen liegt auf einer kleinen Anhohe

das Fort Stiele.

            [… ] Wir hatten vom Bahnhof etwa eine Viertelstunde

zu gehen bis zur Kompanie. Dieselbe bewohnte

einstückige, gemauerte Baracken. Davor

muJ3ten wir antreten. Der Kompaniefeldwebel namens

Hoffmann, ein Mann mit einem machtigen

Körperbau, Bulldoggenstirn und Stiernacken, hielt

eine Begrûfiungsrede, und was für eine! Ich glaube

nicht, daSS naeh Cayenne [1852-1938 berüchtigtste

Straflingsinsel Frankreichs in Französisch-Guayana]

gebrachte Verbrecher mit soleh unvernünf ..

tigen Worten empfangen werden würden. Dann

wurden wir in die Stuben verteilt, wo uns Spinde

und Betten zugewiesen wurden. Alles war in peinlichster

Ordnung und Sauberkeit. Daran konnte

man schon sehen, dan hier eine äulierst strenge Disziplin

zu Hause war, ahnlich wie in den Kasernen

var dem Krieg. Am folgenden Tag begann die Instruktion

über das Masehinengewehr. Das war nicht

sa einfach, bis man die Namen aller Teile und Teilchen

kannte und das Zusammenarbeiten aller Teile

beim SchieHen erfassen und dann selber vortragen

konnte. Das Excrzieren draulicn im Sehnee

war viel unangenehmer, auch waren die mit Steinen

gefüllten Munitionskästen sehr schwer zu

schleppen.

    Die Unteroffiziere, die sehon im Felde gewesen
                         
196

waren, behandelten uns viel bosser als jene, die immer

in Garnison geblieben waren und derien das

Schleifen und Qualen der Soldaten zur Cewohnheit

geworden IVar. Eine Zeitlang gehürte ich zur Gruppe

des Unteroffiziers Altrock, der ein dumrnes Luder

war, aber uns Ull1 so besser drangsalieren konnte. Es

war mir rnanchmal verleidet, doch trostete ich mich

darnit, daf ich hier doch nicht totgeschossen wurde.

Manchmal mubten wir das MG mehrere hundert

Meter im Kriechen durch den Schnee schleppen;

dabei kam der Schnee in die Armel. fast bis zu den

Achseln hinauf. Ebenso hatte man die Stiefel davon

voll. Die Hände waren so kalt, dali man das Eisen am

Gewehr fast nicht mehr anfassen und halten konnte.

Am kältesten IVar es, werm der Wind über die Ostsee

pfiff und wir am Strande exerzierten.

    Die Verpflegung war ziemlich gut, besser als in

Memel. lu Mittag gab es oft Kartoffeln mit Solie und

2 Künigsberger Klopse (Fleischknödel), die ich

gerne aû. Jeder durfte nur eine Portion holen. Mehrere

Male gelang es mir jedoch, 2 Portionen zu erhaschen,

denn die Klopse schmeckten abends gut zum

KommiI3brot. Ich machte, daßich beim Essenernpfangen

einer der ersten war, aI3 dann schnell meine

Portion auf und schlof mich hinten an der Reihe an.

Einmal erwischte mich der Unteroffizier, der beim

Essenholen die Aufsicht hatte, und meldete rnich

dem Ungeheuer von Feldwebel Hoffmann. Das wird

was Schönes absetzen! clachte ich mir. leh warjedoeh

derart abgehartet, dan mi ch die Sache ziernlich

gleiehgültig lien, und fressen konnte mieh Hoffmann

ja nieht. »Richert soli auf die Schreibstube

kornmen!« hien es. Ich ging hin. »Sie Kaffer! Sie

stamrnen wohl aus der Polakei, daßSie an einer

Portion nicht genug bekommen. Sie wollen wohl ins

Loch fliegen?« Alles war in einem Ton gesproehen,

daß die Wande zitterten. Ais er fertig war, bat ich,

sprechen zu dürfen, und erzählte ihrn, daßich aus

dem von den Franzosen besetzten Teil des Elsasses

starnmte, daher keine Verbindung mit der Heirnat  

                            197

hätte und einzig auf die Verpflegung in meiner Kaserne

angewiesen sei. »So, wenn das so ist, können

Sie meinetwegen 2 Züge holen!« Hoffmann schien

doch noch ein bilichen menschliches Gefühl im

Leibe zu haben! So konnte ich jeden Tag 2 Portionen

empfangen. Die eine Portion sparte ich gewöhnlich

für den Abend auf und wärrnte sie dann auf dem

Ofen.

    Einmal wurde ein Film gegeben, über den ich

mich ärgerte. »Franktireurs- hieß er. Es wurden aile

möglichen Schliche und Kniffe gezeigt, wie die französische

Zivilbevölkerung einzelne oder mehrere

deutsche Soldaten in ihre Gewalt lockte und dann

ermordete. Diesel' Film diente dazu, den HaI3 gegen

die Franzosen noch wei ter aufzustacheln. Dabei

wuûte ich, daßes in diesem Krieg gar keine Franktireurs

gab. [… ]

    Nun nahte das Weihnachtsfest heran. Ein schöner

Christhaum wu l'de in einem groI3en Saale aufgestellt;

zuerst wurden einige Weihnachtslieder gesungen,

dann das »Deutschland, Deutschland über alles-

und »Heil dir im Siegerkranz«. Solcher Blödsinn!

Der Hauptmann Grosse, ein Elsässerhasser,

hielt eine Rede, die wohl in die Kriegszeit paûte, aber

urn so weniger an Weihnachten. Dann erhielt jeder

eine kleine Bescherung.

    Wir waren nun am Maschinengewehr vollstandig

ausgebildet, und der Dienst war nicht mehr so

streng. [… ] Manchmal hatten wir ScharfschieI3en

mit dem Maschinengewehr. Anfangs war ich etwas

aufgeregt, wenn das Geknatter losging. Beim guten

Funktionieren des Maschinengewehres konnten wir

in der Minute 2 Gurte, 500 SchuI3, hinausjagen. [… ]

    Auf meiner Stube herrschte untel' den Soldaten

eine gute Kameradschaft. Mein bester Kamerad war

ein Ostpreuße namens Max Rudat, dessen Eltern

eine groI3e Landwirtschaft betrieben und der von

ihnen oft Paketchen erhielt, von denen el' mir immer

etwas abgab. Eines schönen Tages Mitte Januar 1916

mubten wir antreten. Die MG-Kompanie des 1nfanterieregimentes

                                      198

44, welches an der nordrussischen
Front vor der russischen Festung Dünaburg lag,

hatte 16 Mann Ersatztruppen verlangt. 1ch hatte das

Pech, zu den 16 zu gehören. Mein Freund, der nicht

eingeteilt war, bat den Feldwebel, mit mir an die

Front gehen zu dürfen, was auch geschah.

        Am folgenden Tag erhielten wir reichlich Verpflegung

auf die Reise. Ais ältester Soldat wurde ich

als Transportführer bestimmt. Nachdem wir Abschied

von unseren gIücklichen Kameraden genommen

hatten, ging es zur Bahn. Herrgott, wie wird das

wieder werden! j etzt, mitten im Win ter, in die eisige

Kälte Rußlands hinein! Jedenfalls hab' ich noch eine.

nen Kameraden, dachte ich. Damit trostete ich mich 
ein  wenig.

 

                DIE REISE NACH DER NORDRUSSISCHEN

                            FRONT – MITTEjANUAR 1916

 

Wir bestiegen in Pillau den Personenzug und fuhren

nach Königsberg. [… ] Die Fahrt ging über 1nsterburg,

Gumbinnen. Bei Eydtkuhnen passierten wir

die preuHisch-russische Grenze. Gleich beim Eintritt

in Rußland war die Bauart der Hauser wieder armseliger.

[… ] Wir passierten die Festung Kowno, fuhren

über den Fluf Njemen, der ganz mit treibenden

Eisschollen bedeckt war. 1mmer weiter ging die

Fahrt über Radsiwilischki, Rakischki, Abeli nach Jelovka.

Wir kamen an, als es Abend wurde. Wir konnteri

mit noch vielen anderen Soldaten, meist Urlauhern,

in Baracken schlafen. Da nicht eingeheizt war,

Iroren wir, obwohl wir uns in unsere Decken hüllten.

(· ..) 
                                199

 

 

 

 

                    BEI DER MG-KOMPANIE,

                    INFANTERIEREGIMENT 44

Am Morgen […] kamen wir in dem hohon Schnee

nur langsam vorwärts. Endlich, nach 2stündiger

Wanderung, erreichten wir das Gut Neugrünwald.

Von der Front tönten einzelne Kanonenschüsse herüber.

Ich meldete mich beim Kompaniefeldwebel

und teilte mit, daßdie 16 Mann Ersatz aus Pillau

angekommen seien. Der Kompaniefeldwebel namens

Kaminsky machte einen guten, freundlichen

Eindruck auf mich. »Na«, sagte er, »Lhnen wirds

hier schon gefallen.« Er kam mit mir hinaus, ich lief

die 16 Mann stillstehen, wie das eben Vorschrift war.

Der Feldwebel fragtejeden nach seinem Namen, wo

el' her sei und so wei ter. Dann wies er uns einen

Raum an, in dem ein Ofen und Soldatenbetten aus

Draht waren. Wir waren aIle über den Empfang bei

der Kompanie zufrieden, denn hier herrschte ein

viel freundlicherer, kameradschaftlicherer Ton als

in Pillau. Gleich mußten wir Essen empfangen. Es

war gut und reichlich. Die ersten beiden Tage

brauchten wir gar nichts zu tun als nur im Walde

Holz zum Heizen holen.

    Das Gut Neugrünwald bestand aus einem groHen

Wohnhaus und mehreren Stàllen und Nebengebauden.

[… ] Die Reserveschützen, zu denen wir 16 gegenwartig

gehorten, waren in 2 Räumen untergebracht.

lm ErdgeschoH des Wohnhauses wohnte der

Bataillonsstab, in einem Nebengebäude eine Kompanie

»Schipper«, wie man die Soldaten ohne Waffen

nannte, die hinter den Fronten ReservesteIlungen

bauen mußten. lhr richtiger Name war Armierungssoldaten.

ln einem kleinen Nebengebäude war

eine Kompaniebadeanstalt eingerichtet. Drei Badewannen

standen bereit, in denen sich die Soldaten,

die aus dem Schützengraben kamen, reinigen konnten.

Ein Barbier muhte jedem, der es verlangte, unentgeltlich

die Haare schneiden und rasieren. Beque-

mer konnte man es wirklich nicht verlangen. [… ] 
                                    200

 

200

 

    Am dritten Abend, mit dem Dunkelwerden, muß-

ten wir nach der Front, Arbeitsdienst machen. Der

Weg führte fast eine Stunde immer durch düsteren

Tannenwald. Vorne an einem Waldrand in einer

kleinen Mulde mußten wir warten. Hier hörte ich

wieder die ersten Kugeln pfeifen. »Na, Max, wie

gefaIlt dir diese Musik?« fragte ich meinen Freund

Max Rudat, der noch nie im Felde gewesen war.

»Offen gestanden, Nickel«, antwortete er, »ich finde

die Sache etwas unheimlich.«

    Nachdem wir eine halbe Stunde gewartet hatten,

karnen von vorne einige Mann unter Führung eines

Unteroffïziers durch den Schnee. Nun mußten wir

schwere Stahlplatten von 2 m Lange und 1rn Breite

nach vorne tragen. Es war eine Schinderei, bis die

Platten auf die Schultern gehoben waren. Da man

ganz dicht zusammenstand, konnte man nur ganz

kurze Schritte machen. Wir mussten über freies Gelande

nach dem Schützengraben gehen. Der Schnee

reichte uns bis an die Knie. Wenn die Russen Leuchtkugeln

in die Hohe schossen, muliten wir stehenbleiben,

um nicht so gut gesehen zu werden. Dicht hinter

dem Graben legten wir die Platten nieder. Wir

schleppten 8 Stück nach vorne. Bei der letzten Platte

wurden wir wahrscheinlich von den Russen bemer

kt, denn viele Schüsse knaIlten, und die Kugeln

pfiffen dicht um uns. Jeder hätte sich gern fallen

lassen, nur war dies unmoglich. Da rief ich: »Achtung

– schmeisst weg!« Die Platte flog zu Boden,

während aIle links und rechts etwas zurücksprangen.

Dann steIlten wir die Platte hoch und knieten

uns dahinter. Klatsch, schlug eine Infanteriekugel

vorn in die Platte. Wie das klang! Nach einer Weile

hörte die Schieûerei auf, und wir trugen die Platte

nach varne. Dann ging's in schnellem Tempo zurück

nach Neugrünwald, denn aIle hatten nasse, kalte

Füsse und verlangten nach heiliem Kaffee.

    Am folgenden Tage erhielt ein Mann vorne einen

Armschufi. Ein Sanitater brachte ihn zurück nach

Neugrünwald. Ich rnulite meine Sachen packen, um

                                        201

vorn in der Stellung seinen Platz einzunehmcn.

Vorne am Wald rand gingen der Sanitater und ich

durch den Laufgraben nach der vorderen Stellung.

Ich war ganz erstaunt, ais ich die Stellung bei Tage

sah. Wirklich, so was harre ich noch nie gesehen! Der

Graben war auf beiden Seiten mit Tannenstangen

verschalt, am Boden lagen sogenannte Roste aus

Dachlatten, so d man sich keine Stiefel dreckig

machte. Jeder lnfanterist hatte seine Schießscharte.

ln der vorderen Grabenwand waren Kästchen mit

Munition und Handgranaten angebracht. Der Graben

schien fast ganz verlassen, nur die Posten standen

in gedeckten Postenstanden und beobachteten

durch den Grabenspiegel, eine Art Periskop, die

russische Stellung. Die anderen Soldaten hielten sich

in warmen Unterständen auf, die schrag nach hinten

eingebaut waren. »Hier«, sagte der Sanitäter zu mir,

»wohnt Ihre Besatzung. Sie haben einen guten Unteroffizier..

lch ging in den Unterstand. Dichter

Tabakrauch füllte denselben wie dichter Nebel,

darin sah ich 4 Mann an einem Tisch Karten spielen.

Ein weiterer Soldat war eben mit Briefeschreiben

beschaftigt. ln dem Unterstand befand sich ein kleines

Ofchen, das vorn vielen Heizen stellenweise rotglühend

war. An der hinteren Wand befanden sich

zweimal 3 übereinandcr angebrachte Drahtbetten.

Mein erster Gedanke war: Hier ist's zum Aushalten.

Vor dem Unteroffizier stand ich still und meldenmich

zur Stelle. » Iach keine Flausen«, sagte er Zu

mir. »Stillstehen gibt's hier bei mir nicht. Sie machen

einfach Ihren Dienst. lm übrigen sind wir aIle Karneraden.

Wie heifit du. fragte er mich weiter. »Richert

«, antwortete ich. »Ich meine, mit Vornamen «.

sagte er, worauf ich meinen Vornamen Dominik

nannte. [… ] »Gut, wir nennen dich einfach Nicki!

[… ] Nicki, willst du was essen?« fragte mich der

Unteroffizier weiler. »Habt ihr was meinte ich.

»Cewiss, nimrn nur da oben auf dem Brett, was di

willst.: Ich schaute hinauf und war nicht wenig CI

staunt: Mehrere Kornmiûbrote, se, Schrnalz

                              202

ersatz, Dauerwurst und Butter lagen da nebeneinander,

daneben standen 2 Kistchen Zigarren und Zigaretten.

»Nein, so was ist mir noch nicht vOl·gekommen,

seit ich Soldat bin«, sagte ich.

    Nachmittags mulite ich Posten stehen. Ourdi den

Grabenspiegel betrachtete ich das Gelande vor mir.

Gleich neben dern MG-Stand ging ein Laufgrabeu

nach dem im Drahtverhau gelegenen Horchpostenloch.

Zwei breite Drahthinderriisse schützten die

Stellung gegen einen Angriff. Vor der russischen

Linie, die etwa 250 m entfernt lag, waren ebenfalls 2

Drahtverhaue. An mehreren Stellen sah ich dort

Rauch aufsteigen, auf unserer Seite dasselbe Bild.

Alles war ruhig, nur von Zeit zu Zeit horte man nah

oder Fern den Donner eines Geschützes und das

Krachen der einschlagenden Granaten. Hie und da

knallte auch ein Gewehrschuß. Jede Nacht muliten

wir Doppelposten stehen, 4 Stunden im Unterstand,

~ Stunden stehen und so weiter. Des Nachts war das

Postenstehen langweiliger, und es war empfindlich

kalt, so daf man sich immer bewegen und trampeln

muûte, um nicht zu frieren. [... ]

    Am dritten Tage stand ich eben von 12 bis 2 Uhr

nachrnittags Posten. Urn mir die Zeit zu vertreiben,

dachte ich an die Heimat und an alles magliche.

Alles war ruhig. Nirgends fiel ein Schuû. Auf

c-inmal hörte ich eine Explosion, von deren Stärke

ic.h noch keine gehort hatte. Der Boden erbebte, und

ich wäre beinahe vor Schrecken zu Boden gefallen.

1la sah ich etwa 500 m links von mir VOl' der deutsrhen

Stellung eine mehr ais 100 m hohe Rauchwolke

hochschief3en, eine Unmenge Erdschollen flogril

umher. Die Russen hatten eine unterirdische

Mine springen lassen, um die deutsche Stellung dort

ill die Luft zu sprengen. lm selben Moment sauste es

hcran. Direkt VOl' mir irn Drahtvcrhau explodierten

vier schwere russische Granaten, groHe Löcher in

dCIl Drahtverhau reiHend. Nun folgte ein Artillerielc-

uer , in dern einern Hör en und Schen verging.Dazwischen

prasselte von der Stelle, an der die Spren 

                                203

gung erfolgt war, heftiges Infanterie– und MGFeuer.

Die russische Infanterie stürrnte vor und besetzte

den gewaltigen Sprengtrichter. Aber schon

setzte der deu tsche Gegenstoß ein, wobei ein Teil der

Russen entfloh; die anderen wurden gefangengenommen.

Das russische Artilleriefeuer hielt an. Vor,

hinter und hie und da im Graben selber krachten die

Granaten. Gleich bei den ersten Schüssen kam der

Unteroffizier mit der ganzen Besatzung aus dem

Unterstand gestürzt, da sie einen Angriffberchteten.

Wir duckten uns aile im Graben zu Boden, um

nicht von Splittern und Erdschollen getroffen zu

werden. Nul' der Unteroffizier hielt von Zeit zu Zeit

Umschau nach den Russen. Dabei traf ihn ein fingergroßer

Granatsplitter oberhalb des Ohres am

Mützenrand, so daßel' wankte und betäubt zu Boden

stürzte. Eine Wunde war nicht zu sehen, nul'

eine Beule. Ich hielt ihm schnell eine Handvoll

Schnee an die Stirne, und sofort kam el' wieder zu

sich. Er wu/3te im ersten Moment gar nicht, was

geschehen war. Nach einigen Minuten hatte el' sich

vollstandig erholt.

    Gleich neben uns befand sich ein Unterstand, der

von 8 Infanteristen bewohnt war. Ein kurzer Laufgraben

führte nach der Eingangstür. Neben der Tür

war ein Fensterchen eingebaut. Gleich eine der ersten

Granaten schlug neben der Eingangstür ein.

Dadurch wurde der Laufgraben var der Tür mil

Erde zugeworfen, sa daßes den Infanteristen U[1

mëglich war, die Tür, die nach au/3en aufging, ZlI

öffnen. Sie rissen von innen das Fensterchen weg.

warfen die Gewehre hinaus und krochen einer nach

dem anderen hinaus, um im Graben Aufstellung ZlI

nehmen. Ais eben der letzte durch die Fensteflnung

kroch, schlug eine Granate oben auf den aus

Holz gebauten Unterstand. Durch den Druck gaI>

der Unterstand etwas nach und schob sich zusarn

men. Der Infanterist, dessen Oberkorper und

Hände aerhalb der Fensteröffnung waren, wäh

rend seine Beine noch innen hingen, wurde einge-

                                    204

klemmt und konnte weder VOl'noch zurück. ln Todesangsten

schrie er um Hilfe. Zwei seiner Kameraden

versuchten ihn herauszuziehen, was aber nicht

ge!ang. Durch in der Nähe einschlagende Granaten

waren die beiden gezwungen, im Graben besser gedeckte

Plàtze aufzusuchen. So hing der Arme ganz

allein in Todesängsten und suchte sich mit Handen

und Armen gegen die herumfliegenden Erdschollen

zu schützen. Endlich, nach etwa einer halben

Stunde, hörte das Artilleriefeuer auf. Nun konnte

an die Befreiung des armen Soldaten gegangen werden.

Da das Herausziehen nach innen und aullen

unmöglich war, blieb nichts anderes übrig, ais das

unter ihm befindliche Stück Tannenholz aufbeiden

Seiten durchzusagen und herauszunehmen. Nun

wurde der var Angst halbtote Soldat heruntergenomrnen,

wo sich alsbald herausstellte, dan er vollständig

unverletzt war.

        Nun bat ich den Unteroffizier um Erlaubnis, zu

Max Rudat zu gehen, um nachzuschauen, ob ihm

«twas passiert sei. Der Graben war teilweise ebengeschossen,

so daf ich an mehreren Stellen kriechen

mubte, um von den Russen nicht gesehen zu werden.

Mehrere Soldaten waren verschüttet, und man

war eben daran, sie auszugraben. Auch sah ich drei

Gefallene im Graben liegen. Mehrere Leichtverwundete

hatten sich bereits aus dem Staub gemacht. Drei

Unteroffiziere, die in einem Unterstand Karten gespielt

hatten, wurden von einer Granate, die die

Decke durchschlug und in dem Unterstand explodierte,

vollständig in Scke gerissen. Max Rudat

stand eben Posten neben seinem MG und machte ein

ganz sonderbares Gesicht. Der Schrecken war noch

nicht ganz von ihm gewichen. »Na, Max, wie hat's dir

diesmal gefallen>. fragte ich. »Frag nicht, Nickel«,

antwortete er. »Ich lag platt auf dem Grabenboden

und hätte mir var Angst bald in die Hosen gernacht.«

Dabei zeigte er mir mehrere frische Cranatlöcher

dicht neben ihm. Wir freuten uns, beide mit heiler

Haut davongekommen zu sein. [... ]

                                    205

    Eines Naehts stand ich Posten und unterhielt mieh

mit dem Offizierstellvertreter, der eben die Posten

revidierte. Der Mond beleuchtete fast taghel! c1ie

Gegencl. Um mieh warrn zu halten, trat ich von einern

Bein aufs andere. Plützlich dben ein scharfer

Knall, ein heftiger Klang am rechten Ohr. Die Kugel

hatte meinen Stahlhelm an der rcchten Seite in

Stirnhohe gestreift und die graue Farbe weggerissen.

lch erschrak nicht wenig. Da c1ie hintere Wand

schrag und mit Schnee bedeckt war, hatte ein Russe

wahrscheinlich die Bewegung meines Kopfes auf

dem weilien Hintergrund bemerkt und wollte mieh

gleich ins Jenseits befördern. Von c1aab war ich viel

vorsichtiger.

    Nach und nach schmolz cler Schnee, und der

Frühling steIlte sich ein. Das Leben im Schützengraben

wurde viel angenehmer. Beim Postenstehen am

Tage konnte man sich schön von der Sonne bescheinen lassen.

    Eines Tages karn der Befehl, einen Handstreich

auszuführen, in die russischen Graben einzudringen

und festzustellen, was fur ein Regiment uns gegenüberliege.

Zu diesem Zweck wurden mehrere Wassereimern

ähnliche Cefäûe in unserem Graben aufgestellt

und der Inhalt angezündet, ais der Wind

nach cler russischen Stellung wehte. Es entwickelten

sich dichte, für das Auge undurchdringliche Rauchwolken,

die mit dem Luftzug langsam dem russischen

Graben zustrebten. Etwa 20 Mann Infanterie

liefen in c1en Rauchwolken nach der russischen Stellung

hinüber. Mit Drahtscheren bahnten sie sich

einen Weg durch die Ilindernisse und drangen iu

c1ie russische Stellung ein. Wir lauschten gespannt

hinüber, aber es fiel kein SehuJ3. Die Russen, die

wahrseheinlich die Rauchwolken fur Gaswolken

hielten, hatten an dieser Stelle den Graben geraumt.

Alle Infanteristen kamen heil wieder zurück. Sie

brachten ein russisches Cewehr und mehrere Stahlschutzschilde.

Ein Mann harre in einern Unterstancl

eine Brieftasche mit Militàrchlein gefunden,

                                    206

warin man die Nummer des russischen Regiments

und der Division feststellen konnte.

    Eines Tages im Mai schof die russische Artillerie

irnmer an dieselbe Stelle in unserem Drahtverhau,

bis schlieBlieh eine breite cke entstand. Wir dachten,

daß die Russen in der folgenden Nacht bestimrnt

eiueri Angriff rnaehen rden, und trafen

unsere Vorkehrungen. Hinter der Lücke wurden in

unserem Graben 3 faschinengewehre aufgestellt

und der Graben an dieser Stelle von Infanterie stark

besetzt. Von Zeit 'zu Zeit wurde eine Leuchtkugel

abgeschossen, die c1asCelände zwisehen den Stellungen

mit zitterndem Lichtschein überflutete. Aufeinmal

hief es: »Sie komrnen!« Ein prasselndes MGund

Infanteriefeuer unsererseits brach nun los. Die

Artillerie, die telephonisch benachrichtigt wurde

und deren Bedienungsmannschaften bereits an den

Geschützen stand en, legte ein starkes Sperrfeuer

zwischen die Stellungen. Ich konnte beim besten

Willen keinen Russen sehen, obsehon alles von den

Leuchtkugeln fast taghell erleuchtet war. Sie hatten

sich namlich ins hohe Gras geworl'en, als die Schielierei

losgegangen war. Da sah ich plötzlich einige von

ihnen aufspringen und in ihren Graben zurücklau-

Fen. Auf einmal wimrnelte alles von fliehenden Russen,

die in ihren Graben verschwanden. Nach einigen

Tagen las ich in der Zeirung: »Südlich von Illuxt

wurde ein starker russischer Nachtangriff mit

schwersten Verlusten für den Feind abgeschlagen.«

Nun, gar so richtig war die Sache nicht. Aber jede

Kleinigkeit mulite eben aIs groJ3er Sieg ins Land

hineinposaunt werden, um c1ieKriegsstimmung des

Volkes aufreehtzuerhalten.

    lm Mai 1916 wurcle unsere MGBesatzung einige

hundert Meter naeh rechts verschoben. Dort zog

sich die Stellung durch einen herrlichen Tannenund

Birkenwald. Wir fanden dort in einem Unrerstand,

der viel schlechter war als der vorige, Unterkunft.

Bei regnerischem Wetter mubten wir taglich

viele Eimer Wasser, die sich im Unterstand samrnel-

                                207

 

ten, ausschopfen und hinaustragen. Gegen Morgen

war so viel Wasser im Unterstand, d af es fast bis an

die unteren Drahtbetten reichte. Ein solehes Wohnen

war höchst ungesund. ln lauen Mainachten

schlief ich oft hinter dem Unterstand auf dem Waldboden,

wo ich einen Haufen trockenes Laub gesammelt

hatte. Um besser wohnen zu körinen, fafiten wir

den Entschluû, einen neuen Wohnunterstand zu

bauen. Wir hoben ein viereckiges Loch in der Groûe

eines kleinen Zimmers aus, fällten weiter zurück im

Wald starke Tannen, sagten Balken und starke Träger

und begannen mit dem Bau. Es war ein schweres

Stück Arbeit, aber da aile fest zusammenhielten, waren

wir bald fertig. Die Decke bestand aus 6 Schichten

kreuz und quer liegenden Tannenstämmen. Die

Zwischenraume waren mit Erde angefüllt. Natürlich

konnten wir nur nachts an der Decke arbeiten, und

auch da war es oft gefahrlich, da die russischen Posten

vor Langeweile in die Nacht hinausknaUten und

man deshalb immer in Lebensgefahr war, werm man

oben deckungslos arbeitete.

        Nun ging es an die innere Ausstattung. Auf einer

Seite wurden 6 Drahtbetten hingestellt, immer zwei

übereinander. Einer von uns war Maurer von Beruf

und baute aus Backsteinen einen hübschen Ofen.

Aus Brettern wurde ein Tisch gezimmen, ebenso

Bänke, und hinter dem Tisch wurde eine Art Sofa

gemacht, mit trockenem Gras gepolstert und mit

neuen, aufgetrennten Sandsäcken überzogen. Da

ich etwas Geschick im Zeichnen und Malen hatte,

zeichnete ich mehrere Bilder, welche ich dann mit

dicker Birkenrinde einrahmte und im Unterstand

aufuing. Die Wände wurden mit der Rinde gefalltel

Tannen, die wir rundurn sorgfaltig abschälten, tapeziert.

Vor dem Fensterchen legte ein Kamerad, ein

Cartner, ein schönes Waldblumenbeet in Sternform

an. Ein anderer, ein Holzschnitzer, fertigte ein 1 1/2 m

hohes Maschinengewehr aus Holz. Es wurde inrnitten

des Blumenbeetes auf einem Großen Stein wie

ein Monument aufgestellt. Als alles fertig war, waren

                                        208

wir mit unserer Arbeit sehr zufrieden, ebenso unser

Kornpanieführer, Leutnant Matthes, der ein guter,

gerechter Vorgesetzter war und uns für unsere Arbeit

auch sein Lob aussprach.

        Unser Maschinengewehr war in einem Betonunterstand

mit Schießschlitz schufifertig aufgestellt,

bei welchem immer Posten stehen muûten, am Tage

ein Mann, nachts zwei. Die Gefahr war nicht grofi

hier. Wohl kamen jeden Tag einige Granaten

und Schrapnells sowie kleine Minen herübergeflogen,

doch gab es nur selten Verluste. Wir aile

wünschten, hier das Kriegsende abwarten zu dür-

Fen. Die Verpflegung war nicht mehr so gut wie bei

meiner Ankunft, doch konnte man es immer noch

aushalten.

           Eines Tages wurden mehrere Minenwerfer, von

deren GrbHe ich bis jetzt noch keine gesehen hatte,

hinter unserem Unterstand aufgebaut. Die Minen

hatten ein Gewicht von 2 Zentner. Da unsererseits

ein Handstreich geplant war, sollten diese Minenwerfer

im Verein mit der Artillerie die russische

Stellung sturmreif schieûen, Wir selbst muûten mit

2 Maschinengewehren von unserem Unterstand aus

abwechselnd Sperrfeuer nach der russischen Stellung

abgeben, um die russischen Reserven zu hindern,

zur Verstarkung an die vordere Stellung zu

kommen. ln der Zeit von 20 Minuten gaben wir

Tausende von Scssen ab. Die Pfahle desDrahtverhaus

wurden vollstandig in Fetzen geschossen,

ebenso fast aIle Drahte entzweigerissen. Mehrere

junge Birken srzten um; sie waren von unseren

Kugeln wie abgesagt. Die Explosion der 2-Zentner-

Minen war furchtbar. Durch den machtigen Luftdruck

bogen sich Tannen und Birken pendelnd hin

und her. Nun ging eine halbe Kompanie Infanterie

von uns var. Nach einer Viertelstunde kamen aile

heil wieder zu rück mit 8 Russen, die zitternd vor

Todesangst in einem Unterstand aufgefunden worden

waren und ohne Widerstand gefangengenommen

wurden. Die Gefangenen waren sichtlich froh,

                                    209

russische Artillerie an, unsere Stellung unter scharfes

Sehrapnell- und Granatenfeuer zu nehmen. Ich

stand eben hinter dem Betonunterstand mit noch

2 Kameraden und unserem Oberleutnant, ais eine

Granate kleineren Kalibers direkt über unseren

pfen auf dem Unterstand aufsehlug, platzte und

die Ladung nach allen Seiten schleuderte. Wir blieben

aile, obwohl wir VOl' Sehreek fast umgeflogen

waren, unverletzt. Nur ein Feldwebel von der Infanterie,

der eben den Graben entlangkam, wurde von

einem Splitter in den Baueh getroffen und starb im

Lazarett an der schweren Verwundung. Von einer

kleinen Mine wurde unserem Zugführer, einem

Leutnant, der Arm weggerissen. Ein guter Freund

von mir aus Memel namens Masur, der bei dem

Leutnant Ordonnanz war, wurde derart schwer verwundet,

daß er nach wenigen Minuten versehied. Er

wurde auf dem Friedhof unseres Regiments, der im

Wald hinter der Front angelegt war, bestattet.

    Eines Tages imJuni wurde unsere MG-Besatzung

endlich abgelost, und wir kamen zurück nach Neugrünwald.

Es war doch schön, wenn man sich wieder

Frei auf der Erde bewegen konnte und nieht gezwungen

war, dauernd in Graben und Unterständen, fast

wie ein Maulwurf, zu leben. Ebenso fand ich es angenehm,

die Nächte durchschlafen zu körinen. Der

Dienst wurde uns so leicht wie moglich gemacht:

1 Stunde Exerzieren, 1 Stunde Unterricht und MG-Reinigen,

das war alles. Wir vertrieben uns die Zeit

durch Ringkämpfe und Turnen an einem Reck.

Oder wir lagen auf der faulen Haut und fingen

Lause, denn dieses Vieh hatte sieh wieder bei uns

heimisch gemacht.

    Eines Tages wurde ich zum Gefreiten befördert.

Am folgenden Tage mußte ich nach Jelovka, um

mich beim Regimentskommandeur zu melden. Dort

erhielt ich das Eiserne Kreuz II. Klasse, ebenso mehrere

Soldaten und Unteroffiziere des Regiments.

Der Regimentskommandeur hielt eine äulierst kriegerische
                                        210

kriegerische Rede an uns; wir sollten stolz auf diese

Auszeichnung sein. Das alles ließ mich jedoch sehr

kalt, denn am liebsten hätte ich den ganzen Kram

weggeschmissen und ware nach Hause gegangen.

Ais ich wieder bei der Kompanie ankam, wurde mir

vom Vorgesetzten und von den Kameraden derart

gratuliert und die Hand gedrückt, daßdieselbe anfing,

mir weh zu tun.

    Nach 8 Tagen Aufenthalt in Neugrünwald ging's

wieder in Stellung. An einer Stelle kamen wir an

vielen Gräbern gefallener Russen vorbei, die noch

im Bewegungskrieg Ende 1915 gefallen waren. Die

Russengräber waren erkenntlich an den Mützen, die

halb verfault an den morschen Kreuzen hingen. An

einer freien Stelle neben der Bahn waren aueh mehrere

Graber von gefallenen deutsehen Jagern; das

erkannte man an den an den Kreuzen hängenden

Jigertschakos. Weiter vorne führte ein Laufgraben

nach der vorderen Stellung. Dort lösten wir eine

Besatzung ab, die nun 8 Tage zur Erholung naeh

Neugrünwald ging.

    Das Maschinengewehr stand ebenfalls in einem

Betonunterstand. Der Wohnunterstand war auch

nicht übel, aber lange nicht so schön und stark wie

der von uns gebaute. Hier war es auch gefahrlicher

aIs an der früheren Stelle. Da der Wald neben der

Bahn entlang etwa 100 m abgeholzt war und wir an

der freien Stelle lagen, konnten die Russen unsere

Stellung sehen und sieh mit ihrer Artillerie genau

einsehießen. Jeden Tag kamen etwa 20 Granaten

vom Kaliber 12, die schon einen gewaltigen Druck

haben, angesaust. Gleieh nach dem ersten Einsehlag

liefen wir aIle in den MG-Betonunterstand. Eines

Tages las ich eben in dem Wohnunterstand in einem

Buch, die Kameraden spielten Karten, ais plötzlich

eine der 12-cm-Granaten oben auf un serem Unterstand

einschlug und platzte. Var der Explosion

drang sie bis auf die untere Lage der die Decke

bildenden Tarinenstämme. Der Druck schob mehrere

Stämme etwas auseinander, so dass  mehrere

                                     211

Schubkarrcn Erde in den Untersta nd stürzten. Mit

jahem Schreck flogen wir aile zu Boden, dann ging's

Hals über Kopf zur Tür hinaus in den Betonunterstand,

bis die Schiellerei wieder aufhorte.

    Abends mit dem Dunkelwerden Qinoen wir dann '-.1 b '

das Granatloch oben auf dern Unterstand wieder

aufzufüllen: wir warfen die hinausgeworfenen,zerspliuerten

Holzstücke in das Loch und füllten es mit

Erde aus. Dann wurden Tannenäste geholt und darübergedeckt.

Bei dieser Arbeit erhielt ein Mann der

Besatzung, ein freundlicher Kerl, ein Uhrmacher,

einen Halsschuß, stürzte auf den Unterstand. Ich

konnte noch sehen, wie el' die Hand hob und mich

mit starren Augen anschaute, aIs wollte er mich bitten,

ihm zu helfen. Aber sofort sank sein Kopf hintenüber.

Er war tot. Wir aIle waren durch den plötzlichen,

unerwarteten Tod unseres Kameraden sehr

erschrocken und betrübt. Noch in der Nacht trugen

wir seine Leiche auf einer Tragbahre auf den Friedhof

des Regiments, wo er am folgenden Tage beerdigt

wurde.

    Einige Tage später schlug wieder eine 12-cm-Granate

auf die Ecke des Unterstandes, denselben vollständig

wegfegend. Wieder wurde keiner von uns

verletzt, denn nach den ersten Einschlägen flüchteten

wir aIle in den Betonunterstand. Dann kam der

Befehl, neben den Gleisen im vorderen Graben einen

Großen, bombensicheren Betonunterstand zu

bauen, der bis zu 200 Mann aufnehmen konne. Das

war leichter gesagt ais getan. Wir mußten wie die

Infanteristen mithelfen. Zuerst wurde ein etwa 3 m

tiefes, 4 m breites und 40 m langes Loch ausgehoben.

Die Erde mußten wir in Sandsäcken 200 m weit

schleppen und im Wald ausleeren. Das war eine

Arbeit! Tausend und abertausend Sacke warenwegzuschleppen.

Ais das Loch fertig ausgehoben war,

fing die Arbeit des Betonierens an. Aufeiner kleinen

Feldbahn wurden Kies und Zement bis etwa 300 m

hinter die vordcre Linie gefahren. Am Ausladeplatz

wurde die Menge gemischt und, ebenfalls in Sandsäcken,

                                    212

durch den Laufgraben nach vorne geschleppt.

Jeder Mann mulite tàglich 40mal hoJen

gehen. Man konntc hochstens einen halben Sandsack

tragen, da die Mischung sehr schwer und naß

war. Um die Decke herzustellen, wurden dießahnschienen

losgeschraubt, zwei Reihen quel" übereinandergelegt,

dann kam noch lm Beton obendrauf,

und der Unterstand war fertig. Um Licht und Luft

einzulassen, befanden sich in den Wänden mehrere

schmale Schießscharten.

        So ging der Sommer 1916 langsam seinem Ende

entgegen, oh ne daf etwas Besonderes vorgefallen

ware. Tag und Nacht abwechselnd Postenstehen,

Essenholen, Holz herbeischleppen, Heizen und

Arbeitsdienst, das war 50 ziemlich alles. Die Verpf1egung

wurde immer schlechter, bereits gab es

2 fleischlose Tage die Woche. Die Verpflegung bestand

taglich aus 1y~Pfund Kommißbrot, morgens

und abends schlechtem schwarzem Kaffee – oft

ohne Zucker-, etwas Butter oder Käse, manchmal

etwas Wurst, Schmalzersatz, am meistenjedoch Marmelade,

auch einer Art grauen Schmalzes, die von

den Soldaten Hindenburg- oder Affenfett genannt

wurde. Am Mittag gab es pro Mann 1 Liter Suppe.

Alles war stets aIs Suppe gekocht. Nudeln, Sauerkraut,

Reis, Bohnen, Erbsen, Graupen, Dörrgernüse

(von den Soldaten »Stacheldraht« genannt), Hafer-

flocken, Kartoffelflocken und so weiler. Manchrnal

gab es grüne Klippfische; dieser Fraf war vollständig

ungeniessbar und roch wie Leichen, die einige

Tage an der Sonne gelegen hatten. An fleischlosen

Tagen gab es gewohnlich Nudelsuppe mit einigen

Rosinen darinnen. Von einem Stückchen gebrateuem

Fleisch, Salat oder ähnlichern nie eine Spur!

       Im Oktoher 1916 wurden wir von einem Regiment,

das von der Westfront kam, abgelöst. Wir

marschierten nach Jelovka. Unterwegs hief es, daf

wir nach allen rnöglichen Fronten transportiert werden

würden. Aber bei Jelovka bogen wir nach Süden

ab und lösten etwa 20 km südlich unserer früheren

                                    213

StelIung ein Regiment ab. Die Front lief über freies,

hügeliges Celande. [… ] Unsere sowie die russische

StelIung waren durch 3 breite Drahtverhaue geschützt.

Dort wurde unsere MG-Kompanie, die dem

Regiment unterstand, in 3 Kompanien eingeteilt,

welche jede einem Bataillon zugeteilt wurde. Ich

gehörte zur 2. MG-Kompanie und wurde Gewehrführer.

Das heilit: Ich machte, obwohl ich nur Gefreiter

war, Unteroffiziersdienst. lch hatte eine gute

Besatzung, alles junge, flinke Burschen, darunter

auch einen Unterelsässer, Emil Fuchs aus Erstein.

DieJ ungens hatten aile einen guten Appetit, und das

Brot wolIte nie reichen. Mit einem Mann der Besatzung,

dem 20jahrigen Seedorf aus Hamburg, muûten

wir immer lachen. Alle 2 Tage empfingjeder ein

3-Pfund-Brot. Seedorf schnitt mit dem Taschenmesser

Zeichen in das Brot, um es sich einzuteilen. Bis

zum ersten Einschnitt sollte es bis zum gleichen

Abend reichen, der zweiten für den nächsten Morgen

und so weiter. [… ] Nun af el' gewöhnlich am

ersten Abend bis zum Einschnitt für den nächsten

Morgen. Gewöhnlich hatte Seedorf den zweiten Tag

keinen Bissen Brot mehr. Obwohl die Lebensmittel

knapp waren, kam es nie vor, daßeiner dem anderen

ein Stückchen Brot stahl, das imrner offen auf einem

Brett im Unterstand lag.

 

                MEIN ERSTER URLAUB

                    ENDE OKTOBER 1916

 

Nun war ich an der Reihe, in Urlaub zu fahren. Wie

schön wäre es gewesen, wenn ich wie die anderen

Soldaten nach Hause gekonnt hätte. Eine elsassische

Flüchtlingsfamilie aus Dürlingsdorf namens Mattler,

die gegenwartig in Eberbach im Neekartal (Baden)

wohnte, hatte mich brieflich eingeladen, werm

ich sonst nirgends hinfahren könrie, zu ihnen zu

kommen. Lange wulite ich nicht, was ich tun sollte.

                                214

Endlich entschlof ich mich zu fahren, denn ich war

zu gern einmal wieder einige Zeit, ohne das Militärjoch

im Nacken zu fühlen. Auch freute ich mieh auf

die weite Reise. Aiso nahm ich den Urlaubsschein

sowie etwas Verpflegung, nahm Abschied von meinen

Kameraden und walzte los. Ich marschierte

nach Jelovka und bestieg den Zug. [… ] Ein herrliehes

Gefühl der Freiheit und Sicherheit überkam

mich, ais wir immer welter von der Front fortrollten.

Endlich, nach langer Fahrt, erreichten wir bei Eydtkuhnen

die deutsehe Grenze. Alles muhte aussteigen

und sich in der dortigen Entlausungsanstalt lausefrei

machen lassen, denn ohne Entlausungsschein

durfte kein Soldat in Deutschland einfahren. Nun

ging es weiter über Insterburg nach Konigsberg.

Dort bestieg ich den Schnellzug, der mit Urlaubern

überfüllt war, in Richtung Berlin. Es ging weiter

über Braunsberg, Elbing. Bei Dirschau passierten

wir die grösste Brücke, die ich bisher gesehen

hatte, über die Weichsel. [… ] Mit Anbruch der

Nacht lief der Zug in Berlin, Schlesischer Bahnhof

ein. lch ging mit mehreren Urlaubern, mit denen

ich währerid der Fahrt Bekanntschaft gemacht

hatte, in die Stadt, um Berlin bei Nacht zu sehen.

Die Stadt war fast taghell erleuchtet. Wir besuchten

mehrere Restaurants, tranken Bier und lieûen uns

für teures Geld ein Nachtessen geben. Wir übernachteten

im Bahnhofswartesaal und schliefen sitzend,

indem wir die Köpfe auf die Tische legten.

Morgens in der Frühe tranken wir in einer Wirtschaft

heilien Kaffee und gingen nach dem Anhalter

Bahnhof. Natürlich muliten wir uns oft nach

dem Weg erkundigen. lch bestieg den Sehnellzug

nach Südwestdeutschland. Es ging über Luckenwalde,

Wittenberg, Halle, Merseburg, Naumburg,

Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach [… ] nach Frankfurt

am Main. Dort gab es einen längeren Aufenthait.

Die Reise von Berlin nach Frankfurt war sehr

schön und interessant. Fast immer ging es durch

Iruchtbare, dichtbevölker te Gegenden. Die Häuser

                                    215

in Stadt und Land waren hübsch gebaut. Wie war es

doch schön hier, im Vergleich mit dem oden, langweiligen

Rußland! Ich konnte es kaum fassen, da/3

ich dort monatelang in Schützengräben in Unterständen

gelebt hatte.

        [… ] Trotzdem ich in meiner Endstation Eberbach

von der Familie nur Herrn Mattler kannte, wurde ich

von allen freundlich aufgenommen. Wie freute ich

mich, endlich wieder einmal einige Tage leben und

wohnen zu können, wie es einem Menschen zusteht.

Am meisten freute ich mich über das gute Bett, denn

seitJanuar, also 9 Monate, hatte ich nie ausgezogen in

einem Bett geschlafen. Immer nul' auf den harten

Drahtbetten in den Unterstanden. Wenn schone

Tage waren, machte ich Ausflüge in die Umgebung.

Viel zu rasch gingen die Urlaubstage vorbei. Ich

wurde auch bekannt mit mehreren anderen elsässischen

Fchtlingsfamilien, die aIle sehr freundlich zu

mir waren. Besonders die Flüchtlingsmadchen überboten

sich an Freundlichkeit mir gegenüber, und

mehrere ließen durchblicken, daß sie gerne der

Schatz eines elsàssischen Soldaten sein würden. Dies

alles mach te mir narlich Sp. Ich tauschte mit

mehreren Adressen aus und dachte, daß der Briefverkehr

vielleicht etwas Abwechslung in das langweilige

Schützengrabenleben bringen werde.

            Die Familie Mattler wohnte über einer Wirtschaft,

wir aIle aßen dort. Die Kost war nicht besonders

reichlich, aber im Vergleich zum Feldküchenfra/3

herrlich. Das Brot war auch nicht besser aIs dasKornmißbrot,

auch nicht zu reichlich, denn Brot, Fleisch,

Butter waren schon rationiert und konnten nul' auf

Karten bezogen werden, soundso viel Gewicht auf

den Kopf. [... ] lm ganzen war ich 10 Tage in Eberbach,

dann folgte ein Tag Fahrt nach dem Rheinland

zu meinem früheren Kriegskameraden August

Zanger aus Struht. Meine Endstation war Schladern

an der Sieg. [... ] Zanger wohnte etwa eine halbe

Stunde von Schladern entfernt bei einer Familie

Gauche\. Zanger war sehr erfreut, mich wiederzusehen

                                216

 

[ ] Von der Familie Gauche!, bestehend aus

Mutter, Sohn namens Josef und Tochter Maria,

wurde ich aufs freundlichste aufgenommen. Bald

fühlte ich mich dort wie zu Hause. Die guten Leute

holten alles, was sie hatten, und tischten es mir auf.

Die Tochter Maria hatte Zanger bei seiner schweren

Verwundung 1915 gepflegt im Lazarett. Die beiden

verliebten sich und beabsichtigten, nach dem Kriege

zu heiraten (was sie auch taten). Da die Familie sehr

religios war, und um dem Gerede der Leute zu entgehen,

schlief Zanger nicht im Haus der Familie

Gauchel, sondern in einem Nachbarhause bei einer

Familie Batt, wo er ein Zimmer gemietet hatte. Nachdern

wir uns aile bis spat in die Nacht unterhalten

hatten, gingen wir zu Bett. Wir erzahlten uns von der

Heimat und unseren Erlebnissen, bis der Morgen

zum Fenster hereinsah.

        Am folgenden Tage halfen Zanger und ich der

Familie Gauche! beirn Dreschen mit der Dreschmaschine.

Eine Arbeit, die ich auch nicht mehr gewohnt

war, obwohl ich das früher oft getan hatte. Am folgenden

Tag fuhren wir nach der Stadt Siegburg, wo

wir uns beide photographieren lielien und gleich

cinige Bilder über die Schweiz nach Hause adressierten

und abschickten. Am dritten Tag fuhren wir

nach dem etwa 20 km entfernten Eitorf, um das

(;rab des Schwob Josef aus meinem Heimatdorf aufzusuchen.

Es war sehr traurig r uns beide, einen

guten Kameraden aus der Heimat sa wiederzufinden.

Nachdem wir eine Weile am Grab gebetet haticn,

gingen wir ins Lazarett und erkundigten uns bei

der Schwester, die ihn gepflegt hatte, nach der Art

der Verwundung und seinen letzten Tagen. Nach

c-rhaltener Auskunft [... ] fuhren wir zurück. Nun

uoch eine Nacht in einem Bett schlafen, dann war's

wieder vorbei, für weif Gatt wie lange.

        Nur sehr ungern verlief ich nach 3 Tagen Zanger

und die gute Familie Gauchel, aber das furchtbare

Muß ließ es eben nicht and ers machen. Wenn man

nur  einen Tag zu spät bei der Kompanie ankam, flog

                                            217  
 

man 3 Tage ins Loch, in einen dunklen Unterstand,

und das woIlte ich nicht. Meinen Tornister hatten

die guten Leute mit allerhand Lebensmitteln sowie

einer Flasche Likör angefüUt, sa dal] ich für die Reise

gutausgerüstet war. [… ] Der Abschied ging mir sehr

zu Herzen, denn die Mutter Gauchel weinte, als ob

ich ihr Sohn wäre. Es war auch traurig, wufite man

doch nicht, ob man sich wiedersehen oder ob ich

drauben totgeschossen würde, denn ein Kriegsende

war noch nicht abzusehen. Zanger begleitete mich

nach der Bahn. [… ] ln Köln bestieg ich den Schnellzug

nach Berlin und fuhr 2 Tage lang nach der

Front, zuerst durch das Ruhrgebiet über Düsseldorf,

Hagen, Dortmund, [… ] Paderborn, Halberstadt,

Magdeburg, Brandenburg, Potsdam, Charlottenburg

nach Berlin. Ohne Aufenthalt ging es weiter

nach Rußland hinauf. Wir befanden uns nun im

Anfang November. Oben in Rußland war der Boden

mit einer leichten Schneedecke bedeckt. Es schauderte

mich, als ich den Schnee sah, die armseligen

Wohnungen, die düsteren Tannenwälder und die

schlechtgekleideten Bewohner. Und es schauderte

mich, als ich an das mir wieder bevorstehende langweilige

Leben im Schützengraben dachte.

 

                                WIEDER AN DER FRONT

 

Von der Endstation Jelovka konnte ich auf einem

Wagen meines Bataillons meine Truppe erreichen.

Ich meldete mich vom Urlaub zurück und mulite

gleich wieder die Führung meines Maschinengewehrs

übernehmen. lm Unterstand angekommen,

sagten mir die Soldaten sofort, daßFuchs Emil aus

Erstein gefallen sei. Er hatte von einem russischen

MG eine Kugel in die Stirn erhalten, als er nachts

Posten stand, und war sofort tot gewesen. Ich hatte

tiefes Mitleid mit ihm, denn er war ein Landsrnann

und guter Junge.

                                            218
 

    Eintonig vergingen die Tage. Schnee, Nebel, Nebel

und Schnee, das war so ziemlich die ganze Abwechslung.

Die Russen schickten jeden Tag einige

Granaten herüber, die jedoch nicht viel schadeten.

Eines Sonntags wurden vonjedem MG 2 Mann zum

Gottesdienst zurückgeschickt. Ich mullte die Leute

führen. lm Walde, etwa 1km hinter der Front, war

hinter einem Abhang eine große Baracke erbaut, die

als Gotteshaus diente. Sie füllte sich bis auf den letzten

Platz mit Soldaten, und der Feldgeistliche begann

mit dem Gottesdienst. Während der Wandlung

hörten wir plötzlich den Einschlag mehrerer

Granaten vorne an der Front. Die Explosionen wurden

immer zahlreicher; [… ] wir hörten die Sprengstücke

über die Baracke schwirren. Wir wurden alle

sehr unruhig. Nur der Feldgeistliche las die Messe zu

Ende, als werm alles still wäre. Wir verließen nun die

Baracke, das Schießen der Russen wurde immer

stärker. Unser Kompaniefeldwebel gab uns den Be-

Ichl, sofort zu unserem Maschinengewehr zurückzukehren.

Eben marschierten 2 Kompanien Infanterie,

die in Reserve gelegen hatten, nach vorne. Wir

Iolgten ihnen. Es fing nun an zu schneien, daßman

keine 100 m weit sehen konnte. Am Waldrand angekommen,

horte ich an den Einschlägen, daßdie russische

Artillerie hauptsächlich den die Mulde entlang

nach der Stellung führenden Laufgraben unter

Fcuer hielt. Da ich die Kirchgänger zu führen hatte,

überlegte ich einen Moment, wie wir am besten nach

der Stellung kommen konnten. Ich beschlob, über

den Hügel zu gehen, an dessenjenseitigem Abhang

die Stellung lag. Wir erreichten den Gipfel des Hügels,

ohne daßeine Granate in unsere Nahe gefallen

war. AIs das Schneien plötzlich aufhörte und wir von

den Russen wie auf einem Präsentierteller gesehen

wcrden konnten, warfen wir uns alle in den tiefen

Sdmee. Was nun? Laufgraben und Stellung waren

ganz mit schwarz en Granatrauchwolken bedeckt,

und immer neue Geschosse sausten heran. Wenn wir

von dem russischen Artilleriebeobachter oder vom

                                            219

 

MG-Soldaten gesehen würden, waren wir sa gut wie

verloren. Liegenbleiben konnten wir nicht, nach der

Stellung hatten wir noch etwa 400 m zurückzulegen,

nach dem Laufgraben etwa 200. Also entschlossen

wir uns, nach dem Laufgraben zu eilen. »Auf,

marschmarsch!« rief ich. Sofort waren alle auf den

Beinen, und so schnell wir konnten, rannten wir

dem in der Mulde entlanglaufenden Laufgraben zu.

Ein russisches MG fing an zu rattern, schoß aber viel

zu hoch, denn wir horten die Kugeln über uns zischen.

Fast atemlos kamen wir im Laufgraben an.

AIs die Schießerei einen Moment aufhörte, suchten

wir sa schnell wie moglich in den weiter vorne neben

dem Laufgraben liegenden Sanitatsunterstand

zu kommen. Der Laufgraben war stellenweise beinahe

vallgeschassen. An einer Stelle lagen drei tote

Infanteristen; der eine war bis zur Unkenntlichkeit

verstümmelt. Wir waren glücklich, ais wir den stark

ausgebauten Sanitätsunterstand erreicht hatten.

Am Baden lag ein Gefallener. Ein Sanitäter erzahlte

uns, daß der Tate ein Urlauber sei, der am Morgen

die Stellung verlassen habe, um in Urlaub zu fahren.

AIs er den Laufgraben entlangging, schlugen

mehrere der ersten Granaten var ihm ein. Schleunigst

ging el' in den Sanitätsunterstand zurück, um

dort das Ende der :Schieberei abzuwarten. Da

schlug eine Granate hinter dem Unterstand ein,

und ein ganz kleines Sprengstück durchschlug das

Stück Tannenholz, das den unteren Teil der Fenstereinfassung

bildete. Es traf den Unglücklichen

mitten in die Stirn. Er war sofort tot von der Bank

gestürzt. Der Arme, der sicher in Gedanken schon

in der Heimat geweilt hatte, sollte seine Angehorigen

nicht wiedersehen.

    Das Donnern und Krachen der Granaten hatte

wieder eingesetzt. Ais wieder eine Pause eintrat,

suchte je der von uns sa schnell wie moglich sein MG

zu erreichen. Aber schon wieder kamen Geschosse

herangesaust, und wir muûten uns hinlegen, um

nicht von Splittern und Erdschollen getroffen zu

                                220

werden. Endlich kam ich an meinem Unterstand an.

Meine Jungens hatten angsterfüllte Gesichter, denn

eine leichte Granate war oben auf dem Unterstand

geplatzt, ohne jedoch durchzuschlagen. Da hörte ich

auf einmal Infanterie- und MG-Feuer. Ich sprang

hinaus, nahm das Fernglas und sah, daß [bei der

russischen Stellung] hinter dem Gut Schiskowo alles

von russischer Infanterie wimmelte, die sich zum

Angriff anschickte. »Alles raus! » schrie ich in den

Unterstand hinein. DieJungens kamen. Das Maschinengewehr,

das in einer Nische gedeckt im Graben

stand, wurde in die SchieHstellung gehoben und geladen.

Ich schaute nach den Russen hinüber und sah

gerade noch die letzten in ihrem Graben verschwinden.

Über der Stelle platzten eine Menge deutsche

Schrapnells, welche die Russen zum Rückzug zwangen,

ehe sie noch recht zum Angriff geschritten waren.

Wir erhielten den Befehl, in höchster Alarmbereitschaft

zu bleiben. Dauernd sollten 2 Mann beim

MG bleiben. Die anderen durften sich im Unterstand

aufhalten, aber nicht schlafen. ln aller Ruhe

ging der Tag seinem Ende entgegen. Da noch immer

ein Angriff der Russen befürchtet wurde, wurden in

der Nacht viele Leuchtkugeln abgeschossen, sa daf

es fast immer hell war und ein Anschleichen der

Russen auf dem weillen Schnee unrnoglich war. Da,

nach Mitternacht, fing ein MG an zu schiefien, dazwischen

horte man das Knallen der Infanterie. Da

blitzte seitwärts hinter uns ein deutscher Scheinwerfer

auf, beleuchtete hin und her das Niemandsland

zwischen den Stellungen und lief schlieHlich sein

volles Licht in einer Mulde erstrahlen, die sich von

der russischen nach unserer Stellung hinzog und in

die wir von unserem MG-Stand nicht hineinsehen

konnten. Ich schof mehrere Leuchtkugeln ab,

konnte aber vor uns keine Spur von Russen entdekken.

Bald horte das Schießen wieder auf. Wie wir

dann erfuhren, hatte sich ein russischer Stoßtrupp

der Mulde entlang unserer Stellung genahert,

wurde jedoch gesehen und durch das Feuer zurück-

                            221
getrieben . Eine Patrouille ging nun vor und fand

sieben tote Russen sowie einen Schwerverletzten,

den sie mit zurückbrachten. Sie legten ihn auf ein

Drahtbett im MG-Unterstand, wo er wieder zu sich

kam. Er hatte jedoch vie! Blut verloren und war halb

erstarrt, so daßer am folgenden Morgen verschied.

    Von da ab hatten wir Ruhe. Auber mit einigen

Granaten täglich wurden wir von den Russen nicht

mehr belastigt. Da ich Gewehrführer war, brauchte

ich nicht mehr Posten zu stehen. Trotzdem stand ich

meine Zeit, damitdieJungens es etwas besser hatten.

Da es die Nächte stark fror, mußten wir dauernd mit

etwas trockenem Sand gefüllte Säcke am Ofen im

Unterstand heiß machen und sie um den Mante! des

Maschinengewehrs binden, um zu verhüten, daß das

Wasser im Mantel gefror. Denn mit eingefrorenem

MG ist das Schießen unmöglich. Früher war dieses

Aufwärrnen nicht nötig, denn unter das Wasser

wurde Glyzerin gemischt, welches bekanntlich nie

einfriert. Nun mangelte es an Glyzerin, wie an den

meisten anderen Sachen. Mitdem Heizen war es auch

schlecht bestellt. Wir hatten nur gefrorenes grünes

Tannenholz, das schrecklich qualmte, aber nicht

brennen wollte. Man mußtesich oft fast die Lunge

auspusten, bis nur das bißchen Kaffee gekocht war.

        Am Weihnachtstage ging ich eben hinten im

Walde an der Kantine vorbei, als mehrere Kisten

Keks (Zuckerbretla) abge!aden wurden. Das war

eine Seltenheit, denn sonst gab es in der Kantine

hauptsächlich Stiefe!wichse, Schuhfett, Briefpapier,

Bleistifte, Fe!dpostkarten, hie und da eine Büchse

Olsardinen und eingemachtes Obst zu kaufen. Ich

kaufte aile Taschen voll Keks und af fast aile hintereinander,

bis auf 5 Rollen, die ich meiner MG-Besatzung

brachte. Es wundert mich noch heute, wie mein

Magen dies alles aufnehmen konnte. Am Weihnachtsabend

bekamen wir immer zu 2 Mann eine

3/4-Liter-Flasche sauren Rheinwein ais Christabendbeseherung.

        ln der Silvesternacht 1916 auf 1917 schlief ich

                                222

eben im Unterstand, ais ich von dem Kornpanieschreiber

geweckt wurde. lch schaute auf die Uhr,

es war eben Mitternacht. Draufien knallten die Posten

aus purer Langeweile das neue Jahr an. Wir

beide wünschten uns ein glückliches neues Jahr.

»Aber deshalb«, sagte ich zum Schreiber, »hättest du

mich nicht zu weeken brauchen.« – »Ich bin auch

nicht deshalb hier in die Stellung gekommen«, antwortete

er. »Ich bringe dir den Befehl des Kornpaniefelclwebels.

Du sollst sofort deine Sachen pakken

und dich hinten im Waldlager bei ihm melden..

lch war ganz baff, denn ich hatte keine Ahnung,

weshalb. Auch der Schreiber konnte oder

wollte mir keine Auskunft geben. Also packte ich

mein Hab uncl Gut zusammen und stolperte über

den hartgefrorenen, knirsehenden Schnee dem

Waldlager zu. Da sah ich VOl' mir einen Soldaten,

cler ebenfalls Sack und Pack bei sich hatte. »He, du,

wart mal!» rief ich. Er blieb stehen, und ich erkannte

in ihm einen Lothringer namens Beek,

ebenfalls von meiner MG-Kompanie. »Wo gehst du

hinr- fragte ich. »Zum Kompaniefeldwebel«, sagte

er. »Der Schreiber sagte mir, ich soli mieh bei ihm

melden.« Als wir beim Feldwebelunterstand ankamen,

waren sehon mehrere Elsässer da, die von einem

Bein aufs andere hüpften und teils mit Handen

um sieh sehlugen, um sieh zu erwärrnen. lch

meldete mich beim Feldwebel, der wach in seinem

Unterstand saß und sehrieb. Er kam mit hinaus,

wies uns einen leeren Unterstand an, der weder

Fenster noeh Türen hatte, und sagte, wir sollten

dort den Tag abwarten. Wir stahlen nun bei den

bewohnten Unterständen zerkleinertes Holz, um in

unserem offenen, inwendig hart gefrorenen Unterstand

ein Feuer zu machen. Wir saßen um das

Feuer herum, da wurcle geschimpft, geflueht und

aile möglichen Meinungen ausgetauseht. Ich sagte:

»Paßt auf, wir sind die längste Zeit beim Regiment

44 gewesen. Ich glaube, dan wir versetzt werden..

Und meine Ahnung wurde zur Wahrheit.

            223
 

Am frühen Morgen Iief.\uns der Kompanieführer

antreten und teilte uns mit, daß die Division, zu der

das Regiment 44 gehore, nach der \Vestfront transportiert

würde. Auf hoheren Befehl müliten aile

Elsaß-Lothringer an der russischen Front bleiben

und anderen Regimentern zugeteilt werden. Ein allgerneines

Gebrurnme unserer seits erhob sich nun:

"Ah so, Soldaten 2.Klasse. Die haben wohl Angst,

wir laufen dort über« und sa weiter. Da sagte der

Kompanieführer: »Ich hatte euch ja gern behalten

bei der Kompanie. Ich war mit euch allen sehrzufrieden.

Aber ihr wißtja selbst, Befehl ist Befehl, und

da ist nichts dran zu ändern, Schließlich körint ihr's

für ein Glück ansehen, hierbleiben zu konnen, denn

an der Westfront ist die Lebensgefahr weit größer ais

hier.. Obwohl wir ihm in Gedanken recht gaben, lief

es keiner laut werden. Wir rnarschierten nun nach

]elovka, wo schon mehrere hundert Elsali-Lothringer

von unserer Division versarnmelt waren. Wie

da geschimpft wurde! Die Gesinnung aller war genau

dieselbe. Wenn die Preußen dahin gekommen

waren, wo sie hingewünscht wurden, wären wohl alle

beim Teufel gelandet. Am Nachmittag hielt der Regimentskommandeur

nochmals eine Rede und wiederholte,

daßes nicht and ers zu machen sei; es sei

Befehl von oben. Die Nacht verbrachten wir in Baracken.

Am folgenden Tag, dem 2.]anuar 1917, marschierten

wir los. Ein Oberleutnant zu Pferde ritt

nebenher. Der Marsch ging diesmal nordwärts, Irnmerzu

wurde laut gemurrt, oder es ertönten Iaute

Zwischenrufe. »Épinal«, schrie einer, ein anderer:

»Vive la France!« Sofort sprengte der Oberleutnant

nach der Abteilung in der Kolonne, wo der Ruf

ertönt war, und wollte wissen, wer geschrien hatte.

Da kam er aber schon an. Die einen sagten, sie hatten

nichts gehürt, wieder andere lachten ihm frech ins

Gesicht. »Vive la France! Vive l'Alsace!« wurde mun

vor und hinter dem Oberleutnant geschrien. Dieser

knirschte vor Wut, konnte aber nie herausfinden,

                                224

wer gerufen hatte. Denn alle hielten zusarnrnen wie

eine Klette. »Su lang as es Plüta und Knepfla git, su

frecka die Schwowa irn Elsaß net- [»Solange es Blüten

und Spätzle gibt, so lange fressen die Deutschen

im Elsaf nicht«], sang wieder einer am rückwàrtigen

Ende der Kolonne. Da gab der Oberleutnant den

Befehl zum Singen. Kein Laut wurde vernehrnbar.

»Wenn mir jetzt noch einer die Schnauze auftut, der

soll mal sehen!« schrie nun der Oberleutnant, der

sehr gereizt war, da seine Befehle nicht beachtet

wurden. Plötzlich fing einer der Elsässer an zu singen:

,,0 Straßburg, 0 Straßburg, du wunderschöne

Stadt!« Wie auf Kornmando fielen aile ein, und

machtig scholl das schone Elsässerlied durch die eisige,

klare Winterluft. Der Oberleutnant, der einsah,

dan er nichts ausrichten konnte, ritt mm hinter der

Kolonne her. Wir rnarschierten durch herrliche

Tannenwalder. Bei einem einzelnstehenden Cehöft

wurde haltgemacht. Etwa 200 Mann muûten dableiben;

dabei befand auch ich mich, ehenso aile Elsässer

der MG-Kompanie, denn wir blieben imrner beisammen.

Wir marschierten nun direkt unter der Führung

eines Feldwebels in Richtung Front.

 

 

    BEIM RESERVEINFANTERIEREGIMENT

        260, RUSSISCHE NORDOSTFRONT

            2 JANUAR BIS 14.APRIL 1917

 

Auf einem Gutshof war ein Regimentsstab des Reserveinfanterieregiments

260 einquartiert. Dorthin

wurden wir geführt und unter die einzelnen Kornpanien

verteilt. Ich verlangte, in die MG-Kompanie

eingeteilt zu werden. Auf einen Telephonanruf karn

der Bescheid, daßbei der MG-Kompanie 260 kein

Platz frei sei. Also wurde ich mit noch etwa 12 Mann

der 9. Kompanie zugeteilt. Obwohl die Nacbt angebrochen

war, wurden wir noch zurn Kompaniefeldwebel

der 9. Kompanie, der irn Wald in einern schö-

                                     225

nen Unterstand die Kompanieschreibstube eingerichtet

hatte, geführt. Er war ein freundlicher Mann,

und wir waren mit dem Empfang recht zufrieden. Er

fragte uns gleich, ob wir etwas essen woLlten, und lief

uns Brot und Konservenfleisch geben. Übernachten

muliten wir in einem leeren Unterstand, in dem alles

wie Stein und Bein gefroren und weif bereift war.

Trotzdem wir ein Feuer anrnachten, konnten wir

lange nicht warm bekommen. Der Abschnitt, den

das Regiment 260 besetzt hielt, schien ziemlich gefährlich

zu sein, denn man hörte die ganze Nacht

dröhnende Minen- und Granatenexplosionen.

    Als wir die folgende Nacht bereits schliefen,

wurde ich vom Kompanieschreiber geweckt. Vorne

in der Stellung war von der Gruppe des Unteroffiziers

Blau der Gefreite verwundet worden; ich sollte

nun seine Stelle besetzen. [… ] Die Nacht war bitter

kalt. Laut knirschte der gefrorene Schnee beijedem

Schritt. Es war mir doch etwas unheimlich, so alleine

in der Nacht in diesem unbekannten Graben.

Manchrnal blieb ich stehen und lauschte. 1ch konnte

nicht mehr weit von der Stellung sein, das Knallen

der Posten ertonte ganz in der he. Plötzlich ein

sekundenlanges Sausen, ein Blitz, ein Krach; gar

nicht weit von mir hatte eine gröûere Granate eingeschlagen,

sa daßder emporgeschleuderte Schnee

auf mich niederrieselte und die Erdschollen zum

Teil über mich hinwegflogen. Unwillkürlich fing ich

an zu laufen, um von der gefàhrlichen Stellewegzukommen.

Plotzlich teilte sich der Laufgraben in

3 Graben. [... ] Endlich, nach einigen hundert Schritten,

erreichte ich die vorderste Stellung. [... ] Fast

aile Posten machten Bewegungen, um sich etwas

warm zu halten. Sie aile hatten die Kopfschoner von

unten über das Kinn und die Nase bis an die Augen

hochgezogen, so daßnul' ein fingerbreiter Spalt offenblieb,

um durchsehen zu können.

Endlich, nach langem Umherfragen, fand ich den

Unterstand des Unteroffiziers Blau. 1ch meldete

mich zur Stelle. Der Unteroffizier fragte mich, wie

                                226

lange ich Soldat sei, was für ein Landsmann und so

weiter. Nach einer Weile war wieder Zeit, die Posten

zu wechseln. Ablösung!« schrie der Unteroffizier,

der Grabendienst hatte, zum Unterstand herein.

»Richert, Sie konnen gleich aufziehen«, sagteUnteroffizier

Blau zu mir. Ich nahm das Gewehr des verwundeten

Gefreiten. Der Unteroffizier kam mit und

führte mich zurn Postenstand. Ich stand nun mutterseelenallein

in der fremden Stellung. Vor  mir

konnte ich trotz der Dunkelheit die halbeingeschneiten

Drahthindernisse erkennen. Die weitere Aussicht

verlor sich in Nacht, Schnee und Nebel. Nach

und nach fing ich an zu frieien, denn die Nacht war

bitter kalt. 1ch trat vom Postenstand hinunter,

sprang von einem Bein aufs andere und schlug mit

den Händen um mich. Dann stieg ich wieder hinauf.

Auf einmal horte ich drüben einen dumpfen Abschuß

Ich kannte den Ton, es war der einer Mine.

Da ich nicht wuûte, wo dieselbe hinfallen würde,

sprang ich in den Graben hinunter und lauschte

gespannt. Plotzlich hörte ich dire kt in Richtung gegen

mich, zuerst leise, dann laut: Tseh-tseh-tseh. Das

war die Mine, die im Bogen zischend die Luft durchschnitt.

Das Blut erstarrte mir fast vor Schreck in den

Adern. Ich hatte gerade noch Zeit, mich platt in den

Craben zu werfen, aIs mit entsetzlichem Krach die

Mine kaum 2 m hinter mir, oben auf der Deckung,

cxplodierte. Rauch, Schnee, Erdschollen und Splitter

flogen umher. Ich hatte mindestens einen Schubkarren

von Erde auf mir liegen. 1ch schüttelte sie ab,

sprang auf und horchte, denn ich erwartete eine

zweite Mine. Meinen Postenstand durfte ich nicht

verlassen. Da kam Unteroffizier Blau gelaufen, der

g'eh6rt hatte, daßdie Mine dicht bei mir eingeschlag'cn

haben mulite. »Sind Sie verletzt?« rief er. Ais ich

verneinte, sagte er: »Sie müssen sich, wenn Sie den

Abschuf hören, sofort ins Fuchsloch begeben! 

»Was für ein Fuchslochi- fragte ich. Da zeigte er mir

dicht neben dem Postenstand, von der Grabensohle

nach vorne eingebaut, ein Loch, welches mit Holz

                                        227

verschalt war und bequem einen Mann aufnehmen

konnte. Bum, wieder ein Abschuß drüben. Der Unteroffizier

kroch in das Fuchsloch. Da ich keinen

Platz mehr darin hatte, legte ich mich wieder auf den

Grabenboden. Da kam die Mine schon angesaust;

dies mal flog sie etwas wei ter über uns hinweg. Blau

ging nun wieder in den Unterstand. Es kamen noch

mehrere Minen angeflogen,je doch keine mehr so in

die nächste Nähe. Zuletzt stand ich überhaupt nicht

mehr Posten und blieb einfach irn Fuchsloch liegen.

Endlich kam die Ablösung. Wir mußten stündIich

ablösen, der bitteren Kälte wegen. Ich ging nun in

den Unterstand, der von einer Kerze erleuchtet war,

zog die Stiefel aus, die steinhart gefroren waren, um

die Füße etwas am Ofen zu wärrnen. Der Kopfschoner,

den ich draußen über Mund und Nase gezogen

hatte, war vor dem Mund derart vereist, daû sich ein

fast faustgroßer Klumpen Eis und Reif gebildet

hatte. AIs ich etwas erwärrnt war, legte ich mich auf

ein Drahtbett, um zu schlafen. Wie schnell waren die

2 Stunden urn, bis ich wieder an der Reihe war!

Kaum daßich meinte, eingeschlafen zu sein, hief es

schon wieder Ablösung. Sechsmal mußte ich jede

Nacht Posten stehen. Natürlich ging es den anderen

Soldaten nicht besser. Die Nachte schienen uns

schier endlos.

Manchmal, wenn ich so alleine in der kalten Nacht

stand, dachte ich, für was oder wen ich hier eigentlich

stand. Von Vaterlandsliebe oder ahnlichem war

bei uns Elsässern überhaupt keine Spur, und manchmal

erfaßte mich eine furchtbare Wut, wenn ich

daran dachte, welches bequeme Leben die eigentlichen

Urheber dieses Krieges führten. Überhaupt

hatte ich einen heimlichen Zorn gegen aIle Offiziere

vom Leutnant aufwarts, die aile besser wohnten, bessere

Verpflegung hatten und obendrein noch eine

schöne Bezahlung erhielten, während der arme Soldat

»fürs Vaterland und nicht fürs Geld, hurra,

hurra, hurra«, wie es in einem Soldatenlied heiBt,

das ganze Kriegselend mitmachen mußte. Dazu

                                228

 

hatte man noch den Offizieren gegenüber überhaupt

keine eigene Meinung. Man hatte überhaupt

nichts zu sagen, nur blind zu gehorchen.

        Eines Tages wurden wir derart mit Minen überschüttet,

daßman nicht wußte, wo man sich verkriechen

sollte. Da liefen wir aIle in den betonierten

Sanitatsunterstand. Links und rechts davon schlugen

die gewaltigen Flügelminen ein. Der Unterstand

war mit Soldaten voUgestopft wie eine Heringsbüchse

mit Heringen. Plötzlich ein furchtbares Getose

über unseren Köpfen, eine Mine war dire kt auf

dem Unterstand geplatzt. Rundum, wo der aus Eisenbeton

bestehende Deckel auf den Mauern auflag,

zeigten sich Risse. Durch die gewaltige Erschütterung

hatte sich der meterdicke Deckel losgelost.

Angstlich schauten wir uns an. Wieder ein KnaU, daß

wir fast aile zu Boden Hogen. Wir hatten wieder

einen Volltreffer auf den Unterstand erhalten. Diesmal

war der gallZe Zementdeckel etwa eine Handbreit

zur Seite gerutscht. Da sagte ich zu meinem

Kameraden Karl Herter, mit dem ich bereits gut

befreundet war: »Karl, hier bleibe ich nichtl. – »Wo

willst du denn hin?« fragte er. »Wir warten den

nächsten Einschlag ab. Wenn du willst, kannst du

mitkornmen.. AIs die nachste Mine explodiert war,

gingen wir beide zum Unterstand hinaus, liefen im

Laufschritt die SteUung entlang bis zu einem Graben,

der nach dem vorne in den Drahthindernissen

gelegenen Horchpostenloch führte. Da hinein begaben

wir uns. Wir waren nun vollständig sicher, denn

die Minen Hogen aUe über uns hinweg. Wir konnten

sie schön betrachten, wenn sie in einem hohen Bogen

über uns hinwegHogen. Nun fing die deutsche

Artillerie an, Antwort zu geben. Bum-bum-bumbum,

krachten die Abschüsse hinter uns in den Waldern.

Mit lautem Zischen sausten sie über uns hinweg,

um bei der russischen Stellung einzuschlagen.

Durch den Grabenspiegel, der sich im Horchpostenloch

befand, beobachteten wir drüben die Einschlage.

Es war ein sehr aufregendes, interessantes

                                 229

Schauspiel, so daßwir beide die Kälte vergaûen. Die

russische Artillerie, die wohl zeigen wollte, daßbei

ihnen auch noch Munition vorhanden war, schickte

nun auch eine Menge Granaten, untennischt von

Schrapnells, herüber. Überall ein Donnern und

Dröhnen, daßeinem Hören und Sehen verging.

    Gegen Abend flaute das Feuer ab. Wir gingen zurück

in die Stellung. Stellenweise war der Graben fast

ebengeschossen. Wir warteten, bis es dunkel war,

dann wurde der Graben wieder gangbar gemacht

und einigermalien repariert. Mehrere Unterstande

waren zusammengeschossen, jedoch war nur einer

von 6 Soldaten besetzt gewesen, von denen vier getbtet

und die beiden anderen schwer verwundet waren.

Es war eine traurige und schwere Arbeit, im

Dunkel der Nacht die beiden Schwerverwundeten

und die 4 Leichen unter gefrorener Erde und zerschlagenen

Tannenstämrnen hervorzuholen.

    Die Russen wurden an diesem Frontabschnitt immer

frecher. Wo nur Rauch aus einem Unterstand

aufstieg, schossen sie mit Minen und Granaten. Von

da ab durften wir bei Tage nur noch mit Holzkohlen

heizen. Diese wurden in den groûen Waldern hinter

der Front gebrannt und mit der Feldbahn nach der

Front geschafft. Alle 2 Tage erhielt jede Gruppe

einen Großen Sack davon. Eines Morgens schickte

mich der Unteroffizier Blau zum Kohlenempfangen.

Die Säcke lagen auf einem Haufen bei der Mündung

des Laufgrabens in die Stellung. [… ] Ich war

eben im Begriff, meinen Sack über den Rücken zu

heben, als ein Schrapnell herangesaust kam und

über uns zerplatzte. Die ganze Ladung schlug kaurn

1m vor uns in die Grabenwand. lm selben Moment

fühlte ich ein heftiges Brennen im Rücken. Wir

sprangen alle Hals über Kopf in einen in der Nähe

befindlichen alten Unterstand. Dort fragte ich einen

Soldaten, ob er nichts an meinem Rock auf dem

Rücken sehe. Er entdeckte ein erbsengroßes Loch.

lch sagte, daß ich einen kleinen Splitter abbekommen

hätte, fühlte aber, daß es gar nicht schlimm war.

                                    230

Ich zog den Rock aus. Der Splitter war durch das

Stückchen Leder gedrungen, das auf dem Rücken

die Hosentrager zusarnmenhält, wodurch seine

Durchschlagskrafterheblich geschwàcht wurde. Der

Splitter, der nicht ganz die Größe einer Erbse hatte,

saß nur unter der Haut und wurde von einem Soldaten

mit den Fingernägeln herausgedrückt. Ich war

froh, als die »Operation« vollendet war, denn mich

fing es an, auf dem nackten Rücken gewaltig zu

frieren. [… ]

Die Verpflegung wurde immer schlechter und weniger.

Sehr oft, wenn man halberfroren yom Postenstehen

so gegen Morgen mit einem machtigen H unger

in den Unterstand kam, war kein Stückchen

Brot, noch viel weniger sonst etwas zum Beißen da.

 

                EIN HANDSTREICH GEGEN DIE

            RUSSISCHE STELLUNG-JANUAR 1917

 

Eines Tages kam der Befehl: »Morgen gegen Abend

hat die 9. Kompanie nach heftiger Artillerievorbereitung

anzugreifen, in die russische Stellung zu

dringen und Gefangene mitzubringen, zur Feststellung,

welche Truppen uns gegenüberliegen. Wenn

möglich, sind die russischen Minenwerfer zu zerstören

!- «Ais ich dies hörte, fiel mir das Herz fast in die

Hosen, denn ich gehorte zur 9. Kompanie. Ich

dachte, wie schrecklich es sein müsse, wenn man bei

dieser Kalte schwerverwundet und hilflos zwischen

den Stellungen liegenbleiben und langsam erfrieren

mulite. Wie schon wàre es gewesen, wenn ich bei der

MG-Kompanie gewesen wäre! Dann hätte ich diesen

    Angriff nicht mitzumachen brauchen!

Die nächste Nacht mußten wir mit Drahtscheren

Gange durch unsere drei Drahtverhaue schneiden,

urn schnell vorwartszukommen beim Angriff. Wir

wurden bei dieser Arbeit zum Glück von den Russen

nicht bemerkt. Langsam schlich der folgende Tag

                            231

dahin. Wir alle waren sehr niedergeschlagen, denn

keiner wte, wie es ihm beim Angriff ergehen

rde.

        Am Nachmittag fingen die deutsche Artillerie und

Minenwerfer furchtbar die russische Stellung zu beschießen

an. Bald entstanden breite cken in den

russischen Drahthindernissen. Das ArtiIleriefeuer

hörte wieder' elauf. Gegen Abend mußten wir uns

fertigmachen.jeder mußte sich 3 Handgranaten an

das Koppel hangen und die Seitengewehre aufpflanzen.

So standen wir im Graben, mit vor Aufregung

klopfenden Herzen, und warteten. Alles war in

diesem Moment still. Ganz plötzlich setzte starkes

deutsches Artilleriefeuer ein. »Vorwarts!« schrien

die Kompanie- und Zugführer. Wir aIle kletterten

zum Graben hinaus, liefen durch die Gange im

Drahtverhau, so schnell es der hochliegende gefrorene

Schnee erlaubte, nach der russischen Stellung

hinüber. Als wir uns dem Graben naherten, legte die

deutsche Artillerie an unserer Angriffsstelle das

Feuer weiter zurück, während links und rechts die

Granaten in und um die vordere russisehe Stellung

platzten, um die Russen daran zu hindern, uns in die

Flanke zu sehießen. Am russisehen Graben angekommen,

wurden einige Handgranaten hineingeworfen,

dann hineingesprungen. Die wenigen Russen,

die den Graben besetzt hielten, waren vollständig

überrascht. Einige setzten sich zur Wehr. Dabei

wurden 2 Mann unsererseits niedergesehossen und

drei verwundet. Die Russen wurden wie Hunde niedergeknallt,

ebenso einige, die fliehen wollten. Die

armen Teufel dauerten mich. Der Rest, etwa 30

Mann, ergab sich. Wie die Armen Angst hatten! Wir

ließen sie ihre Habseligkeiten in den Unterständen

zusammenpaeken, um sie mit in Gefangensehaft zu

nehmen. Auf beiden Seiten der Einbruchstelle standen

mehrere Soldaten mit Handgranaten bereit, um

sie im Falle, daß die Russen uns im Graben angreifen

wollten, ihnen über die Schulterwehren entgegenzuschleudern.

Jedoeh kein Angriff erfolgte. lch hatte

                                    232

nur den Wunsch, wied el' in unserer Stellung zu sein.

Lang-sam fïng es an zu dunkeln. Die deutsche Artillerie

legte wieder stärker los. Das war für uns das

Zeichen, im Schutze des Artilleriefeuers zurückzugehen.

Die russische Artillerie fing nun ihrerseits an,

die deutsche Stellung unter Feuer zu nehrnen, so

daß das Zuckgehen auch gefahrlich zu werden

schien. "Wir deuteten den Russen an, sich bereit zu

halten. Alle kletterten wir nun zum russischen Graben

hinaus, nahmen die Gefangenen in die Mitte,

und los ging's.Da stieg eine russische Leuchtkugel

hoch. Wir wurden von den Russen gesehen. Mehrere

Scsse knallten. Ein Mann bekam einen Armschuß,

einer der Russen einen Beinschuß. Trotzdem

wurden aIle mitgeschleppt, ebenso die 3 in der russischen

Stellung Verwundeten. ln unserem Graben

angekommen, suchte jeder so schnell wie glich in

cinen Unterstand zu kornmen, denn die russisehe

Artillerie schickte immer noch einige Granaten herüber.

AIs das Feuer aufhörte, mußte die Kompanie

im Graben antreten. Es fehlten 8 Mann. Zwei waren

im russischen Graben gefallen, drei waren dort und

einer war auf dem Rückweg verwundet worden,

macht sechs. Niemand wußte, wo die beiden anderen

geblieben waren. AIs es am nächsten Morgen

hell wurde, sahen wir einen tot zwischen den Stellungen

auf dem Schnee liegen. Von dem letzten fehlte

jede Spur.

 

 

                38 GRAD KÀLTE- JANUAR 1917

 

ln der folgenden Nacht wurde unser Bataillon abgelöst.

Wir marschierten etwa 8 km zurück und wurden

in großen Unterständen untergebracht. Nun

setzte eine Kalte ein, wie ich sie noch nie erlebt hatte.

Das Thermometer sank auf 38 Grad unter Null.

Morgens beim Sonnenaufgang war es am kältesten.

Es war so kalt, daf die Luft flimmerte. Ein Bächlein,

               233

etwa 1m tief, mit stark fliefiendem Wasser war bis

auf den Grund gefroren, so dali wir gezwungen waren,

Schnee- und Eisklumpen im Kochgeschirr auf

dem Ofen zu schmelzen, wenn wir Kaffee kochen

wollten oder zu sonstigen Zwecken Wasser haben

muûten. Das Brot und die anderen Lebensmittel, die

auf Schlitten hergebracht wurden, war en hart wie

Stein.

Wenn ein Mann den Kopfschoner nicht über die

Nase gezogen hatte, war die Nasenspitze binnen

5 Minuten weißgelb, alles Blut daraus gewichen. Dabei

wurde die Nase vollständig gefühllos. Da kam

der Befehl, daßeiner den anderen beobachten

sollte. Auch erhieltjeder eine Schachtel Frostsalbe,

um sofort die erfrorenen Stellen einzuschmieren

und zu verbinden. »Mensch, du hast ja eine weiße

Nasel- hörte man oft einen zurn anderen sagen. Die

Nase wurde dann sofort mit der Frostsalbe eingeschmiert

und verbunden. Am schnellsten erfroren

Nase, Ohren, die Haut auf den Backenknochen, Fingerspitzen,

Zehen und Fersen.

Nachdem wir einige Tage Ruhe hatten, mufiten

wir täglich nach vorn zum Stellungsbau. Das war

nicht so einfach bei dieser bitteren Kalte. Wir muûten

fast immer Zementplatten durch die Laufgräben

nach der Stellung schleppen, die zum Bau von Unterständen

dienten. Auf dem Hin- und Herwege

zogen wir weifie Schneehemden mit Kapuze über

unsere Uniform, um von den Russen nicht so gut

gesehen zu werden.

[… ] Als unsere Ruhezeit vorbei war, ging es Ende

Januar wieder 1km nordwarts in Stellung. An dieser

Stelle war der russische Graben kaurn 50 m von unserem

entfernt. Daß  keiner von uns den Kopf zeigen

durfte, war selbstverständlich. Des Nachts mulite immer

die Hälfte der Mannschaften Posten stehen, um

im Falle eines Überfalls bereit zu sein. Also mubte

jeder bei dieser bitteren Kälte 8 Stunden draulien

stehenjede Nacht. Da wurde gefroren! Selten, daf

einer einige Minuten stillstand. Immer wurde ge-

                                234
getrampelt und um sich geschlagen. Wenn man abgelost

wurde und sich etwas im Unterstand erwärrnt

hatte, waren eine halbe bis dreiviertel Stunde vorbei.

Dann legte man sich den Rest der Stunde aufs harte

Drahtbett. Kaum daßman eingeschlafen war, muûte

man wieder raus. Es war strengstens verboten, des

Nachts abzuschnallen oder die Stiefel auszuziehen.

So konnte man nur auf dem Rücken liegen und hatte

die gefüllten Patronentaschen auf dem Magen. Die

Gewehre wurden am Bett aufgehangt, so daßman

sie bei Alarm sofort bei der Hand hatte. Jede Woche

wurde mindestens zweimal Alarm gegeben, da mit

die Offiziere feststellen konnten, wie lange es dauerte,

bis der Graben besetzt war.

Eines Morgens wurde ich zum Brotempfang geschickt.

Ich legte das Zelttuch über die Schulter,

steckte die Hände in die Manteltaschen und ging

nach der etwa 300 m entfernten Empfangsstelle. Ich

nahm so viele Brote ins Zelt, wie ich tragen konnte.

Da sah ich, daßich meine Handschuhe im Unterstand

liegengelassen hatte. Ich nahm nun mit den

bloben Händen die Ecken des Zeltes zusammen,

schwang das Brot aufden Rücken und lief, so schnell

ich konnte, dem Unterstand zu. Herrgott, wie mir

die Finger anfingen zu frieren! Ich konnte kaum das

Zelttuch noch halten. Endlich erreichte ich den Unterstand,

Iief Zelt und Brot zu Boden fallen. Mehrere

Fingerspitzen waren bereits erforen und weibgelb.

Sofort schmierten meine Kameraden meine

Hände mit Frostsalbe ein und verbanden sie. ln den

Fingern hatte ich fast gar kein Schmerzgefühl, aber

die Arme hinauf und besonders in der Brust

schmerzte es mich derart, daßich mich auf den

Drahtbetten herurnwälzte. Nach etwa einer Viertelstunde

war der Schmerz wieder fast ganz weg. Ich

nahm den Verband von den Händen und sah, daf

das Blut in die Fingerspitzen zurückgekehrt war.

Anfang Februar 1917 wurden wir wieder abgelöst

und kamen in das Dörfchen Kekeli in Quartier. Kekeli

bestand aus einigen zerstreuten Holzhütten, die

                                    235

mit Stroh gedeckt waren. Nun konnten wir einige

Nächte durchschlafen. Jeden Tag muûten wir vor

dem Dörfchen an einer Stellung, welche mit Schnee

gemacht wurde, arbeiten. Nach etwa einer Woche

ging es wieder nach vorne. Wir kamen wieder in

dieselbe Stellung wie zuvor. Da kam wieder der Befehl,

einen Handstreich gegen die russische Stellung

zu machen. Es wurde gefragt, wer sich freiwillig

melden wolle. Die Freiwilligen bekamen nach der

Ausführung des Handstreichs das Eiserne Kreuz.

Zu meinem nicht geringen Staunen meldeten sich

12 Mann. Am folgenden Tage, morgens bei Tagesanbruch,

stellten sich die zwölf im Graben auf, kletterten

auf Kornmando hinaus und waren in ein paal'

Sprüngen in der russischen Stellung. Das Ganze

ging so schnell, daß von seiten der Russen kein einziger

Schuh fiel. Wir lausehten gespannt hinüber. Da

fielen einige Schüße. Nach etwa 2 Minuten fingen

unsere Maschinengewehre an zu rattern und fegten

links und rechts von der Einbruchstelle knapp über

die russische Stellung. Nun kletterten unsere Soldaten

aus dem russischen Graben und liefen, so schnell

sie konnten, in unsere Stellung zurück. Es waren nur

noch elf. Keiner wuûte, wo der zwolfte geblieben

war. Wir nahrnen an, daßer absichtlich drüben geblieben

sei, mn in Gefangenschaft zu kommen. Die

Angreifer hatten, wie sie sagten, nur einen Russen

niedergeschossen. Sie brachten des sen Brieftasche

und abgerissene Achselklappen mit.

    Die Stellung, in der wir lagen, war zu dieht am

Feind und zu gefàhrlieh. Deshalb sollten wir in der

Lange von 1km etwa 300 m zurückgenommen werden,

wo bereits eine schöne Stellung mit Unterstanden

ausgebaut war. ln der letzten Nacht, die wir in

der vordercn Stellung zubraehten, muflten wir Kistchen

mit Sprengstoff nach vorne tragen. Dieselben

wurden von den Pionieren in die Unterstände verteilt,

mit einern Draht verbunden, und dann wurden

die Eingange und Fensterchen zu den Unterständen

mit gefülltten Sandsäcken zugebaut. Am Morgen bei

               236

Tagesanbruch verliefien wir die vor dere Stellung

und bezogen die weiter zurückgelegcne, neu erbaute

Stellung. Punkt 12 Uhr mittags sollte die

Sprengung stattfinden. Gespannt schauten wir aIle

nach vor ne. Plötzlich eine Explosion, daß die Erde

zitterte. [… ] Sofort wurde cine Patrouille durch den

Laufgrabcn nach vorn geschickt, um nachzuschen,

ob alle Unterstände zerstört waren. [… ]

        Nun ging das Leben seinen gewühnlichen Gang

weiter: Postenstehen, schleehte Verpflegung und

quälende Lause. Ende März 1917 wurden wir abge-

löst, um wieder einige Tage in Ruhe zu kommen.

Das Wetter war etwas gelinder, doch lag der Schnee

noch massenhaft. Wir mußten nun im Schnee herumexerzieren.

Ich hatte als Gruppenführer den Unteroffizier

Schneider, der trotz seiner 29 Jahre bereits

Doktor der Chemie war, dem aber das Militarleben

absolut nicht zusagte. Unser Bataillonskornmandeur,

ein sehr strenger Mann, ritt im Bataillon

herum und sehaute den Bewegungen der Gruppen

zu. Als er eben bei uns anhielt, gab Unteroffizier

Schneider einige verkehrte Befehle. Als hätte er das

größte Verbrechen begangen, schrie ihn der Bataillonskommandeur

an: »Wie kommt es, daßso ein

Rindvieh wie Sie zum Unteroffizier befördert

wurde? Sie gehören ins Rekrutendepot, um den

Dienst von vorne zu lernen! Sie, der Cefreite«, sagte

cr dann zu mir, ȟbernehmen sofort den Befehl

über die Cruppel- Ieh trat nun vor. Da ich eine

kräftige Stimme hatte und die Kommandos in meiner

4jahrigen Militärzeit natürlich genau kannte,

war es ein leichtes, die Gruppe zu führen. Ich lief3sie

einige Schwärmbewegungen maehen, einige Male

Stellung nehmen und dann wieder sammeln. Der

Bataillonskommandeur, der zugesehen hatte, ritt

heran und sagte: »GUI, der Gefreite. Wie lange sind

Sie sehon Soldat?« – »Seit Oktober 1913!« antwortete

ich. »Wie lange sind Sie sehon im Feld?« – »Seit

Kriegsausbruch, mit etwa 4 bis 5 Monaten Untcrbrechung.

« – »So, wie kommt es dann, daß Sie noch

                                237
 

nicht Unteroffizier sind?« – »Ich bin Elsässer und

habe deshalb schon viermal die Regimenter wechsein

müssen. Ais Neuling wird man dann gewühnlich

ais Rekrut behandelt.«

Dann ritt der Bataillonskommandeur weg und

rief unseren Kompanieführer, Leutnant Kerrl, der

ein guter Vorgesetzter war und mich gut leiden

konnte, zu sich. Ich sah, daßbeide oft nach mir

sahen, also von mir sprachen. Ais wir eben aufhörten

mit dem Exerzieren, brachte die Regimentsordonnanz

eine Meldung zu unserern Bataillonskomrnandeur.

Als diesel' dieselbe gelesen hatte, rief er: »Das

ganze Bataillon hier rumkomrnen !- Alles lief hin

und stellte sich im Kreis um den Bataillonsführer.

»Soldaten«, fing el' an, »der Krieg auf dieser Front

ist soviel ais beendet. ln Ruûland ist eine Revolution

ausgebrochen. Der Zar ist abgesetzt. Die Garnison

von Petersburg, 30000 Mann, hat sich den Revolutionären

angeschlossen.« [Es war die Februarrevolution

yom 23. Februar 1917, der am 17. Marz 1917 die

Abdankung von Zar Nikolaus IIfolgte.]

Wir aIle horchten mit offenem Munde, dann

konnten wir in unsere Quartiere gehen. Alle möglichen

und unrnöglichen Vermutungen wurden ausgetauscht.

Den einen grau te schon, die dreckigen

Feldbahngeleise nun abreilien zu müssen; andere

meinten: »jetzt geht's los nach Petersburg und Moskau..

Fast aIle freuten sich, daßdas Schützengrabenleben

nun bald ein Ende haben sollte. lch selbst war

jedoch noch nicht so ganz von der Sache überzeugt,

sagte aber nichts weiter. Vorne an der Front ertönten

die einzelnen Kanonenschüsse genau wie vorher.

Also war's mit der Revolution nicht so schlimm.

Einige Tage spater wurde der wahre Sachverhalt

bekannt. Wirklich, der Zar war abgesetzt worden,

aber nul' weil cr Frieden schlielien wollte. Der Krieg

jedoch wurde unter dern Befehl des Diktators Kerenski

[damals Mitglied des Provisorischen Exekutivkomitees

des Arbeiterdeputiertenrates, yom  Juli

1917 bis zur Oktoberrevolution russischer Ministerpräsident]

                                238

 

aufs neue fortgesetzt. Das klang ganz,

ganz and ers ais die erste Meldung.

        Anfang April 1917 wurde unser Regiment ganz

abgeWst. Wir marschiertcn zurück und wurden in

dern ganz von Juden bewohnten Städtchen Subbat

2 Tage einquartiert, Hier sah ich seit meinem Urlaub

irn Oktober 1916 wieder die ersten Zivilisten. Lebensmittel

waren keine zu kaufen, aber sonst allerhand.

Und in den Teestuben gab es no ch einigerrna-

Ben guten Tee zu trinken, der statt mit Zucker mit

Sacharin versülit wurde. Dann marschierten wir

nach der Bahnstation Abeli. Dort wurden wir verladen.

Kein Mensch wubte, wohin, Wir fuhren zurück

über Radsiwilischki, Rakischki über Schaulen nach

janischki. Dort verlieben wir den Zug und wurden

3 Tage in Massenquartieren untergebracht; dort

schliefen wir auf den Zimrnerböden. Es gelang mir

auf Schleichwegen, 12 Eier und 1 Pfund Speck zu

kaufen. Das gab wieder mal zwei vernünftige Mahlzeiten.

Als die 3 Tage um waren, fuhren wir mit der

Bahn nach Schaulen zurück. lch soIlte mit noch einern

Gefreiten zum Unteroffizier befordert werden.

ln Schaulen angekommen, hief es: »Alle Elsaû-

Lothringer aussteigenl- lch ahnte gleich, weshalb.

Wir muûten auf dem Perron antreten. Der Kompanieführer

kam zu mir, übergab mir einen Brief, den

ich meinem zukünftigen Kornpanieführer geben

sollte. Es sei ein Empfehlungsschreiben, mich und

die übrigen Elsässer der 9. Kompanie betreffend.

Ich dankte, dann nahm der Kornpanieführer Abschied

von uns. Von unseren Kameraden konnten

wir nicht Abschied nehmen, denn sie durften nicht

.iussteigen. Bei unserern Abmarsch winkten wir ihlien

ein letztes Lebewohl zu. [… ] die Division wurde

nach dem franzosischen Kriegsschauplatz transpor-

1 iert, und wir Elsässer durften nicht mit. Wir wurden

ill Schaulen in einer früheren Lederfabrik für 2

'Lige einquartiert. Wir waren etwa 1200 Mann. Es

war hier wieder dieselbe Schimpferei wie bei unserer

Versetzung vom Regiment 44 zum Regiment 260.

                                239

Mich wunderte sehr, was eigentlich in dem Empfehlungsschreiben

meines früheren Kornpanieführers

stand. Auf dem Briefumschlag stand nur: »An

den Kompanieführer«. Ich dachte: lch kann den

Brief ebensogut in einem unbeschriebenen Briefumschlag

abgeben. SAriß ich ihn einfach auf und las.

Dieser Brief war der reine Lobgesang auf mich,

dann auf den Soldaten Runner Harry, der aus Rufach

stammte, und die übrigen Soldaten der 9. Kornpanie.

Es freute mich doch, daß wir bei unserem

Kompanieführer so gut angesehen waren. lch teilte

den Inhalt des Briefes nur meinem Kameraden

Runner Harry mit. Am nächsten Tag ging ich mit

Runner in die Stadt, um zu sehen, ob etwas Eßbares

zu kaufen wäre. Wir konnten leider nichts finden als

Tee in den Teestuben. Es fiel uns auf, daß viele

Soldaten in eine abgelegene Gasse gingen, ebenso

von dort kamen. ln der Meinung, daßdort etwas zu

kaufen wäre, gingen wir beide auch hin. Wir betraten

ein Haus, in dem es ein und aus ging wie in einem

Bienenstock . .la, da war wirklich was zu kaufen, aber

was! Wir waren in ein öffentliches Haus geraten, in

dem etwa 8 Dirnen ihr Unwesen trieben. Var jeder

Tür stand eine ganze Reihe Soldaten, einer nach

dem anderen ging hinein. Wir beide kehrten um,

denn wir schämten uns unserer Landsleute. Die Soldaten

waren närnlich aIle Elsasser.

Am folgenden Tag ging es wieder mit einer Feldbahn

nach der Front, etwa 60 km nordwärts. ln der

Nähe von Jakobstadt verlieben wir die Bahn und

wurden auf verschiedene Regimenter verteilt. lch

wurde mit noch etwa 200 Mann dem Regiment 332

zugeteilt. Ein Feldwebel führte uns nach der Front.

Wir hatten etwa 15 km zu marschieren. Der Feldwebel

hörte auch allerhand und war froh, aIs er uns

beim Regimentsstab abgeben konnte.

Wir wurden sofort den Bataillonen zugeteilt und

hingeführt. Wir mußten antreten. Da kam der Major

Zillmer, ein etwa 65jahriger Mann, um seine Begrü-

Bungsrede zu halten. Bis jetzt war noch kein Elsässer

                                    240

im Regiment, daher kannte sie der Major nur vom

Horensagen. Und nach allem, was er sprach, schien

er noch wenig Cures über die Elsaß-Lothringer gehört

zu haben. Zuerst ging er var uns durch und sah

jedem einzelnen auf die Mütze. »Es geht noch. Ich

dachte schon, es seien mehrere Soldaten 2. Klasse

dabei.« Das war der erste Satz, den er sprach. (Die

Soldaten 2. Klasse, »Schwerverbrecher«, dürfen

nämlich keine Kokarden an der Mütze tragen.)

Dann fuhr er fort: »Was seh' ich? Einige von euch

tragen sogar das Eiserne Kreuz l- Darüber schien er

so verwundert, ais ob er etwas ganz Unrnogliches

cntdeckt hatte. Am Iiebsten hatte ich den alten Halunken

niedergeschlagen. Verdient hätte er es!

Nun wurden wir den Kompanien zugeteilt. lch

kam zur 5. Kompanie, obwohl ich zur MG-Kompanie

verlangte. Der Kompaniefeldwebel, den ich vom

crsten Augenblick nicht leiden konnte, empfing uns

ähnlich. Hier bist du geliefert, dachte ich bei mir. lm

stillen nahm ich mir vor, bei der nächsten Gelegenheit

zu den Russen überzulaufen, denn bei dieser

Bande schien mir das Aushalten unrnöglich.

 

                lN STELLUNG BEIM REGIMENT 332

 

Am folgenden Tage mußte ich mit mehreren Kameraden

in die Stellung nach vorne. Der Weg führte

rneist durch eine sumpfige Gegend. Durch den

Sumpf waren stellenweise lange Brücken aus Tannenstämmen

gebaut, um das Passieren zu errnöglichen.

EndIich kamen wir in der Stellung an. Sie

bestand hier nicht aus einem in die Erde gegrabenen

Schützengraben, sondern aus einem aufgeworfenen

Erdwall. ln die Tiefe graben war unmoglich, denn in

der sumpfigen Gegend wäre der Graben sofort voll

Wasser gewesen. Die oben auf die Erde gebauten

Unterstànde waren auch nur schwach gebaut und

hatten bei einer Artilleriebeschießung wenig Dek-

                        241

kung geboten. Die Stellung schien je do ch sehr ruhig,

und wie mir Soldaten erzahlten, kamen nur selten

einige Schrapnells herübergef1ogen.

    Wir mußten uns beim Kompanieführer, Leutnani

Pelzer, vorstellen. Der Leutnant, der eine heisere

Stimme hatte und sehr welk und schlecht aussah,

betrachtete uns, wie man ungefahr ein widerrtiges

Stück Vieh betrachtet, und befahl dem uns begleitenden

Feldwebel, uns in die Gruppen zu verteilen.

Vorher gab ich den Empfehlungsbrief meines

früheren Kompanieführers ab; der Leutnant offne

te den Brief, las ihn und sagte einfach: »Sie können

gehenl« Ich schob ab und kam in die Gruppe des

Unteroffiziers Stein.

Es schien hier eine strenge Disziplin zu herrschen,

denn beim Postenstehen mußte man wie verrückt

immer geradeaus nach den Russen hinübersehen,

und wenn ein Offizier den Graben passierte, mulite

man stillstehen und immer nach vorne sehend melden:

»Cefreiter Richert, auf Posten Numero

soundso, yom Feinde nichts Neuesl- Dabei waren in

dieser Stellung die Russen gar nicht zu fürchten,

denn zwischen uns und ihnen strörnte der großc

Fluf vorbei, die Düna, die an diesel' Stelle etwa

400 m breit war. Bei Tage war ein Herüberkommen

. ganz unrnöglich. Nach etwa 10 Tagen wurden wir

abgelëst und wohnten in Baracken, die am Rande

eines Tannenwaldes etwa 3 km hinter der Front errichtet

waren.

 

                                HUNGER

 

Plötzlich gab's pro Mann und Tag statt wie bisher

1:2 nur noch 1 Pfund Brot. ln Deutschland und den

eroberten Gebieten war der Bestand der Lebensmittel

aufgenommen worden; dabei stellte sich heraus,

daß das Brot unmöglich bis zur neuen Ernte ausreichen

konne. Daher wurde uns taglich ein halbes

                                         242

Pfund abgezogen. Kartoffeln hatten wir bereits seit

4 Monaten über haupt keine mehr zu sehen, noch

viel weniger zu essen bekommen, da im Herbst 1916

die Kartoffelernte sehr schlecht ausgefallen war.

Nach und nach stellte sich bei allen Soldaten ein

derartiger Hunger ein, daßman sich nicht mehr zu

helfen wußte.

   Die Verpf1egung bestand morgens und abends

aus schlechtem, schwarzem Kaffee, aus KaffeeErsatz

gebraut, ohne Zucker, 1 Pfund Brot pro Tag,

das jeder gleich am Morgen zum Kaffee gegessen

hatte. Dann gab es noch abwechselnd Butter, Marmelade

oder eine Leberwurst, ein graues Fett, »Affenfett

« genannt, jedoch nur wenige Gramm pro

Kopf – was hingereicht hätte, eine junge Katze zu

ernähren, aber nicht junge, ausgehungerte Soldaten.

Dabei gab esjetzt drei fleischlose Tage pro Woche.

Das Mittagessen bestand aus 1 Liter dünner Suppe,

hauptsachlich Grieß- oder Dörrgemüsesuppe. Die

Feldküche fuhr mit dem Essen nach vorne in die

Stellung. Uns, dem Reservezug, wurde die Suppe

auf einem Wagelchen in einem Kübel hergefahren.

Wenn die Zeit herannahte, daß der Wagen kommen

sollte, gingen ihm die meisten Soldaten entgegen,

denn jeder wollte der erste sein in der Hoffnung,

außer seinem Liter, wenn noch etwas Rest im Kübel

war, davon zu erhaschen. Der Kübel selbst wurde

mit Loffeln sauber ausgekratzt. Manchmal, wenn

sich die ersten an den Wagen anhängen wollten, um

zuerst dazusein, hieb der Fahrer plotzlich auf die

Pferde los und sprengte im Galopp nach derAusgabestelle,

so daß jene, die die ersten sein wollten, nun

die letzten waren. Trotzdem gab es noch 50 blödsinnige

Patrioten, die immer noch an einen deutschen

Sieg glaubten. 

   Da nun Frühling geworden war, sprossen in den

Cemüsegarten der zerstörten Hauser, in Hecken

und an Wegrändern viele Brennesseln. Sie wurden,

kaum daßman sie fassen konnte, gerupft, in Sal 
                                    243

wasser gekocht und mittags unter die Suppe gemengt

und vertilgt. Ebenso wurde der Löwenzahn

(Kettenstüdasalat) sowie die Blätter der Melden [spinatähnliche

Unkräuter, häufig ais Gemüse verwendet]

gesammelt, gekocht und gegessen. Alles, was

kreuchte und fleuchte, wurde gegessen. Einmal gelang

es mir, eine Wildkatze von einer Tanne herunterzuschieHen.

Sie schmeckte ausgezeichnet. Ich

hatte früher nie gedacht, daßich sa tief sinken

würde, Katzenfleisch zu essen.

        Wir muhten nun jeden Abend nach der Stellung

gehen, um neue Drahthindernisse zu bauen

und Reservegräben auszuheben. Bei Tagesanbruch

marschierten wir wieder zurück in die Baracken.

Auf dem Rückweg ging jeder, wie er wollte, in

Gruppen von 2, 3 bis 10 Mann. Da lief vor uns ein

Igel über den Weg. Etwa 8 Mann sprangen in den

Graben, um den Igel zu fangen. Jedoch jeder, der

den Igel anfassen wallte, stach sich an den Stacheln

und lief ihn mit einem Aufschrei 'Nieder los. Sa

stießensich die Soldaten im Graben herurn, keiner

wollte sich die Beute entgehen lassen, und doch

konnte sie keiner erhaschen. Ich sprang nun ebenfalls

in den Graben und sah den Igel, der natürlich

zusammengerollt war, zwischen den Beinen der

sich herumstoßenden Soldaten liegen. Schnell

scharrte ich den Igel hervor, nahm die Mütze vom

Kopf und rollte ihn mit dem Fußhinein. Der Igel

war mein! Die Hälfte briet ich, während ich die andere

Hàlfte ais Suppe kochte. Das war für mich das

reins te Festessen.

Eines Morgens, ais wir von der Arbeit kamen, sah

ich in einer Wasserlache etwa 100 Frosche, die eben

laichten. Ich ging mit einem Kameraden, einem

Cartner aus Straßburg, hin, um sie zu fangen. Sofort

reinigten wir sie. Die Preußen, die zusahen, mußten

sich fast erbrechen vor Ekel, denn in PreuGen werden

keine Frösche gegessen. Nun fingen wir beide

an, sie in einer Pfanne auf dem Ofen zu braten. Der

Gärtner hatte am Tage vorher ein halbes pfund Butter

                                244

von zu Hause erhalten, und Froschschenkel, in

Butter gebraten, verbreiten bekanntlich einen sehl'

angenehmen Duft. Einer nach dem anderen der

Preulien kam herbei, von dem herrlichen Geruch

herbeigelockt, und guckte verlangend in die Pfanne.

»Du, ich mochte auch mal kostenl- Jene, die sich

beim Putzen der Frosche am meisten geekelt hatten,

hatten nun die ganze Pfanne leer gegessen. Wir

beide sagten aber einfach, sie sollten sie selber fangen

und kochen. Von da ab war kein Frosch mehr in

der ganzen Umgebung sicher.

Wir hofften, daßdie Verpflegung wieder etwas

besser werden würde. Leider hatten wir uns getäuscht.

Es war wirklich fast nicht mehr zum Aushalten.

Nie, nicht ein einziges Mal konnte man sich satt

essen. [… ]

Eines Tages war Bataillonsappell. Wir muliten aile

antreten. Da kam der Regimentskommandeur hergeritten.

Er nahm die Parade ab. Von einem schneidigen

Parademarsch war natürlich keine Rede, denn

erstens war der Parademarsch nicht geübt, und zweitens

fehlte die Kraft, die schlappen Beine rauszuwerfen.

Nachher muGte das ganze Bataillon im

Halbkreis um den Regimentskommandeur antreten.

»Kameradenl- fing er an. »Wir hungern, dies ist

eine Tatsachel- (Dabei hatte er ein richtiges Vollmondgesicht

und ein mächtiges Fettkissen im Nakken.)

»[a, wir hungern«, fuhr er fort, »aber England

hungert auch, unsere Unterseeboote schaffen's, selten

gelingt es einem Schiff, England zu erreichen,

ohne versenkt zu werden. Frankreich ist ebenfalls

erschopft und leidet unter dem Lebensmittelmangel!

« (Dabei erhielt ich zwei Tage vorher einen Brief

aus der Heirnat, in welchem mir meine Schwester

mitteilte, daßdort Lebensmittel in Hülle und Fülle

vorhanden seien, und von Not keine Spur!) »Es ist

gerade wie in einem Ringkampf«, redete er weiter,

»bei dem der Gegner zu Boden gerungen ist,jedoch

noch eine Schulter hochhält. Diese Schulter rnuf

noch niedergerungen werden, deshalb müssen wir

                            245

aushalten. Denn wir wollen, müssen und werden

siegen!« Dieser Dickkopf hat gut reden, dachte ich.

Mehrere patriotische Soldaten glaubten natürlich

dem Regimentskommandeur. Wenn sie nachher

von dem bald ausgehungerten England und Frankreich

sprachen, langte ich die Brieftasche hervor

und gab ihnen den Brief meiner Schwester lU lesen.

»Donnerwetter l- meinte mancher. »Wenn das 50 ist,

geht's mit uns zuletzt doch noch schief!«

lm Mai 1917 marschierte unser Regiment zurüek.

Wir wurden von einer Feldbahn etwa 150 km weiter

nach Süden transportiert. Bei dem Städtchen Nowo

Alexandrowsk verlieBen wir die Feldbahn und marschierten

auf einer sehr guten, breiten Stralie an die

Front [ ] nach der vordersten SteIlung, wo wir das

darin befindliche Regiment ablösten. Die Soldaten

sahen auch aile elend und abgemagert aus; das

zeigte uns, daßauch hier der Hunger herrschte.

Meine Kompanie lag in einem kleinen Waidchen,

welches auf einer Landzunge zwischen zwei Seen,

rechts der Meddumsee, links der Ilsensee, lag. Die

russische Stellung befand sich etwa 150 m vor uns.

[... ] Die Stellung war hier sehr stark ausgebaut. Die

ganze Linge des Schützengrabens lief ein Gang in

5 m Tiefe entlang, welcher durch mit Treppen versehene

Eingänge aIle 15 m mit dem Schützengraben

verbunden war. lm großen und ganzen war die Stellung

nicht sehr gefahrlich. Wahl flogen jeden Tag

einige Granaten und Schrapnells hinüber und herüber.

Aber sie richteten wenig Sehaden an. lch

wurde nun wieder Gruppenführer und brauchte

nicht mehr Posten zu stehen. Bloß jede Nacht hatte

ich eine Stunde Grabendienst, um die Posten zu

revidieren. Mehrere Male traf ich in besonders

schwülen Nächten Posten an, die var Schwäche ohnmachtig

geworden waren und neben dem Postenst.

and im Graben lagen. Die ganzlich erschöpften

Soldaten kamen 14 Tage bis 3 Wochen in ein irgendwo

hinter der Front eingeriehtetes Erholungsheim,

um wieder etwas zu Kräften zu kommen.
                            246

Ich versuchte nun nochmals, lUI' MG-Kompanie

meines Bataillons zu kommen, ging zum Kompanieführer

der MG-Kompanie und erzählte ihm mein

Anliegen. Der Kornpanieführer, ein Freiherr von

Reiliwitz, war sehr freundlich zu mir und sagte, er

wolle mich von meiner Kompanie anfordern. [... ]

Nach 2 Tagen kam der Bataillonsbefehl: »Cefreiter

Richert von der 5. Kompanie ist zur 2. fG-Kompanie,

Infanterieregiment 332 versetzt l

        Ich freute mieh nicht wenig, nahm Abschied von

meinen Kameraden und ging zur MG-Kompanie.

Der Feldwebel nahm mich freundlich auf und

fragte, ob ich Telephondienst machen könne. Obwohl

ich noch wenig mit dem Telephon zu tun gehabt

hatte, bejahte ich und wurde Te!ephonist. [… ]

Wir waren 3 Telephonisten, jeder hatte täglich 8

Stunden Dienst, der natürlich sehr leicht war. Man

saß im Unterstand und wartete, bis das Te!ephon

klingelte, und gab dann die Befehle per Telephon

weiter. Auch kamjeden Tag der Heeresbericht vom

Groûen Hauptquartier. Dieser muûte niedergeschrieben

und in einem Kasten an einer Tanne aufgehangt

werden, damit sich die Soldaten an den

aufgebauschten Siegesmeldungen »satt essen«

konnten. Das Leben war hier sehr angenehm. Wenn

nur der Magen mehr Arbeit gehabt hättel Es war

wirklich einJammer mit der Verpflegung. Zuwenig

zum Leben, zuvie! zum Sterben! Einmal bekam ich

1 pfund Brot von der Familie Gauche! aus dem

Rheinland geschickt. Das Paket war wohl irgendwo

liegengeblieben, denn es war 14 Tage auf der Reise.

Die Mutter Gauche! hatte das Brot wohl im warmen

Zustand eingepackt, denn ais ich das Paket öffnete,

sah man vom Brot innen und außen nichts ais grünen

Schimmel. Trocken dasselbe zu genießen war

unmoglich, wegwerfen konnte ich es nicht. Aiso versuchte

ich, eine Suppe zu kochen, nahm Wasser ins

Kochgeschirr, tat etwas Salz hinzu und schnitt das

Brot hinein. Durch das Kochen löste sich viel von

dem Schimmellos; diesen schopfte ich ab. Dann aß

                             247

ich die Suppe. Es war mir fast unm öglich, sie zu

geniessen. Aber' mit Todesverachtung würgte ich sic

hinuntcr.

Gleich am Rande des Secs breitetc sich ein großes

– nun natürlich verwildertes  Ackerfeld aus. Stellenweise

befanden sich einige zusammenstehende

Roggenahren dort, die nun reif ware n. Ich schnitt

mit dem Taschenmesser einen Brotbeutel voll Ahren

ab, rieb die rner aus, blies die Spreu weg,

nahm einen runden Stein und zerdrüekte die Korner

auf einer Steinplatte. Daraus koehte ich wieder

Suppe. Natürlich hatte ich schon bessere gegessen.

Acht 'rage lang mach te ich es sa, bis keine Roggenahre

mehr in der Umgebung zu finden war.

üft suchte ich au ch Himbeeren, um etwas in den

Magen zu bekomrnen. Gleich hinter dem Unterstand

erhob sich ein runder H ügel, an dem es viele

Himbeersträucher gab. Die vordere Seite des gels

lag frei gegen die Russen; deshalb sammelte ich zuerst

nul' hinter dem Hügel. Da es heiß war, zog ich

meinen Rock aus. ln meinem Eifer kam ich um den

gel herum, ohne es zu beachten, daßich nun

nicht mehr in Deckung war. Plotzlich sauste eine

Granate heran und sehlug etwa 3 m links von mir in

den Hügel. Die Russen hatten mich in meinem wei-

Ben Hemd gesehen. leh erschrak narlich heftig bei

dem plëtzlichen Einschlag und lief, so schnell ich

konnte, um den gel herum, um in Deckung zu

kommen. Beim Laufen blieb ich mit den Füben an

den Dornen hängen, stürzte zu Boden, so daß fast

alile Himbeeren aus dem Koehgeschirr herauskollerten.

Mit einem fast leeren Koehgesehirr ging ich in

den Unterstand zurück.

        Auf dem See gleich neben dem Unterstand lag ein

kleiner Kahn mit 2 Rudern. Darauf fuhren ich und

der andere Telephonist, der eben dienstfrei hattc,

auf den See hinaus, um mit Handgranaten zu fischen,

trotzdern dies streng verboten war. Manehmal

gelang es uns, mehrere schöne Fische zu fangen.

Wir nahmen eine Handgranate, entzündeten sie

                                        248

und warfen sie etwa 3m vom Kahn ins Wasser. Von

der Explosion horte man nul' einen dumpfen

Schlag. Das Wasser wurde jedoch derart in Bewegung

gesetzt, daß der Kahn anfing zu schaukeln. Die

Fische, die sich in der Nahe befanden, wurden teils

gelet, teils nul' betäubt. Einmal fuhren wir in UI1

seunscrern Eifer zu weit in den See hinaus, wo elnicht

mehr durch den Wald gedeckt war und ihn

die Russen genau einsehen konnten. Wir beide waren

eben beschäftigt, mehrere betäubte Fische einzufangen,

als eine Granate etwa 30 m vor uns ins

Wasser schlug. lm selben Moment bog ich mich weit

über den Rand des Kahnes, wahrend mein Kamerad

auf der anderen Seite stand, um das Gleichgewicht

zu halten. Bei dem Einschlag der Granate

ckte sich mein Kamerad, der Kahn fing an zu

schaukeln, und beinahe wàre ich kopfüber in den

See gestürzt. [… ] Uns war für einige Zeit die Lust

am Fisehen vergangen.

    Unweit von unserem Unterstand befand sich im

Geseh eine aire Müllgrube, die nicht mehr gebraucht

wurde. Da mußte wohl im Frühling eine

Kartoffel hineingeraten sein, denn eine schöne

Staude wuchs da. Ich wollte sie zuerst ausreilien,

dachte aber, daß wahrscheinlich noch keine oder

nur kleine Kartoffeln daran seien, und Iief sie stehen.

Damit sie den Blicken der anderen Soldaten

entzogen sei, steckte ich rundum dichte grüne Reiser.

Ich wollte die Staude ausreifen lassen, um wieder

mal einige Kartoffeln essen zu können. Seit über

einem halben.J ahr hatte ich keine einzige Kartoffel

gesehen, noch viel weniger gegessen! Eines Tages

mulite ich eine Meldung zum Bataillonsstab bringen,

der gleich hinter dem Wald in einem Bauernhaus

wohnte. Vom Waldrand bis zum Haus zog sich ein

Kartoffdacker. [... ] Schon mehrere Male war nachts

gestohlen worden, so daß jede Nacht Infanterie Wache

stehen und um den Acker patrouillieren mußte.

lch ging in meinen Unterstand zurück und sagte

meinen beiden Karneraden: »Heute nacht gibt's

                                249
Kartoffelnl  »Wie, wasj'- riefen sie wie aus einem

Munde, »[a, ganz sicherl antwortete ich. »Laût

mich nur machen AIs es dunkel "l'tude, ging ich in

Richtung des Bataillonsstabes. Der Posten patrouillierte

schon um den Acker. Jedesmal werm der Posten

bei seinem Rundgang sich dem Waldrand naherte,

blieb ich still hinter dem Gesch knien. Zuletzt

trennte mich nur noch ein Busch von dem Weg,

den der Posten passierte. Ich lief ihn vorbeigehen

und kroch dann, ais er am unteren Ende angelangt

war, auf allen vieren in den Acker und fing an, mit

den Händen die Knollen hervorzuwühlen.]edesmal

wenn der Posten vorbeiging, lag ich mäuschenstill

zwischen den Stauden, um dann gleich, werm die

Gefahr vorbei war, mit der Wühlerei von vorne zu

beginnen. So füllte sich nach und nach mein Sandsack,

und ich schätzte meine Beure auf 25 pfund.

[… ] Bei meinem Unterstand angekommen, horchte

ich erst, ob die beiden Telephonisten alleine seien.

Dann offnete ich die Tür zum Unterstand und warf

den Sack hinein. [… ] Wie da ein]ubellosbrach! AIs

hätte jeder das große Los gewonnen! Sofort wurde

ein gehoriges Quantum gewaschen, geschalt und in

Salzwasser gekocht. Das Wasser wurde abgeschüttet

und die Kartoffeln mit dem Griff des Seitengewehrs

zerstolien. Die beiden wollten nun gleich drauflosessen.

Ich aber sagte: »Nur langsam!«, ging an meinen

Tornister, holte die eiserne Portion hervor, offnete

die Büchse und mengte das Fleisch unter die Kartoffeln.

Da das Essen der eisernen Portion ohne Erlaubnis

mit 3 Tagen Arrest bestraft wurde, waren meine

Kameraden über meine Dreistigkeit sehr erstaunt

und sagten: »Was ist nun, wenn Appell ist?«  »Nur

ruhig. Ich telephoniere morgen einfach dem Kornpaniefeldwebel,

daß mir meine eiserne Portion gestohlen

worden sei. Ich hoffe, daß el' mir eine andere

mit der Feldküche zuschickt.« Meine Kameraden

mußten nun herzlich lachen, und seelenvergnügt

aben wir nun dieses seltene Essen.

Eines Tages bekam ich sehr starke Zahnschmerzen.

                                        250

Da sie mehrere Tage anhielten, meldete ich

mich krank und bekam vom Bataillonsarzt eine

Bescheinigung, die Zahnstation in NowoAlexandrowsk

aufzusuchen, um meine kranken Zähne ziehen

zu lassen. lm Wartezimmer saûen etwa 12 Soldaten,

die wortlos vor sich hinstierten. Ein Soldat mir

gegeber kam mir bekannt vor. Ich konnte ihn

jedoch unmoglich erkennen. Es fiel mir bald auf,

daf el' mich ebenso betrachtete wie ich ihn. Ich

wollte eben fragen, ob er nicht Elsässer sei, ais er

aufstand, auf mich zukam, mir die Hand zum GruJ3e

hot und sagte: »Dü bisch doch der Richert vo St.

Ulrich!« Nun erkannte ich ihn. Es war der Schwob

.Josef aus Hindlingen. »Dü bisch 0 feist worda wia

ich!« meinte er dann. Und wirklich, Schwob war

schrecklich abgemagert. DeshaIb konnte ich ihn

nicht gIeich erkennen. Daß ich bei solcher Verpflegung

auch nul' noch ein wandelndes Knochengerüst

war, kann sich wohljeder denken. Wir erzählten uns

von der Heimat, was eben jeder von dort wulite. [... ]

Ohne daßich die Zahne gezogen hatte, gingen wir in

clas Stadtchen in der Hoffnung, etwas zum Beiûen

kaufen zu konnen. Jedoch nichts war aufzutreiben

als ein Glas Bier in einer Kantine. Gerne hätte ich

1I0ch eins getrunken, aber jeder Soldat bekam nur

cin Glas, damit es weiter reichte. Uns beide wunderte

nur , wovon die armen Einwohner, die hohlwangig

und zu Skeletten abgemagert herumliefen, wohl

cigentlich Iebten. [... ]

Mitte August 1917 wurde ich als TeIephonist abgelOst

und soIlte auf dem Gute Tabor einige Tage

verbringen. [... ] Dort war die Schreibstube der

Kompanie untergebracht sowie die Reserveschützen,

die Fahrer und die Pferde. Da der Kompanie

Ieldwebel namens Laugsch ein guter Mensch war,

hatten wir nur wenig Dienst. Ein bißchen MGExerzieren

und MG-Reinigen. Eines l'ages sagte der

Feldwebel zu mir, der Kompanieführer habe aus der

Stellung telephoniert; der Gefreite Richert solle sich

sofort bei ihm melden. Der Feldwebel wie auch ich

                            251

hatten keine Ahnung, weshalb. Neugierig machte

ich mich auf den Weg nach der SteUung, wo ich den

Kompanieführer in seinem Unterstand traf. Ich

meldete rnieh zur Stelle. Der Kornpanieführer sagle

lachelnd: »Sie müssen ein guter Soldat sein, Richert!

« Da ich niche wulite, worauf el' hinauswollte,

gab ich zunachst keine Antwort. »Es ist etwas für Sic

angekommen«, sagte er, »von der 9. Kornpanie, Infanterieregiment

260, der sie früher angehorren,

nieht wahr?« Ieh bejahte. Da langte er eine Sehaehtel

von einem Brett herunter, nahm ein Kreuz aus

Bronze mit dunkelblau und gelbem Bandchen heraus

und sagte, indem er mir den Orden an der Brust

befestigte: »Ich verleihe Ihnen im Namen der 9./260

hiermit das Braunsehweigische Kriegsverdienstkreuzl-

Dann drückte er mir die Hand. Ich war

natürlich überrascht, denn vor 4 Monaten mußte ich

das Regiment 260 verlassen und hatte nicht den

geringsten brieflichen Verkehr mit der Kornpanie,

aulier mit meinem früheren Karneraden Karl Herter.

Der Kompanieführer meinte, ich sei wohl die

längere Zeit beijener Kornpanie gewesen oder hätte

mich durch irgendeine Heldentat ausgezeichnet.

Ich antwortete, dan ich nur 31/2 Monate bei jener

Kornpanie gewesen sei und nichts Besonderes geleistet

hätte ais meinen Dienst gemacht, wie es sich eben

gehbrte. Ieh verlief nun den Kornpanieführer und

ging nach Tabor zurück. Unterwegs badete ich mieh

noeh in einem See. Der Feldwebel sowie aile Soldaten

schauten mich wie ein Wundertier an und

gratulierten mir zu der erhaltenen Auszeiehnung.

Da das Regiment 332 ein preußisches Regiment

war, gab es keine Auszeichnung ais das Eiserne

Kreuz, das ich 1916 bereits erhalten hatte. Mancher

neidische Blick der jungen Leutnants traf mich, da

dieselben nur mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet

waren. Wenn sie gewuHt hatten, was ich von

diesem Klimbim hielt, hatten sie mich nieht so beneidet,

denn für einen Laib Weißbrot hàtte ich das

Kreuz samt Bändchen feilgeboten. Die einzige

                            252

Freude, die ich hatte, war die, dan ich bei der 9./260

so geachtet war. [… ]

        Icb mußte nun wieder in Stellung, ein neues MG

übernehmen. Einige Kilometer südlich von uns

hörte man eines Tages dauernd Kanonendonner,

untermischt von dcm Rattern der Maschinengewehre

und dern Knallen der Infanterie. Wir waren

alle gespannt, was eigentlieh los sei. Da kam der

Befehl: "Der 2. Zug, Gewehr 3 und 4 unter Führung

des Leutnants Herbst soU sich sofort fenigmaehen

und sich beim Bataillonsstab rnelden.« leh führte

Gewehr 3, Unteroffizier Kurz Gewehr 4. Wir machten

uns fertig und trugen unsere Maschinengewehre

sowie die Cerate zurück. ln der Deckung erwarteten

uns die beiden Fahrzeuge. Dort erhielten wir für

3 Tage Verpflegung: pro Tag wieder 11/2 Pfund

Brot, 1/2 Pfund ais Kampfzulage. Dann bekamen wir

den Befehl, uns auf der groJ3en Straûe entlang nach

der Front zu begeben. [… ] Das schien wieder gut zu

werden! Wir erreiehten die grone Straûe, die dureh

sehier endlosen Wald führte. Gerade VOl' uns, in

nieht allzu wei ter Entfernung, hörte man den Kanonendonner

und den Einschlag der Granaten. Auf

einrnal ein kurzes Sausen, ein Knall, etwa 100 m vor

uns war ein Schrapnell mitten über der Stralie geplatzt.

Gleieh darauf ein zweites, das kurz vor uns

platzte. Pferde wie Mannschaften fingen an, unruhig

zu werden. »Gewehr frei!« schrie der Leutnant.

Wir rissen die Gewehre vom Wagen herunter,

ebenso das dazugehörige Ceràt. lm selben Moment

sauste es über uns, und eine Granate sehlug etwa

100 m hinter uns in die Stralienboschung ein. Die

Fahrer maehten nun kehrt und sprengten im schärfsten

Galopp zurück. Wir wären gern seitlich der

Straûe vorgegangen, dies war jedoch unrnöglich, da

der Wald links und r echts aus dichtem, undurehdringliehem

Gebüsch bestand. Jecler nahrn Bun das

ihm zustehende Material. Schütze 1 und 2 das Gewehr,

Sehütze 3, 4,5 die Munitionskasten, während

ich als Gewehrführer den Wasserkessel, den Großen

                                253
 

Spaten und den Dampfablaßschlauch zu tragen

hatte. Die Straße lag nun dauernd unter demrussischen

Artilleriefeuer. Oft muûten wir uns in den

Straßengraben werfen, um etwas besser gedeckt zu

sein, oder wir sprangen hinter die Stàmme der auf

dem Stralienrand stehenden Baume. Nirgends war

ein Unterstand oder eine sonstige Deckung zu sehen.

Da kamen einige Leichtverwundete von vorne

gerannt. Wir fragten, was eigentlich hier los sei. Sie

waren jedoch so verangstig; und atemlos vom Lau

Fen, daßsie uns im Vorbeilaufen nur unzulänglichen

Bescheid gaben. EndIich gingdie Straße durch einen

Einschnitt; in der linken Boschung war ein Stollen

gegraben. Wir lieûen Maschinengewehr und Cerate

draen liegen und flüchteten in den Stollen. Hier,

in Sicherheit, fühlte man sich wohl und behaglich

und konnte wieder verschnaufen. Leutnant Herbst,

der im Großen und ganzen ein vern ünftiger Mensch

war und wohl au ch nicht gern den Heldentod sterben

wollte, sagte: »So, aufjeden FaUbleiben wir hier,

bis die Schießerei aufhört.. Das war uns allen aus

dem Herzen gesprochen.

Nach etwa einer Stunde hörte das Beschießen der

Straûe auf. Wir nahmen unsere Sachen und erreichten

endlich [... ] unsere Stellung, die sich im Walde

auf einem Hügel in der Nahe von mehreren Unterständen

befand. Es war eine Reservestellung. Wir

sollten, Falls die Russen durchbrechen sollten, sie

hier aufhalten. Schnell bauten wir Schielistände für

unsere Maschinengewehre, die wir dann schul3fertig

aufstellten. Nun richteten wir uns in 2 Unterstanden

ein. Das Artilleriefeuer tobte mit unverrninderter

Heftigkeit weiter. Mehrere Granaten schlugen rund

um unsere Unterstande ein, jedoch ohne uns zu

schaden. Vorne prasselte nun plotzlich sehr starkes

Infanteriefeuer, welches etwa eine halbe Stunde anhielt.

Viele Leichtverwundete kamen an uns vorbei

und berichteten, daßdie Russen in die vordere deutsche

Stellung eingedrungen seien. Mehrere Kompanien

Infanterie gingen nun nach vorne, um durch

                                        254

 

einen Gegenangriff die Russen wieder aus der Stellung

zu werfen. Alle ließen die Kopfe hangen, mehrere

sagten zu uns: »Ihr MG-Schützen habt wieder

Schwein! Könnt hier in sicherer Deckung bleiben,

während wir uns kaputtschieûen lassen rnüssenl

Nach etwa einer Stunde fing die deutsche Artillerie

furchtbar zu schiefien an. Die Russen, die an

dieser Stelle viel Artillerie zusammengezogen hatten,

blieben die Antwortjedoch nicht schuldig. Starkes

Infanteriefeuer sagte uns, dali der Gegenangriff

im Gange sei. AIs die Schießerei aufhörte, wurden

viele russische Gefangene an uns vorbei zurückgeführt,

von den en viele dem langsamen Hungertod

geweiht waren. Viele der Gefangenen schJeppten zu

viert in Zelten deutsche sowie russische Schwerverwundete

zurück. Nun trat wieder Ruhe ein.

Am folgenden Tag erhielten wir den Befehl, zu

unserem Regiment zurückzukehren. Wir waren aile

froh, ohne Verluste die Sache überstanden zu haben.

Bei unserer Kompanie angekommen, wurde

uns von mehreren Soldaten erzahlt, daßwir hier

wegkommen würden, wohin, hatte niemand eine

Ahnung. Ich ging nun zu meiner Kartoffelstaude,

die immer noch einsam in der alten Müllgrube stand

und anscheinend von niemandem entdeckt worden

war. Ich riß sie aus, 4 Kartoffeln hingen dran. Ich

wusch und kochte sie in Salzwasser. Welch ein Genubl

Sie schmeckten mir besser als vor oder nach

dem Kriege das beste Festessen. Denn seit Monaten

hatte ich keine Kartoffeln gegessen, abgesehen von

den beim Bataillonsstab gestohlenen.

 

   TRUPPENVERSCHIEBUNG NACH DER

               RIGA-FRONT

 

Am 26. August 1917 wurde unser Regiment von anderen

Truppen abgelost. Nach 2 Marschtagen erreichten

wir Jelovka. Unsere Kompanie wurde auf

                        255

dem Gute Neu-Mitau, etwa eine halbe Stunde von

Jelovka entfernt, einquartiert. Auf dem Gute

wohnte auch ein Divisionsstab. [... ] Bei dem Gute

befand sich ein Obstgarten, von dessen Graße und

Schonheit ich noch keinen gesehen hatte. Die

Baume hingen zum Brechen voll von den edelsten

Sorten von Apfeln und Birnen. Die frühen Sorten

waren fast reif. Es war uns strengstens verboten, in

den Garten einzudringen und Obst zu holen. Das

Obst sollte aIs Tafelobst für die Herren Offiziere

dienen. Natürlich muûten diese Herren zu ihrem

graßen Gehalt, besserer Verpflegung auch nochTafelobst

haben. Der gewohnliche Soldat hat ja nichts

weiter zu tun, ais zu hungern, hurra zu schreien, sich

von Läusen quälen und sich fürs »hegeliebte Vaterland

totschießen zu lassen. Dafür bekam er au-

Ber Verpflegung und Kleidung noch 53 deutsche

Reichspfennig Löhnung pro Tag. lst das nicht herrlich?

Immer gut einquartiert, und wenn's zurn Schlafen

ging, legte man sich einfach auf den Rücken und

deckte sich mit dem Bauche zu. ja, »  lustig ist 's

Soldatenlebenl hab ich früher mal singen horen.

    Der viereckige Obstgarten war rundum mitMaschendraht

von 2 m Höhe umgeben. An jeder Ecke

stand bei Tage ein Husar mit geladenem Karabiner

Posten. Bei Nacht gingen noch Patrouillen um den

Garten herum. Und wenn der Kuckuck kommt, will

ich doch Apfel haben! dachte ich. Zuerst ging ich, aIs

es dunkel wurde, zu einem der Husarenposten und

sagte: »Hör mal, Kamerad, ich mochte mal Apfel

essen. Seit 2 Jahren habe ich keinen mehr im Muncl

gehabt!« Aber da war nichts zu machen. Der Husar

sagte: »Es geht nicht. Wenn ich erwischt würdc.

würde ich in den Schützengraben fliegen, und ich

mochte nicht deinetwegen den schönen Druckposten

beim Divisionstab verIieren.« Ich gab ihm rech t .

Aber Äpfel wollte ich doch haben. Ich ging zu mci

nem Fahrzeug, nahm den Sandsack, in welchem ici1

meine Habseligkeiten eingepackt hatte, Ieerte ihu

aus, schnallte die am Fahrzeug befestigte Draht-

                            256

schere los und ging im Bogen um den Posten herum.

Die acht war dunkel, dadurch wurde mein Vorhaben

begünstigt. ln der Mitte zwischen den beiden

Posten legte ich mich auf etwa 30 Schritte vom Cartenzaun

auf den Baden und wartete, bis die Patrouille

varbeiging, kroch nach dem Zaun, na hm die

Drahtschere, und knipsknips-knips schnitt ich einen

Spalt in den Oraht, drückte ihn auseinander

und schlüpfte hinein, Dann machte ich das Loch

wieder ZU. Um bei meiner Rückkehr die Stelle wiederzufinden,

Iegte ich meine Mütze an den Baden.

Leise ging ich nun in den Garten, griff an den tiefhangenden

Ästen, ob die Äpfel und Birnen weich

waren, oder hob Fallobstaufund bif hinein. [... [-lch

füllte meinen Sandsack bis abenan, band ihn mit

einer Schnur zu, um mich dann aus dem Staub zu

machen. [... ]

        Am folgenden Morgen marschierten wir nach Jelovka,

wa wir auf der Bahn verIaden wurden. Wir

fuhren den ganzen Tag bis spät in die Nacht hinein.

Kein Mensch wuûte wohin. AIs wir nachts durch

einen grbßeren Bahnhaf fuhren, kannte ich den

Namen Mitau sehen. Ich wulite, daßMitau südlich

von Riga in Kurland liegt. Nachdem wir noch etwa

2 Stunden gefahren waren, muliten wir aussteigen

und sofort weitermarschieren. Gegen Morgen

wurde etwa 2 Stunden haItgemacht. Dann ging's

weiter, den ganzen Tag hindurch, nur mit einigen

kurzen Ruhepausen.

 

DIE RIGA-OFFENSIVE, DÜNAÜBERGANG

            BEI ÜXKÜLL – 2. SEPTEMBER 1917

 

Nachts kamen wir in einen groûen Wald, in dem

schon viele Soldaten lagen. Hier erfuhren wir, daf

die russische Front var uns durchbrochen und eine

Offensive ergriffen werden sollte. Das waren wieder

nette Aussichten! Uns allen grau te var dem morgi-

                                257

gen Tag. Zwei unserer Bataillone des Regiments sollten

im Walde in Reserve bleibe n , währcnd das anclere

den Durchbruch rnirrnachen soilte. Alles war

gespannt, welches Bataillon angreifen musse. Es

dauerte nicht lange, da waren wir im klaren. »Das

2. Bataillon, fertigmachen!« Welches Pech, ich gehorte

dazul Wir machten uns fertig und lappten im

dunklen Wald nach vorne. Nun wurde es etwas heller,

der Wald horte auf, das Celande ging bergab.

Vor uns lag dichter, weiI3er Nebel. Von drüben kam

hie und da eine Granate angesaust oder knallte ein

Cewehrschuû, sonst war alles ruhig. Plotzlich standen

wir vor einem Schützengraben, der mit deutschen

Soldaten ganz vollgestopft war. Wir mußten

darüber hinwegspringen und stieI3en nach wenigen

Schritten auf einen anderen Sctzengraben, der

nur schwach besetzt war: Darin mußten wir Aufstellung

nehmen. Irnmer neue Soldaten kamen hinzu,

bis der Graben ganz voll war. Wir muûten nun an

verschiedenen Stellen den Graben etwa 3 m breit

anfüllen und die Erde feststampfen. Wozu, wußte

ich nicht. Ich glaubte ein leises Rauschen und Glucksen

zu hören und fragte einen der Soldaten, der

bereits vor uns im Graben war, was das eigentlich sei.

»Das ist die Düna«, sagte er. »Sie ist an dieser Stelle

über 400 m breit. Die russische Stellung liegt auf

demjenseitigen Ufer.«  »Und hier müssen wir angreifen?

« sagte ich. »Das wird was abgeben!« Dern

Soldaten grau te ebenfalls vor dem kornmendeu

Morgen.

Langsam graute der Morgen. Fast nirgends fiel

ein Schuß. Das war die Ruhe var dem Sturm! Ais cs

heller wurde, konnte ich das Wasser der Düna, das

hier mit ziemlicher Schnelligkeit floû, sehen. Die

russische Stellung auf dem jenseitigen Ufer war

noch nicht sichtbar, denn ein weiber Nebel ver hinderte

den weiteren Ausblick. Alles war gespannt, wax

nun kommen würde. Mit einem Schlag fîng die deut

sche Artillerie, die sehr zahlrcich hier zusammcngc:

zogen wordcn war, zu schiefkn an. Die Geschosse

                                258

sausten über uns und explodicrten jenseits des Flusses

mit dröhnendern Krach. Eine Menge Minenwerfer,

rneisr schwere, die 2-Zcmner-Minen schiclien,

griffen nun ebenfalls in den Tanz cino Es war übcrall

cin Krachen, Sauscn und Dhnen, dal:\ mir die Ohren

antïngen zu schmerzen. AIs die Sonne aufging,

verschwand uach und nach der Nebcl, 50 daß ich die

russische Stellung amjenseitigen Ufer sehen konnte.

Sie war ganz in schwarzen Rauch gehüllt, immer und

überall zuckten Blitze, und gewaltige Rauchwolken

schossen in die Höhe. Ebenso lag dichter Granatenrauch

über einigen Stellen des wei ter zurückliegenden

Waldes, wo allem Anschein na ch die russischen

Batterien standen, die ebenfalls von unserer Artillerie

gehörig eingeseift wurden. Die russische Artillerie

fïng nun ebenfalls an ZLl schien, so daf wir

gezwungen waren, uns im Graben niederzuducken.

Ein Volltreffer tötete und verwundete mehrere Soldaten

unweit von mir. Plotzlich horten wir dicht vor

I/IlS einen gewaltigen Einschlag, dichter, schwarzer

Rauch wehte über uns, und eine Unmenge Erdschollen

prasselte auf uns nieder. Ich schaute dann

über die Deckung nach vorne, wo ich das Granatloch

xchen konnte. Es hatte die Cröûe eines Zimmers und

rührte jedenfalls von einer der 28-cmGranaten her.

Da, wieder ein Sausen, irn selben Moment der

Iurchtbare Einschlag. Diesmal hinter uns. Die folgCllden

groûen Granaten schlugen alle im Walde

hinter uns ein. Immerfort dauerte das Tromrnel-

feuer der deutschen Artillerie und Minenwerfer an.

In diesem Cetose karn der Befehl: »Alles fertigmarhen!

« Wir schauten uns an. »Wir konnen doch un-

glich durch den Fluf schwimrnenl meinten

einige meiner Nachbarn. Da hörten wir hinter uns

Geschrei, als ob Pferde vorgetrieben würden. Ich

srhaute rückwarts und sah, daH der Brückentrain

angefabren kam. lm schnellen Tempo fuhren die

mit groI3en Blechkähnen bcladencn Wagen über die

Stellen im Graben, die wir vorher auffüllen muHten,

bis zum Fluß hinunter. Viole Pioniere liefen im Lauf-

          259

schritt hinterher, und im Nu waren die Kähne abgeladen

 und ins Wasser geschoben. Nun hieß es bei

uns: »Alles raus und zu den Kahnenl « Schnell wurden

wir eingeteilt und bestiegen immer 20 Mann je

einen Kahn. Sechs Pioniere ruderten, und los ging's

über den Fluß. Es war sehr unheimlich auf dem

Wasser. Wir duckten uns aile in die Kähne. Über uns

die sausenden Geschosse, unter und um uns das

gurgelnde Wasser. Wo ich hinschaute, wimmelte der

ganze Fluf von Kahnen, die so schnell wie moglich

dem jenseitigen Ufer zuschwammen. Einzelne russische

Granaten schlugen zwischen den Kähnen in

den Fluß und warfen große Wassersäulen in die

Hohe. Oberhalb von unserem Kahn bekam ein anderer

Kahn einen Volltreffer und sank in wenigen

Sekunden. Die unverwundeten Insassen kampften

ganz kurze Zeit mit den Wellen und waren dann aile

verschwunden. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Als ich dies sah, schnallte ich das Sturrngepäck

los, offnete die Koppel und legte alles neben mich in

den Kahn, um im Falle, daßuns dasselbe Schicksal

ereilen soIlte, besser schwimmen zu können, Ich

fürchtete, aus der russischen Stellung Infanterieund

MG-Feuer zu bekommen,jedoch auber einigen

Infanterieschüssen blieb drüben alles ruhig. Wir naherten

uns nun dem Ufer. Unsere Artillerie legte ihr

Feuer nun weiter vor. Knirschend fuhr unser Kahn

auf den Sand. Alle spl'angen hinaus, und wir waren

froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

Kahn um Kahn legte an, und bald standen

Hunderte von Soldaten gedeckt hinter dem etwa 3 m

hohen, steilen Ufer. Wir landeten etwa 200 m weiter

flubabwärts von unserer Abfahrtsstelle. Die Strömung

hatte uns, wie aIle übrigen Kahne, mitgerissen.

Das Ufer, auf dem die russische Infanteriestellung

lag, sowie der Drahtverhau war alles durch das

Trommelfeuer in Fetzen geschossen. Nun muliten

wir den russischen Graben stürmen. Das war eine

leichte Arbeit. Nicht der geringste Widerstand trat

uns entgegen. Der Graben war großtenteils

ebengcschossen,

                                    260

zerfetzte Leichen der russischen Infanteristen

lagen herum. Hie und da hockte noch ein

unverwundeter Russe in einer Grabenecke und

streckte zitternd bei unserem Erscheinen die Arme

in die Höhe, um sich zu ergeben. Hinter der russischen

Stellung zerstreut lagen ebenfalls gefallene

russische Soldaten, die wohl auf der Flucht getroffen

wurden. Ich schaute nach demjenseitigen Ufer hinüber

und sah, daßdie Pioniere bereits eine Schiffbrücke

vortrieben. Immer noch sausten einzelne

russische Granaten heran, die bei uns im Fluf oder

am jenseitigen Ufer platzten. Wir mußten nun in

Schützenlinien gegen den etwa 600 m vor uns liegenden

Wald vorgehen. Vorläufig waren wir noch

durch eine kleine, langgestreckte Erhöhung gedeckt.

AIs wir jedoch über die Höhe vorgingen, hörteri

wir vom Waldrande her das Rattatata mehrerer

russischer Maschinengewehre. Die Kugeln zischten

lins unheimlich um die Ohren, und schon stürzten

c-inige Mann getroffen zu Boden. Meine Besatzung

sprang aufmein Kommando in ein in nachster Nähe

gdegenes Granatloch. Mit dem Großen Spaten

machte ich schnell eine Stellung für das MG, so daf

der Lauf knapp über dem Erdboden hinaussah. Die

Russen schossen wie rasend, so dan noch mancher

von uns beim Eingraben getroffen wurde. Schnell

wurde nun unser MG geladen. Ichjagte in der Zeit

von 3 Minuten 4 Gurte, 1000 Schuli, hinüber. Ich

liel3 den Waldrand, von wo das Geknatter herüber-

1 önte, aufsitzen [cI.h. D. R. visierte ihn über Kimme

und Korn an] und streute hin und her. jedoch das

Schießen der Russen hörte nicht auf. Inzwischen

hatte sich unsererseits alles eingegraben, so daß die

russischen Kugeln nicht mehr viel schaden konnten.

1lie Russen hatten sicher am Waldboden versteckte

MG-Unterstande gebaut, so daf wir ihnen nichtbeikommen

konnten. Nun kam uns die deutsche Artille

rie zu Hilfe. Der Wald rand wurde mit einem Granat

und Schrapnellfeuer überschüttet. Unter dem

Schutze des Artilleriefeuers gingen wir vor und er-

                                261

reichten den Wald ohne weitere Verluste.Wir drangen

in denselben ein und stief:\en bald auf cine r ussische

Batterie Feldartilleric, die vollständig zusamrnengeschossen

war. Etwas weitcr "orne trafen wir

eine unversehrte Batterie aus 4 Geschützen, aus denen

die Russcn den Verschluf mitgenornmen hatten.

Der Wald bestand hier nu r aus verkrû ppelten

Kiefern, die in dem sandigen Boden wenig Nahrung

fanden. Auf einem schlechten Sandweg stief:\en wir

auf 2 machtige Geschütze [… ], die uns am frühen

Morgen jenseits der Düna solche Angst eingejagt

hatten.

        Langsam senkte sich der Abend nieder. Wir muliten

im Walde übernachten. Starke Feldwachen WUfden

zur Sicherung ausgestellt. Nachdem wir etwas

Kommihbrot und Büchsenf1eisch gegessen hatten,

legten wir uns auf den Waldboden und schliefen

ein, denn jeder war todmüde. Am frühen Morgen

kamen die Feldküchen und brachten uns Essen,

Brot und Kaffee. Der Koch erzählte, daßdie Pioniere

die 400 m lange Schiffbrücke in 3 Stunden

fertiggebaut hatten. Ais wir gegessen hatten, kam

der Befehl: »Fertigrnachen, es geht weiter!« Mir sowie

allen anderen graute, denn wir wuûten nicht,

was der Tag bringen würde. Nachdem wir eine

Weile marschiert waren, hörten wir vor uns MGund

lnfanteriefeuer, also eine neue Verteidigungsstellung

der Russen.

    [... ] Nach etwa 10 Tagen Aufenthalt muGten wir

uns wieder marschfertig machen. Der Marsch ging

etwa 15 km hinter der Front entlang nach der Ortschaft

Sunzel. Wir wurden in einer vollstandig ausgeraubten

Épicerie einquartiert. Die Zimrner wurden

vollgepropft mit Soldaten, was eben reinging.

Auch hier ernährten wir uns hauptsächlich von Kartoffeln.

Ich fühlte, daßmeine Kräfte in lerzter Zeit

sehr zugenommen hatten. Auch hatte ich wieder,

wie auch die anderen Soldaten, ein viel bcsseres Aussehen.

Aufeiner Höhe vor der Ortschaft muliten wir

eine star ke Stellung bauen. Weit vorgeschobene

                            262

Feldwachcn sicherten uns. Von den Russen sah man

keine Spur. Die meisten hatten sich allem Anschein

nach weit zurückgezogen. Wie wir hörten, sollten wir

uns nachstcns auch wei ter zurückziehen. Die Ortschaft

Sunzel, in der ein wundervolles Schloß stand,

sollte, wie aIle zwischen den Linien Iiegenden Gebàude,

verbrannt oder gesprengt werden. Auf die

armen Bewohner wurde gar kcine Rücksicht genomrnen.

        Eines Tages mußte ich mich beim Kompaniefeldwebel

melden. »Richert«, sagte er, »Sie sind wieder

an der Reihe, in Urlaub zu fahren. Sie bekommen

Ihre 18 Tage; wenn Sie woIlen, konnen Sie noch

2 Tage warten, dann fahre ich auch mit.« Es war

mir natürlich angenehm. »Herr Feldwebel«, sagte

ich, »könnte ich nicht 28 Tage landwirtschaftlichen

Urlaub haben?« Da mullte der Feldwebel, der ein

freundlicher, rechtschaffener Mann war, lachen.

»Aber Richert«, sagte er, »Sie fahren doch jedenfalls

wieder zu der Flüchtlingsfamilie nach Baden

hinunter, und die haben vielleicht hochstens einige

Blurnentöpfe voll Erde zu bebauen.. Lachend gab

ich ihm recht, zeigte ihm mein Soldbuch, in dem

mein Beruf, Landwirt, geschrieben war, und sagte:

»Mit etwas gutem Willen lielie sich das schon machen.

Auch ist es erst das zweiternal, daßich seit

Kriegsausbruch in Urlaub fahre..  »Cut, Richert«,

sagte Dun der Feldwebel, "Sie kriegen 28 Tage, ich

werde dafür sorgen l Ich bedankte mich und ging

weg.

 

 

                MEIN ZWEITER URLAUB

 

Nach 2 Tagen marschierten wir beide los. Oft muliten

wir die Karte des Feldwebels zur Hand nehmen,

um den rechten Weg zu finden. Endlich erreichten

wir das Gut, wo unser Regiment am zweiten Tag der

Offensive beim Angriff schwere Verluste erlitten

                                    263

hatte. Die Toten waren alle in einem Massengrab am

Waldrand bestattet. [… ] Wir hatten no ch 3 Stunden

zu marschieren, bis wir den ersten Bahnhof erreichten.

Dort war au ch eine Entlausungsanstalt. Jeder

Urlauber mußte im Besitz eines Entlausungsscheines

sein, ehe er abfahren durfte. Da es bald Abend

war, hatte die Anstalt bereits den Betrieb eingestellt.

Wir sollten erst am nächsten Nachmittag entlaust

werden. Das paßte dem Feldwebel nicht, denn zu

gern wäre er so bald wie möglich bei seiner Frau und

seinen Kindern gewesen. Mir war's so ziemlich einerlei,

da ich doch nicht nach Hause fahren konnte.

Ganz zufällig traf der Feldwebel einen Gefreiten aus

seiner Heimat an, der Schreiber in der Entlausungsanstalt

war. lhm klagte der Feldwebel sein Leid.

»Das ist 'ne Kleinigkeit«, meinte der Schreiber, »die

Scheine hab' ich schnell besorgt«, ging in sein Büro

und brachte sie uns nach wenigen Minuten. Wir

bedankten uns und bestiegen den Zug, der eben zur

Abfahrt bereitstand. Auf dem Papier waren wir

beide nun entlaust, aber in Wirklichkeit hingen wir

beide derart voll von diesem Ungeziefer, daJ3 das

Beihen überhaupt kein Ende nahm. Diese lieben

Tierchen hatten sich halt unheimlich vermehrt während

der Offensive.

Wir fuhren die ganze Nacht, bis wir die deutsche

Grenze bei Memel passierten. Nun ging die Fahrt

durch OstpreuGen. Es war sehr schones Herbstwetter,

und die Landbevölkerung war eben mit dem

Ausmachen der Kartoffeln beschäftigt. Den gefüllten

Säcken nach zu urteilen fiel die Kartoffelernte

sehr gut aus. [… ]

ln Königsberg nahm der Feldwebel Abschied von

mir, denn er stammte aus der Provinz Posen und

mulite eine andere Strecke fahren als ich. [… ] lm

Abteil saG eine altere Dame mit ihren beiden hübschen

Töchtern. Wir Iielien uns in ein Cespräch ein

über alles mögliche. Sie fragten mich, woher ich

käme. Ich sagte: »Von der Riga-Front.« Dann fragten

sie mich, ob ich die Offensive von Riga auch

                            264

mitgemacht hätte, was ich bejahte. Die drei waren

durch die übertriebenen Siegesmeldungen in den

Zeitungen ganz begeistert. lch erzählte ihnen nun

meine Erlebnisse wàhrend der Offensive und sagte

ihnen meine Ansicht dar über, wie den Bewohnern

alles gestohlen wurde und dali, meiner Ansicht nach,

die Offensive nicht den geringsten Einfluli auf das

Kriegsende habe. Und ich bedauerte die 500000

Einwohner der Stadt Riga, die nun dem Hunger

überliefert seien. Mit offenem Munde hörten die

drei zu. Ihre Begeisterung hatte einen machtigen

Stof erlitten. Sie erzählten nun ihrerseits, wie knapp

die Lebensmittel seien und alles nur auf Karten zu

haben sei, so daJ3 die Leute, die die Mittel nicht

hesalien, sich für teures Geld auf Schleichwegen Lebensmittel

zu beschaffen, fast nicht mehr existieren

körmten. Trotzdern waren alle drei von einem deutsehen

Sieg überzeugt, denn überall ständen unsere

Truppen tief im Feindesland. Ich antwortete, daßes

sehr schwer für Deutschland sein werde zu siegen,

denn England habe noch nie einen Krieg verloren,

und sie sollten auch Amerika nicht vergessen. Die

Damen waren aber von ihrer Meinung nicht abzuhringen.

Nach einer Weile schlief ich ein. AIs ich

wieder erwachte, krochen mehrere groGe Lause auf

den Hosen umher, die wohl durch den Hosenschlitz

herausspaziert waren. lch genierte mich vor den

Darnen und beobachtete sie, ob sie vielleicht die Viecher

bemerkt hatten. Sie sprachen jedoch ganz

harrnlos weiter, und ganz unauffällig zerrieb ich die

Lause mit den Handen. ln Küstrin verlieûen die

Darnen den Zug. Ich ging in ein anderes Abteil, in

<lem mehrere Soldaten salien. Dort traf ich auch

«inen Berliner von meinem Regiment, dessen Frau

gcstorben war und derdeshalb 14 Tage Urlaub erhalrcn

hatte. Die übrigen Soldaten waren Rheinländer.

ln Berlin verlielien wir den Zug. Auf dem Schlesischen

Bahnhof wirnmelte alles von Menschen. Mir

lielen sofort die schmalen Gesichter der Frauen und

Mädchen auf, die fast aIle bleich und elend waren

                                265

und dunkle Ringe um die Augen hatten. Hier ist

auch Krieg, daehte ich, der Hungerkrieg!

    lch ging mit den drei Rheinländern in die Stadt.

Wir besichtigten den Kaiserpalast, die Siegessaule,

den Eisernen Hindenburg und vieles andere. Gegen

Abend stellte sich der Hunger ein, und keiner von

uns hatte etwas zu beißen. Wir gingen in ein hellerleuchtetes,

groDes Restaurant und bestellten Bier.

Herrgott, war das ein fades Cetränk l Hier war wirklieh

Hopfen und Malz verloren! Wir verlangten etwas

zu essen. »Habt ihr Karten?« fragte der Kellner.

»]a, was für Karten? Wo sollen wir die denn herhaben?

«  »Brot-, Fleisch- und Kartoffelkarten«, sagte

nun der Kellner. »Ohne diese ist es uns unrnoglich,

lhnen etwas zu servieren.« Die Rheinlander fingen

nun an zu schimpfen: »So geht'sl Wenn man sich

lange genug an der Front herumgesehlagen hat,

kann man im eigenen Land noch verhungern!« Wir

gingen wei ter und versuchten in drei weiteren Wirtschaften

unser Glück. Bier konnte man haben, soviel

man wollte. Aber zu essen gab es nichts. Ein freundlicher

Berliner Zivilist bezahlte jedem von uns 2 Glas

Bier und sagte, er würde uns in ein Restaurant Iühren,

in dem wir sicher etwas zu essen bekämen. Gesagt,

getan; wir bestiegen die Elektrische und fuhren

etwa 1/2 Stunde lang durch die sehr schon erleuehtete

Stadt. Endlich stiegen wir aus. Der Berliner führte

uns in ein Restaurant, in dem es Rehrücken mit

Kartoffeln gab. Wildbret war närnlich das einzige

Fleisch, das man ohne Karten kaufen konnte. Die

Portion bestand aus etwa 6 kleinen Kartoffeln, einem

kleinen Stückehen Rehfleisch, darüber ein Eßlöffel

voll Sauce. Es sehmeckte uns vorzüglich, aber

zu sehnell war der Teller leer. Obwohl ich nicht

unter die VielfraDe zu zählen war, hätte ich doeh

ruhig meine 8 bis 10 Portionen gegessen, aber es

durfte nieht mehr ais eine Portion pro Pers on ausgegeben

werden. Der gutmütige Berliner bezahlte alles.

Wir bedankten uns und gingen noch in der Stadt

spazieren. Oft wurden wir von Dirnen angehalten

                            266

oder im Vorbeigehen mit dem Ellenbogen angesto

Ben, indem sie mit einem Blick deuteten, mit ihnen

zu kommen. Wir bedankten uns jedoeh für diese

gemeine Gesellsehaft und gingen nach dem Anhalter

Bahnhof, den wir endlieh nach vielem Herumfragen

erreichten.

        lch entschlof mich, den Umweg nach dem Rheinland

zu machen, denn ich fand das Durchfahren der

mir unbekannten Gegenden sehr interessant. Gegen

Abend des nächsten Tages erreichten wir Kain. Hier

nahmen die Rheinlander Abschied von mir. Ich fuhr

dann weiter dem Rhein entlang bis Koblenz, von da

die Mosel entlang nach Trier, eine wuriderschone

Fahrt. ln Trier stieg ich aus. Ich wufite, daßdort das

Ersatzbataillon meines Regiments lag. Ich hoffte

närnlich, eine neue Uniform zu bekommen, da die

meine ganz abgetragen war. Die Mannschaften holten

eben das armselige Mittagessen. 1eh ging zum

Unteroffizier vom Dienst und bat, auch eine Portion

holen zu dürfen, da ich eben von der Front kärne.

lch hatte Glück. Dann fragte ich naeh der Bekleidungskammer

und ging hin. 1ch wurde jedoch von

dem Kammersergeanten gehörig angeschnauzt, aIs

ich ihm mein Begehren vortrug. »So könnte mir

jeder komrnen l meinte er. Ich fragte den Sergeanten

nach der Wohnung des Bataillonsführers, ging

hin, und der Bursche meldete mich. »Soll reinkommenl-

horte ich den Major sagen. Ieh ging hinein.

Der Major aHeben Mittag. Hier konnte man von der

Kriegsnot wenig sehen. »Was wellen Sie?. fragte er

Illich nicht sehr freundlich. »Herr Major«, antwortete

ich, »ich komme eben von der Front in Urlaub

und mach te hier beim Ersatzbataillon meines Regiments

um einen neuen Anzug bittenl Der Major

hetrachtete mich und meinte, ich kanne zu Hause

wahrend meines Urlaubs Zivilkleider tragen. Worauf

ich antwortete: »Herr Major, ich bin ganz auf das

Tragen der Uniform angewiesen. Meine Heimat

Iiegt in dem von den Franzosen besetzten Teil des

Elsasses und ist deshalb für mich unerreichbar.« 

                            267

"Gut, Sie sallen eine neue Uniform bekomrnen«,

sagte darauf der Major, schrieb einen Zettel, den ich

beim Kammersergeanten abgeben sollte. lch ging

hin und erhielt einen neuen Anzug nebst Mütze. Ich

kaufte dann in einem Laden neue Wickelgamaschen,

die ich anzog. Nun war mein Àul3eres wiederhergestelIt.

Ich dachte: Bei mir ist's auch oben hui

und unten pfui, denn da wimmelt es von Läusenl Ich

besah die Sehenswürdigkeiten der Stadt, von denen

mir am besten das alte Rörnertor gefiel. Ich bestieg

wieder den Zug und fuhr die Saar entlang nach

Saarbrücken, Kaiserslautern, bei Ludwigshafen

über den Rhein nach Mannheim und Heidelberg.

Dort war der letzte Personenzug nach Eberbach

schon abgefahren; alsmußte ich in Heidelberg

übernachten.

        Mit Mühe und Not konnte ich im Bahnhofsrestaurant

Kartoffelsalat mit 2 dünnen Würstchen bekornmen.

Ein Mann vom Roten Kreuz fragte mich, ob ich

in Heidelberg übernachten wolle, was ich bejahte.

»Komrnen Sie mit!« sagte er und führte mich in ein

in der he des Bahnhofs gelegenes Hotel und wies

mir ein Zimmer mit einem schonen, sauberen Bett

an. Dann fragte er, wann ich geweckt werden wolle,

und ging. lch zog mich aus und legte mich samt den

Läusen ins Bett. Gatt, welch ein Gefühl, wieder nach

einem vollen Jahr ausgezogen in einem guten, weichen

Bett liegen zu këmnen! Hier kam mir das arrnselige

Leben an der Front erst sa richtig var Augen.

Da ich von der Fahrt sehr ermüdet war, schlief ich

bald ein. Nachsten Morgen in aller Frühe wurde ich

von dem Rote-Kreuz-Mann geweckt, stand auf, zog

mich an. Da dachte ich: Ich will doch mal sehen, ob

ich keine von meinen Einwohnern im Ben verloren

habe. Und wirklich, sa etwa IOder lieben Tierchen

krabbelten im Bett umher. lch wall te sie zuerst fangen.

Ach was, dachte ich dann, mein Nachfolger

darf auch was zu spüren bekommen. Ich fuhr nun

nach Eberbach zur Familie MattIer, bei der ich sehr

freundlich aufgenommen wurde. lch bat sofort, hei-

                            268

Bes Wasser zu machen, um mich baden zu können.

So wurde ich wieder läusefrei.

        Ich verlebte sehr angenehme Tage. Nur mit den

Lebensmitteln war's ein Elend. Man konnte sich nie

san essen. Da ich kein Taschentuch mehr hatte, ging

ich in ein grüßeres Geschàft, um 2 Stück zu kaufen.

»Bitte den Bezugsschein«, sagte der lnhaber des Geschäftes.

Ich wußte gar nicht, was eigentlich sei. Da

klärte mich der Ladeninhaber auf: Er dürfe nichts,

gar nichts ohne Bezugsschein verkaufen, da ihm

sonst das Geschaft geschlossen werden würde. Die

Bezugsscheine seien auf dem Bürgermeisteramt erhältlich.

Aber nach vielem Reden ließ sich endlich

der Herr herbei, mir ohne Bezugsschein die 2 Taschentücher

zu verkaufen. Ich rnulite ihm aber versprechen,

reinen Mund zu halten.

        Das Jahr 1917 war ein sehr gutes Obstjahr. Überall

sah ich auf der Reise, dan Apfel- und Birnbaume voll

behangen waren. Der Nachbar der Familie Mattler,

der eine Mosterei betrieb, fragte mich, ob ich ihm

nicht helfen wolle. Er sei mit Arbeit überhàuft und

bezahle mir 2 Mark pro Tag. Dafür war ich nicht zu

haben; erstens war ich das Arbeiten nicht mehr gewöhnt,

und zweitens war ich in Urlaub gefahren, um

mich etwas zu erholen, und nicht, um meine abgeschwachten

Kräfte total zu erschëpfen. [ ]

        Drei Tage VOl' Urlaubsende nahm ich Abschied

von der Familie und fuhr nach dem Rheinland hinunter.

ln Wetzlar hatte ich einen langeren Aufenthalt.

ln der ahe des Bahnhofs war ein großes Gelangenenlager.

Die Gefangenen waren in Baracken

untergebracht. Hohe Stacheldrahtune umgaben

die Höfe, in denen sich die Gefangenen bewegen

konnten. Da ich Zeit hatte, ging ich hin, um mir die

Cefangenen anzusehen. Wie arm diese Menschen

aussahen! Bleich, abgemagert, mit halb erloschenen

J\ugen standen diese armen, bedauernswerten Menschen

umher. Sie schienen vor Hunger ganz stumpfsinnig

und gleichgültig zu sein. Alle Rassen waren

hier vertreten: Franzosen, Belgier, Engländer,

           269

Schottlànder mit ihren kurzen Hoschen, Italiener ,

Serben, Rumänen, Russe n, Indier, Araber und Negel'.

Sie aile hatten ihre Heimat verlassen müssen,

um dem furchtbaren Kriegsgottso schwere Opfcr zu

bringen.

        Bei August Langer und der Familie Gauche! verlebte

ich noch drei sein angenehme Tage; dann ging

es wieder nach der Front. Ich fuhr diesmal nach Riga

und war überrascht, ais ich die Stadt sah. So schon

hatte ich sie mir nicht vorgestellt. Wunderschone

Straûen wechselten mit herrlichen Platzen ab. Auch

sah ich dort herrliche Kirchen. Ich re gerne langer

gelieben. Mein Urlaub war jedoch abgelaufen,

und ich muJ3te schleunigst meinen Truppenteilaufsuchen,

um nicht bestraft zu werden. Ich ging in ein

Auskunftsbüro, wo mir gesagt wurde, daß das Regiment

332 seine SteUung gewechselt habe und jetzt an

der Livländischen Aa sei. Ich kënne mit der Bahn bis

nach Rodenepois-Kussau fahren, einer Ortschaft,

die aus lauter in einem scnen Wald versteckten

Villen und Restaurants bestand. Von dort hätte ich

nur noch einige Kilometer zu laufen. Cegenwartig

war die Ortschaft, ein Lieblingsausflugsort der Rigaer

Bevolkerung, ganz von den Einwohnern verlassen

und hauptsachlich von deutschen Offizieren bewohnt.

Ich erkundigte mich, wo das Regiment 332

liege. Ich mte der Hauptstraûe Riga  Petersburg

folgen [… ] eben der Straûe standen oder lagen

eine Unmenge Feldküchen und sonstige Fahrzeuge,

welche die Russen auf ihrem Rückzug im Stich gelassen

hatten. Ich ging nun auf einer Brücke über die

Aa, das war ein Flü/khen von etwa 30 m Breite.

Endlich traf ich Soldaten meines Regiments, die mir

den Aufenthaltsort meiner Kompanie bezeichnen

konnten. Unterwegs trafich den Berliner Infanteristen,

der mit mir in Urlaub gefahren war. Er erzàhltc

mir, daßseine Frau bei seiner Ankunft bereits beerdigt

gewesen sei. Auch sei el' nul' 6 Tage in Berlin

geblieben. Er sei dann freiwillig zum Regiment zurück,

da er in Berlin sonst halb verhungert wäre.

            270

    Der Kompaniefeldwebel, die Fahrer, Reserveschützen

und die Pferde meiner Kornpanie karnpierten

in Wawer Nord, einem kleinen, arrnseligen

Weiler, der nul' aus einigen Hutten bestand. Ich

meldete mich vorn Urlaub zurück. Am folgenden

Tage mulite ich mit noch mehreren Karneraden an

dem Bau cines Unterstandes für den Kornpaniehrer

mithelfen. Ich war eben daran, aus Tannenstammen

eine Lehne neben der in den Unterstand führenden

Treppe zu machen, ais über mir eine Stimme

sagte: »Salü, Nickel!" Überrascht sah ich auf und

erkannte ZI.l meiner nicht geringen Freude den Emil

Winninger aus meinem Heimatdorf. Ich ging hinauf

zu ihm, und in dem nahen Wäldchen unterhielten

wir uns über die Heimat. Jeder erzählte dem andel'en

Neuigkeiten, die er von dort wußte. Dem Emil

Winninger war dieses elende Hungerleben auch

sehr verleidet, und wir entschlossen uns, zu den Russen

überzugehen, da mir von zu Hause mitgeteilt

wurde, daßmehrere Bekannte aus der Heimat, die

als deutsche Soldaten in russische Gefangenschaft

gekommen waren, sich nun in Frankreich befanden,

also daß die von den Russen gefangenen ElsaûLothringer

nach Frankreich transportiert würden. Emil

lag einige Kilometer wei ter vorne auf einer vorgeschobenen

Feldwache. Er zeichnete eine Skizze auf

cin Blatt Papier, damit ich den Weg nicht verfehlen

soUte.

        Ich ging mm zum Kompaniefeldwebel und bat um

lJrlaub für den nächsten Tag, um meinen »Cousin«

hesuchen zu dürfen. Sofort schrieb er mir den Urlaubsschein,

den ich dann beim Kompanieführer

unterschreiben lassen mulite. Ich kaufte in der Kan

tine eine Flasche Rheinwein, um uns Mut anzutrinken,

und 100 Zigaretten, um sie den Russen bei

unserer Ankunft zu verteilen, damit sie uns nichts

tun sollten.

Bei Anbruch der Nacht wurde ein groGes Feuer

im Hofe angezündet, an welchem sich die Soldaten

wärrnen konnten, denn obwohl es erst Ende Oktober

            271

war, waren die Nächte bereits kalt. lch trat nun mit

einem guten Kameraden, Alfred Schneider aus

Metz, auf die Seite ins Dunkel und erzählte ihm mein

Vorhaben. Nachher nahm ich Abschied von ihrn.

Wie ich später erfuhr , wurden WiT von einern Feldwebel,

der weiter zurück eben austrat, beobachtet,

und der tciltc scincn Vcrdacht dem Kornpaniefeldwebel

mit.

Mein Nachtquartier war oben über einern StaIl

untel' dem Strohdach, in einem früheren Hühnerstail,

den ich mit mehreren Kameraden teilte. Ais ich

glaubte, daß alle eingeschlafen waren, stand ich leise

auf, zündete eine Kerze an, zog noch ein zweites Paar

Unterhosen an, ebenso ein zweites Hemd und

steckte ein Paar Strümpfe in meine Rocktasche. Dies

hatte ein Rheinlander namens Geier beobachtet,

dies erfuhr ebenfalls der Feldwebel. AIs ich morgens

in der Frühe eben die Leiter herabsteigen wollte, urn

hinunter und zu Winninger Emil zu gehen, karn der

Kompanieschreiber Krebs und sagte: »Richert, du

sollst heu te hierbleiben!« Sofort merkte ich, d etwas

nicht in Ordnung war, sagte aber ganz harmlos:

"So bleibe ich eben hier..

Mein Kamerad Alfred Schneider, der morgens

nach Libau abreiste, um MGErsatzteile zu holen,

erzahlte mir am folgenden Tag bei seiner Rückkehr:

»Du, Richert, sie müssen etwas von deinem Vor haben

gemerkt haben, denn ehe ich nach Libau abreiste,

mubte ich zum Feldwebel auf die Schreibstubr

gehen. Man fragte mich, was du mir anjenem Abend

heimlich gesagt hast. Ich log ihm natürlich etwas

vor«, sagte el', der ein heller Junge war. »Der Feldwebel

fragte weiter: >Weshalb hat Richert Abschied

von dir genommen?< Ich habe ihm lachend geantwortet,

daß du wußtest, daß ich nach Libau reisen

muBte, und da hättest du scherzhaft Abschied gcnommen

im Falle, daßsich ein Eisenbahnunglück

ereignen sollte.« Schneider hatte seine Sache gut

gemacht. Trotzdern merkte ich am Blick des Kom p<l

niefeldwebels, daß el' mir nicht recht traute und

                            272

imrner einen Verdacht auf mich hatte. Ich stellte

mich so harrnlos wie möglich und machte meinen

Dienst genau wie frûher.

Eines Tages war Lühnungsappell. Die Mannschaften

waren in zwei Gliedern angetreten. {ch stand in

der Reihe der Unteroffiziere vorne dran, da ich Gewchrführer

war. Nach dem Lühnungsappell sagte

der Kornpaniefeldwebel: »Ich habe einige Worte an

die Kompanie zu richten: Wenn ein Mann oder ein

Vorgesetzter mer ken sollte, daf ein Mann oder ein

Vorgesetzter sich verdächtig macht, zum Feinde

überzugehen, so hat er es sofort auf der Schreibxt.

ube zu melden! Ich wulite natürlich sofort, daf

diese Rede an meine Adresse gerichtet war, brachte

«sjedoch fenig, so harrnlos wie moglich auszusehen,

ais ob mich die ganze Sache nicht das geringste anginge.

Der Feldwebel, der mich mit einem verstohlelien

Blick beobachtete, wufite nun selbst nicht, woran

er war.

        Das Leben gingweiter seinen gewöhnlichen Gang.

Die hauprsachlichen Dinge waren Arbeitsdienst,

Hunger, Lause. Nahe den Hütten von Wawer Nord

hcfanden sich einige Kartoffeläcker, die wohl schon

20mal umgegraben worden waren und immer noch

durchsucht wurden in der Hoffnung, noch einige

Kartoffeln Zll finden.

Canz plotzlich [am 15. Dezernber 1917] verbrein

te sich das Gerücht:
 


 

    WAFFENSTILLS'IAND MIT RUSSLAND!

 

Und wirklich, das Cerücht entsprach der Wahrheit.

Unser Regiment sollte die Stellung verlassen, um in

Riga auf unbestimmte Zeit cinquartiert Zli wcrden.

Dicse Nachricht wurde von allen freudig begrüût.

Sofort musstte ich mit cinern Leutnant und noch

3 Mann abmarschiercn, um in Thorensberg, ciner

xüdlich von Riga gelegenen Vorstadt, für die Korn

                            273

panie Quartier zu machen. Wir bestiegen in Redenepois-

Kussau den Zug, der uns nach Riga brachte.

Dort übernachteten wir in einern Hotel. Am folgenden

Morgen landen wir für Mannschaften und

Pferde der Kompanie gute Quartiere in einer gra-

Ben Lederfabrik in Thorensberg, welche den Betrieb

eingestellt haue  wie aile anderen in Riga

befindIichen Fabriken infolge des Mangels an Rohmaterial.

Gegen Abend langte die Kompanie an; die

Mannschaften waren mit uns Quartiermachern zufrieden.

Die Mannschaften wohnten in den frühel'en

Buros, die ausgeräurnt wurden und in die wir

nun Drahtbetten stellten. Die Unteroffiziere und

Feldwebel wohnten in der Villa des Direktors, in

welcher ebenso die Kompanieschreibstube eingerichter

war. Der Kornpanieführer, Freiherr von

Reiûwitz, wohnte in einem Schlölichen aerhalb

der Fabrik.

 

 

            DAS LEBEN IN RIGA

 

Die Stadt Riga liegt an der Düna und ist eine der

groI3ten Handelsstädte Rlands. Sie zählt 500000

Einwohner [da 1897 für die Stadt samt Patrimonialgebiet

von amtlicher Seite knapp 283 000 Einwohrier

gezahlt wurden, erscheint diese Angabe stark übertrieben],

die hauptsachlich aus Letten, aber auch aus

vielen Deutschen bestehen. Beinahe samtliche Einwohner

beherrschen die deutsche Sprache. Die Bewohner

waren, bis auf die ärrnsten Bevölkerungsschichten,

sehr modern und hübsch gekleidet, so

daf sie eigentlich gar nicht für Ruliland paGten. Di«

Letten sind im Durchschnitt ein schörier , kràftiggcbauter

Volksstamm, die Mädchen und Frauen fast

durchweg hübsch und reizerid anzusehen.

        Der Dienst in Riga wurde uns leicht gemacht. Mol'

gens 2 Stundcn Untcrricht, nachmittags MGRei-

migen und Sport. Jede Wochc gab es zwei kleine

                                274

Ausrnàrsche mit Gefechtsübungen. Das Leben

war im groGen und ganzen angenehm, wenn

nur die Verpflegung besser gewesen ware. Man

konnte sich kein einziges Mal salt essen. Bei der Bevölkerung

wuchs die Not auch von Tag zu Tag, und

die ärmeren Leute konnten kaum noch ihr Leben

fristen. Verdienst r die Arbeiterschaft war fast

keiner mehr da, aile Betriebe lagen still. Oft beklagten

sich die Einwohner bei uns, d wir sie so ins

Klend gebracht hatten, und warurn wir Livland und

Fstland nicht besetzt hatten. Denn von den beiden

nördlich von Riga befindlichen und an Landwirtschaft

reichen Provinzen hatre Riga mit Lebensmitreln

versorgt werden körmen. Für dies alles konnten

wir Soldaten doch nichts! Von dern früher besetzten

Teil Rulilands konnte soviel wie gaI' nichts in

die Stadt geliefert werden, denn das Land war

durch die deutsche Besetzung derart ausgesogen,

daß die Bewohner für sich selbst kaum existieren

konnten. Durch die Not wurde ein großer Teil der

lsevölkerung von einer grenzenlosen Wut gegen die

cutschen erfaßt, so daf mehrere Male deutsche

Soldaten in abgelegenen Straûen ermordet wurden.

N lin durften wir nachts nie ohne geladene Pistole

.iusgehen. Die Vorstadt Thorensberg ist durch die

hier etwa 600 m breite Düna von der Stadt Riga

gc\rennt. Da deutscherseits ein Aufstand in der

Stadl befürchtet wurde, war oft der Verkehr von

der Vorstadt in die Stadt verboten und der einzige

Ubergang über die Düna, eine von den Deutschen

rrbaute Holzbrücke, von Militär gesperrt. Da

wurde manchrnal geschimpft, denn vielen Leuten

wnr es dadurch unrglich gemacht, nach Hause zu

kommen.

        Die Stadt Riga, die einige Kilometer landeinwärts

VOIl der Mündung der Düna in die Ostsee liegt,

konnte von den großeren Schiffen erreicht werden.

VI)I' dern Kriegc war diese Stadt die drittgrofite Hanc

klsstadt Ruhlands, gcgenwartig war der ganze Hand!'

1 lahmgelegt; nur einige Militärtransportschiffe, 

                                275

Vorposten- und Küstenwaehboote verkehrten im

Hafen. Die Ausladerampe, an welcher dic Schiffe

anlegten, war 3 km lang. Am unteren Ende des Hafens

lag der Güterhahnhof; dort wurden die Waren

früher yom Sehiff in die Eisenbahnwaggons verladen.

Die Cebäude des Güterbahnhofs waren von

den Russen vor ihrem Rückzug niedergebrannt worden.

Die weiter oben über die Düna führende Stra-

Ben- und Eisenbahnbrücke, eine der großten und

schönsten Brüeken, die ich bis jetzt gesehen hatte,

war von den Russen gesprengt worden. Tag und

Nacht wurde gearbeitet, um die abgestürzten, aus

Eisen konstruierten BrückenteiIe, die Tausende von

Tonnen Gewieht hatten, mittels Masehinen zu heben.

[... ] (leh konnte nicht begreifen, daß man die

dieksten Eisentrager mittels Stichflammen wie

Waehs durchsehneiden konnte.) Der Winter hatte

sieh inzwischen eingestellt, und alles starrte in

Sehnee und Eis. Die Düna war ganz zugefroren. [… ]

    An Weihnaehten wurde ein kleines Fest von der

Kompanie organisiert. Ein schöner Christbaum

wurde in einem Großen Fabriksaal angezündet, und

von den Mannsehaften wurden einige Weihnachtslieder

gesungen. Naehher gab es eine kleine Christbeseherung

für jeden Mann.

    Am folgenden Tag wurde ich zum Unteroffizier

befördert. lch zog nun in die Villa, wo ich in einem

Zimmer mit Ofen einquartiert wurde, in dem sehon

2 Unteroffiziere wohnten. AIs Schlafstätten dienten

Drahtbetten,jedoeh ohne Strohsaek und Matratzen,

so daf man aueh nachts angekleidet sehlafen mulitc.

Trotzdem fühlte man sieh hier sehr geklich, denn

es war keine Lebensgefahr vorhanden, man konnt«

troeken und warm wohnen und sehlafen. Überhaupt

hatte man fast vcrgessen, da!3 noch imrncr

Krieg war. lch hatte nun ais Unteroffïzier 2 Mark

Löhnung pro Tag. Auch hatte ich, wiejeder Untel'

offizier, einen Mann ais Putzer, der meine Kleider ill

Ordnung hielt, Stiefel putzte, morgens das Zimmci

fegte, einheizte und den Kaffee und das Essen holte.

                                    276

Mein Dienst war ungefahr derselbe wie ais Gefreiter

da ich vorher auch ~chon Gewehrführer war. Sonn~

tags nahm ieh imrner bis lUhr morgens Urlaub, um

das deutsehe Stadttheater besuchen zu körmen. Es

wurden fast immer herrliche Stüeke gespielt; am

hesten gdiel mir »Die Reise um die Weil in 80 Tagen

«. [Ob D. R. sich hier miûverständlich ausdrückt?

Von einer Bühnenfassung des Erfolgsromans von

Jules Verne ist niehts bekannt. Hingegen wurde der

Stoff bereits 1914 in den USA verfilm t; rnöglicherweise

meint der Autor dieses Kinostüek.] Oft besuehte

ich au eh ein Kino, von denen die Stadt viele

aufs modern ste eingerichtete besaß.

        Da es Sonntagabend weder Kaffee noch sonst etwas

von der Kompanie gab, ging ich gewöhnlich ins

Soldatenheim, wo man mit Mühe und Not einen

'l'eller Bohnen-, Linsen- oder Erbsensuppe erhaschen

konnte, f1eisehlos natürlieh, zu 50 Pfennig.

1)er Andrang im Soldatenheim war derart groß, daf

man fast nicht hineinkommen konnte. An einem

Sehalter erhielt man für 50 Pfennig einen Teller und

cine Marke, die man an der Suppenausgabestelle

abgeben mulite. Den Loffel mu!3te man bei sieh haben.

Man stellte sich nun der Reihe nach auf. ln

Schlangenwindungen füllten die Reihen der hungrigen

Soldaten fast den ganzen graßen Saal aus.

Manchrnal reiehte die Suppe nicht für aile, die letz

(Cil bekamen ihre 50 Pfennig wieder zurüek und

konr~ten mit leerern .Magen weitergehen. So erging

(ES mir aueh einmal. Uber eine Stunde war ich in der

Rcihe gestanden. Endlich war ich fast an der Ausga-

Ilestelle angelangt und freute mieh sehr auf den

Teller heißer Suppe, da es drauûen bitter kalt war.

Nur noeh 2 Mann waren vor mir. Da hieb es: »Die

Suppe ist allel Mit leerern Mauen konnte ich gchen 

nachdem ich meine 50 Pfennig' zurüekerhalten

hutte.

ln den Cafés und Restaurants der Stadt konnte

man nichts zu essen erhalten. Nur schleehtes Kriegshier

oder Tee. Die Bevölkerung litt immer mehr am

277

Lebensmittelmangel. Aus Not und Arbeitslosigkeit

gaben sich viele Mädchen und jüngere Frauen der

— hin, um auf diese traurige Art ihren Lebensunterhalt

zu verdienen. Viele andere waren bereits

vom russischen Militär bodenlos verdorben und

setzten nun ihr Treiben mit den deutschen Soldaten

fort. Manche Soldaten, die dieser Leidenschaft verfallen

waren, sparten sich von dem bißchen Brot und

sonstigen Lebensmitteln ab, um es ihren Matressen

zu bringen. Der Gefreite an meinem Gewehr namens

Westenberg hatte auch solch eine Nulpe kennengelernt

und brachte ihr von den wenigen Lebensmitteln,

die er von der Kompanie erhielt und 50

notwendig für sich gebraucht hatte. Daß er bei diesem

Hungern und schlechten Lebenswandel zum

Skelett abmagerte, ist selbstverstandlich. lch warnte

ihn of t, fand aber nur taube Ohren, so sehr hielt ihn

seine Leidenschaft gefangen.

Ein guter Kamerad, Unteroffizier Kurz, hatte

auch ein Mädchen kennengelernt und sich bis über

beide Ohren in sie verliebt. Dauernd erzahlte er mir

von seiner Lola, rühmte ihre Schönheit und Bravheit.

Eines Tages traf ich die beiden. Lola war wirklich

ein sehr hübsches Mädchen und machte den

besten Eindruck. [... ] Eines Tages erzählte mirUnteroffizier

Kurz freudestrahlend, d er das Ziel seiner

Wünsche erreicht habe. Zu diesem Zwecke nahm

er Nachturlaub bis zurn Wecken. Am folgenden

Morgen hatten wir Exerzieren auf einem vor der

Stadt gelegenen Sandplatz. Unteroffizier Kurz kam

erst, ais wir auf dem Sandplatz ankamen, und meldete

sich beim Freiherr von Reißwitz, der an Weihnachten

zum Rittmeister befördert worden war, zur

Stelle. Der Rittmeister, der selber ein sehr ungebundenes

Leben hrte und von den Mannschaften im

geheimen »H--bock« genannt wurde, lachte nur

und sagte: »Gut, übernehmen Sie Ihr Maschinengewehr.

Sie scheinen anstrengende Nachtarbeit gehabt

zu haben. Sie sehen blaf aus.« Zwei Tage spater

fühlte Kurz, daf er geschlechtskrank war. Er

                        278

schämte sich, sich krank zu melden, und hoffte, daß

ihn der Sanitàtsoffizier heilen konne. Gerade das

Gegenteil trat ein, sein Zustand wurde immer

schlechter. Schließlich mu8te er sich doch krank

melden und kam ins Seuchenlazarett, von den Soldaten

»Ritterburg genannt. Die Krankheit hatte

ihm bereits das Blut verdorben, und zeitlebens hatte

er die Folgen zu tragen.

        Es wurden überhaupt viele Soldaten geschlechtskrank,

sa daf jede Woche Appel! durch den Arzt

stattfand. Jeder Soldat bekam aerdem eine

Schachtel mit Inhalt, um dem Krankwerden vorzubeugen.

Die meisten Soldaten gewohnten sich nach

und nach dieses Lumpenleben ais etwasSelbstverständliches

an. Oft horte ich von der Grabenstra8e

reden, Dort sei was los! Ich ging auch einmal, mit

einem meiner Kameraden, dem aus Ostpreuhen

stammenden Unteroffizier Kizmann, nach der so

viel gerühmten GrabenStraße. Wirklich, da war etwas

los. Ein bffentliches Haus nach dem anderen.

Wir beide gingen hinein. ln einem großeren Zimmer

saf an den Tischen den Wänden entiang alles voll

von Soldaten, die Tee tranken. Drei ganzlich heruntergekommene

Burschen spielten auf ihren Musikinstrurnenten

Tanze. Etwa 8 Dirnen drehten sich ~it

Soldaten im Tanze, dabei die gemeinsten Körperbewegungen

ausführend. Fast aile Dirnen sahen infolge

ihres liederlichen Lebenswandels sehr schlecht

<tus, markierten trotzdem heuchlerische Lebhaftigkeit

und suchten die Soldaten nach Möglichkeit zu

verführen. ln einer Ecke stand ein Verschlag; dahinter

saf eine alte Megare und schaute durch den

Schalter dem Treiben zu. Wenn ein Soldat mit einer

Dirne hinaufgehen wollte, ging er zum Schalter,

legte 2 Mark hin und bekam ein Kärtchen. Dieses

zeigte er der Dirne, die ihm gefiel und die dann mit

ihm hinaufgehen muûte. Dieses Treiben fanden wir

beide menschenunwürdig. Es war mir gleich aufge

Iallen, daf eine der Dirnen gar keinen so schlechten

Eindruck machte; auch spiegelten sich auf ihrem

            279

Gesicht tiefes Leid und Kümrne mis. Kizmann sagte

zu mir: »Dieses Mädchen ist nur ungern hier!« 1ch

antwortete: »Ich habe sie auch beobachtet und habe

den glcichen Eindruck.. Da wir unsere Glaser gcleert

hatten, bestellten wir bei ihr neuen Tee. Sie

brachte uns denselben, au ch ein Glas für sich, was in

diesen Häusern Sitte zu sein schien. Sie setzte sich

zwischen uns.

    Wir beide fïngen ein Cespräch mit ihr an, sie

sprach ein sehr gutes Deutsch. Ich sagte ihr offen,

dan sie gar nicht hierherpasse, und fragte sie, wie es

denn komme, daf sie in diese Gesellschaft geralen

sei. Sofort auf meine Frage fing sie an zu weinen und

drehte dem alten Scheusal, das durch den Schalter

die Vorgange im Saale beobachtete, den Rücken, um

so ihr Gesicht und ihre Tranen zu verbergen. Sie

erzählte uns nun, immerfort leise schluchzend: »Ich

hätte eher an alles mögliche gedacht, ais dall ich in

meinem Leben in eine solehe Lage komme. Ich

stamme aus Petersburg und habe mich VOl' einem

Jahr mit einem russischen Offizier, der hier in Riga

stationiert war, verheiratet. Um bei meinem Ianne

zu sein, mieteten wir eine Wohnung in Riga und

lebten sehr glücklich.« Sie brachte vor Weh fast kein

Wort mehr heraus. Ais sie sich etwas gefal3t hatte,

fuhr sie fort: »Plotzlich setzte die deutsche Offensive

ein. Ehe wir uns zur Flucht entschlieben konnten,

war die Stadt von den Deutschen umzingelt, und

mein Mann wurde in Gefangenschaft abgeführt. Da

wir die früher im Umlauf gewesenen russischen Rubel

verbraucht hatten, waren wir nur noch im Besitze

einer Summe Kerenski-Geldes [unter Ministerpräsident

Alexander Kerenskis kurzer Regierungszeit,

Juli bis November 1917, in Umlauf gebrachtes

Geld], das nach dem Einrnarsch der Deutschen wertlos

war. So stand ich allein da, oh ne Geld, nur noch

für einige Tage Lebensmittel. Ais diesc aufgebraucht

waren, verkaufte ich aile entbehrlîchen GegensUinde,

die nur wenige waren, da wir eine moblierte

Wohnung gemietet hatten. Jeden Tag lief ich

                        280

in der Stadt herum, um irgendwo ais Stütze,Dienstmädchen

oder Stundenfrau unterzukommen. Um-

sonstberall erhieJt ich den narnlichen Bescheid: Es

sei unmüglich, Dienstpersonal zu haltcn, da nicht

einrnal für die Herrschaften Lebensrnittcl aufzutreiben

seien. Mit jeder, selbst der gemcinsten Arbeit

wärc ich zufrieden gewesen. Da ich die Miete nicht

bezahlen konnte, mulite ich die Wohnung, in der ich

50 glücklich mit meinem Mann gelebt hatte, verlassen.

So stand ich auf der Srralie, ohne Wohnung,

ohne Geld, der Verzweiflung nahe. Ich wollte mich

VOl' Verzweiflung von der Dünabrücke hinunterstürzen,

doch fehlte mir der Mut. So geriet ich, ais

letzten Rettungsanker, hierher. Oh habe ich schon

gedacht, es wäre besser, ich würde auf dem Boden

der Düna ruhen, ais so leben zu müssen. Da ich nicht

so heruntergekommen bin wie diese schrecklichen

Menschen, mit denen ich vor EkeJ kaum zu leben

imstande bin, werde ich von den Soldaten am meisten

begehrt. Sie konnen nicht glauben, welche

Überwindung es mich jedesmal kostet, hinaufzugehen

und diesen Schimpf über mich ergehen zu lassen!

« Wieder fing sie an zu schluchzen und fuhr fort:

»Oh, was würden meine guten Eltern oder mein

Mann sagen, wenn sie wüliten, in welchen Verhältnissen

ich jetzt lebe! Dabei soli ich ein fröhliches,

übermütiges Gesicht zeigen, um m6glichst viel für

das alte, schlechte Weib zu verdienen, die mir schon

mehrrnals gedroht hat, mich hinauszuwerfen, wenn

ich ein 50 trauriges Gesicht mache!  »Schrecklich!«

sagten wir beide. »Cibt es denn keine Möglichkeit,

aul3erhalb dies es abscheulichen Hauses ein Fortkommen

zu tinden?«  »Ich zerrnartere mir ständig den

Kopf«, antwortete sie, »finde aber keinen Ausweg.«

Die arme Frau dauerte uns sehr. Helfen konnten wir

weiter nicht, aIs daf wir ihr jeder von uns 2 Mark

schenkten, welche sie dankend annahm. Nun wurde

sie wieder von cinem Soldaten zum Tanze geholt, der

dann gleich mit ihr hinaufstieg. Auf der Treppe

schaute sie uns mit einem todtraurigen Blick an.

                            281

»Siehst du, Richert«, sagte mein Freund, »was hinter

dieser zur Schau getragenen Frohlichkeit steckt.

Diejunge Fran dauert mich wirklich. Und da gibt es

noch Menschen, die sagen, der Krieg sei eine Strafe

Gottes. Gott habe den Krieg gewollt' Dies sagen aber

nur jene, die eben keine rnilitarpflichtigen nner

und Söhne haben und durch den Krieg finanzielle

Vorteile erzielen.. [… ]

Wir verließen die Stätte des Lasters und gingen in

unser Quartier zurück. Unterwegs unterhielten wir

uns immer noch über das Schicksal der bedauernswerten

jungen Frau. Ja, was ein solch schrecklicher

Krieg alles mit sich bringt! Hunger, Todesangst,

Nasse, Kälte, Draußenliegen, Lause, Trennung von

der Heimat für die Frontsoldaten, die oft furchtbaren

Schmerzen der Verwundeten, die Angst der Daheimgebliebenen

um ihre Sohne und Gatten, die

Tranen und Schmerzen um die Gefallenen, dann

die Tausende von solchen oder ahnlichen Fällen wie

der von der bedauernswerten Frau. Wirklich, dit'

Schuldigen an solchem Elend hatten es verdient, mit

allen erdenklichen Mitteln langsam zu Tode gemartert

zu werden.

        Wie ich erfuhr, waren am Güterbahnhof Züge mit

Kartoffeln angekommen. lch hatte nur dell

Wunsch: Wenn ich doch nur einen Sack holen

konnte! Beim Dunkelwerden ging ieh hin, gab dein

an einem kleinen Nebentor des Bahnhofspostens

stehenden Soldaten 5 Mark und bat ihn, einen Sad.

Kartoffeln holen zu dürfen. »Machen Sie doch, was

Sie wollen, Herr Unteroffizier«, meinte er guttig.

»Ich sehe Sie einfach nichtl Vorsichtig ging ich

unter den auf den Geleisen stehenden Waggolls

durch und kam zu den Kartoffeln, die waggonwei«:

auf Haufen lagen. Ein Soldat patrouillierte um dell

Kartoffelhaufen herum. Ich mußte warten, bis er am

jenseitigen Ende des Haufens war. Schnell hob ich

den Sack, der schätzungsweise 1 Zentner wog, aul

den cken und verlief sa schnell wie moglich den

Bahnhof. Kaum war ich in einer dunklen Seiten

                                    282

straße, als mehrere Zivilisten mich anhielten und

baten, ihnen doch die Kartoffeln zu verkaufen. Ieh

wollte davon jedoch nichts wissen, denn ich wollte

Iür eine Zeitlang Vorrat haben, und was ein Sack

Kartoffeln wert ist, weiß nur der, der sie lange entbehrt

hat. Alle paar Schritte wurde ich gebeten und

gequalt, die Kartoffeln doch zu verkaufen! Schlilich

wurde mir der Sack zu schwer. Auch hatte ich

noch eine halbe Stunde bis zu meinem Quartier zu

gehen. Zudem fürchtete ieh, in den hellerleuchteten

Straßen mit dem Großen Saeke aufzufallen, von Offi-

I.ieren angehalten zu werden, denen ich dann die

Ilerkunft der Kartoffeln verraten müßte. Ich war

eben in diese Gedanken vertieft, aIs ieh wieder von

oiner jungen Frau angesprochen wurde. »Nun, Soldat,

mbchten Sie mir nicht Ihre Kartoffeln verkau-

Ien  »Was würden Sie mir dafür bezahlen?«

Iragte ich. »20 Rubel«, antwortete sie. »Cut«, sagte

ich, »Sie können die Halfte davon um 10 Rubel habcn..

Ich mußte mit der Frau in die Wohnung kommen,

die ganz in der Nàhe lag. Die Frau wohnte im

2. Stock. Ihrem Benehmen, ihrer Kleidung und der

Zimmereinrichtung nach schien sie eine bessere

Dame zu sein. lch schüttelte die Hälfte der Kartoff"

feln in eine Kiste. Die Frau lud mich dann ein, auf

dem Sofa Platz zu nehmen, und sehickte sich an, Tee

zu bereiten. Bis das Wasser koehte, setzte sie sich

dicht an meine Seite, drückte ihr Knie an das meine

und sagte mit einem verheißungsvollen Augenaufsdilag

zu mir: »Mein Mann ist im Feldel leh wußte

nun ganz genau, auf welche Weise sie die Kartoffeln

hczahlen wallte , tat aber, aIs hätte ich sie gar nicht

vcrstanden, und meinte: »So hat Ihr Mann dasselbe

Pech wie ich! Nun,jetzt, da der Friede nahe ist, wird

er bald heimkomrnenl Wir unterhielten uns noch

cille Weile, sie wagte nichtmehrauf das zuerst begonne

ne Thema zurückzukommen. Nachdem ich meine

Tasse Tee getrunken hatte, sagte sie zum Absehied,

ich könne ihr so viele Säcke Kartoffeln bringen, wie

ich wolle, sie gebe mir für jeden Sack 20 Rubel.

                                        283
 

Ich verließ nun mit meinern halben Saek Kartoffeln

und den 10 Rubel das Haus, merkte mir genau

dic Hausnummer und den Namen der Straße und

ging nach der nächsten Trambahrihal testelle. Dort

warf ieh rneinen Saek in den Wagen und fuhr nach

der Düna hinunter. Von dort hatte ieh noeh eine

VierteIstunde zu laufen. Auf der Dünabrücke ging

schwankend cine altere Frau an mir vorbei, die imrnerfort

leise stöhnte. Ich fragte, was ihr fehle.

»Hunger!« antwortete sie mit müdem, todtraurigem

Blick. Sie hatte eine großere Handtasche bei sich. Ich

stellte meine Kartoffeln auf die Straße und füllte

ihre Tasche voll, vielleicht 10 Pfund. Die Frau wurde

nicht fertig, mir zu danken. Ich sagte: »Lassen Sie

nul', es ist schon gut!« und ging weiter in mein Quartier.

Ich kochte in jener Nacht noch ein Kochgeschirr

voll, das ich dann mit meinen beiden Zimmerkameraden

aß.

Ich hatte mir vorgenommen, in der folgenden

Nacht Kartoffeln am Bahnhof zu holen und zu der

Frau zu bringen, denn 20 Rubel pro Sack war ein

lockender Verdienst. Ich nahm Urlaub bis 12 Uhr,

um möglichst viele Säcke abschleppen zu körinen.

AIs ich an das Bahnhofstor kam, stand derselbe Soldat

wie in der vorigen Naeht Posten. Ich verspraeh

ihm für jeden Saek, den el' mieh passieren ließe,

3 Mark. Er war sofort einverstanden. Ich ging gleicb

an den Kartoffelhaufen, lud einen Sack auf den

Rücken und wollte ihn wegtragen. Kaurn war ich

einige Schritte gegangen, als ieh an der Schulter

gefaßt wurde. »Halten Sie mal!" befahl eine Stimme.

Ich blieb stehen und ließ den Sack zu Boden fallen.

»Was haben Sie hier?" fragte mich der Pionier Unteroffizier,

denn ein solcher war es, in Begleitung

von 2 Mann, die sogenannte Kartoffelpatrouillc.

»Kartoffeln«, antwortete ich. Ich mußte nun mit ihnen

nach dem Wachlokal gehen. »Ich mub Sie bci

Ihrer Kompanie melden«, meinte der Unteroffizier.

»Hör mal, Kamerad, ich will Ihnen was erzählen«,

sagte ich. »Daß man nicht zum Vergnügen Kartoffeln

                                    284

hungern, wissen Sie auch. Es blieb mir nichts andel'es

übrig, ais auf diese Weise meine Lage etwas zu

verbessern. Werm Sie mich melden, werde ich vielleicht

bestraft. Dies ware das ersternal in meiner bis

jetzt über vierjahrigen Militärdienstzeit. AuHerdcrn

liegt meine IIeimat in dem von den Franzosen besetzten

Teil des Elsaû, sa dan es mir unrnöglich ist,

von dort Geld oder Pakete zu bekommen. Denken

Sie sich mal in meine Lage, Kamerad!« schlof ieh.

»]a, das ist allerhand«, meinte nun der Pionier Unteroffizier.

»Wissen Sie was? Nehmen Sie einfach

den Sack mit, aber lassen Sie sich nicht erwischen!«

Dann gab er mir die Hand zum Abschied. lch ging

zu meinem Sacke, hob ihn wieder auf die Schultern,

gab im Vorbeigehen dem Posten 3 Mark, trug den

Sack wieder zu der Frau und ging dann mit meinen

20 Rubel ins Kino. (… ] Ich getraute mich nicht

rnehr, nochrnals auf Kartoffelraub zu gehen. Meine

Kartoffeln, die ich im geheizten Zimrner liegen hatte

und die gefroren waren wie Stein, waren in 2 Tagen

dureh und durch faul, sa daf nichts mehr davon zu

genießen war.

Die Gedanken aller Soldaten waren nur darauf

gerichtet, Lebensmittel auf jede erdenkliche Art zu

heschaffen. Einmal hatte ich die Aufsieht beim Karioffelschàlen

in einem Raurn, neben dem die Feldküche

stand. Etwa 20 Soldaten waren damit beschäftigt,

einen Großen Korb voll Kartoffeln zu schalen.

AIs die Schalerei zu Ende war, fehlte über die Hälfte

der Kartoffeln. »Hört, Soldaten! Was ihr da treibt,

ist übertrieben!« sagte ieh. »Raus mit den Kartoffeln,

oder ich bin gezwungen, cure Taschen zu untersuchen!

« Alle machten die unsehuldigsten Gesichter,

keiner wollte eine Kartoffel haben. Ieh untersuchte

ihre Taschen, und, 0 Wunder, ich Iand keine einzige.

lch untersuchtc den ganzen Raum, keine Karroffel

kam zum Vorschein. Ich konnte nicht klug

werden aus der ganzen Geschichte und lieLldie paar

Kartoffeln zur Feldküche bringen. Der Koch war

                                285

mit dem geringen Quantum nicht zufrieden, aber da

war nichts zu machen. [… ] Am folgenden Tage

sagte mein Putzer zu mir, wenn ich nichts sagte, teile

er mir den Verbleib der Kartoffeln mit. Ich war sehr

gespannt und versprach zu schweigen. »Iri dem

Schälraum befindet sich eine Treppe, die mit Brettern

verschalt ist. ln den Bretten. befindet sich ein

Loch in der Grôlie einer mittleren Kartoffel. Da

hinein werden die Kartoffeln gesteckt. Damit Sie

nichts merkten, stellten sich beim Schalen mehrere

Mann davor. Ais Sie dann weggegangen waren,

wurde eines der Bretter losgelôst und die Kartoffeln

herausgenommen und verteilt.« Ich muHte nun

doch über die Schlauheit der Soldaten lachen. Sie

hatten das oft wiederholte Sprichwort befolgt: »Not

kermt kein Gebot.« Und ich konnte ihnen nicht zürnen.

        Einmal kam ich abends zufällig in das Wohnzimmer

meiner Besatzung. Ich staunte nicht wenig,

denn die Leute waren eben dabei, einen groHen

Kochkessel voll Fleisch zu verzehren. »Dormerwetter!

Wo habt ihr denn das Fleisch her?« Sie sahen

einander an und lachten und luden mich ein mitzuhalten.

Ich konnte immer noch nicht verstehen, woher

das Fleisch kam. Auf dem Tisch saf ein Westfälinger,

der ein ganz unangenehmes Gesicht mit roten

Triefaugen hatte. Mit beiden Händen hielt er ein

Stück Fleisch, biß ab und kaute mit vollen Backen.

Ich mulite an die Kannibalen denken, ais ich ihm so

zusah. »Weißt du, Richert«, sagte er, »ich habe gestern

abend in den Straßen mit der Pistole einen

graßen Hund geschossen.« Damit zeigte er mit dem

Finger in den Kessel. Also Hundefleisch allen sie.

Also so tief sind die Soldaten schon gesunken, dall sie

Hundefleisch verzehren!

        Wenn ich alleine bei meiner Besatzung war, wollte

ich nicht haben, daf mich die Leute mit »Herr Unteroffizier

« ansprachen. Nur wenn Offiziere in der

Nähe waren, muliten sie es natürlich tun. Der Rittmeister

hôrte einmal, daf ich mit einem Soldaten per

                                286

du  sparch.Sofort ließ er mich auf die Schreibstube

kommen und kanzelte mich gehorig ab. Ich müsse

meine Autorität bewahren, meinte er. Ich dachte:

Wenn dich nur der Teufel hole, mit deinem verfluchten

Autoritätswahnl [… ] Eines Sonntag nachts

veranstaltete die Kompanie ein Fest im Lettischen

Vereinshaus. Es ging recht fidel zu. Es gab pro Mann

6 Glas Bier, um Mitternacht 2 Würstchen mit Kartoffelsalat,

nachher in der Feldküche gekochten Tee

mit viel Rum. Acht Musikanten der Regimentsmusik

spielten zum Tanz auf. Mädchen waren in Mengen

vorhanden, und bald wirbelte alles, was einigerma-

Ben tanzen konnte, in dem Großen Saal herum. Da

ich früher gerne tanzte, Iief ich diese Gelegenheit

nicht vorübergehen und walzte gehorig drauflos.

Schmunzelnd schaute der Rittmeister dem Treiben

zu. Ais ich an ihm vorbeiging, sagte er zu mir: »Sie

tanzen auch, Richert? Ich dachte immer, Sie seien so

ein Marienjunge!« – »Ach, Herr Rittmeister, lustig

in Ehren kann doch keiner verwehren!« antwortete

ich und dachte im stillen: Riech dran, H—-bock! [… ]

Oft hief:\ es, daf unser Regiment nächstens nach

der Westfront transportiert werden würde. Uns allen

grau te davor. Doch die Zeit verging, und immer

hlieben wir noch in Riga.

        Am Sonntag, dem 18. Februar 1918, hatte ich wieder

Nachturlaub bekommen und kam mit mehreren

Kameraden um l Uhr morgens aus dem Deutschen

Theater nach Hause. Gleich legte ich mich schlafen.

Schon um 3 Uhr wurde ich yom Kompaniefeldwebel

l.augsch geweckt, ebenso mein Zimmerkamerad

Kizmann. »Horen Sie«, begann der Feldwebel, »die

Friedensverhandlungen mit den Russen sind gescheitert

und abgebroehen. Wir müssen eine neue

Offensive machen. Ihr beide sollt mit dem Leutnant

1 Ierbst mit der Bahn sofort bis zur Endstation Hin-

I.enberg fahren und dort an der Aa für die Kornpanie

Quartiere machen, die zu Fuf:\dahin marschiel'en

und bei Anbruch der Nacht dort ankommen

wird.«

                            287

Brrr! Mir lief eine Cansehaut urn die andere über

den Rücken. Jetzt bei dieser Kalte und diesem hohen

Schnee eine Offensive machen! Unsere Führer

schienen verrückt geworden zu sein. Nun hatte das

schône Leben in Riga ein jähes Ende gefunden. Wir

packten unser Hab und Gut in den Tornister,

schwangen denselben auf den Rücken und gingen

zur Bahn. Mir grau te furchtbar var der Zukunft,

denn icwuBte nicht, daf die Russen keinen Widerstand

leisten rden. Mit Tagesanbruch hielt der

Zug in Hinzenberg. ln dem sehr schônen, an der Aa

gelegenen Schlosse Semneck machten wir Quartier

für Pferde und Mannschaften. Ais der Abend kam,

wurden wir yom Divisionsstab, der sich in dem

Schloß einquartierte, einfach rausgeschmissen. Alle

Hauser und Hütten in der Umgebung waren mit

Mannschaften und pferden vollgestopft, nirgends

war ein freies Plätzchen. Da fanden wir im Wald

einige alte Unterstände ohne Tür und Fenster, das

lnnere steinhart gefroren, aber schneefrei. Die

Kompanie, die eben todmüde vom Marsche ankam,

schimpfte furchtbar auf uns schlechte Quartierrnacher.

Aber in Wirklichkeit konnten wir doch nichts

dafür. Die Pferde wurden dicht zusammengestelh

an die Baume gebunden und mit Decken zugedeckt.

Die Mannschaften setzten sich in den kalten Unterständen

sa dicht wie môglich zusammen und deckten

sich mit Decken und Zelten zu. Gegen Morgen

gab's derart kalte Fülie, daf mehrere aufstanden,

Tannenreiser sammelten und Feuer machten. Wir

aIle hatten große Sehnsucht nach unseren Drahtbetten

in Riga. Bei Tagesanbruch wurden von der Feldküche

Kaffee und Brot empfangen. Wie kôstlich 50

ein Trunk heißen Kaffees schrneckre: Wir wurden

alle wie neu belebt. Wir mußten nun antreten, die

Pferde wurden var die Maschinengewehrwagen gespannt,

und vorwärts marsch ging's einer ungewissen

Zukunft entgegen.

                                    288

Im folgenden uieggelassenen Kapuel ("Die Offensive gegen

die B olscheunsten-Besetzung der baltischen Prouuueti Liuland

und Estland«) schildert Dominik Richert seine Erlebnisse

toährend des deutschen Vormarsches im Osten ab

18. Februar 1918. Die Offensive stiejJ kaum auf WideTstand;

die notwendigen Truppenbewegungen konnten nahezu

gefahrlos mit der Eisenbalm ausgefiihrt werden. Der

Vonnarsch begann, nachdem Trotzhi die am 3. Dezember

1917 in Brest-Litowsk begonnenen Friedensuerhandlungen

(Waffenstillstandsvereinbarung am 15. Dezember)abgebTOchen

halte (JO. Februar 1918). Damit und mit dem

etuia zur selben Zeit erfolgten Einriicken der Roten Annee

in Kiew toaren die deutschen A nnexionspläne im Osten, die

unter arulerem die baliischen Staaten betrafen, stark ge

[ährdet. Zioar spracli die deutsche wie die sowjetische Seite

tiom Selbstbestimmungsrechi der dort lebenden Volker, doch

uiaren solche Belncndungen nur leere Floskeln. Aus der

Sicht der deutschen Führung – unter maJ3geblicher Beteiligung

der Obersten H eeresleitung – ging es wesentlich um

Besetzung und Sicherung baltischer Prouinzenticr ein e1"-

toeueries deutsches H errschaftsgebiet. Ofjïziell stellte man

-Biugesuche» aus der deutschfreundlichen. baltischen

Oberschiclu, in denen urn die »Befreiung von bolscheunstischeri

Horden« gebelen uiurde, als GTUnd des vormarsches

dar. Auch Richerts Kompanie unrd ein entsprechender Regimentsbefehl

uerlesen; dies st bei Dominik Richert {olp;

rnde Überlegungen aus: .

    Überhaupt warfen die Deutschen beijeder Geleg

enheit mit dem Wort »befreien nur so um sich.

Mich wundert nur, daß sie nicht schrieben, sie wollren

Frank reich von den Franzosen und England von

den Engländern »befreien«.

    Dominik Richert erjährt in diesen Wochen eine Art von

Ceioali, die sieh von der gewohnten unterscheidet. Er findet

rinen ermordeten M enschen, dem offensiehtlich seine

Wohlhabenheit zum Verhiingnis gcuiorden ist, und stOpt

au] weinende Flüchtlinge, die Angst haben, des Mordes

beschuldig: zu. weyden. Er sieht Erhängt« in den StmjJen,

die, une man ihm erzahlt, uiahllos als abschreckendesBeispiel

getôtet ioorden sind. Seine Sympathie gilt elier den

               289
Verfolgten als denen, die die Deutschen um Hilfe gerufen

haben. Auf die gewohnte Weise boykottiert cr das, was ihm

unmenschlich erscheint, und erweist sien auch in dies en

Wochen wieder ais »guter M ensch«. So rettet er eine junge

Lehrerin, die als »bolscheunstiscn gesinnt« denunziert toorden

ist, ocr der Verhaftung. Angeblich von ihm [estgenommen,

wird sie tatsachlicb in das Dor] ihrer E ltern gebracht,

wo sie var Verfolgung sicher ist. Ais Dominik Richert ausgeschickt

wird, Wajfen einzusamrneln, laftt er einige Bauern,

die merklicli an ihrenjagdgewehren hangen, die Wat

fen uerstecken.

    Angesichts des deutschen Drucks kapitulierte schlieftlich

die sowjetische Regierung endgültig und unterzeichmete mn

3. Miirz 1918 den Friedensuertrag von Brest-Litotosk.

Kurz darauf wird Richerts Truppenteil (1. Regiment 332)

an die Westfront uerlegt. Dort haue mittlenoeile (am

21. Miirz 1918) die letzte grofie Offènsive der deutschen

Armee begonnen.

 

Schon am folgenden Morgen wurden wir von einem

Landwehrbataillon abgelôst und marschierten in

mehreren Tagesrnärschen zurück nach Wenden, wo

wir in die Bahn verladen wurden. Es hieß, daf wir

nach einem deutschen Truppenübungsplatz kärnen,

dann an die Westfront. Also hatten wir nochmals die

schône Aussicht, den süûen Heldentod fürs heißgeliebte

Vaterland sterben zu »dürfen«.

 

 

 

            DIE REISE VON RUSSLAND NACH

                    FRANKREICH

 

 

Nachdem Pferde, Wagen und Mannschaften verladen

waren, fuhr der Zug in Richtung Riga. lch sah

auf der Straûe, unweit der Bahn, Viehherden, die

von Soldaten südwärts getrieben wurden. Aiso hatte

die »Befreiung der lettischen und estländischen

Bauernschaft schon begonnen. Balcl hatten wir Riga

erreicht und winkten der Bevôlkerung zu. Fast aIle 
                                        290

erwiderten unser Winken, aber wie! Sie winkten:

»Nur fort mit euch!«. Südlich von Riga war der

Schnee stellenweise schon geschmolzen; man war es

gar nicht mehr gewohnt, schneefreies Land zu sehen.

Wir fuhren durch OstpreuHen, Westpreußen,

Brandenburg. Viele arme, sandige Gegenden gibt es

da. Wir passierten Berlin, aIs eben die ersten Siegesmeldungen

aus dem Westen eintrafen. Diese

Nachricht schien der halbverhungerten Bevôlkerung

neuen Mut gebracht zu haben, denn überall

wurde uns gewaltig zugejubelt; Zug um Zug, mit

Soldaten und Kriegsmaterial vollgestopft, rollte von

Rußland nach dem Westen hinüber. Man glaubte,

die in Rußland frei gewordenen Armeen kônnten

die englisch-franzôsische Front durchbrechen und

den Sieg doch noch erringen. Da sich die Nacht

niedersenkte, schlief alles ein in den Waggons. Etwa

um Mitternacht hielt der Zug auf einem schlechtbeleuchteten

kleinen Bahnhof. »Alles aussteigen!«

pferde und Wagen wurden ausgeladen, angespannt,

und dann fuhren wir nach einem Dorf. Das Dorf

hief Schweinitz und lag neben dem Großen Truppenübungsplatz

Altgrabow unweit von Magdeburg.

[... ] Morgens war Exerzieren, nachmittags dienst-

Frei. [... ] Alle Abende, au Ber Karfreitag, wurde in

den beiden Wirtschaften des Dorfes getanzt. Die

meisten Madchen waren infolge der dauerriden Einquartierungen

bodenJos verdorben und liefen den

Soldaten wie Hunde nach. Viele Eltern, Geschwister

und Bräute kamen aus allen Teilen Deutschlands,

um ihre angehôr igen Soldaten zu besuchen. Für

viele war dies das letzte Wiedersehen.

        Am Ostersonntag war plôtzlich Alarm: ln einer

Stunde sollten wir auf dem 5 km entfernten Bahnhof

Nedlitz verladen sein. Anspannen, alles kunterbunt

auf die MG-Wagen geworfen, schneller Abschied,

und schon ging's im Galopp Nedlitz zu. ln

einigen Minuten war alles auf den bereitstehenden

Zug verladen. Auf der Weiterfahrt fuhren wir durch

das Ruhrgebiet und über Kôln nach Belgien. [...]

                                    291

Viele Bauersleute waren auf den Feldern beschäftigt.

Wir winkten ihnen ZU. Fast aile machten das

Zeichen des Halsabschneidens und zeigten Richtung

Front. AIs wir uns Laon näherten, explodierten neben

dem Zug 4 Fliegerbomben, der erste Grun der

Westfront. [… ] Wir sollten in Laon ausgeladen werden,

muHten aber eine Station vorher aussteigen, da

Laon untel' dem Feuer schwerster franzosischer

Granaten lag. Wir marschierten nach La Fère; in

dern halbzerschossenen Stadtchen übernachteten

wir. Von vorne tonte das Feuer der Geschütze. Alle

Gesichter sahen ernst aus.

    Am folgenden Morgen ging es der Front ZU,

durch die Gegend, in der 1916 die gro13e Som me-

Schlacht gewütet hatte. ln 60 km Umkreis stand

fast kein Haus mehr, alles nur Trümmer und Ruinen.

Die Fclder waren gaIlZ mit nun verwachsenen

Cranatlôchern bedeckt. Dazwischen Kreuze der

Gefallenen. Wer eS nicht selber sah, kann sich von

dies en Zerstôrungen kein Bild machen. Manche

dieser Dôrfer waren vollständig verschwunden;

nur eine Tafel stand da, auf der englisch geschrieben

stand: »This is —« und der Name des

Dorfes. Nun erreichten wir die Somme bei dem

ehemaligen Dorf Brie und karnpierten dort in den

von den Engländern errichteten Wellblechbarakken.

Wir gingen nach der Somme hinunter, welche

hier ziemlich breit und morastig, aber nicht tief ist.

Eine Brücke führte hinüber. Die Brücke war von

den deutschen Pionieren wied el' instand gesetzt

worden. Westlieh der Brücke sah ieh die ersten toten

Engländer liegen, von vorne tônte unablassig

das Donnern und Drôhnen der Geschütze. Auf allen

Gesichtern bei uns stand das Grauen vor der

Zukunft zu Jesen. »Helden- nennt man uns, ein

wunderbarer Narne, der aber selten, sozusagen

nie, Wirklichkeit ist.

    Wir trafen aueh auf die Leiche cines Fliegers, die

nehen dem vcrbrannten Flugzeug lag, welches auf

eincr Schulterwehr [einern befestigten Schützengrabertrand]
                                    292

beim Anprall zertrümrnert worden war.

Die Leiche bot ein entsetzliches Bild. Der Fliegcr war

verbrannt, von seinen Kleidern war keine Spur

mehr zu sehen als die Schuhe und ein Streifen der

Hosen und Unterhosen. Hunderte von Müeken sa-

Hen auf dem teilweise verkohlten Kôrper. Am MG

konntcn wir sehen, dal) es sich um keinen deutschen

Flieger handelte. Da sah ich am verkohlten Arm das

Kettchen mit der Erkennungsmarke. [… ] Das Kettchen

war an der Ste Ile, wo es zusammengelôtet war,

gesch.molzen, so dan ieh es samt Erkennungsmarke

an mich nehmen konnte. lch konnte nichts entziffern

als »Canada« und »protestantisch«. Offenbar

handelte es sich urn einen kanadischen Flieger, der

Tausende Kilorneter von seiner Heimat einen graGlichen

Tod gefunden hatte. Ostlich der Brücke lagen

neun zum Teil gesprengte englische Tanks, die bei

dem Ansturm der Deutschen nicht mehr über die

von den Granaten zerstôrte Brücke zurückfahren

konnten. Es waren die ersten Tanks, die ich im

Kriege sah. Auf der Rückseite des einen war die

Stahlplatte eingedrückt. ln den Spalt geklemmt befand

sich ein Stück von einem deutschen Koppel

sowie ein Fetzen feldgrauen Tuches. lm lnnern lag

eine abgerissene linke Hand, die ganz vertrocknet

aussah und an deren zweitkleinstem Finger ein Ehenng

steckte. lch konnte mir die Sache nicht and ers

crklaren, als dan deutsche Soldaten beim Übergang

über die Somme hinter den Tanks Deckung gesucht

hatten und von zu kurz einschlagenden deutschen

Granaten getôtet worden waren.

        Wir gingen nun über die Brücke;jenseits dasselbe

Bild wie diesseits: Cranarlôcher und alte Graben.

Etwa 60 tote Englander waren hier zusammengetragen

worden und harrten der Beerdigung. Überall

zerstreut Iand man einzelne toteEnghinder liegen.

Mehrere hatten Coldzähne, die man in dem oft weitgeôffneten

Mund gut sehen konnte. ln grüJ3eren

Granatlôchern fanden wir die Trümrner von 4 englischen

FeIdgeschützen; bei zwei derselben lag die

                                 293

ganze Besatzung tot und teilweise zerrissen daneben.

Bei jedem Geschütz Iag eine Menge Kartuschen

[Geschof3hüIlen], an welchen man sehen konnte, daf3

die Englander von diesel' Feuerstellung viel geschossen

hatten. Die nächste Nacht verbrachten wir wieder

in den Weilbiechbaracken, ohne diesmai von

den Fliegern behelligt zu werden.

        Am foigenden Morgen marschierten wir weiter

der Front zu. Nichts aIs Trürnmer, teilweise fast ganz

verschwundene Dorfer. ln der Nähe des Stadtchens

Harbonnières übernachteten wir in einem aus Pappein

bestehenden Wäldchen. ln der Nähe lagen

einige tote Engländer, deren Uniformen und Gesichter

teilweise ganz zerfressen waren. Neben ihnen

befanden sich 2 Cranatlôcher; der Boden um dieselben

war grün und gelb bespritzt. Also handelte es

sich hier um das von den Deutschen gebrauchte,

soviel gefürchtete Grün- und Gelbkreuzgas.

        [… ] Neben einer zerstorten Fabrik befand sich ein

englisches Munitionslager, wie ich noch keines gesehen

hatte. Tausende und Abertausende von Granaten

aller Kaliber, von den granten bis zu den kleinsten,

standen da. Das Lager war von vielen Erdwällen

kreuz und quel' durchzogen, so dan alles in ungefähr

1 Ar grof3e Vierecke eingeteilt war. So würde

nicht das ganze Lager explodieren, wenn Flieger

Bomben darauf würfen, sondern nur die in einem

Viereck befindlichen Granaten.

        Wir blieben 2 Tage in dem Wäldchen liegen. Den

ersten Abend ging ich in das Städtchen Harbonnièl'es,

um in einer Kantine eine Flasche Wein zu kaufen.

Das Stad tchen war fast ganz unversehrt, jedoch

konnte ich keine Einwohner sehen. AIs ich in das

Wäldchen zurückkehrte, stand eben die Kornpanie

angetreten dort. Der Rittmeister las einen Divisionsbefehl

vor. lch blieb hinter einem Fahrzeug stehen

und horchte. Der Inhalt des Befehls lien mir fast die

Haare zu Berge stehen: Morgen abend soIlte es nach

der Front gehen. Wir sollten uns an einer bestimmten

Stelle eingraben und übermorgen früh, nach

                                    294

furchtbarer deutscher Artillerievorbereitung, die

englischen Stellungen angreifen und durchbrechen

und den Westrand des Dorfes Cachy erreichen.

Mehrere Divisionen sollten den Angriff ausführen,

über 800 deutsche Kanonen sollten die englischen

Stellungen mit Zerstôrungsfeuer belegen. Auch

würden 4 deutsche Tanks eingesetzt werden, um der

Infanterie den Weg zu bahnen. Angreifen gegen

eine zahlreiche, wohlgenährte, mit allen môglichen

und unmoglichen Mordinstrumenten ausgerüstete

Armee, das war allerhand! Jedenfalls war diesel' Befehl

das Todesurteil für viele arme Soldaten. Keiner

wuf3te, was ihm bevorstand, und die Stimmung war,

wie sich wohl jeder ausrnalen kann, eine sehr gedrückte.

AIs die Kompanie weggetreten war, ging

ich hinter dem Wagen VOl'und traf zu meiner nicht

geringen Freude und Überraschung den Joseph

Hoffert aus meinem Heimatdorf. Er war als Offizierstellvertreter

bei einem Landwehrregiment und

gegenwartig in dem einige Kilometer entfernten

Dorf Rosières. Hoffert hatte zufällig einen Soldaten

meines Regiments getroffen. Er sah, dan er auf der

Achselklappe die Nummer 332 trug. Da wir uns oft

schrieben, hatte er meine Adresse, glaubte mein Regiment

jedoch noch in Ruûland. Sofort war er mit

dem Soldaten zu meiner Kompanie gekommen, wo

wir uns nun trafen. Wir erzählten uns von der Heimat

die Neuigkeiten, die jeder von dort über die

Schweiz zugeschickt bekommen hatte. Hoffert war

auch im Besitze einer Photographie, auf welcher die

jungen Burschen und Madchen unseres Heimatdorfes

zu sehen waren. [… ] Herrgott, wie staunte ich!

Sie waren noch Kinder, aIs ich sie zum letztenmal vor

4 Jahren gesehen hatte, und jetzt erwachsene Jünglinge

und jungfrauen. Wir blieben bis tief in die

Nacht zusammen. [… ] Beim Abschied sagte ich, er

solle meine Eltern und meine Schwester von mir

grüf3en, falls ich nicht mehr heimkehren sollte. Mir

war in diesem Moment das Weinen näher aIs das

Lachen. Nach nochmaligem Handedruck schieden

            295

wir . Ich ging zur Kompanie zurük und legte mich

im Wäldchen sehlafen. Ein sehr starker Regen

durchnälite uns, da wir es unterlassen hatten, die

Zelte aufzubauen. Am folgenden Tag war wieder

das schônste Wetter, so daf wir unsere Kleider troeknen

konnten. ln der Hohe spielten sich mehrere

heftige Luftkampfe ab, bei denen 2 Flugzeuge brennend

abstürzten. Diese Flieger sterben einen dreifachen

Heldentod: Zuerst totgesehossen, dann verbrennen

sie, und zum Schlul3 zerschellen sie noch am

Boden.

Von der Front drohnte dauernd, bald stärker,

bald schwàcher, das Artilleriefeuer. Langsam ging

der Tag zur Neige. »Fertigrnachenl- kam der BefehI.

Man packte seine Sachen zusammen. Jeder

hatte denselben, ernsten Gesichtsausdruck. Nun

wurden die MG-Besatzungen neu eingeteilt. leh bekam

als Riehtschützen den Gefreiten Alex Knut aus

Berlin, den Schützen Lang aus Wermelskirehen und

noeh zwei Rheinländer, deren Namen ich vergessen

habe. Zugführer war Feldwebel Bar aus Berlin. AIs

die Sonne sank, ging es los, jedes Fahrzeug 40 m

Abstand yom vorderen. Mehrere englische Flieger

kreisten über der Stral3e. Plôtzlich das bekannte,

pfeifende Sausen! Mit einem Satz lag alles, auber

den Fahrern und Pferden, in den Straûengräben.

Kraek, bum, krack! Die Bomben explodierten neben

der Straûe. ohne Schaden anzurichten. Nul' die

pferde wurden scheu, so daf die Fahrer sie kaum

bemeistern konnten. Nun fing es an zu dunkeln. Da

die Gegend fast ganz eben war, konnten wir vorne

das Blitzen der Schrapnells sehen. Vor uns waren

auch Brande ausgebroehen, die den Himmel blutrot

färbten. Wir kamen nun an Großen Geschützen vorbei,

die auf Eisenbahnwaggons aufmontiert waren

und von Zeit zu Zeit Sehüsse abgaben. Wir näherten

uns nun dem Dorfe Marcelcave, in dem die Brande

ausgebroehen waren. Mit furchtbarem Heulen kam

alle paar Minuten ein schweres englisches Geschoß

in das Dorf geflogen, dasselbe bei der gewaltigen

                                296

Explosion für einen Moment beleuchtend. Vor dem

Dode wurde nun haltgemaeht, die Maschinengewehre

von den Wagen, die mm umkehrten, herun-

Icrgenommen. ln diesem Moment hätte ich weif

Gott was darum gegeben, wenn ich n ur Fahrer gewesen

wäre, um umkchren zu konnen. Nun ging es los

durch die DorfstraHe. Wir gingen gewehrweise, mit

etwa 20 m Abstand. Wie sah das Dorf aus! Viele

Hàuscr waren fast ganz weggeschossen, andere an

der Vorderfront aufgerissen, so daf Bettstellen und

andere Môbel heraushingen. Das Dorf befand sieh

seit etwa einem Monat in der Hand der Deutschen.

Dasauste wieder eine der schweren Granaten heran;

unwillkürlich duckte sich alles. Sie sehlug abseits von

der Srraße ins Dorf. Nach wenigen Minuten kam

wieder cine, welche in ein an der Straûe stehendes

Haus cinschlug und durch die Kraft der Explosion

alles auseinanderwarf. Ein Lothringer, der eben vorlx-

beilaulen wollte, wurde von den Trümmern zusam-

mengeschlagen und zugedeckt. Alles rannte nun

vorwärts, ohne sich um den Soldaten zu kümrnern.

Jeder wollte so schnell wie moglich aus dem Dorfe

und de-rn Bereich der Granaten kommen. Jenseits

dcs Dorfes folgten wir noch etwa 2 km der Stralle.

Auf allen Seiten auf den Feldern fielen einzelne

Granaten, jedoch karn keine in unsere nächste Nähe.

Nun ging  der Mond auf und beleuchtete mit seinem

hellen Schein die Gegend. Hinter einem Erdwall sah

ich mehrere Gefallene liegen, die teilweise die

Hände gespensterhaft in die Höhe streekten. Vorne

an der Front stiegen dauernd Leuchtkugeln in die

Höhe , knallten einzelne Gewehrschüsse, oder man

hörte das Rattern der Maschinengewehre. Die deutsche

Artillerie schickte nur vereinzelte Geschosse

hinûber, die zischend über uns sausten. Die englische:

Artillerie belegte die Gegend bald hier, bald

dort mit il prasselnden Feuerüberfällen. Plôtzlich

setzte auf eine bestimmte Stelle Trommelfeuer ein,

welclws nach 2 bis 3 Minuten ebenso plôtzlich auf–

hörte [ … ] Bald hieß es: »Halt!- Wir mußten uns

                                        297

nun eingrabe n. Ich grub mit rneiner Besatzung

2 etwa 1,20 m tiefe Lecher, dann setzten wir uns

hinein. Die Soldaten hatten von der Arbeit Durst

bekommen und fingen an zu trinken. Jeder hatte

nämlich 2 Feldt1aschen volt Kaffee (1 y~Liter) rnitbekornrnen.

Ich sagte ihnen, nul' sparsarn mit dem

Kaffee urnzugehen, denn morgens gebe es wahrscheinlich

noch rnehr Durst.

        Nach und nach schliefen wir in den feuchten Lüchern

ein; man karn sieh so ziernlieh begraben vor.

Durch das Surren eines englischen Fliegers erwaehte

ich, konnte ihn jedoch trotz des Mondenscheines

nicht sehen. Auf einmal sehwebte eine große, an

einem Fallschirm befestigte Leuchtkugel über uns,

welche unsere Umgebung hell erIeuchtete. »Alles in

den Lôchern bleiben!« Auf einrnal sausten 4 Bomben

herunter. J edenfalls hatte der Flieger die dunklen

Lôcher und die Frisch aufgeworfenen Erdhügel

entdeckt. Nun verlor sich das Surren des Flugzeuges

naeh der englischen Front. Gleich sagte ieh zu meiner

Besatzung: »Achtung, Karneraden, bald kommt

etwas angeflogen!« Ich ermahnte sie noehrnals, treu

zueinander zu halten, und keiner solle den anderen

im Stiehe lassen. lm Falle, daf einer von uns sehwer

verwundet werden sollte, würden wir das MG und

den ganzen Kram liegenJassen und, wenn irgend

moglich, den Verwundeten zurückschaffen, denn

Maschinengewehre gabe es genug; jeder habe aber

nul' einrnal sein Leben zu verlieren. Alle waren mit

dem Vorschlag sofort einverstanden. Wir plauderten

noch weiter. Plôtzlich ein kurzes Sausen, ein

Blitz, ein Knal!, schon regnete es Splitter und Erdschollen.

Eine Granate hatte wenige Meter von uns

zwischen den Lochern eingeschlagen. Gleich kam

die zweite, die dritte, die vier te; ein ununterbrochenes

Sausen und Drôhnen war urn uns herurn. Irnmerfort

polterten uns grüf)ere und kleinere Erdschollen

auf den Stahlhelm oder das Sturrngepack.

Zusammengekauert hockten wir in den Lôchern,

um beijedem in nächster Nähe einschlagenden Geschof

                                    298

zusammenzufahren. Von Zeit zu Zeit kam auch

ein sehr schweres GeschoH angeflogen, welches fast

senkrecht von oben herabfiel und die anderen Granaten

an Sprengkraft weit übertraf. lch hob einen

Moment den Kopfund sah, daf das Feld ringsurn in

dichten Granatrauch gehüllt war. Plotzlich hôrte ich

»G-a-a-s!« rufen. Alle wiederholten den Ruf. Jeder

warf den Stahlhelm zu Boden, riß die Gasrnaske aus

der Büchse und setzte sie vors Gesicht. Nach und nach

hôrte das Feuer fast ganz auf. Wir nahmen die Masken

herunter und erkundigten uns gegenseitig, ob es

Verluste gegeben habe. Drei Iann, die zusarnrnen in

einem Loch lagen, wurden von einem Volltreffer in

Stücke gerissen. Auûerdern waren 2 Mann durch ins

Gesicht geflogene Splitter verwundet; sie rnachten

sich spornstreichs rückwärts aus dem Staub. Unsere

Kornpanie war somit gut davongekommen. Die Lükken

in den MG-Besatzungen wurden sofort von den

Reserveschützen, die sich bei den Zugführern aufhalten

mußten, wieder besetzt.

        Langsam graute nun der Morgen. Ein leichter

Nebel breitete sich aus, so daf man nur etwa 300 bis

400 m weit sehen konnte. Der Rittmeister, der sich in

ziemlicher Aufregung befand, ging nochmals bei

den Besatzungen durch, uns aufmunternd, unsere

Pflicht vol! und ganz zu tun. AIs er eben zu uns

sprach, kamen einige Granaten angesaust, die in der

Nàhe platzten. Der Rittmeister sprang zu uns ins

Loch, um gedeckt zu sein. »Herr Rittmeister«, sagte

ich, »ich werde aus der Sache nicht recht klug. Wo

liegen wir? Wo ist die englische Front? Wer liegt VOl'

uns?« Da nahrn der Rittmeister seine genaue Karte

hervor, auf welcher die Gegend sowie der Plan der

Stellungen aufgezeichnet waren. Unsere Division

war auf 500 rn Breite eingesetzt. VOl' uns lagen die

anderen Regimenter der Division eingegrabcn. U [1-

ser Bataillon befand sich in der letzten Angriffsstaffel.

Wir sollten an einer Waldecke vorbei und dann

direkt in gerader Richtung auf das Dorf Cachy vorgehen.

Nun wußte ich Bescheid.

                                                299

24. APRIL 1918, GROSSKAMPFTAG – DER

ANGRIFF BEI VILLERSBRETONNEUX

 

 

6.30 Uhr morgens. Alles ruhig, nur selten einArtillerieschub.

Diese Ruhe wirkte unheimlich. Es kam

mir vor, aIs ob beide Parteien nochmals Atem und

Kraft schëpfen wollten, um sich dann aufeinanderzusrzen

und zu zerfleischen. Punkt 7 Uhr eroffnete

die deutsche Artillerie das Trommelfeuer. Mit

einem Schlag sehossen die über 800 Geschütze ihre

eisernen Grül3e hinüber und immer in einem fort;

eine voIle Stunde lang donnerten und krachten die

Geschütze. Über uns warein ununterbrochenes Sausen

der Geschosse. Von drüben horte man momentweise

das Bersten der Granaten. Es war fast unmôglich,

sich gegenseitig zu verstandigen. Man mußte

sich die Worte ins Ohr schreien. Die Englander waren

auch nicht faul und überstreuten das ganze Gelande

mit Granaten. Um 8 Uhr sollte der allgemeine

Angriffbeginnen. Langsam und doch viel zu schnell

ckte der Zeiger der Uhr dem verhängnisvollen

Moment zu. 5 Minuten var 8 Uhr hob ich den Kopf

und schaute über das Feld. Alles wie ausgestorben.

Nur 2 bis 3 Kôpfe konnte ich entdecken und die

Einschläge der englischen Granaten. Da hôrte ich

hinter mir das dumpfe Rattern starker Motoren. Es

waren die 4 deutschen Tanks, Sturmwagen genannt.

Es waren die ersten deutschen Tanks, die ich zu

sehen bekam. Sie waren ganz anders aIs die franzosischen

und englischen, ein zugespitztes Stahlhäuschen,

an dem man weder die Triebketten noch sonst

etwas sehen konnte. Die gepanzerten Maschinengewehre

schauten auf allen Seiten heraus. Zwei der

Tanks waren auch mit 2 kleinen Gesctzen ausgestet.

Als Erkennungszeichen trugen sie an beiden

Seiten ein großes Eisernes Kreuz.

    »Fertigmachenl- Mit klopfendem Herzen mach te

sich jeder fertig. »Vorwärts, marsch!« Wir ergriffen

nun unser Cerät, verlieflen das schützende Loch und

gingen vorwärts. Das Artilleriefeuer dauerte mit

                                    300

verrninderter Heftigkeit an; dazwischen hôrte man

nun das Pras seIn des Kleingewehrfeuers. Der Angriffwar

in vollem Gange. Wohin man schaute, wimmelte

alles von deutschen Soldaten, die vorwärtsstrebten.

Infanterie, Maschinengewehre, leichte

und mittlere Minenwerfer, alles bewegte sich vorwärts,

Ein ganzer Schwarm deutscher Flieger flog

niedrig über uns, um mit Bomben, Handgranaten

und MG-Feuer zum Gelingen des Angriffs beizutragen.

AIs wir uns der Waldecke naherten, lagen schon

verschiedene Tore auf dem aufgewühlten Gelände,

        Plotzlich wurden wir mit einem Hagel Granaten

und Minen überscttet, so daß alles in die Granatoder

die von den Mannschaften gegrabenen Lôcher

sprang. Wir duckten uns so tiefwie môglich, um von

den herumschwirrenden Splittern und Erdschollen

nicht getroffen zu werden. »Hier kônnen wir nicht

bleiben!« schrie ieh, indem ich mich erhob, um

schnell Umschau nach einer passenden Deckung zu

halten. lm selben Moment fiel eine Mine in ein etwa

3 m von mir entferntes Loch, in welchern 3 Infanteristen

kauerten, Ihre zerrissenen Korperteile wurden

nach allen Richtungen geschleudert. Ich sagte nun

zu meiner Besatzung: »Ich springe vor. Einer beobachtet

mich. Wenn ich bessere Deckung gefunden

habe, halte ich den Großen Spaten in die Hô he, und

ihr kommt dann so schnell wie môglich zu mir geranntl

Gesagt, getan. Ich fand etwa 50 m weiter ein

großes Granatloch, das gute Deckung bot. lch

sprang hinein und hielt den Spaten hoch. Sofort

kam meine Besatzung hergelaufen. So ging es weiter

von Loch zu Loch. Ais ich eben über einen Kleeacker

sprang, platzte über mir ein Schrapnell; rundum

klatschten die Kugeln in den Boden. Wie durch ein

Wunder blieb ich unversehrt. Ich schaute an meinem

Korper hinunter, denn ich meinte, irgendwo

hluten zu müssen. Anfangs war ich aufgeregt, doch

nun überkam mich trotz der ununterbroehenenExplosionen

eine kalte Ruhe, die sich schon früher in

den gefahrlichsten Momenten bei mir einstellte.

                            301
    Wir kamen nun an dem Waldrand vorbei, von

dem die vordersten deutschen Angriffswellen gegen

die auf dem freiem Felde sich hinziehenden englischen

Stellungen losstürmten. Eine Menge toter Infanteristen

lag am Baden, teilweise durch das Artilleriefeuer

schrecklich zugerichtet. Viele Leichtverwundete

rannten an uns vorbei zurück, ebenso gefangene

Engländer [… ] Die Englander mußten sich

an einem bestimmten Punkte sammeln, wo der

ganze Boden mit khakibraunen Uniformen bedeckt

war. Diese armen Trôpfe muûten dort irn stärksten

Feuer aushalten. Nun waren wir am ersten englischen

Graben angelangt und sprangen hinein. Viele

abgeschossene Infanteriepatronen lagen da, an denen

wir sahen, daf sich die englische Infanterie tapfer

verteidigt hatte. lm Graben lagen zwei tote Engländer

übereinander. Oben auf dem Felde einer, der

in den letzten Zuckungen lag. Etwa 3 m hinter dem

Graben lag wieder einer, der dauernd flehentlich

»Cerman Fri-itz« rief. Ich hob den Kopf und winkte

ihm, doch zu uns zu kriechen. Er deutete nach seinem

cken, und da sah ich, daß er eine Kugel

dorthin erhalten hatte; dadurch waren seine Beine

gelahmt. Gern hatte ich ihn in den Graben geholt,

aber ich wagte nicht hinauszugehen, denn die Engländer

streuten nun dauernd mit Maschinengewehren

das Feld ab, deren Kugeln massenweise über uns

zischten. Wir hakten nun 3 Traggurte zusammen,

und ich warf dem Engländer das eine Ende zu. Er

hielt sich mit den Händen daran fest, und sa zogen

wir ihn langsam zum Grabenrand, um ihn dann auf

die Grabensohle zu legen. Ich gab ihm dann noch

einen Tornister, den ich einem der Gefallenen abschnallte,

unter den Kopf und ließ ihn von meinem

Kaffee trinken. Var Schmerz und BlutverIust wurde

er nun ohnmächtig. Einem der toten Engländer

schaute ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche, das

ich an mich nahm.

Da kam ein MG-Schütze eines anderen Regiments

den Graben entlang und fragte mich: »Herr Unteroffizier

                                    302

darf ich mich ihrem Maschinengewehr anschließen?

« Ich hôrte gleich an der Aussprache, daß

er ein Elsasser war, und meinte: »Wo kommst du

denn her?« Er antwortete: »Ich lag mit meiner Kompanie

in der ersten Angriffsstaffel am Waldrand.

Die Engländer, die uns bemerkt haben müssen,beschossen

nun den Waldrand schrecklich mit kleinen

Geschützen. Meine ganze Besatzung ist im Liegen

gefallen. Iir selbst wurde von Sprengstücken mein

Sturmgepack, die Feldflasche und der Brotbeutel in

Fetzen gerissen.« Damit zeigte er mir die Sachen, die

vollstandig zerfetzt waren. »Hôr, Kamerad «, sagte

ich, »wenn du schlau bist, dann bleibst du hier im

Graben liegen.«

Inzwischen hatte sich der Graben mit vorgehenden

Soldaten ganz angefüllt. Einige Leutnants

machten einen Heidenlarrn, um uns weiter vorzujagen.

Ich kletterte zum Graben heraus, suchte eine

Deckung und winkte wieder mit dem Spaten. Meine

Besatzung kam hergelaufen. Da sah ich, daß einer

meiner Rheinlander einen Schrei ausstieI3, den Munitionskasten

fallen ließ und zu mir gelaufen kam. Er

hatte einen Schuß durch die Schulter erhalten. Sofort

wurde er verbunden, dann rannte er zurück in

den englischen Graben, den wir vorhin verIassen

hatten. Var uns, auf etwa 80 m Breite, legten nun die

Englander ein furchtbares Sperrfeuer. ln einer Linie

schlugen immerwahrend Granaten ein, um das

Vordringen der letzten Angriffsstaffeln unmôglich

zu machen. Und durch mußten wir! Ich bekam nun

von meinem Zugführer einen Reserveschützen hergeschickt,

um die cke des verwundeten Rheinländers

auszufüllen. Ich bemerkte, daß zwischen den

Einschlägen der Granaten in der Sperrfeuerlinie immer

kleine Pausen eintraten, die Zeit, die wohljedes-

IIIal das Laden der Geschütze erforderte. Sofort

hatte ich meinen Plan fertig. Wir gingen bis in die

Nähe der Einschlage vor und legten uns dann hin.

»Hort, Karneraden!« sagte ich. »Wir warten einen

bestimmten Moment ab. Kaum daI3 vor uns wieder

                        303

eine Lage Granaten krepiert ist, springen wir so

schnell wie môglich durch.« [... ] Kaum daß wieder

eine Lage geplatzt war, erhoben wir uns und rannten,

so schnell es unser Gerat gestattete, vorwärts.

Schon sausten wieder die folgenden Granaten

knapp hinter uns hinweg und explodierten wenige

Meter hinter uns. Schleunigst trachteten wir weiter

von der gefahrlichen Zone wegzukammen. Die Leichen

vieler Gefallener lagen auf dem zerrissenen

Celànde der Sperrfeuerzone. Viele derselben wurden

noch im Tode hin- und hergeschleudert und

zerfetzt. Plôtzlich zischten uns eine Unmenge Maschinengewehrkugeln

um die Ohren. Sofort warfen

wir uns zu Baden, lieBen unser Gerat liegen und

krochen auf dem Bauche nach dem nahen Großen

Granatloch, in dem schon etwa 12 bis 15 kauerten.

Wir legten uns platt über die Kôpfe, Schultern und

Rücken der im Loch befindlichen Soldaten, so daf

die untersten fast erstickten. Wir konnten jedoch

nicht weg, denn knapp über unserem Rücken zischten

die MG-Geschosse. Plôtzlich ein Einschlag in

nächster Nähe, Wir wurden fast ganz mit Erde zugedeckt.

Alle waren zu Tode erschrocken. Ich hob den

Kopf und sah, daf sich zwischen dem neuen Granatloch

und unserem nur noch etwa einen halben Meter

breit Erde befand. Ein Meter weiter, und särntliche

18 Mann wären zerfetzt gewesen. Sofort sprang ich

mit meiner Besatzung in das frische Loch; aIs das

Feuer einen Moment etwas nachli, krochen wir zu

unserem Cerät und schleiften es in unser Loch. Das

Maschinengewehr stellten wir vorne hin, um schußfertig

zu sein. Unser Loch füllte sich bald mit Infanteristen.

Auch unser Sanitätsunteroffizier war da.

Da kam ein Infanterist von vorne zuckgelaufen,

der einen Schuf durch eine Zehe erhalten hatte. Da

wir zusammengepreßt wie die Heringe das Loch anfüllten,

sagte der Gefreite Alex Knut, der immer ein

äulierst gutmütiger Mensch war: »Ich will eio wenig

Platz machen«, und kroch nach einem andercn, in

der Nahe befindlichen Granatloch. AIs immer mehr

                                    304

Infanteristen in unser Loch kamen, sagte ich zu einem

meiner Schützen: »Schau mal nach, ob jenes

Loch frei ist.Wir gehen dann hinüber.. Er krach hin

und rief: »Es liegt nur ein Toter drin. Cott, es ist der

Alex!« Sofort kroch ich hinüber. Der arme Alex

hatte einen SchuH über dem linken Auge in die Stirn

erhalten, der in der linken Schlafe den Ausgang

gefunden harre. Alex war noch nicht tot, aberbesinnungslos.

Wir legten ihn zurecht, und ich verband

ihm mit seinem Verbandspackchen den Kopf. Ich

rief ihn beim Namen, er horte und sah nichts mehr,

Nun fing er an zu rocheln. Das Rôcheln wurde immer

schwacher, dann durchlief ein Zittern seinen

Kôrper, er streckte sich und war tot. Wir machten

auf einer Seite des Granatlaches etwas Erde weg,

legten ihn hin und deckten ihn zu. Wie es uns bei

dieser Arbeit zurriute war, läût sich leicht denken.

lch nahm dann sein Seitengewehr, steckte es in

Form eines Kreuzes durch die Lederscheide und

steckte es auf sein Grab.

Das Feuer der Gesctze, Maschinengewehre und

so weiter wütete seit dem Morgen in gleicher Heftigkeit.

Während wir den arrnen Alex begruben,

glaubte ich in dem Cetose den scharfen Knall einer

Pistole in nächster Nahe zu horen. AIs ich in das

Granatloch, in welchern das MG stand, zurückkroch,

sah ich, daß einer der Rheinländer einen Handschuß

erhalten hatte. Eben war einer der Schützen dabei,

die Hand zu verbinden. Der Verwundete sagte, er

habe den Dampfablaßschlauch vorn amMaschinengewehrmantel

befestigen wollen und habe in diesem

Moment den Schuf erhalten. lch glaubte es ihm

nicht, denn sein scheuer Blick sagte mir, daf er sich

mit der Pistole selbst durch die Hand geschossen

hatte, um zurück ins Lazarett zu kommen. Er

schnallte Sturmgepack und Kappelzeug ab und lief,

so schnell er konnte, zurück. Er hatte ganz recht

gehabt, getraute es mir aber doch nicht zuzugestehen.

Nun hatte ich 2 Verwundete und einen Toten

an meinem Maschinengewehr. Es wurde mir ganz

                                    305

unheimlich. Infolge der ungeheuren Verluste war

der Angriff zum Stehen gekommen. Alles hatte sich

in die unzähligen Cranatlocher verkrochen. Unaufhôrlich

donnerten die Granaten hernieder. Das

ganze Feld war dauernd in sehwarzen Granatrauch

gehüllt. Auf einmalliefen Offiziere und Ordounanzen

bei den besetzten Lôchern herum und schricn:

»Divisionsbefehl: Der Angriff muf weiter vorgetragen

werden!« Wir waren aIle entsetzt. Sehon sprangen

einzelne Gruppen vor, die aus den Lôchern

getrieben wurden. Unser Rittmeister erhob sich in

unserer Nähe aus einem Loch und schrie den Befehl,

vorzugehen. Was blieb uns anderes übrig! Wir

hatten wieder einen Reservesehützen erhalten. Also

ging ich mit meinen 4 Mann aueh vor. Furehtbar

setzte das englisehe Feuer ein, so daf wir gezwungen

waren, uns au fs neue in Cranatlôchern zu verkriechen.

Ein Gefreiter von der Infanterie, den ieh seit

Riga gut kannte, kniete im Vorgehen neben meinem

Loche nieder, um sich eine Zigarette anzuzünden.

Plôtzlich stürzte er kopfüber zu Boden und rührte

sich nieht mehr. Wir bauten unser Masehinengewehr

mit dem Spaten schu13fertig ein, so daßnur der

Lauf über die Erde hinwegsah. Dann duckten wir

uns im Loch nieder. Da erblickte ich 2 Infanteristen,

die mit angsterfüIlten Gesichtern, 50 schnell sie

konnten, zurückrannten. Ich erhob mich und sah,

daf das ganze Gelände voIl von zurücklaufenden

Infanteristen überstreut war. leh schrie: »Was ist

denn los?«  »Tanks! bekam ich zur Antwort. Der

Bataillonsführer, Hauptmann Berthold, suehte die

Infanteristen mit erhobener Pistole zum Stellungnehmen

zu zwingen, was einige befolgten; andere

rannten weiter. Viele der Fliehenden wurden von

dem rasenden fG-Feuer der Tanks niedergernàht.

Ich sah nach vorne und sah mehrere englisehe

Tanks, die, immer feuernd, gegen uns kamen. lm

Unterricht hatten wir immer gelernt, daf 2 Kugeln

Stahlkernmunition an dieselbe Stelle eines Tanks

dessen Eisenwand durchschlagen würden. Der englische

                                    306

Tank fuhr in gerader Richtung auf unser

Loch zu, immerfort mit dem Maschinengewehr

schießend. »Kameraden.jetzt gilt's! Stahlkernmunition!

« sehrie ieh. Sofort reiehte mir einer der

Schützen den Gurt, ich Lud, zielte genau auf die

Mitte der Vorderseite des Tanks und Iieli den Gurt,

250 Schuß, durehlaufen. Der tank fuhr weiter, ich

schof noeh drei Gurte Stahlkernmunition, also

1000 Schuß auf dieselbe Stelle. Alles nützte nichts.

leh rif mein Glas ans Auge und sah, daß der Tank

an der besehossenen Stelle ganz weif aussah. Aber

anhaben konnten wir ihm nichts. »Volle Deckung!«

schrie ich. So kauerten wir aIle im Loch, den Moment

abwartend, bis der Tank kommen und uns

totschießen würde. Da hôrte ich hinter uns mehrere

Abschüsse und das Rattern eines Motors. Ich hob

den Kopf und sah einen deutsehen Tank daherkommen,

der immerfort mit seinen kleinen Kanonen

Schüsse abgab. Da sehaute ich naeh vorne und

sah, daf der englische Tank mit mehreren klaffenden

Lôchern unbeweglich auf dem Felde stand. Wir

waren gerettet! Der deutsche Tank brachte noch

zwei englische zum Stehen, dann fuhr er in die englischen

Linien und jagte etwa 200 englische Infanteristen

mit Maschinengewehrfeuer aus den Lôchern.

Den Engländern blieb niehts anderes übrig, aIs mit

erhobenen Händen zu uns überzulaufen. Drei

Mann, die an uns vorüberliefen, winkte ich in unser

Loch. Sie keuchten yom Laufen und zitterten vor

Todesangst. Sie woUten uns ihr Geld geben, was wir

natürlich nicht annahmen. Der deutsche Tank

wurde nun von der englisehen Artillerie derart

besehossen, daf er fast in den Rauehwolken der

Granaten verschwand und plôtzlich stehenblieb.

aeh einigen Minuten fing er wieder an zu waekeln

und fuhr an uns vorüber zurück. Die englischen

Flieger flogen mit unglaublicher Kühnheit etwa in

Haushohe über uns und warfen Bomben und

Handgranaten naeh den von uns besetzten Lôchern.

Ich sah 4 Flieger abstürzen. Einer fiel nur

                            307

etwa 40 m neben uns zu Boden, sich mit dem Motor

in die Erde bohrend, sa daß das Schwanzende in die

Hôhe ragte. Der Flieger, der tot zu sein schien und

angeschnallt sein m uûte, hing mit dem Oberkorper

aus dem Sitzloch heraus. Gleich nach dem Absturz

fing das Flugzeug Feuer und verbrannte bis auf das

Eisengerippe.

    Der Reserveschütze Martz, ein Unterelsässer,

beobachtete eben nach vorne, als eine Gasgranate

direkt vor uns einschlug und das dichtgeballte Gas

ihn im selben Moment umgab. Ein Atemzug, und

schon stürzte er betäubt zwischen uns nieder. lch

selbst fühlte beim Atmen das Gas in die Nase bis

zum Halse eindringen und stieß es dann mit einem

festen Atemstof wieder hinaus, hielt den Atem an

und riß die Gasmaske aus der Büchse, um sie blitzschnell

aufzusetzen. Nun fühlte ich, daß doch

etwas Gas in die Brust gedrungen sein mußte,

denn es fing mich an zu krabbeln, und ich bekam

Brechreiz. ln Nase und Rachen brannte es derart,

daß mir die Augen überliefen. Auch mußte ich husten

und hatte Mühe, in der Maske Luft zu bekommen.

Dies alles war in wenigen Sekunden geschehen.

Sofort riß ich die Gasmaske des betaubten

Martz hervor und setzte sie ihm auf. Dann krach

ich auf allen vieren zum Zugführer, da ich wufite,

daß bei ihm der Sanitätsunteroffizier war mit dem

Selbstretter (Sauerstoffapparat). Sofort kam er mir

nachgekrochen, wir setzten dann dem armen

Martz den Selbstretter auf, und nach einer Viertelstunde

kam er wieder zu sich, war aber wie gelähmt.

    Nun kam unser Rittmeister zu uns ins Loch gekrochen.

»Na, Richert«, sagte er, »noch gesund?«  »Ich

selbst wohl«, antwortete ich, »aber Alex Knut tot,

2 Mann verwundet. Besatzung Herrmann ist's viel

schlimmer ergangen; ein Volltreffer tôtete aIle

6 Mann.. Der Rittmeister war sehr aufgeregt, denn

es war das ers te große Treffen, das der mitmachte.

Früher, ehe el' zu unserer Kompanie kam, war er

                            308

beim Generalstab und sollte nächstens wieder dahin

kommen. Mir fielen nun die englischen Zigaretten

ein, die ich in der Tasche hatte. lch bot dem Rittmeister

zuerst an, dann den Soldaten. Wie fein so eine

englische Zigarette schmeckte im Vergleich zu den

deutschen, die nichts aIs hundsmiserabler Tabakersatz,

hauprsachlich Buchenlaub, enthielten! Nach

etwa einer halben Stunde sagte der Rittmeister: »Richert,

geben Sie mir noch eine englische Zigarette,

ich will dann zum Reservezug.« lch gab ihm gleich

zwei. Er kletterte aus dem Loche und lief rückwärts.

Es war so um 4 Uhr nachmittags. Das ArtiIleriefeuer

hatte ziemlich nachgelassen, doch platzten immer

noch Cranaten auf dem Felde. Wir atmeten nun

erleichtert auf. »Wenn wir nur aus diesem Schlamassel

heraus warenl war der allgemeine Wunsch.

Meine Soldaten hatten aIle den Kaffee leer getrunken

und lechzten vor Durst, während ich kaum eine

halbe Flasche getrunken hatte. Auf ihre Bitte gab ich

jedem einen Schluck.

    Langsam wurde es Abend, und bald bedeckte tiefe

Dunkelheit dieses Elend. Was würde die Nacht bringen?

Ich selbst rechnete mit einem Gegenangriff der

Englander. Ich hatte nul' den einen Wunsch, inGefangenschaft

zu kommen. Dort wär' man doch wenigstens

seines Lebens sicher. [ ] Die Englander

unterhielten seit Anbruch der Dunkelheit ein

furchtbares Sperrfeuer etwa 400 m hinter uns, um es

den Verstärkungen unrnôglich zu machen, vorzukommen,

und um überhauptjede Rückwàrtsverbindung

zu verhindern. Da ich keinen meiner Schützen

zum Essenholen bestimmen woUte, fragte ich, wer

freiwillig gehen wollte. Alles still. Ich sagte: »Cut, wir

essen unsere eiserne Portion] Auch hatte jeder ein

Stück Kommißbrot im BrotbeuteJ. Wenn wir nur

mehr zum Trinken gehabt hatten. Also blieben aile

im Loche.

    [… ] Die wenigen Infanteristen, die noch vor uns

zerstreut in den Cranatlôchern lagen, mußten nun

zurückkommen und in der Linie, in der wir lagen,

                                        309

Stellung nehmen. So bildete sich wieder eine feste

Front. Das andere Maschinengewehr des Zuges

muJ3te sich 3m neben uns einbauen. [… ] Irnmerfort

sausten die englischen Granaten heulend über

uns, um hauptsächlich in der Sperrfeuerlinie zu

platzen. Ich schlief mm im Loch ein. Ein Mann

mulite dauernd wachen und hie und da nach vorne

beobachten. Plôtzlich wurde ich von einem prasselnden

Granatenhagel aufgeschreckt. Aha, dachte

ich, Vorbereitungsfeuer für den Gegenangriff. Wir

hatten noch ziemlich Glück, denn bei uns platzten

nur wenige Granaten. Sie zischten knapp über

uns hinweg, um etwas weiter hinten einzuschlagen.

Tz-tz-tz, zischten eine Unmenge MG-Geschosse

über uns, so daf keiner von uns wagte, den Kopf

zum Beobachten zu heben. AIs das MG-Feuer nachließ,

schoß ich eine Leuchtkugel ab und beobachtete

das vor mir liegende Celände. lch glaubte, daß sich

an mehreren Stellen etwas bewegte, und schoß noch

einige Leuchtkugeln ab. lm selben Moment horte

ich schon links und rechts rufen: »Sie kommen! Sie

kommen! Alarrnl- Und wirklich. Nun wimmelte alles

vor uns von Engländern. Die ersten waren vielleicht

noch 150m entfernt. Angstlich gebückt

sprangen sie von Loch zu Loch. Was sollte ich machen?

Schießen? Wenn ich genau einrichtete, würden

mindestens 30, 40, 50 dieser arrnen Menschen

getroffen. lch faßte rasch den EntschluJ3, nicht zu

schießen und mich bei ihrem Herankommen zu ergeben.

lch sprang ans Gewehr, lud einen Gurt,

drückte auf die Deckfeder, nahm mit der linken

Hand eine Prise Erde und streute sie unauffällig in

den Mechanismus des Maschinengewehrs; dann

drückte ich los. Die im Lauf befindliche Patrone

ging los, dann war Schluß. Die Gleitvorrichtung war

durch das bißchen Erde an den Bewegungen gehindert.

»Was machen wir nun?« fragten angstlich die

Schützen. »Hände hoch, wenn sie kommenl- sagte

ich. »Pistolen raus!« kommandierte ic:h nun. »Irn

Falle, daß sie uns massakrieren wollen, verteidigen

                                        310

wir uns mit den Pistolen, sa lange cs geht.« Dann

schnaUten wir das Koppelzeug ab und warfen es

hinter uns ins Loch. Da kam der Feldwebel Bar gekrochen:

»Richert, Nicki, Mensch, warurn schießt

du nicht>. – »Hernmung«, antwortete ich. »Wir haben

abgeschnallt.« – »Es wird das beste sein«,

meinte der Feldwebel, schnallte ebenfalls ab und

warf sein Koppelzeug auf das unsere. Von 100

Leuchtkugeln war die Nacht nun taghell erleuchtet.

Viele rote Leuchtkugeln, die das Sperrfeuer der

deutschen Artillerie anforderten, stiegen nun kerzengerade

in die Hôhe. Viele leichte und schwere

Maschinengewehre und lnfanteristen hatten das

Verteidigungsfeuer aufgenommen. Nun sausten

die deutschen Granaten massenhaft über uns und

schlugen bei den Engländern ein. Die Englander,

die groJ3e Verluste erlitten, verkrochen sich nun in

den Cranatlôchern, und wir mußten unser Koppel

wieder umschnaUen. ln diesem Moment hatte ich

eine Wut gegen die Engländer, weil sie uns nicht

geholt hatten. Trotz der Dunkelheit reinigte ich

nun das MG, damit niemand sehen konnte, daf sich

etwas Erde darin befand. Dann lud ich und ließ

einen Gurt durchrattern. Nachher schliefen wir bis

gegen Morgen im feuchten Loche.

 

 

                25. APRIL 1918

 

Bei Tagesanbruch fingen die Engländer wieder wie

toll zu schießen an, was etwa eine Stunde anhielt.

Nachher war alles ziemlich ruhig. Ein wunderschôner

Frühlingstag brach an, hell und klar schien die

Sonne hernieder. Welch ein Gegensatz: Die Natur

erwachte zu neuem Leben, und diese arme, betôrte

Menschheit schlachtete sich gegenseitig· ab. LI nd alle

wollten doch 50 gerne leben! Aber dem Starrsinn

einiger Großer mußten sich Hunderttausende fügen.

Da war nicht daran zu rütteln. Verweigert man

                                    311

den Gehorsam, so wird man einfach erschossen. Gehorcht

man, kann man auch erschossen werden, hat

aber au ch Aussicht durchzukommen. Also gehorcht

man, werm auch ganz mit Widerwillen.

    Gegen 10 Uhr morgens kam ein Mann der Kornpanie

angekrochen und meldete, daf der Rittmeister

soeben schwer verwundet aufgefunden worden

sei. Er sei seit gestern abend nach etwa 4 Uhr allein

und verlassen in dem Schilf eines Wasserabzuggrabens

gelegen. Wer sich freiwillig melde, ihn zurückzubringen,

würde um einen Grad berdert und

erhalte das Eiserne Kreuz. Von meinem Maschinengewehr

meldete sich der Schütze Lang, vom anderen

Maschinengewehr des Zuges Gefreiter Beck. »Wenn

ich heil zurückkornme«, sagte Lang, »kornme ich

jedenfalls nicht mehr nach vor ne l  Selbstverständlichl

sagte ich. Also krochen die beiden zurück.

Der Rittmeister mulite gestern abend verwundet

worden sein, aIs el' sich von uns nach dem Reservezug

begeben wollte.

    Gegen Mittag stellte sich ein qualender Durst ein.

Meinen Kaffee hatte ich zum Teil getrunken, zum

Teil den Schützen verteilt. Da sahen wir nicht weit

von uns ein mach tiges Granatloch. Ein Schütze

krach mit dem Kochgeschirr hin und fand, wie er

richtig vermutet hatte, in dem tiefen Loch etwas

Wasser, das sich dort zusammengezogen hatte. Er

verschwand im Loch, um gleich wieder mit dem

Kochgeschirr zu erscheinen und zurückzukriechen.

Aber was für eine Brühe brachte er da! Den reinen

Lehmbrei. Wir legten nun ein Taschentuch über ein

anderes Kochgeschirr, um so das Wasser durchsikkern

zu lassen und etwas zu reinigen. Dann schlürfte

jeder einige Schlucke dieser ekelhaften Brühe.

    lch betrachtete nun, durch das eingebaute MG

gedeckt, die Gegend. Rundum aufgerissene Erde

und Cranatlocher. Dazwischen hingestreckte Leichen

der Gefallenen. Vor uns das verbrannte Flugzeug,

etwas weiter der zerschossene englische Tank

und in etwa 1 km Entfernung das zerschossene

                                312

Dorf Cachy, das wir gestern erobern und dessen

Westrand, also den jenseitigen, wir hatten besetzen

sallen. Also war unser Angriff mißlungen, obwohl

wir etwa 800 m in die englischen Stellungen eingedrungen

waren und, wie es hieß, 2000 Gefangene

gemacht hatten. lch war nun überzeugt, daß an der

englisch-franzosisch-amerikanischen Front nicht

mehr viel zu rütteln war. Halbrechts, etwa 2 km vor

uns, lag das Stàdtcheri Villers-Bretonneux, das nur

noch einen Ruinenhaufen bildete. Ich schaute nun

nach allen Richtungen mit dem Glas nach der englischen

Front hinüber. Nicht das geringste Lebenszeichen

konnte ich entdecken aIs die in die Hôhe

steigenden Rauchwolken der deutschen Granaten.

Über uns spielte sich ein heftiger Luftkampf ab, an

dem über 30 Flieger teilnahmen. Drei derselben

stürzten ab, zwei brennend, wahrend der dritte

pfeilschnell niederstürzte.

    Da wurden wir von der Besatzung des anderen

Maschinengewehrs angerufen, ob wir denn nichts

mehr zu trinken hatten. Sie würden bald VOl' Durst

vergehen. Da antwortete ein Mann meiner Besatzung,

d in dem Großen Granatloch sich wohl wieder

etwas Wasserangesammelt haben würde; wir

hatten vorhin schon davon geholt. Schütze Schroback,

ein frecher Berliner Junge, kroch nun hin und

verschwand im Loch. Bald kam er wieder herauf,

mit gefülltem Kochgeschirr, und wollte mit ein paar

Sprüngen das Loch seiner Besatzung erreichen. lm

selben Moment sauste eine Granate knapp über unsere

Kôpfe und zersprang kaum 2 m hinter unserem

Loch. Erschrocken duckten wir uns, so tief wir konnten.

Dann hob ich den Kopf und sah, daß Schroback

bewegungslos etwa 2 m jenseits des neuen Granatloches

lag. Da ich nicht wußte, ob er tot oder bloß

betäubt war, krach ich hin, um nachzusehen. Hier

war keine Hilfe mehr mëglich, Schroback hatte mehrere

Granatsplitter in den Bauch erhalten, so daß die

Gedärrne hervorsahen. Schroback war tot.

    Ganz unerwartet legte unsere Artillerie ein Sperr-

                                    313

feuer zwischen die beiden Linien, so daf wir durch

die massenweisen Cranateinschläge, den Rauch und

umherfliegende Erdschollen wie durch eine Mauer

von den Engläridern getrennt waren. Nach und

nach flaute das Feuer wieder ab. Etwa um 4 Uhr

nachmittags schlug plotzlich eine zu kurz gehende

deutsche Granate kaum 3 m neben uns ein. Gleich

kam eine zweite, die direkt neben dem Loch der

anderen Besatzung einschlug und die Leute mit

Erde fast zudeckte. Wie uns das aufregte! Mehr, ais

werm 20 englische Geschosse eingeschlagen hatten.

Gleich kam noch eine und wieder eine. »Schnallt

euer Sturmgepäck auf den Rücken, nehmt Gasmaske

und Stahlhelm! Wir kriechen zurück! Denn

von den eigenen Granaten will ich nicht totgeschossen

werden!« sagte ich zu meinen Leuten. Dann

krochen wir auf dem Bauche rückwärts, Aber immer

mehr Granaten kamen, so daf wir gezwungen waren,

etwa 200 m weit zurückzukriechen. Nun hockten

wir in einem Granatloch, hrend unser Maschinengewehr

vorne stand. Inzwischen waren särntliche

vorne liegenden Soldaten zurückgekrochen,

ohne daf die Engländer etwas gemerkt hatten. Mir

war's doch nicht recht, daB wir ohne unserMaschinengewehr

zurückgekrochen waren. Ich sagte zu

meinem Gefreiten Fritz Keßler, der in der Nacht

zum Maschinengewehr gekommen war: »Kornmst

du mit, Fritz, das Maschinengewehr holen?« 

»Warurn nicht! antwortete er. "Wir hingen uns einen

Traggurt um und wollten eben das Loch verlassen,

ais der Bataillonsadjutant Leutnant Knapp vorbeikroch

und fragte, wohin wir denn eigentlich wollten.

Ich sagte ihm, daf wir unser Maschinengewehr

holen wollten, das wir infolge der Beschießung

durch die eigene Artillerie vorne hatten stehen lassen.

Er ermahnte uns, vorsichtig zu sein. Dann

rutschten wir, alle auf dem Bauche, vorwärts. Es war

schwer, über den aufgewühlten Boden zu kriechen.

Auch mußte wir vielen Leichen gefallener Soldaten

ausweichen. Endlich erreichten wir unser Gerat. Zuerst

                                    314

ruhten wir in dem Loche aus, dann stellten wir

das Maschinengewehr rückrts auf die Erde. Ich

befestigte 2 Munitionskästen auf dem Schlitten,

dann hakten wir die Traggurte ein und schleiften

die Last, immer kriechend, hinter uns her. Müde

und schweißtriefend kamen wir endlich bei den zurückgebliebenen

Leuten an. Leutnant Knapp kroch

eben wieder zurück, an unserern Loch vorbei und

sah, daf wir unser Maschinengewehr wieder im Besitze

hatten. Er fragte nach meinem Namen und

machte dann an dessen Sei te [in seinem Dienstbuch]

ein Kreuzzeichen. Damit meinte er, ich bekäme das

Eiserne Kreuz 1. Klasse.

Langsam wurde es Abend, dann dunkle Nacht.

Ich hoffte, in diesel' Nacht von anderen Truppen

abgelost zu werden, Doch Stunde um Stunde verging,

wir warteten vergebens. Die Englander schossen

wieder ein gewaltiges Sperrfeuer hinter uns. Sie

schienen keinen Munitionsmangel zu haben. Nun

fing es langsam, dann irnmer starker zu regnen an.

Den Mantel anzuziehen hielt ich nicht r angebracht,

denn im Falle, daß wir fliehen müûten, re

der Mantel hinderlich gewesen. Nach und nach wurden

wir alle bis auf die Haut durchnäôt, und im

Loche bildete sich eine klebrige Brühe. Wir fingen

an zu zittern vor Nasse, aber herumzulaufen, um uns

zu erwärrnen, getrauten wir uns nicht, da immer

einzelne Granaten einschlugen und die EngIander

mit dem Maschinengewehr das Fe!d oft abstreuten.

Endlich schlief ich ein. Von der Besatzung mußte

immer ein Mann wach bleiben. Auf einmal weckte

mich der wachhabende Soldat und sagte: »Die Ablôsung

ist dal Sofort stand ich auf und dachte: Gott sei

Dank! Aber noch graute mir vor dem Rückweg über

das offene Celande, da wir das weiter zurückliegende

englische Granatfeuer passieren mußten. Die

Ablosung trieb uns zur Eile an, denn sie wollten sich

in das schützende Loch begeben. Ich gab nun den

Befehl: »Munitionskasten, Gewehrschlitten bleiben

hier. Nur das Gewehr wird mitgenommen und ab-

                                    315

wechselnd getragen!« Darüber waren meine Soldaten

sehr erfreu t, da sie die schweren Sachen nicht zu

schleppen brauchten. Da es ziemlich finster war und

immer noch regnete, stolperte man oft über Tote

oder stürzte in die Cranatlôcher. Durch Zurufe hielten

wir uns zusammen. Überall huschten Gestalten

zurück, denn die Trümmer der ganzen Division

wurden abgelôst. Da horte ich ziemlich weil von uns

eine jammernde Stimme: »Karneraden, um Gottes

willen, nehmt mich mit! lch habe eine Frau und drei

kleine Kinder zu Hause.« Der arme Verwundete,

der hilflos dalag, hatte wohl die zurücklaufenden

Soldaten bemerkt. Ich sagte zu meiner Besatzung:

»Diesen nehmen wir mitl AIs ich nichts mehr horte,

riefich: >;Woliegt denn der Verwundete>  »Hier lkam

die Antwort. Ich bückte mich mit einem Soldaten,

um den armen Verwundeten aufzuheben. lm

selben Moment schlugen 4 englische große Granaten

dire kt neben uns ein, so daf wir durch den Luftdruck

und den Schrecken fast zu Boden geflogen

wären, Wir liefen durch die herniederprasselnden

ErdschoIlen so schneIl wie moglich, um aus dem

Bereich der gefahrdeten SteIle zu kommen. Den

armen Verwundeten hatten wir liegenlassen. Wir

waren auseinandergesprengt, nur ein Mann war

noch bei mir. Durch Zurufe fanden wir uns wieder

vollzählig. Da hôrte ich seitwärts rufen: »2. MGKompanie,

lnfanterieregiment 332, hier sarnmelnl-

Es war die Stimme des Leutnants Strohmayer. Wir

gingen hin. Der Leutnant, der moralisch ganz kaputtgegangen

war, kommandierte nun, ais sich die

Reste der Kompanie gesammelt hatten: »In dieser

Richtung zurückgehen!«, und marschierte paraIlel

zur Front statt zurück. »Herr Leutnantl sagte ich.

»Wir müssen nach dieser Richtung zurück. Der

Brand, den wir hier sehen, ist im Dorf Marcelcave,

und dahin müssen wir l Der Leutnant, der sich fast

nicht mehr zu helfen wußte, sagte: »Ach, machen Sie

doch, was Sie wollen l- lm nächsten Augenblick lag

alles am Baden, 4 sehr schwere Granaten hatten in

                                316

nachster Nähe eingeschlagen. »Niernand verwundet?

« rief ich. »Nein «, kam es zurück. »Die Kompanie

hôrt auf das Kommando von Unteroffizier Richert!

« schrie ich nun. »Alles geht sa schnell wie

moglich in Richtung des Brandes zurückl Verbindung

wird durch Zurufen aufrechterhaltenl [... ]

Leutnant Strohmayer tappte wie ein Betrunkener

hinter mir her. Obwohl noch oft Granaten in unserer

Nahe einschlugen, kamen wir aIle heil zurück.

Auf dem yom Regen aufgeweichten Felde war nur

ein langsames Fortkommen moglich, denn der klebrige

Dreck hing sich sehr an die Stiefel.

Endlich erreichten wir die Straße in Richtung

Marcelcave, der wir nun folgten. »Fritz, Fritzl horte

ich im Straßengraben rufen, und noch einige Worter,

die ich nicht verstand. Sofort dachte ich, daß hier

ein verwundeter EngIander liegen müsse, sagte

»Tommy und ging in den Graben. Richtig, da lag

ein Englander mit verbundenem Bein; er hatte sich

anscheinend bis hierher geschleppt und konnte nun,

infolge Ermüdung und Schwäche, nicht mehr weiter.

Ich gab einem meiner Soldaten mein Sturmgepack

zu tragen, deutete dann dem Engländer, auf

meinen Rücken zu kriechen, und kniete VOl'ihm

nieder. Der Tommy verstand mich sofort, krach auf

meinen Rücken, hielt sich mit den Armen um meinen

Hals, während ich mit meinen Armen seine

Knie seitwarts faûte. Der Engländer war nur ein

ganz schmachtiger Bursche, der meiner Ansicht

nach kaum 100 pfund wog. Trotzdem wurde mir

bald heiß untel' meiner Last. Da hôrte ich hinter uns

Wagengerassel. AIs der Wagen nahe bei uns war,

legte ich den Englander auf den Boden, falite das

Pferd am Zügel und hielt den Wagen an. »Was ist

denn los>. fragten die beiden auf dem Bock sitzenden

Sanitàter. »Ich habe hier einen Verwundeten,

den ihr mitnehmen kônnt.. Sie sagten, sie hatten

keinen Platz mehr, der Wagen sei bereits mit

Schwerverwundeten überfüllt. lch antwortete, daf

der Verwundete nul' einen Beinschuß habe und si-

                                317

cher noch vorne auf dem Bock Platz habe. Nun

nahm ich den Englander und hob ihn auf den Wagen,

wo er von den Sanitätern in Empfang genommen

wurde. Erst jetzt sahen sie, daf es sich um einen

Engländer hande!te. Ich lief nun der Kompanie

nach, die ich bald wieder eingeholt hatte. Ais wir uns

Marcelcave näherten, flogen vie!e englische Granaten

über uns, die teils im Dorf, teils am Dorfrand

platzten. »2. MG-Kompanie, halt!« schrie ich. »Wir

müssen das Dorf nach rechts umgehen, um dem

Granatfeuer auszuweichen! « Nun ging es wieder

über das dreckige, nasse Ackerfeld. Nun konnte

man doch wenigstens sehen, wo man hintrat, denn

langsam grau te der Morgen. Wir näherten uns einem

zerschossenen Wald. Plôtzlich horten wir vor

uns einen so starken Knall, daf sich fast alle unwillkürlich

zu Boden warfen. Eine schwere deutsche

Batterie, die gedeckt im Wald stand, hatte eben eine

Salve abgeschossen. [… JJenseits des Dorfes erreichten

wir die weiter zurückführende Stralie, die noch

immer im Feuerbereich der englischen Artillerie lag.

Wir schritten schneIl aus, um endlich in Sicherheit zu

kommen, und passierten noch ein Dorf, in dem die

meisten Hauser unversehrt waren. Dann kamen wir

durch ein Waldstück, darin kampierten derKompaniefeldwebel,

Fahrer und Pferde der Kompanie. Sofort

empfingen wir heißen Kaffee, Essen, Schnaps

und Rauchmaterial. Aber wie sahen wir aus! Drekkig,

naf von oben bis unten. Nun sagte der Feldwebel:

»Ihr scheint was durchgemacht zu haben! Wie

ich schon gehôrt habe, ist der Rittmeister an seinen

schweren Verwundungen gestorben.« ]eder Gewehrführer

mußte nun die Verluste in seiner Besatzung

angeben. Wir breiteten dann unsere Zelte an

einer von der Sonne beschienenen Stelle aus, zogen

die nassen Rôcke aus, schlüpften in die Mäntel, legten

uns hin und waren bald eingeschlafen. Denn die

letzten 48 Stunden hatten aIle nur wenig geschlafen

und waren infolge der Aufregung total erschopft.

Am Nachmittag schlugen plotzlich 2 sehr schwere

                                    318

englische Granaten vor uns am Waldrand ein. Herrgott!

Waren wir denn hier noch nicht in Sicherheit?

Gleich daraufkam es wieder angeheult. Diesmal krepierten

die Granaten nur etwa 100m vor uns. »]ungens

«, sagte ich zu meiner Besatzung, »nehrnt Stahlhelm

und Gasmaske, wir sind hier genau in der

Schußrichtung. Wir wellen nach rechts rüberlaufen.

« Safort liefen wir weg. Eine der nächsten Granaten

schlug in die Fahrzeuge ein, ein MG-Wagen

wurde vollig zertrümmert. Die folgenden 2 Granaten

flogen über den Wald hinweg und tôteten

2 pferde und einen Artilleristen, der die Pferde auf

der Weide hütete. Lange kam kein Schuß mehr, und

wir gingen zur Kompanie zurück. Man hatte jedoch

standig ein unsicheres Gefühl, denn jeden Augenblick

konnten neue Granaten heranfliegen. Die beiden

getoteten pferde wurden von den Soldaten abgehautet,

das Fleisch abgeschnitten und Gehacktes

gemacht, das mit Salz vermengt vertilgt wurde.

Gegen Abend sah ich den Bataillonsme1der durch

den Wald nach der Kompanie kommen. Da er mich

gut kannte, winkte er mir und sagte: »Was meinst

du: Heute abend müßt ihr die ReservesteIlung vorne

beziehen.«  »Was?« sagte ich. »Wie kommen doch

erst heut' morgen zurück!«  »Sicher«, sagte der

Melder. »Ich habe hier den Befehl.. Wie mir davor

graute, wieder nach vorne zu gehen, kann ich keinem

Menschen beschreiben. Die Reservestellungen

waren am meisten dem Granatfeuer ausgesetzt. Und

vorne donnerten unaufhôrlich die Geschütze. Ich

ging zum Feldwebel Bar und zum Unteroffizier Peters

und erzählte ihnen, was uns bevorstand. Beide

waren starr vor Schrecken. Wir sannen auf ein Mitte!,

uns drücken zu kônnen. Davonlaufen konnte

man doch nicht, und mitgehen wollten wir nicht. Da

sah ich zufallig neben der Feldküche einen Eimer,

der halbvol! von miserablem Schnaps dastand. Sofort

sagte ich zu den beiden: »Ich weif einen Ausweg!

« holte mein Kochgeschirr und tauchte dasselbe

unauffallig in den Schnapseimer. Ich hatte fast

                                319

2 Liter im Kochgeschirr. Wir gingen nun ins Gebüsch,

wo wir uns mit Widerwillen derart betranken,

daf wir bald nicht mehr stehen und gehen konnten.

Wir torkelten wieder zur Kompanie, wo wir uns auf

den Boden legten. Nun mußte die Kompanie antreten.

Der Feldwebel verlas den Befehl. AIs wir drei

nicht aufstandcn, mcrkte der Feldwebel gleich, was

los war, sagte aber nicht viel. Der Leutnant Strohrnayer

jedoch, der nun die Führung der Kornpanie

übernommen hatte, wurde nicht fertig, unsauszuschimpfen.

Da erhob sich der Unteroffizier Peters,

ergriff einen Großen Spaten und taumelte gegen den

Leutnant. Den Spaten erhebend, schrie er: »Werm

der Herr Strohmayer noch so einen därnlichen Befehl

geben wie letzte Nacht, schlag ich Ihnen den

Schädel ein!« Der Leutnant griff nach der Pistole,

wich aber immer dem Peters aus, der dann stolperte,

hinfiel und liegenblieb. Während nun die Kompanie

wegrückte, lagen wir drei Helden schlafend im

Walde. Am anderen Morgen erhoben wir uns mit

schwerem Kopf. Der Kompaniefeldwebel meinte,

das sei doch nicht schon von uns gewesen. Worauf

ich antwortete: »Das war zuviel verlangt!« Und er

gab mir vollstandig recht. Nun rückte die Kom panie

von vorne an. Sie hatte Glück gehabt, es waren nur

ein Toter und 3 Verwundete zu beklagen.

Wir blieben nun den ganzen Tag bis in die Nacht

hinein im Wald. Da hief es, wir kärnen nach Harbonnières

ins Quartier. [... ] ln Harbonnières war alles

mit Soldaten überfüllt, denn die Trümmer unserer

Division lagen dort einquartiert, dazu noch eine Division,

die eben erst aus Ru/3land gekommen war.

Endlich fanden wir eine leere che. lm Zimmer

nebenan hôrte ich Stimmen. Ich ging hinein. Es waren

Chauffeure der Kraftwagenkolonne. Ich fragte,

ob sie nicht etwas zu essen für mich und meine beiden

Karneraden hatten. Sie gaben mir frech Antwort.

Ein Wort gab das andere, und ais ich sie »faule

Etappenschweine– nannte, wären sie balel handgreiflich

geworden. Doch meine Pistole und das

                                320

Hinzukommen der beiden anderen Unteroffiziere,

Peters und Schulz, hielt sie zurück. Wo nun schla-

Fen? Auf dem kalten Backsteinboden der Küche

paûte uns nicht. Da nahrnen wir den alten Küchenschrank,

legten ihn um, nahmen die Bretter heraus

und legten uns hinein. Wir mu13ten uns auf die Seite

legen, denn unser »Bett« war zu schmal. AIs wir cine

Weile geschlafen hatten, muûte ich schiffen gehen,

nahm meine Taschenlampe und ging zur Hintertür

hinaus. Da sah ich ein kleines Cebaude, ähnlich einer

Waschküche. Auch vermeinte ich, im Inneren desselben

ein laures Schnarchen zu hôren. Ich ging leise

zur Tür, die eine Glastür war, drückte auf die

Klinke. Die Tür war verschlossen. Da sah ich, daû

eine Ecke des Glases ausgebrochen war, und leuchtete

mit der Taschenlampe hinein. Vor Freude

prallte ich fast zurück. Auf dem Tisch, gerade der

Tür gegenüber, lag ein Sto13Brot aufgeschichtet,

daneben standen mehrere 3-pfund-Büchsen mit Leberwurst,

auch eine SchachteJ Zigarren und Zigaretten.

Das war sicher die Verpflegung der Kraftwagenkolonne.

Leise ging ich nun zu meinen beiden

Kameraden zurück und weckte sie. »Wir müssen

ausziehen«, sagte ich. »Bist wohl verrücktl- war die

Antwort. Da erzahlte ich ihnen meine Entdeckung.

Schon hatten sich beide erhoben. Leise machten wir

uns fertig und gingen auf den Fuûspitzen nach der

Tür. Ich langte durch das Loch im Glas und schob

den RiegeJ zurück. Langsam ôffnete ich die Tür,

ging auf den Fuûspitzen hinein und reichte den beiden

3 Brote, 2 Schachteln zuje 100 Zigaretten hinaus

und nahm dann 3 chsen Leberwurst. Nun verschwanden

wir, wie wir gekommen waren. Der

Schlàfer, der ruhig weiterschnarchte, wird auch

nicht wenig erstaunt gewesen sein, ais el' das Fehlen

der Sachen am nächsten Morgen entdeckte. Nach

längerern Suchen fanden wir endlich Unterkunft in

einer Spreukammer. Beim Schein der Kerze wurde

nun von unserer Beute gegessen.

Am nachsten Morgen gingen wir auf die Suche

                            321

nach unserer Kompanie. Endlich fanden wir sie in

einem Schuppen einquartiert. Meine Besatzung war

etwas verdrieJ3lich, weil ich sie im Stich gelassen

hatte. AIs ich aberdas Kommi13brot und eine Büchse

Leberwurst hervorlangte, waren aile zufrieden und

langten wacker zu, bis Brot und Leberwurstverschwunden

waren. Dann gab ichjedem noch 10 Zigaretten.

        Untertags kam auch der Schütze Lang wieder zu

mir, der geholfen hatte, den Rittmeister zurückzutragen.

Er erzählte, daß der Rittmeister sie noch

erkannt hätte. Sie hatten ihn zuerst auf ein lelt ge

Iegt und kriechend geschleift. Weiter zurück, in einer

Mulde, hatten sie dann eine Tragbahre gefunden,

auf der ein Toter lag. Diesen hatten sie auf den

Boden gelegt, den Rittmeister auf die Bahre gehoben

und ihn so zum Arzt nach Marcelcave getragen.

AIs der Arzt kam, hatte der Rittmeister den letzten

Atemzug getan. Lang hatte sich mit seinen drei Kameraden

nun hinten herumgedrückt, bis die Kornpanie

abgelôst wurde.

        Am Nachmittag wurde die Kompanie zum Begrabnis

des Rittmeisters kommandiert, der auf dem

Soldatenfriedhof in Harbonnières, wo schon Tausende

der armen Opfer des europaischen Militarismus

begraben lagen, beerdigt. Natürlich wurde

eine Rede gehalten, worin hauptsachlich die Worte

figurierten: Vaterland, Heldentod, Ehre, der hei13e

Dank des Vaterlandes ist ihm gewi13,und 50 weiter.

ln Wirklichkeit ist das alles Lug und Trug, denn

meiner Ansicht nach fallen nur fürs Vaterland die

gemeinen Soldaten bis hinauf zum Feldwebel. Die

hôheren Grade sind doch bezahlt und sterben fürs

Geld.

        Nach dem Begräbnis kam Joseph Hoffert mich

aufsuchen, da er nicht wu13te,wie es mir vorne ergangen

war. lch erzählte ihm nun, daßder Feldwebelleutnant

Orschel, der vor dem Kriege in unserem

HeimatdorfGrenzaufseher gewesen war, sich in der

1.MG-Kompanie meines Regiments befinde und

                                    322

daß ich ihn schon oft gesprochen hätte. Sofort gingen

wir nun beide hin, um ihn aufzusuchen. Bald

fanden wir die 1.MG-Kompanie. Dort erhielten wir

den Bescheid, daß Orschel durch eine Granate

schwer verwundet worden sei, noch einen Tag gelebt

habe und dann gestorben sei. Er werde eben auf

dem Soldatenfriedhofbeerdigt. Das war für uns eine

traurige Nachricht. Wir gingen zum Friedhof, aber

Orschel war bereits beerdigt. Sein Grab befindet sich

an der Seite des Grabes von meinem Rittmeister,

dem Freiherrn Gôtz von Rei13witz.lmmer neue Opfer

wurden auf den Friedhof gebracht, die zum Teil

entsetzlich aussahen.

        Nun wurden die Verluste der Division beim Angriff

bekannt; sie hatte 65 Prozent ihres Bestandes

verloren. Von 32 Offizieren meines Regiments, die

den Angriff mitgemacht hatten, waren 22 gefallen.

Von der 44 Mann starken Minenwerferkompanie

meines Bataillons waren nur 4 Mann übriggeblieben,

die anderen 40 tot oder verwundet. Meine

Kompanie hatte noch ziemlich Glück gehabt, denn

mehr aIs die Hälfte der Mannschaften kam wieder

heil zurück.

    Am folgenden Tage war Regimentsappell. Die

Trümmer des Regiments 332 muliten auf einer

Wiese neben dem Stadtchen antreten. Dann kam der

Divisionskommandeur, General von Adams, geritten,

ein Mann, der ein sehr unangenehmes Gesicht

hatte und von allen wegen seiner brutalen Rücksichtslosigkeit

gehaßt wurde. »Stillgestanden, Augen

rechts Alles mußte nun diesen Menschen ansehen.

»'n Mojen, Kinder!« begrüßte er uns. Ich dachte: Du

verfluchter Iassenmôrder brauchst uns »Kinder«

zu nennen! Viele mußten nach dem beim Angriff

gegebenen Befehl (sDer Angriff muß weiter vorgetragen

werden! «) durch die Rücksichtslosigkeit dieses

bezahlten Halunken sterben, oh ne lie! und

Zweck. Nun folgte eine Ansprache, die ganz von

Nationalismus, Militarismus, Heldentod und 50 weiter

triefte. Wenn wir auch das gesteckte Zeil des

                                    323

Angriffs nicht erreicht hatten, hatten wir doch den

Briten gezeigt, was deutscher Mut und Draufzan- L l b

gertum zu leisten vermôgen. ln Wirklichkeit ist von

Mut überhaupt nichts zu finden. Die Todesangst

übersteigt aile anderen Gefühle, und nur der furchtbare

Zwang treibt die Soldaten vorwarts. Ich hatte

mal sehen wollen, wenn zum Beispiel die Erlaubnis

gegeben worden wäre, diejenigen, die nach Hause

gehen wollten, dürften gehen und diejenigen, die an

der Front bleiben wollten, konnten dableiben. Ich

glaube, nicht ein Mann wäre freiwillig an der Front

geblieben. Alle hatten auf das Vaterland gepfiffen

und nur danach getrachtet, ihr Leben in Sicherheit

zu bringen und wieder zu leben, wie es eben einem

Menschen zusteht.

    AnschlieBend an den Appel! war Ordensverleihung.

Etwa 60 Mann des Regiments wurden mit

dem Eisernen Kreuz 2. Klasse ausgezeichnet. Auch

zwei Eiserne Kreuze 1. Klasse wurden verliehen, natürlich

an zwei Offiziere, denn zu deren ho hem Gehalt

geharen natürlich auch hohe Auszeichnungen.

Nachher konnten wir wieder in unser Schuppenquartier

gehen. ln der Nacht hôrte ich das Surren

mehrerer englischer Flieger über dem Städtchen.

Ich kannte sie sofort an dem hohen, singenden Ton

der Motoren. Jeden Augenblick erwartete man das

Sausen und Platzen der Bomben. Weglaufen hatte

keinen Zweck; am besten war es, man blieb liegen,

wo man war. Bekam man einen Volltreffer, war's

vorbei. Schlug die Bombe nicht in nächster he ein,

konnte sie nichts schaden. Plotzlich das bekannte

Sausen und Pfeifen der Bomben. Alles zog den Kopf

in die Schultern, dann mach te es krack-krack-krack.

Zum Glück fielen die Bomben nicht in unsere ahe.

    Am folgenden Morgen hôrten wir, d mehrere

Mann und pferde getôtet worden seien. Bisjetzt war

Harbonnières, das etwa 15 km hinter der Front lag,

von ArtilleriebeschieBung verschont geblieben. Da,

am Nachmittag des 30. April, saustcn plotzlich

2 schwerste Granaten heran, die mitten in dem

                                324

Städtchen mit furchtbarem Krachen explodierten.

Alles befand sich sofort in einer un beschreiblichen

Aufregung. Gleich kamen wieder zwei der Ungeheuer

angesaust, die Verwirrung noch vergrôliernd.

»Sofort alles fertigmachen!« kam nun der Befehl.

Schnell wurden die Sachen gepackt, die Pferde var

die Wagen gcspannt, und los ging es weiter zurück.

ln den Straßen wimmelte es von Soldaten, Offizieren,

pferden und Wagen, alles wollte sich so schnell

wie môglich in Sicherheit bringen. Immer wieder

kamen die Dinger angeflogen, hier ein Haus auseinanderwerfend,

dort ein gewaltiges Loch in die Graben

reißend. Endlich hatten wir das Stadtchen und

die Gefahr hinter uns. Es war eine reine Vôlkerwanderung

auf der rückwärts führenden Straße.

    ,,2. MG-Kompanie begibt sich nach Framerville!"

kam der Befehl. Das Dorf Framerville liegt etwa

5 km rückwarts von Harbonnières und ist seit der

Sommeschlacht 1916 halb zerstôrt. Es liegt am

Rande der Gegend, in der die Sommeschlacht gewütet

hatte. Von Framerville bis Le re – 70 km – ist

kein bewohntes Haus mehr stehengeblieben. Alles

zerschossen und von den Deutschen im Rückzug

1917 gesprengt worden. Unsere Kompanie wurde

im Schloß von Framerville einquartiert. Das Schloß

war jedoch halb zerstôrt, nirgends mehr ren und

Fenster, .und bei Regenwetter war man gezwungen,

in  den Zimrnern die Zelte aufzuschlagen. Das Dorf

wurde nun mit Militär überfüllt. Die Engländer, die

dies zu wissen schienen, sandten fastjede Nacht ihr

Fliegergeschwader, das uns mit Bomben belegte.

Man konnte fast nicht ruhig schlafen

 

 

 

 

 

 

                            325

DAS DIVISIONSSPORTFEST  8. MAI  l 918

 

Unsere Division veranstaltete nun ein Turnfest, um

die Soldaten wieder aufzumuntern und ihre Moral

zu heben. Jeder, der glaubte, etwas leisten zu kënnen,

konnte sich melden. Ich meldete mich zum

Handgranatenwerfen, Weitsprung mit Sprungbrett

und Hindernisrennen. Am Abend vorher ging ich

mit mehreren Kameraden nach dem Festplatz, um

die Hindernisbahn kennenzulernen und Versuche

machen zu kônnen. [ ] Das Ganze war doch ziernlich

anstrengend, da man infolge der Unterernahrung

und des unregelma13igen Lebens nicht bei voller

Kraft war.

    Um 9 Uhr morgens sollten die sportlichen Vorführungen

ihren Anfang nehmen. [... ] Der Sportplatz

war so angelegt, daf er durch ein Waldchen

gedeckt war, und so konnten die englischen Fesselballons

diese Massenansammlung nicht sehen. Standig

kreiste ein deutsches Flugzeuggeschwader um

den Platz herum, um etwaige Angriffe englischer

Flieger abzuwehren. [... ]

    Zum Hindernisrennen hatten sich viele gemeldet.

Immer zu vieren ging es los, und die Sekunden wurden

festgestellt, die jeder brauchte. Ich lief mit der

4. Gruppe. [... ] Da ich schon am vorhergehenden

Abend die vorteilhafteste Übergangsmethode für

die Bretterwand ausprobiert hatte, war ich in wenigen

Sekunden drüben, wahrend die anderen viel

langer brauchten, um rüberzukommen. Wie der

Wind lief ich mm dem Ziel zu und hatte bei der

Ankunft nur 2 Schrittlängen voraus. Ich war ganz

erschëpft und legte mich hin, um auszuruhen. [... ]

Nun kam der Weitsprung, dann kam der Hochsprung.

Nachher das Handgranatenwerfen. Das Ziel

war 45 m entfernt und bestand aus einem mit alten

Soldatenkleidern behängten Strohmann. Natürlich

wurde nicht mit scharfen Handgranaten geworfen,

sondern mit Übungshandgranaten. lch brachte

meine Handgranate dicht zum Ziel und hatte Hoff- 

                                326

nung auf einen der ausgesetzten Preise. Nachher

kam Sack1aufen, bei dem man sich fast zu Tode

lachen mulite. Ferner waren 2 glatte Stangen eingegraben,

an denen man versuchte hochzuklettern.

Der am hôchsten kam, erhielt den ersten Preis.

Nachher wurden zuerst 2, dann 3 und 4 Pferde

nebeneinander gestellt und im Hechtsprungdarübergesprungen.

Daran konnten sich natürlich nur

die besten Turner beteiligen. Die Übungen waren

aile sehr interessant, und fast vergaß man, daß man

sich mitten im Kriege befand. Nachher wurden die

Preise verteilt. lch bekarn yom Hindernisrennen den

6. Preis, eine Flasche  etwa % Liter – Cognac. Yom

Handgranatenwerfen bekam ich den 8. Preis, ein

schones Zigarrenetui mit guten Zigarren. Nach und

nach leerte sich der P1atz, und alles ging wieder in die

Quartiere. Unterwegs wurde man durch den rollenden

Kanonendonner daran erinnert, d noch immer

Krieg war. [... ] ln Framerville befanden sich

etwa 100 gefangene Franzosen und Englander, die

allerlei arbeiten mußten. Die Franzosen konnten die

Engländer nicht leiden und beschu1digten sie, durch

ihre Schuld sei der Krieg noch nicht zu Ende. leh gab

den Franzosen oft Zigaretten, wofür sie sich sehr

bedankten.

        Nun wurde bekanntgegeben, daßjeder, der Blei,

Kupfer, Messing, Zinkb1ech und so weiter nach einer

bestimmten Sammelstelle im Dorfe bringe, pro Ki10

gramm soundso viel erhalte. Was nun für eine Zerstorung

losging, làlit sich nicht beschreiben! Alle

Türklinken und Fensterriegel aus Messing wurden

losgeschraubt oder abgeschlagen. Alle kupfernen

Kochgeräte und alles, was aus Kupfer bestand,

wurde ebenfalls weggenommen. Ganze Zinkblechdächer

wurden abgedeckt und nach der Sarnmelstelle

geschleppt. Manche Soldaten erhielten für ihren

Raub mehrere 100 Mark. Nun ging es an die

Glocken im Kirchturm. Da waren einige Spezialisten,

die nichts taten, aIs in den von den Deutschen

besetzten Gebieten herumzustreifen und die Kir- 

                            327

chenglocken hinunterzuwerfen. Ich sagte zum Leutnant

Strohmayer, der neben mir stand und ebenfalls

zuschaute: »Ich finde das doch gemein, sich am Kirchengut

zu vergreifen!«  »Was wellen Sie?« sagte

nun Strohmayer. »Not kennt kein Cebot.. Ja, »Not

kermt kein Cebot«, damit entschuldigten sich die

Deutschen.

    Eines Tages mubten wir uns, jede Besatzung für

sich, eingraben, jedoch so, daf wir von verne nicht

gut gesehen werden konnten. J ede Besatzung sollte

schufifertig sein. Ais wir fertig waren, ging der neue

Kompanieführer, den ich noch nicht kannte, vorn

an den Gewehren durch und fand, daf meine Besatzung

am unsichtbarsten war. Die ganze Kornpanie

mulite nun herkomrnen und ein Beispiel nehmen,

wie man sich eingraben soIlte. Ich bekam yom

Kompanieführer zwei gute Zigarren und hatte nun

eine sogenannte gute Nummer bei ihm.

    Nachdem wir etwa 12 Tage in Framerville zugebracht

hatten, karn neuer Ersatz aus Deutschland,

und es hieû: »Morgen abend geht es wieder in Stellungl

Uns war allen bange davor. Direkt neben dem

Dorfe befand sich ein Flugplatz, auf dem etwa

14 Flugzeuge stationiert waren. Diese lieferten zum

Teil den Engländern Luftkämpfe, zum Teil wurden

sie nachts ais Bombardierungsflieger verwendet.

Am Nachmittag des Tages, an dem wir abends in

Stellung sollten, ging ich mit dem Gefreiten Fritz

Keûler nach der Fliegerkantine, um einen Verrat

Zigaretten zu kaufen und mit nach vorne zu nehmen.

lm Dahingehen sahen und horten wir, daf

2 grofie Schrapnells in grofier Hôhe über uns platzten.

So weit nach hinten hatte noch nie ein Artilleriegeschofi

gereicht. »Fritz«, sagte ich, »paf auf, hier

gibt's Senge!« (Senge ist ein Soldatenausdruck, gilt

sovi.el wie Hiebe.) »Wohl moglich«, meinte Fritz,

»aber wir verschwinden ja hier heute abend, und

vorne müssen wir uns jedenfalls an ganz was anderes

gewohnen.« Wir kauften unsere Zigaretten und gingen

gemütlich in Richtung der Kompanie. Es war ein

                                        328

herrlicher Maientag, die Luft so klar, warrn und

würzig, daf es eine Freude war zu leben. »Wie schôn

es jetzt wäre auf der Welt«, meinte Fritz, »und wir

blodsinnigen Menschen bringen uns gegenseitig

ums Leben.« lm selben Moment warfen wir uns

beide zu Boden. Wir hôrten einen Moment das gurgelnde

Sausen zweier grofier Granaten, im selben

Moment die furchtbaren Explosionen. Eine der Granaten

hatte mitten in den Flugzeugen eingeschlagen,

so daf die Trürnmer derselben nach allen Seiten

flogen. Die andere hatte im Hof eines Hauses

eingeschlagen, in dem die Regimentsmusik eines Artillerieregiments

einquartiert lag. Wie wir nachher

horten, wu l'den mehrere Mann getotet und verwundet.

Hals über Kopf verlief alles das Dorf. lm Laufschritt

liefen wir beide zu unserer Kompanie. Die

Pferde waren schon angespannt. Meine Schützeri

hatten meine und Kefilers Sachen zusammengepackt

und auf das Flugzeug geladen. Nun ging es irn

Laufschritt zum Dorf hinaus. Hinter uns hôrten wir

die drohnenden Einschläge der schweren Cranaten.

ln einem Hohlwege warteten wir den Abend ab.

 

 

                    WIEDER AN DIE FRONT

 

Dann ging's los, der Front zu. Wir fuhren auf eine"!"

sehr guten, breiten Straûe, die nach Amiens führte

und RôrnerStraße genannt wurde. Ais es etwas zu

dunkeln anfing, sah ich in der Ferne vor uns viele

Schrapnells blitzen. Also war hier auch was los.Unbehelligt

kamen wir bis an das Dorf Warfue-Abancourt.

Dort muliten wir die Maschinengewehre und

Cerate von den Wagen herunternehmen und

schleppen. Zwei Führer von der Front erwarteten

uns. Wir gingen nicht durch das Dorf, da es oft im

Feuer der englischen Artillerie lag. Wir wurden von

den Führern zu einer Mulde entlang um das Dorf

geleitet. ln der Mulde standen mehrere deutsche

                                        329

Batterien eingebaut. Da es noeh nicht dunkel war,

standen noch einige englische Fesselballons hoch,

die bis in die Naeht hinein beobachteten. DieBatteriefûhrer

schimpften und fluchten mit uns, wir seien

schuld, wenn die Engländer den Stand ihrer Balterien

entdeckten.

    Nun wurde es dunkle Nacht, und wir hatten

Mühe, uns zusammenzuhalten. ln die sem fremden

Gelände war man grad so dumm wie ein Kalb, das

zurn erstenmal den Stall verläfit. Alle paar Sehritte

stürzte man in eines der vielen Cranatlocher. Die

Soldaten, die untel' der Last sehr schwitzten, fingen

an, mißmutig zu werden und zu munen. Von den

vorne hochgehenden Leuchtkugeln wurde man oft

geblendet. lm Hintergrunde der englisehen Front

sah man oft eine Unmenge zuckender Blitze, dann

hôrte man sekundenlanges Sausen und das Explodieren

der Schrapnells und Granaten. Es waren die

von uns so sehr gefürchteten englischen Feuerüberfalle,

die nie langer als 2-3 Minuten anhielten, um

dann nach wenigen Minuten an einer anderen Stelle

des Feldes niederzuprasseln. Nun waren wir um das

Dorf herum und erreichten wieder die Straûe. AIs

wir dieselbe eben überqueren wollten, befanden wir

uns plôtzlich mitten in einem englischen Feuerüberfall.

Blitzschnell lag alles im Straûengraben. Ich

drückte mich an die Bëschung und hielt die beiden

Wasserkästen sowie den gronen Spaten über den

Kopf, um mich so gut wie môglich gegen die Splitter

zu schützen. Wie das sauste und krach te um uns

herum! jeden Augenblick glaubte man getroffen zu

werden. Das ist ein Gefühl in solchen Momenten, das

sich nur der vorstellen kann, der schon in derselben

Lage war. Mehrere Granaten schlugen auf der

Straße ein, welche eine Menge Steine losrissen, die

auch in der Luft umherschwirrten und niederprasselten.

Plôtzlich, so schnell, wie es gekommen war,

hôrte das Schieûen auf. Erleichtert atmeten wir auf,

und alles fragte, ob jemand getroffen worden sei.

Wie durch ein Wunder blieben aile unverletzt.

                                    330

Nun ging es wieder weiter, und wir erreichten die

in Tiefengliederung besetzte Front. Tiefengliederung

heiht: in 600-800 m Tiefe der Front entlang

überall zerstreute Soldaten, Infanteristen, leichte

und schwere Maschinengewehre, die die MG-Nester

besetzt halten, Minenwerfer, Granatwerfer und 50

weiter. Die Soldaten liegen in Cranatlochern oder

selbstgegrabenen Lochern. Einen durchgehenden

Schützengraben hier zu halten wäre fast unmoglich

gewesen, denn derselbe würde bald entdeckt und

von der feindlichen Artillerie derart beschossen werden,

daß kaum ein Mann am Leben bliebe. Dureh die

Tiefengliederung ist die feindliche Artillerie gezwungen,

ziel- und planlos das ganze Feld abzustreuen,

wobei es narlieh auch Verluste gibt, da

hier weder Unterstand, Drahtverhau noch sonst

eine gute Deckung vorhanden ist. Überall fragten

die in den Lochern kauernden Soldaten, was für ein

Regiment wir seien, oder ob sie denn nicht bald los

und zurück kônnten. Alle hatten sehon die Tornister

aufgeschnallt, um sofort, wenn der Befehl kärne,

zurücklaufen zu kônnen. Wir mußten uns oft zu

Boden legen, da die Englander das Feld mit Maschinengewehren

abstreuten. jedoch ohne Verlus te erreichten

wir das MG-Nest Eule. Kaum dan wir eingetroffen

waren, krochen die Soldaten, die das Nest

besetzt hatten, aus dem Loche und verschwanden

rückwärts in der Dunkelheit. Wir waren froh, nun

im Loch doch etwas gedeckt zu sein.

 

 

                lM MGNEST EULE

 

Das MGNest Eule war einfach ein Granatloch, das

viereckig ausgehoben und an dem vorne der Stand

für das MG eingegraben war. ln der Dunkelheit

konnte man sich unmoglich orientieren. Auch

wurde uns nicht gesagt, ob wir zuvorderst an der

Front lagen, wie weit die Englander entfernt waren,

                                        331

Ich schof eine Leuchtkugel in die Hôhe.

Aber was sah ich? Rundum von Granatlochern übersätes

Ackerfeld, sonst gar nichts. Gerade ais ob wir

alleine hier seien. Und doch lagen rund um uns

Tausende Soldaten in den Lochern. Wir hatten noch

das Pech, den neuen Kompanieführer in unser Loch

zu bekommen. Nun war es natürlich mit der Gemütlichkeit

zu Ende, denn diese Brüder wissen immer

etwas zu kommandieren oder zu schikanieren. Das

andere MG des Zuges unter Führung des Unteroffiziers

Krärner lag nur etwa 4m neben uns und zahlte

auch zum MG-Nest Eule. Gegen Morgen schlugen

mehrere Granaten in nächster Nahe ein, die uns

nicht wenig in Aufregung brachten, denn ein Volltreffer

kennt nichts ais Fetzen. Und die Aussicht, in

Fetzen gerissen zu werden, ist natürlich hôchst unangenehm

und regt auf.

        Als es hell war, hob ich einen Moment den Kopf,

um mich zu orientieren. Ich sah nichts ais daszerschossene

Feld und konnte nicht feststellen, wo die

vordere deutsche Front war, ebensowenig, wo die

Engländer salien. Etwa 100 m links von uns lief die

Straûe, etwa 800 m var uns lag das Stadtchen Villers-

Bretonneux, das nur noch einen Ruinenhaufen bildete.

Weiter links lag das zerschossene Dorf Cachy,

das wir beim Angriff am 24. April hatten erobern

sollen. Auch sah ich mehrere zerschossene Tanks

auf den Feldern liegen. Hinter uns sah ich das zerschossene

Dorf Warfusée-Abancourt. Das war alles.

Eine Menge englischer Fesselballons stieg in die

Hôhe; wir hlten 28 Stück.

        Unser Kompanieführer meinte nun, wir sollten

für ihn eine bessere Deckung graben. Wir soUten

etwa vom Loch 4 bis 5 Staffeln [Stufen] tiefer graben

und dann eine Art Backofen ausheben, worin er

wohnen wolle. Am liebsten hätte ich diesem Halunken

den groûen Spaten über den Kopf gehauen. Ob

wir Deckung hatten, kümmerte ihn nicht. Wenn nur

sein kostbares Leben gesichert war. lch sagte: » Herr

                                    332

Leutnant, meiner Ansicht nach ist es unmoglich, bei

Tage zu graben, denn wenn wir E~de .aufwerfen,

lenken wir sofort das englische Artilleriefeuer auf

uns.. Das schien ihm doch einzuleuchten. lm Loche

lagen viele neue Sandsäcke, die wahrscheinlich von

der vorhergehenden Besatzung herrührten. Nu~

verlangte der Leutnant, wir sollten die Säcke bel

Tage füllen und nachts in die G~anatlacher ~usleeren.

Was sollten wir machen? Wir mußten emfach.

Aiso füllten wir die Säcke.

    Am Tage spielten sich oft schreckliche Luftkärnpfe

ab; es war schauerlich-schôn zuzusehen. Auf

dem Felde standen viele rohe Holzkreuze, die von

den Kameraden der Gefallenen auf deren Cräber

gestellt worden waren. Gleich hinter unserem Loche

befanden sich auf einem angefüllten Granatloch

drei solcher Kreuze. Wenn man nicht so abgehärtet

gewesen ware, hätte man es wohl als unangenehm

empfunden, so nahe an Toten zu kampieren. ln der

folgenden Nacht wieder dieselben Feuerüberfälle

und MG-Feuer. Von jedem MG muûte ein Mann

zum Essenholen gehen. Diesen Leuten grau te auch

davor, ihr Leben wegen dem bi.ßchen Hundefr

aufs Spiel setzen zu müssen. Wir leerten nun die

Sandsäcke in die Cranatlocher, zum Tiefergraben

war's zu dunkel. Ich hatte am Tage uns gegenüber

noch eine Telephonstange an der Straûe stehen sehen.

lch lieh mir nun die Sage beim Nachbargewehr,

ging mit zwei anderen hin, sägte die Stange um und

zersägte sie in Stücke von ungefahr 1'12 m Lange.

Dann trugen wir das Holz nach dem MG-Nest. D~rt

gruben wir die Hôlzer etwa einen halben Meter tief

in einem Viereck in den Boden des Loches. Ich holte

mehrere dünne WeUbleche, die von den Englandern

herrührten und auf dem Felde herumlagen, legte sie

über die Holzer, dann schaufelten wir etwas Erde

obendrauf und hatten so Deckung gegen Splitter

und Regen. Auch über dem Loche des Leutnants

befestigten wir eines der Bleche. Am folgenden

Tage machten wir den Backofen des Leutnants fer-

            333

tig. Nun lag dieser Mensch ständig in seinem Loch.

Er sprach nicht viel, dazu war er zu stolz. DieBataillonsmelder

brachten ihm die Bataillons, Regimentsund

Divisionsbefehle. Wenn wir nur dies en Menschen

los waren l dachte ich.

    Abends, mit dem Dunkelwerden, mußten wir

seine Befehle den anderen Maschinengewehren

überbringen, was immer mit Lebensgefahr verbunden

war. Am vierten Abend unseres Hierseins rief er

mich in sein Loch hinunter. »Richert«, sagte er, »es

ist ein Regimentsbefehl gekommen, wonach jede

Nacht ein Maschinengewehr nach vorne, sich beim

Infanteriekompanieführer dort melden und zwischen

12 und 2 Uhr 1500 Schuf Storungsfeuer auf

die Stra13enkreuzung hinter der englischen Front

abgeben soll, denn man vermutet, daß dort ein reger

englischer Verkehr herrscht des Nachts. Es ist am

besten, Richert, Sie machen diese Nacht den Anfang.

« – »Das fehlt noch«, sagte ich, »es sind über

400 rn zurückzulegen bis zur vordersten deutschen

Infanterie; daß man unterwegs standig in hochster

Lebensgefahr schwebt, wissen der Herr Leutnant so

gut wie ich. Außerdem kann man im Dunkel Hals

und Bein brechen in diesen Cranatlochern, Ich

woIlte nur, daß der, der den Befehl gegeben hat, ihn

selbst ausführen rnüûtel-  »Richert, werden Sie

nicht ausfallend. Befehl ist Befehl. Mir r's auch

lieber, Sie kônnten hierbleiben. Aber da ist nichts

anderes zu machen. Gehen Sie in Gottes Namen,

und kehren Sie heil wieder zurück.. Meinen Schützen,

die das Cespräch gehôrt hatten, standen die

Haare zu Berge. Jeder hatte Angst, von mir den

Befehl zu erhalten mitzugehen. Da sagte ich ihnen

leise etwas. Sofort waren aIle getr6stet. »Alsofertigmachenl

sagte ich laut, so daf es der Leutnant in

seinem Loche hôren konnte. »Den Schlitten lassen

wir hier, ich trage das Maschinengewehr, Keßler die

Hilfslafette [provisorisches Untergestell für das MG]

und einen Kasten Munition, Thomas die beiden anderen

Munitionskästen, macht zusammen 1500

                                    334

Schuß, die verlangte Zahl, Fertig! Also in Gottes

Namen Iosl Wir kletterten zum Loch hinaus und

gingen einfach in das nur 4 m entfernte Loch zu der

Besatzung des faschinengewehrs Krärner. Sofort

erzahlte ich ihm die Sache. »Du wärst ja jeck, wenn

du gingst! Diese Saukôpfe kônnen uns am A !

Die solin selber hinjohn«, sagte Kramer. Wir zogen

die 1500 Schuf aus den Gurten, und ich warf sie in

ein Granatloch und scharrte sie zu. Dann schwärzte

ich mit einer Kerze den Rückstoûverstarker vorne

am Lauf des Gewehrs, so daf er aussah, als obgeschossen

worden wäre. N un blieben wir fast 3 Stunden

im Loch bei Dnteroffizier Krämer. »Morgen

nacht kornrn' ich dran«, sagte Krarner. »Wir setzen

uns einfach ins erste beste Granatloch  »Oh«,

sagte ich, »du kannst ruhig in deinem Loch bleiben,

denn dieser Feigling von Leutnant hat doch nicht

den Mut, von seinem Loch die 5 Schritte über die

Deckung zu machen, um nachzusehen, ob ihr wirklich

gegangen seid.« Alle paar Minuten wurde das

Feld von englischen Maschinengewehren abgestreut,

und zing-zing-zing zischten die Kugeln über

die Locher. Ais einen Moment Ruhe eintrat, sagte

ich: »So, jetzt springen wir in das Loch zurück, für

das Weitere laût mich sorgen. Mit dem Leutnant

werde ich schon fertigwerden Also na hm ich das

MG, Keßler und Thomas die leeren Munitionssten,

und dann sprangen wir in unser Loch; dabei

keuchten wir, als ob wir uns halbtot gelaufen hatten.

Wir warfen das Gerät hin. Da erhob sich der

Leutnant. »Seid ihr alle zurück?«  »[a«, sagte ich.

»Aber ich sage dem Leutnant freiheraus, daß ich

dies nicht mehr machen werde. Ein Wunder ist es

zu nennen, daß wir alle drei wieder heil zurückgekommen

sind, denn mehrmals zischten uns die Maschinengewehrkugeln

haarscharf um die Ohren,

und im Dunkel hätte man sich gut verlaufen kônnen,

um bei den Englandern zu landen«, log ich.

»Na, die Hauptsache ist, daf ihr wieder zurück seid.

Ich fürchtete schon, es sei Ihnen was passiert.. Ich

                                    335

dachte: Wenn der wüûte] Meine Besatzung, die mir

immer treu ergeben war, hielt mm noch grbHere

Stücke auf mich, da ich ihr Lcben – und natürlich

auch mcins – soviel wie irgend môglich nicht der

Gefahr aussetzte.

        Es war sehr langweilig, dauernd irn Loche zu hokken,

und sprechen konnten wir au ch nicht, was wir

wollten, wegen des Leutnants. AIs ich eines Tages

bemerkte, daf ich überzeugt sei, der Krieg für

Deutschland sei verloren, rief mich der Leutnant zu

sich ins Loch. »Richert«, sagte er eindringlich, »was

führen Sie da für cine Sprache! Sie sind überhaupt

mit den Mannschaften viel zu kameradschaftIich. Sie

sollten ihnen gegenüber besser Ihre Autorität aIs

Vorgesetzter zeigen und überhaupt nichts sagen,

was die Siegeszuversicht der Soldaten storen

~annte.« – »Ich kann doch auch nicht gegen meine

Uberzeugungen sprechen, Herr Leutnant«, antwortete

ich. »Herr Leutnant sehen doch so gut wie ich

und jeder andere, dali, wenn 50 deutsche Granaten

hinüberfliegen, 300 englische aIs Antwort zurückkommen.

Unsere Flieger wagen sich selten über unsere

Front hinaus, während die englischen Flieger

massenweise über uns herumschwirren. DaH die

englisch-franzôsische Front Fest ist, hat doch unser

Angriff yom 24. April zur Genüge gezeigt. Und,

Herr Leutnant«, fuhr ich fort, » ich bin jetzt fast

5 Jahre Soldat und weiß, was ich von einem strengen,

unvernünftigen Vorgesetzten halte; ich bin überzeugt,

daf man mit Gerechtigkeit und Karneradschaft

mit den Mannschaften weiterkommt und im

Ernstfall mehr zu leisten vermag. Und werm ich zum

Beispiel mal verwundet würde, wäre ich sicher, daf

mich meine Leute nicht im Stich lassen würden. Was

sicher eher eintreffen würde, wenn ich ihnen gegenüber

roh sein und sie meine Macht zu sehr und

rücksichtslos fühlen lassen würde.« – »Sie mbgen in

dieser Hinsicht recht haben«, meinte nun der Leutnant,

»aber Sie dürfen die Siegeszuversicht der

Mannschaften nicht beeinträchtigen.« Worauf ich

                                        336

antwortete: »Das ware uns bald allen gleich, wie der

Krieg endet, werm wir nur unser Leben behalten

und so bald wie moglich in unsere Heimat zurückkehren

konnten.. Nun wurde der Leutnant doch

halb wütend. »Was sagen Sie hier? Ihnen ist gleich,

wie der Krieg end et? Bedenken Sie doch die Folgen,

die eine Niederlage unsererscits für uns nach sich

ziehen würde!« – »Herr Leutnant«, antwortete ich,

»der Krieg kann enden, wie er will: Wenn ich das

Kriegsende erlebe, bin ich immer bei den Siegern.«-

»Wieso denn?« fragte nun erstaunt der Leutnant.

»Canz einfach«, gab ich zur Antwort. »Ich bin Elsässel'.

Gewinnt Deutschland, bleibt das Elsaf deutsch,

und wir befinden uns bei den Siegern. Gewinnen die

anderen, dann wird das Elsaf franzôsisch, und wir

befinden uns wieder bei den Siegern!« – »Wirklich«,

sagte nun der Leutnant, »daran hätte ich jetzt nicht

gedacht. Aber selbstverständlich wäre Ihnen ein

deutscher Sieg doch lieber als ein Sieg der Gegner!«

Worauf ich zur Antwort gab: »Herr Leutnant, ich

bin Landwirt und muß meine Scholle sowieso bebauen.

Ob ich nun meine Steuern hier oder dort

bezahle, ist mir so ziemlich einerlei.. – »Hôren Sie,

Richert, Sie führen hier eine Sprache, die sich nicht

für Sie schickt. Sie sind gegenwartig deutscher Unteroffizier,

und ihre Gesinnung soll deutsch sein. Sie

konnen gehen!« Ich stieg die 4 Stufen hinauf und

legte mich zu meiner Besatzung ins Loch. Leise fragten

mich meine Soldaten, was es eigentlich gegeben

habe. Woraufich ihnen das Gespräch mit dem Leutnant

leise erzählte, Sie mußten alle lachen.

    Da es unmoglich war, am Tage außerhalb des Loches

auszutreten, war man gezwungen, seine Notdurft

im Loche zu verrichten. Zu diesem Zwecke

hatten wir eine leere Konservenbüchse, die zum

Hineinschiffen diente. Der Urin wurde dann einfach

hinausgeschüttet. Sonst beim Austreten wurde

etwas Erde auf den Spaten gemacht und der Stuhl

ebenfalls rausgeschmissen. Das war im groGen und

ganzen kein menschenwürdiges Leben mehr. Aber

                                    337

anders war es nicht zu machen. Eines Tages war

eben der Leutnant aus seinem Loche gekommen,

um zu schiffen. AIs er fenig war, platzte plôtzlich ein

Schrapnell über uns. Eine Kugel durchschlug das

dünne Wellblech und traf den Leutnant über dem

Iinken Auge an der Stirn. Mit einem Aufschrei

stürzte er vor Schreck und Betaubung rückwarts

hinunter. Dabei ergoD sich der in der Büchse befindliche

Urin über sein Gesicht und die Brust. Ich

sprang schnell zu ihm hinunter, denn ich wuûte

nicht, ob er schwer verwundet sei. Schon erhob er

sich, bleich vor Schrecken. Die Schrapnellkugel

hatte nur eine runde Vertiefung in seine Stirn geschlagen

und war dann herausgefallen. Das Blut lief

dem Leutnant über das Gesicht hinab. Ich verband

nun seine Stirn mit seinen beiden Verbandspackchen.

Ais es Abend wurde, lief der Leutnant flink

wie ein Hase zurück. Er hatte eine bessere Zukunft

vor sich ais wir. Meine Schützen muliten nicht wenig

lachen, weil er sich selbst beim Fallen seinen Urin in

das Gesicht gegossen hatte. Die Hauptsache war, d

wir diesen Menschen los waren, Ich lief dann in der

Nacht zu dem etwa 100 m weiter zurückliegenden

MG-Nest Geier zurück, da dort der Leutnant Clemens

sich ais Zugführer aufhielt. Dieser übernahm

nun die Führung der ganzen Kompanie. Leutnant

Clemens war ein guter Vorgesetzter und bei der

ganzen Kompanie beliebt. Er gab mir gleich, ais ich

ihm die Meldung von der Verwundung des Kornpanieführers

überbrachte, zwei gute Zigarren. Nachher

lief ich wieder nach meinem MGNest. Diese

Nacht schossen die Engländer besonders viel, und

ich war gezwungen, mich zweimal niederzuwerfen,

um mich gegen die MG-Geschosse zu decken. Auch

die Artillerieü berfälle der Englander wu rden immer

hàufiger, und das waren oft bange Minuten, wenn

rundum die Granaten einschlugen und die SchrapneUs

über uns blitzten. Man wurde oft ganz geblendet.

Doch hatten wir bis jetzt Clück. Noch war keiner

von meiner Besatzung, seit unserem Aufenthalt in

                                    338

der »Eule «, verletzt wordcn. ln der folgenden

Nacht, nach der Verwunduug des Kornpanieführers,

war der Schütze Thomas in einem ruhigen

Moment oben auf dem Felde beirn Austreten, Plôtzlich

fing ein englisches Maschinengewehr zu rattern

an, Thomas erhielt eine Kugel durch den Stiefel,

welche ihm die kleine Zehe schrag der Linge nach

wegriE. Mit einem Schmerzensschrei kam cr so

schnell wie moglich ins Loch gestürzt, denn die heruntergeschobenen

Hosen hinderten ihn, Schritte zu

machen. Wir richteten ihn auf. »Auwehl schrie er.

»Mi hat's!«  »Wo derinr fragte ich. »Arn Bein, am

FuE!« antwortete er in hochster Aufregung. Ich

nahm nun meine Taschenlarnpe und sah amzerschossenen

Stiefel, wo sich die Wunde befand.

Schnell schnitt ich mit dem Taschenmesser den Stiefel

vom FuD, zog ihm den Strumpf ab und verband

seine Wunde, während mir einer der Schützen mit

der Taschenlampe leuchtete. Thomas hatte heftige

Schmerzen, da die Sehne der Zehe zerrissen und der

Zehenknochen zersplittert war. »Wenn ich nur zurück

war'!« Diesjamrnerte Thomas die ganze Nacht.

ln der Nacht getraute er sich nicht zurückzuhumpeln,

um nicht bei der Finsternis in die unzähligen

Granatlôcher zu stürzen. Gegen Morgen banden wir

Thomas' Hernd, das in seinem Tornister war, 50 gut

wie moglich um seinen Fuß und befestigten es mit

Schnüren. Beim ersten Morgengrauen humpelte

Thomas, so schnell es ihm moglich war, rückwärts,

wo er bald in Dunkelheit und Morgennebel auf Nirnmerwiedersehen

verschwand.

Wir aile hatten großes Verlangen, abgelost zu werden.

Doch wir schienen fast vergessen zu sein. Am

Nachmittag sausten plotzlich 4 schwere englische

Granaten heran, die etwa 100!TI vor uns platzten.

Sofort befürchtete ich, daf dieses Schieûen uns gelten

würde, denn das MGNest Eule lag auf einer

kaum sichtbaren Erhohung des ebenen Celändes.

Die Englander konnten annehmen, daf sich hier ein

MG-Nest befinden mußte. Nach wenigen Minuten

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kamen wieder 4 Granaten, die kaum 30 m vor uns

platzten. Polternd stürzten die emporgeschleuderten

Erdschollen auf unser bißchen Deckung und in

unser Loch. Auch hatte ich Hoffnung, daf die Batterie

vielleicht das Feld in einer geraden Linie abstreuen

würde. Bald, nur zu bald, kamen wir zur

Überzeugung, daß die Granaten uns galten. Mit ne rvenerschütterndem

Sausen flogen die nachsten Granaten,

wahrscheinlieh Kaliber 21, knapp über uns,

um mit sehreekliehem Krachen gleieh hinter unserem

Loch zu explodieren. Die nächste Salve krepierte

nun VOl' uns. Die Batterie hatte sieh auf uns

eingesehossen. »Richertl schrie aus dem Loche nebenan

der Unteroffizier Krämer. »Diesrnal sind wir

verlorenl  »Noch nicht«, rief ich zurück. »Vielleicht

hôren sie bald wieder aufl Aber ich hatte

mich getauschr. Salve um Salve kam genau alle

5 Minuten. Die Granaten schlugen var, neben und

hinter uns ein, 50 daß unser Loch bereits ein Viertel

mit den niederstürzenden Erdschollen angefülIt

war. Bleich, zitternd lagen wir im Loch zusammengekauert.

Wir zündeten jeder eine Zigarette an, die

unsere Nerven etwas beruhigen solIte. Jedesmal,

wenn die 5 Minuten verstrichen waren, horchten wir

gespannt. Dann hôrten wir zu unserem namenlosen

Schrecken in weiter Ferne, bum-bum-bum-bum, die

Abschüsse, dann sekundenlang niehts mehr, und

schon kamen die Geschosse herangesaust. UnwilIkürlich

schmiegte sich jeder so dicht wie moglich an

den Boden, denn jedesmal glaubten wir bestimmt,

einen Volltreffer zu bekommen. »Diesmal hat uns

wenig gefehlt«, rief Krärner herüber. »Eine hat

direkt neben unserem Loch eingeschlagen.« Zitternd

lagen wir da. Nach der nächsten Salve flog uns

ein zerfetztes Bein ins Loch. Einige 1nfanteristen,

die unweit von uns ein Loch besetzt hielten, hatten

einen Volltreffer erhalten, der jedenfalls alle zerrissen

hatte. Auch kam uns ein Geruch in die Nase wie

svon verweenden Leichen. Ich erhob mieh und sah

bald die Ursache dieses Geruches. Eine der Granaten

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hatte in das hinter uns befindliche Grab eingeschlagen

und die bereits in Verwesung übergegangenen

Leichen zum Teil zerfetzt und hinausgeworfen.

Es war in unserem Loch fast nicht mehr zum

Aushalten. Gleich neben uns lagen einige Fetzen

dieses ekelerregenden Menschentleisches. Schon

wieder kam eine Ladung, alles dicht um uns. Wir

waren halb verzweifelt. Weglaufen ging nieht, denn

sobald man sich gezeigt hätte, wäre man mit MGFeuer

überschüttet worden. Nach der nàchsten

Salve hôrten wir graß Jiches Wehgeschrei. Eine Granate

hatte wieder in ein Loch geschlagen, das von

Infanteristen besetzt war, die teils tot, teils schwer

verwundet waren. Den armen Verwundeten ging

trotz ihres Jammerns kein Mensch zu Hilfe. Endlich,

nach etwa 2 Stunden, hôrte das Granatfeuer auf.

Erleiehtert atmeten wir auf. Die Zigarette, die ich

nach der ersten Salve angezündet hatte, war bald

erloschen, und ich hatte sie, ohne es zu wissen, in der

Aufregung fast bis ans Ende zerkaut. Nun sausten

viele deutsche Granaten über uns. Ich hob den Kopf

und konnte schôn die Einschläge drüben bei den

Englandern sehen. ln diesern Moment gannte ich es

ihnen, au ch etwas auf den Pelz gebrannt zu bekommen.

Wie ich so dem Einschlagen der deutschen

Granaten zuschaute, sah ich plôtzlich einen englischen

Fesselballon brennend abstürzen. Ich nahm

mein Glas und sah einen deutschen Flieger, der in

der Ferne ganz klein aussah, nach dem nächsten

Fesselballon hinf1iegen. Sobald er ihn erreicht hatte,

fing dieser ebenfalls an zu brennen und stürzte ab.

Dasselbe Schicksal erlitt ein dritter Fesselballon.

Dann kehrte der deutsche Flieger, vollständig umgeben

von Schrapnellwôlkchen, wohlbehalten nach

den deutschen Linien zurück.

Mit dem Anbruch der Dunkelheit machten wir

uns sofort daran, die übelriechenden Fetzen der Leichen

in das Grab zu werfen und zuzuschaufeln. Da

wir keines der Kreuze entdecken konnten, war es

uns unmôglich, das Grab zu kennzeichnen. Neben

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uns hôrten wir au ch sprechen und arbeiten. Es waren

Infanteristen, die ihre gefallenen Kameraden

begruben. Sie sagten uns, daf drei besetzte Lôcher je

einen Volltreffer erhaiten hatten, wodurch ihre

Kompanie I 2 Tote und einen Schwerverletzten

habe. Rund um das MG-Nest EuJe befanden sich die

frischen, gewaltigen Granatlôcher, und man hielt es

kaum für rnoglich, daf von den beiden Besatzungen

alle heil geblieben waren.

Mit der Nacht kamen au ch wieder die Feuerüberfälle

der Engländer. AIs ich eben den Essenholer

wegschicken wollte, kam der Kompaniemelder und

sagte, daf wir in einer halben Stunde von einem

anderen Regiment der Division abgelôst würden.

Diese Meldung machte uns natürlich grof:\e Freude.

Und doch grau te uns, den deckungslosen Rückweg

machen zu müssen. Wir schnallten unsere Tornister

auf den Rücken, schraubten das Maschinengewehr

vom Schlitten und warteten. Endlich huschten Gestalten

an uns vorüber. Es waren lnfanteristen, die

weiter nach vorn ablôsen muûten. Ratatatata, prasselten

wieder die englischen Maschinengewehre. Alles

warf sich zu Boden, um sich nach dem Schießen

wieder zu erheben und eiligst nach vorne zu gehen.

Unsere Geduld wurde auf eine harte Probe gestelIt.

Endlich hôrten wir halblaut rufen: »Wo ist denn das

MG-Nest Eule?«  »Hier ! riefich als Antwort. Bald

erschien die uns ablôsende Besatzung, welche uns

sehr drangte, das Loch zu räurnen. Die Patronengurte

ließen wir liegen, nahmen nur das Maschinengewehr,

die leeren Kasten sowie den Großen Spaten,

den Dampfablaf:\schlauch und die entleerten Wasserkasten

mit zurück. So schnell es unser Cerat erlaubte,

strebten wir rückwärts, Zweimal waren wir

gezwungen, uns wegen MG-Feuers hinzuwerfen.

Ins Granatfeuer gerieten wir erst, als wir die in der

Mulde eingebauten Batterien passierten. Jedoch

wurde keiner verletzt. AIs wir die grofie Straße hinter

dem Dorf erreichten, hôrte ich rufen: ,,2. MGKompanie

332, hierherl Wir gingen hin; die ganz

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Kompanie war bald versammelt. Wir folgten etwa

2 km der Straße und wurden dann nach links über

die Felder geführt.

 

 

 

                E DLlCH WIEDER lN RUHE

 

Bald tat sich var uns eine tiefe Schlucht auf. Hier lag

die Kompanie, Fahrer, Pferde und alles. Wir empfingen

unser Essen und streckten uns im Gesch

aus, um mal wieder ruhig schlafen zu kônnen. AIs

ich erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel.

Nun konnte man sich doch orientieren, wo man

sich befand. Die Schlucht war vielleicht 20 m tief,

unten etwa 30 m breit, und die beiden Bëschungen

waren teilweise mit dichtem Gebüsch bedeckt. Am

unteren Ende der Schlucht flof trage die Somme,

daneben lag das Dorf Morcourt, auf einer Anhôhe

links das Dorf Méricourt und etwa 3 km hinter uns

das gr6fiere Dorf Proyart. Alle diese Dôrfer waren

zum Teil zusammengeschossen und von den Einwohnern

verlassen. ln der Schlucht kampierten

auch noch 2 Bataillone lnfanteristen mit Bagage. Bis

jetzt war die Schlucht noch nicht von den Engländern

beschossen worden. Trotzdem machten wir in

der der Front zugekehrten Bôschung Hôhlen, um

im Falle einer Beschieûung oder Bewerfung mit

Fliegerbomben uns verkriechen und decken zu

konnen. Da es Ende Mai war und schônes, warmes

Wetter herrschte, fühlten wir uns sehr behaglich.

Nur zu bald kam der Befehl, wieder in Stellung zu

rücken.

        Dieses Mal mußte ich mit meiner Besatzung das

MG-Nest Adler besetzen. Die MG-Nester unserer

Kompanie hatten aIle RaubvogeJnamen: Eule,

Geier, Adler und Habicht. Die Besatzung vor uns

hatte angefangen, einen Stollen in die Erde zu graben

und mit Stollenbrettern zu verschlagen. Wir

führten die Arbeit weiter. Am Tage gruben wir und 

                                 343

fülIten eine Menge Sandsäcke mit Erde, um sie

abends in die in der Nähe befindlichen Granatlbcher

zu entleeren. jede Nacht, ais wir mit der Arbeit aufhôrten,

wurde die frische, feuchte Erde mit weißer,

trockener Erde überstreut, um den englischen Fliegern

zu verbergen, daß hier gearbeitet wurde. Langsam

gingen die Tage dahin, die Nächte noch viel

langsamer. Immer dasselbe: am Tage die Sandsäcke

füllen und im Loch hocken, abends Essen holen und

Stollenbretter herbeischleppen, dazu das englische

MGFeuer und die Artilleriefeuerüberfälle. Mehrere

Male belegten uns die Engländer mit Gasgranaten,

mit sichtbarem und unsichtbarem Gas, welch

letzteres wir an dem knoblauchartigen Geruch feststellen

konnten. Wir waren gezwungen, oft stundenlang

die Maske aufgesetzt zu behalten.

        Eines Nachts wurde ich dazu bestimmt, die Essenhaler

zur Feldküche zu führen, die nachts bis in die

Nähe des hinter uns liegenden Dorfes Abancourt

vorgefahren kam. Auf dem Rückweg gerieten wir

plôtzlich in einen heftigen Artilleriefeuerüberfall.

Vor mir sah ich im Dunkel ein Loch. »Hierher!«

schrie ich. Sofort füllte sich das Loch mit Essenholern.

Dann merkte ich, daf von dem Loch ein Gang

schrag in die Erde ging. Ich tastete weiter den finsteren

Gang entlang und sagte zu den Leuten, sie sollten

folgen. Da fühlte ich ein Zelt, das den Gang

abzuschließen schien. Ich schob es beiseite und

leuchtete mit der Taschenlampe hinein. ln Decken

eingehüllt sah ich auf einer Seite 3 Mann liegen.

»Was suchen Sie hier schnauzte mich eine Stimme

an. »Was wir suchen? Deckung, wei ter nichts«, antwortete

ich. »Machen Sie schleunigst, daf Sie versch

windenl  »Sobald das Artilleriefeuer aufhôrt«,

gab ich zur Antwort. »Wissen Sie überhaupt, wen Sie

vor sich haben?« herrschte mich nun diesel' in Dekken

gehüllte Mensch an. »Nein«, sagte ich. »Ich

führe die Essenholer der 2. MG-Kompanie 332, und

ich halte es für meine Pflicht, die Leute, wenn irgend

moglich, gesund wieder zurückzuführen, und da

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geht man eben in Deckung, wo man welche findet..

Nun wurde der Ton dieses Mannes schon etwas

freundlicher. »Sie befinden sich beim K.T.K. Batail-

Ion Nun wubte ich, wo ich war und wen ich vor mir

hatte. K.T.K. heiût Kampftruppenkornmandeur,

und der des 3. Bataillons war der Major von Puttkamer.

Da das Feuer nun aufhôrte, krochen wir zum

Loch hinaus und liefen eiligst nach unseren MGestern.

        Da unsere Kompanie wieder geschwacht war,

mulite ein Zug von der MG-Kompanie desLandwehrregiments,

in dem sichJoseph Hoffen befand,

zu unserer Verstarkung kommen. Die eine Besatzung

hatte großes Pech. AIs sie sich ihrem zugewiesenen

MG-Nest näherte, fiel ein Mann durch MGFeuer.

Am folgenden Tag flog ein Volltreffer in ihr

Loch und totete aIle bis auf einen jungen Berliner.

Da dieser nun alleine war, gesellte er sich zu der

anderen Besatzung seines Zuges. Nach 2 Tagen wurden

sie von einem anderen Zug ihrer Kompanie

abgelost. 1\ach zwei weiteren Tagen sollte der junge

Berliner wieder in Stellung, obwohl die meisten

Mannschaften der Kompanie noch nicht vorne gewesen

waren. Das Landwehrregiment lag namlich

dauernd in den Ortschaften hinter der Front. Der

junge Berliner sagte zu seinem Feldwebel, er sei

noch nicht an der Reihe; er gehe erst wieder nach

vorne, wenn er der Reihe nach wieder drankärne.

Damit hatte er eigentlich ganz recht. ur schien er

vergessen zu haben, daß er ein willenloses Werkzeug

des preußischen Militarismus war. »Also verweigern

Sie meinen Befehl«, sagte der Feldwebel. » Ich gehe,

wenn wieder die Reihe an mir ist«, gab der Berliner

zur Antwort. Auch dem Kompanieführer sagte er

dasselbe. Er wurde weitergemeldet. Das Divisionskriegsgericht

trat zusammen und verurteilte den armen

Jungen zum Tode durch Erschießen, wegen

Verweigerung eines Befehles vor dem Feind. Das

Urteil wurde am folgenden Tag vollzogen. Dieser

arme Junge war von den Großen als abschreckendes

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die meisten Soldaten nur mit Widerwillen den Befehlen

Folge leisteten.

    Die Englander schossen nun mit Granaten mit

Verzôgerung, das heißt, sie platzten nicht sofort

nach dem Aufschlag auf dem Erdboden, sondern

explodierten erst tief im Boden, wobei sie die in der

Nähe befindlichen Stollen eindrücken sollten. Diese

gefàhrlichen Dinger nannten wir Stollenbrecher.

Viele dieser Granaten gingen so tiefin die Erde, daß

ihre Sprengkraft nicht stark genug war, die Erde, die

über ihnen lag, zu sprengen, und sie nur den Boden

wie eine Blase hochtrieben. Durch diese Granaten

stürzten viele Stollen ein, wodurch die darin befindlichen

Soldaten verschüttet wurden und einen

schrecklichen Erstickungstod erleiden mußten. Auf

alle nur môglichen Arten wurden die armen Soldaten

umgebracht, und doch mußte man ausharren,

sonst erging es einem wie jenem armen Berliner

Jungen. Nach und nach keimte ein todlicher Haß in

mir gegen aile jene, die gegen eine hohe Bezahlung

die bedauernswerten Soldaten zwangen, an der

Front auszuharren und in den Tod zu gehen.

    Eines Abends war Schütze Konkel von meinem

MG, ein 20jahriger Junge aus Danzig, an der Reihe,

Essen zu holen. Er nahm die Kochgeschirre und

ging. Jedoch kein Konkel kam wieder zurück.

Ebenso fehlte der Gefreite Kruchen, ein aus Kôln

stammender Rheinländer. Wir aIle glaubten, daß sie

gefallen seien. Natürlich litten wir an jenem Tag

schweren Hunger und Durst. ln der folgenden

Nacht wurden wir wieder abgelôst. Da im Moment

alles ruhig war, sagte ich: »Wir gehen heute die

Straße enùang durch das Dorf. Es ist viel naher und

besser zu laufen aIs über das Feld. Auch wundert es

mich, wie's im Dorf aussieht.. Alle waren gleich einverstanden.

Wir erreichten das Dorf. Da heller

Mondschein war, konnten wir im Vorbeigehen die

Greuel der Verwüstung sehen. Fast aIle Hauser waren

auseinandergeworfen von den schweren englischen

                                    346

der Straße. ur ein schmaler Fahrweg war freigelegt

worden. An einer Stelle lag eine zertrümmerte Feldküche

mit zwei toten vorgespannten pferden. Einige

Schritte weiter lagen zwei tote Soldaten, ebenso zwei

Pferde, die an einem mit StoIlenbrettern beladenen

Wagen angespannt waren. Eiligst suchten wir das

Dorf hinter uns zu bringen. AIs wir ungefahr die

Halfte desselben passiert hatten, kamen plotzlich mit

ohrenbetäubendern Sausen mehrere sehr schwere

Granaten ins Dorf geflogen. Die Kraft ihrer Explosionen

war derart stark, daß man meinte, vom Luftdruck

in die Hohe gehoben zu werden. Überall

stürzten von den zerschossenen Hausern durch die

Erschütterung Ziegel und Cebàlk nieder. Wir 4 liefen,

50 schnell wir konnten, um dem drohenden

Unheil zu entrinnen. Doch die Granaten waren

schneller als wir. Die nächsten platzten nahe hinter

und nicht weit neben uns. Schwirrend sausten die

gewaltigen Splitter über uns hinweg. Weiter, nichts

als weiter! Vom Laufen und von der Aufregung

waren wir fast atemlos. Sch-sch-schr-krack-krack,

flogen zwei der Ungeheuer über uns und platzten

vor uns, mehrere hinter uns. Nun waren wir mitten

drinnen. Das Prasseln der Erdschollen schien kein

Ende zu nehmen. Immer neue Granaten flogen

heran und explodierten rund um uns. Wir wußten

nicht, wohin wir uns wenden sollten. Endlich erreichten

wir das Ende des Dorfes und liefen sofort

nach links über das Feld, denn wir hatten wahrgenommen,

daß das Feuer hauptsächlich der Straße

galt. Wir liefen nun durch herrliche Weizenfelder,

die teilweise von den Granaten zerfetzt waren. AIs

keine Granate mehr in unsere Nähe kam, hielten wir

an; wir waren derart erschopft und atemlos, daß wir

uns eine Weile niederlegen mußten, um wieder zu

Atern zu kommen. Plôtzlich ging vorn ein Hôllenlärrn

los. Die englische Artillerie trommelte wie

wahnsinnig auf die deutschen Stellungen. Das Feuer

wurde von der deutschen Artillerie mit allen Kali-

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bern erwidert. Man sah vorne nichts ais dasimrnerhrende

Zucken und Blitzen der explodierenden

Granaten und Schrapnells. N un stiegen Hunderte

von Leuchtkugeln hoch. Sofort setzte ein Geprassel

der Maschinengewehre ein. »Da ist was los!« sagten

wir uns und waren überglücklich, abgelost worden

zu sein. Vorne sahen wir viele rote Leuchtkugeln

hochsteigen, die das Sperrfeuer der deutschen Artillerie

anforderten, das sofort einsetzte. Gebannt

schauten und hôrten wir diesem Blitzen und Krachen

zu, bis uns eine unweit von uns einschlagende

Granate sagte, uns schIeunigst aus dem Staube zu

machen. Wir näherten uns nun der Schlucht, gingen

jedoch nicht zur Kompanie aus Furcht, alarmiert zu

werden und nach vorne zur Verstärkung gehen zu

müssen. Langsam flaute das Feuer ab, dann war alles

still. Dann gingen wir zur Kornpanie. Wir glaubten,

die letzten zu sein, und waren die erste Besatzung,

die an der Schlucht eintraf. Am folgenden Morgen

erfuhren wir, daß die Engländer einen Nachtangriff

unternommen hatten, stellenweise in die deutschen

Stellungen eingedrungen seien, wo sie Gefangene

machten; dann hatten sie sich wieder zurückgezogen.

 

 

        WlEDER lN RUHE – ANFANG JUNl 1918

 

Am ersten Ruhetag spielte sich über uns in groHer

Hôhe ein furchtbarer Luftkampfab, an dem 52 Flieger

teilnahmen. Sechs stürzten ab. Einer davon, ein

englischer, stürzte kaum 50 m von uns in die

Schlucht. Wir aile glaubten, el' würde direkt auf uns

zustürzen. Man wulite im Moment nicht, wohin man

sich wenden sollte. Der Anprall auf der Erde war

furchtbar. Das Flugzeug wurde zerschmettert und

fing sofort an zu brennen. Es getraute sich niemand

in die Nähe wegen der Stichflammen, die dureh das

Benzin hervorgerufen wurden und durch die Ex

                                348

plosion der erhitzten Geschosse. AIs alles verbrannt

war, wurde der verkohlte Korper des Fliegers aus

den Trürnmern gelôst und oben auf dem Feld begraben.

        Am zweiten Ruhetag schof plôtzlich ein engliseher

Flieger mit grôHter Schnelligkeit aus groHer

Hohe hernieder und schof mit wenigen Schüssen

den Fesselballon, der ganz in unserer Nähe stand, in

Brand. Der Beobachter konnte sich retten, indem el'

mit dem Fallschirm absprang und langsam schwebend

wohlbehalten auf der Erde ankam. Am folgenden

Tage war schon wieder ein neuer Fesselballon

zur Stelle. Ein englischer Flieger überflog denselben

und warf etwas ab, das mir ganz neu war. Man sah

viele kleine Rauchstreifen yom FIieger herunterfal-

Ien. Dies war wahrscheinlich eine brennende Flüssigkeit

[Phosphor], um den Ballon in Brand zu setzen;

dieser wurde jedoch sofort heruntergezogen.

Jeden Tag gingen sämtliche KompaniefeldwebeI

des Bataillons nach Morcourt, um Befehle zu empfano-

en und die Parole zu hoIen. Sie standen in einem tl

Hof und erwarteten den Bataillonskommandeur.

Plotzlich schlug eine Cranate in ihrer Mitte ein. Alle

wurden zerrissen, nur unser Kompaniefeldwebel

Laugsch kam mit einer weggerissenen Wade davon.

Er hatte sich, sobald er das Sausen vernommen

hatte, auf den Boden geworfen. Wir aIle verloren

dies en Mann ungern, denn er war ein guter, gerechter

Mann, eine richtige Kompaniemutter. Von jenem

Tage an wurde das Dorf Morcourt jeden Tag

beschossen.

        Eines Tages kreisten etwa 40 englische Flieger

über dem Dorf. Nur ein einziger näherte sich unserer

Schlucht. Alles in Deckungl kam der Befehl.

Wir hockten vor den Lochern und beobachteten,

dureh das Gesch gedeckt, die Bewegung der Flieger.

Plôtzlich sah ich, daf einer der Flieger cine

Leuchtkugel abscholi; im selben Moment hôrte man

schon das Pfeifen der herniedersausenden Bomben,

und einem Trommelfeuer gleich ertôriten die Deto

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nationen derselben im Dorf Morcourt. Bald darauf

war das Dorf in schwarzen Rauch gehüllt. Plôtzlich

sauste es über uns, 4 Detonationen ertonten. Wie der

Blitz waren wir aile in die Lëcher gekrochen. Der

Soldat, der das Loch mit mir teilte, sagte: »Ich hab'

eins abgekriegt!« Ein nickelgroßer Splitter war ihm

ins Gesäf gedrungen. Ich konnte den selben herausnehmen.

Er hatte nur eine Fleischwunde davongetragen

und bekam vom Bataillonsarzt einige Tage

Schonung. Einem Fahrer der Bataillonsbagage, der

eben auf dem Bock sitzend die Schlucht passierte,

wurde von einem Splitter die Gurgel weggerissen. Er

stieg noch vom Wagen, lief mit erhobenen Händen

und Todesangst in den Augen einige Schritte, brach

dann zusammen, raffte sich nochmals auf und fiel

einigen zu Hilfe eilenden Soldaten in die Arme, wo

er sofort starb. Die Leiche, die vorne vollständig mit

Blut besudelt war, war schrecklich anzusehen. Wir

waren jedoch zu sehr abgestumpft, um besonders

ergriffen zu werden. Wann, wann endlich würde

dies es Morden ein Ende nehmen? Nirgends Aussicht

aufbaldigen Frieden. Ich dachte, wie traurig es

wäre, wenn ich nach aIl dem Schrecklichen, Furchtbaren,

das ich gezwungen war mitzumachen, doch

no ch fallen müßte! Diese ungewisse Zukunft war fast

noch das Unangenehmste.

    Die Verpflegung war etwas besser und reichlicher

ais 1917. Wir erhielten hier Kampfzulage. Aber immerhin

konnte man sich nur einmal des Tages sattessen.

Eines Tages sah ich zu meinem nicht geringen

Staunen den Schützen Konkel und den Gefreiten

Kruchen in Begleitung von 2 Soldaten bei der Kompanie

ankommen. Wir glaubten, die beiden seien vor

etwa 10 Tagen beim Essenholen gefallen. Sie waren

jedoch rückwärts desertiert und in Péronne in den

Zug gestiegen, der sie nach ln brachte. Konkel,

der nirgends ein Essen bekommen konnte, war bald

gezwungen gewesen, sich den Behorden zu stellen,

während der Gefreite Kruchen bei seiner Frau in

der Wohnung abgefaßt worden war. Sie wu rd en nun

                                    350

zum Truppenteil zurückgeführt, um yom Divisionsgericht

abgeurteilt zu werden. Jeder erhielt 5 Jahre

Zuchthaus. Ich mußte sie in Begleitung von 2 Mann

im Cefangnis in Cambrai abliefern. Wir marschierten

bis Péronne, immer durch verwüstetes Gebiet.

[... ] Wir fuhren nun mit einem Urlaubszug nach

Cambrai. Nirgends sah man mehr ein bewohntes

Haus. Alles zerschossen, zerstôrt, gesprengt. Westlich

von Cambrai lagen etwa 100 englische Tanks,

die bei den Kampfen 1917 [Tankschlacht von Cambrai,

20.29. November 1917] zerschossen worden

waren, auf den Feldern. ln Cambrai mußte ich die

beiden bei einem Offizier, der das Cefängnis verwaltete,

abgeben. »Und wie steht's vorn?« fragte er

mich. »Ich finde, nicht zum besten«, antwortete ich.

Ich erzählte ihm nun, daß die Engländer mit Fliegern

und Artillerie und sicher auch in Lebensmitteln

in großer Übermacht seien und daß meiner Ansicht

nach die Amerikaner den Ausschlag geben würden.

»[a«, sagte nun der Offizier, »Sie sind meiner Ansicht.

« Dies war der erste Offizier, der es laut werden

ließ, daß der Krieg für Deutschland verlorengehe.

[... ] Am folgenden Morgen fuhren wir wieder mit

der Bahn nach Péronne, um von dort zu F zu

unserer Kompanie zu gehen. Wie glücklich doch die

Soldaten waren, die Dienst in der Etappe hatten und

nie in Lebensgefahr schwebten! [... ]

    Nach 3 Tagen mußte ich mit meiner Besatzung

eine vorne befindliche Besatzung ablôsen. [... ] Dabei

ging es durch einen Laufgraben, der Tag und

 Nacht unter dem Feuer der englischen Artillerie lag,

dem vorderen Frontabschnitt zu. Wir passierten nun

einen vollständig zerschossenen Wald, wo von den

Bäumen nur einige Stammchen gieich Telefonstangen

in die Hohe ragten. [ ] Die Stellung lag dauernd

unter dem Feuer der schweren englischen Minen.

Wo die hinfielen, wuchs kein Gras mehr. Sie

hatten eine unglaubliche Sprengkraft. Den ganzen

Tag sah man nach vorne in die Hohe, ob nicht eine

solche angeflogen komme. Die Minen konnte man

                                        351

närnlich im Fluge gut sehen. Mit großer Geistesgegenwart

konnte man ihnen manchmal noch schnell

ausweichen. Dauernd schwebten einzelne englische

Flieger, die sich gegenseitig ablôsten, über unseren

Stellungen. Sie beobachteten jede Bewegung, und

sobald sie etwas entdeckten, warfen sie ihre 4 Bornben

ab oder schossen mit dem Maschinengewehr hinab.

Wir nannten diese Flieger Grabeninspektoren.

        Ohne besonderen Zwischenfall wurden wir nach

3 Tagen ohne Verluste wieder abgelost. Ais wir uns

auf dem Rückweg durch das zerstorte Dorf Cherisy

befanden, setzte plôtzlich furchtbares englisches

Artillerie- und Minenwerferfeuer ein. Unablässig

krachten und donnerten die starken Explosionen.

Ebenso plotzlich kamen englische Granaten herangeflogen,

welche die der Somme entlangführende

Straße unter Feuer hielten. Eiligst liefen wir in einen

in einer nahen Bôschung eingegrabenen Stollen.

»Vorne rappelt's«, war unsere allgemeine Ansicht.

Plôtzlich hôrten wir vorne Gewehr- und Maschinerigewehrfeuer,

jedoch nur schwach. »Palit auf, die

Engländer sitzen in unserer StelIung!« sagte ich. Auf

der etwa 30 m von uns entfernten Straße marschierten

dunkle Infanteriekolonnen nach vorne zur Verstärkung.

Diese armen Teufel hatten jedenfalls auch

Herzklopfen, denn erstens mußten sie durch das

Granatfeuer bis an die Front, dann, werm die Engländer

in der deutschen Stellung saßen, angreifen

und versuchen, sie hinauszuwerfen, was nie ohne

große Verluste geschehen würde. Wir entschlossen

uns, im sicheren Stollen zu bleiben, bis das Schießen

vorne aufgehôrt hätte. Gegen Morgen wurde es ruhiger.

Ich sah einige Leichtverwundete, die in nervôser

Hast auf der Straße rückwarts strebten. Ich lief

hin, um mich zu erkundigen, was eigentlich los gewesen

sei. Meine Besatzung hatte sich auch hinzugesellt,

und wir marschierten mit den Verwundeten

zurück. Sie erzählten nun, daß sie plotzlich mit englischen

Minen und Granaten überschüttet worden

seien. Alles habe sich zur Deckung an den Grabenboden

                                        352

Geschosse weiter rückwarts geflogen; in diesem Moment

seien die Englander schon in ihren Graben

gesprungen und hatten alles abgemurkst. Sie selbst

seien zum Graben hinausgeklettert und auf der

Flucht verwundet worden. Sie glaubten nicht, daß

im Graben nur ein Mann am Leben geblieben sei.

Ich dankte Gott im stillen, daf wir eine halbe Stunde

vorher abgelost worden waren, und bedauerte tief

die beiden Besatzungen unserer MG-Kompanie, die

im vordersten Graben lagen, denn ich war um ihr

Schicksal sehr besorgt. Wir erreichten nun die

Schlucht. Der Kompaniefeldwebel Bukies fragte

uns, was eigentlich los gewesen sei. Ich erzählte ihm

das Cehôrte.

        lm Laufe des Morgens wurden etwa 20 Schwerverwundete

zurückgebracht, die zum Teil schrecklich

zugerichtet waren, hauptsächlich Bajonett- und

Dolchstiche erhalten hatten oder von Handgranaten

verwundet worden waren. Dabei befand sich der

Gefreite Reinsch von meiner Kompanie, dem eine

Handgranate beide Fersen weggerissen hatte und

der noch Splitter in den Waden und Schenkeln

stecken hatte. Diese Schwerverwundeten wurden

sofort weiter zurücktransportiert. Nun kamen auch

2 Mann meiner Kompanie an, die unverletzt waren.

Der eine davon, ein hübscher Rheinländer, zitterte

50, daß er fast kein Wort zu sagen vermochte. Der

andere, ebenfalls ein Rheinländer, namens Panhausen,

erzàhlte nun, er sei Ordonnanz beim Zugführer

gewesen und habe mit diesem während des starksten

Minenfeuers zum anderen Maschinengewehr gemußt.

Plôtzlich seien die Minen weiter zurückgeflogen

und im selben Moment die Engländer var ihm in

den Graben gesprungen. Der eine hielt ihm das Bajonett

an die Brust. Panhausen, der ein guter Katholik

war und glaubte, sein letztes Stündlein sei gekom- .

men, mach te schnell das Kreuzzeichen und hielt

dann die Hände hoch. Der Engländer deutete Panhausen,

nochmals das Kreuzzeichen zu machen, was

                                        353

dieser auch tat. Der hinter dem ersten stehende Engländer

wollte nun an die sem vorbei und Panhausen

niederstechen. Er traf ihn an der Brust. Das Bajonett

durchbohrte den Rock, die Hosentrager, das Hemd

und ging etwa 1cm tief in den Korper, Panhausen

wäre unbedingt durchbohrt worden, wenn nicht der

am nächsten stehende Engländer den Stof aufgefangen

hätte. Die beiden Engländer kamen nun in

einen Wortwechsel; der eine wollte Panhausen tôten,

der andere es nicht zulassen. Diesen Moment

benützte Panhausen, um zum Graben hinauszuklettern

und rückwärts im Weizen zu verschwinden. Der

Zugführer hatte sich sofort aus dem Staube gemacht.

Panhausen glaubte auch, daf es viele Tote im

Graben gegeben habe, denn er hatte viele Todesschreie

gehart. »Ich bin sicher«, schlof er, »daf mir

das Kreuzzeichenmachen das Leben gerettet hat..

Der andere Rheinländer hatte sich inzwischen soweit

erholt, daß auch er uns sein Erlebnis mitteilen

konnte. Er habe während des Artillerie- und Minenfeuers

in einer im Graben befindlichen kleinen

Hôhle gelegen, um sich zu decken. Plôtzlich seien die

Engländer in den Graben gesprungen und hatten

3 Infanteristen, die neben ihm im Graben lagen,

niedergestochen, obwohl sich die Infanteristen ergeben

wollten. Ihre entsetzlichen Schmerzens- und

Todesschreie hatten ihn fast zum Wahnsinn gebracht.

Jeden Augenblick glaubte er entdeckt und

abgestochen zu werden. »Das waren die furchtbarsten

Minuten meines Lebens«, fuhr er fort. »Die

Engländer liefen, als sie alle erreichbaren Deutschen

getôtet hatten, noch eine Weile im Graben hin und

her, ohne mich zu entdecken. Schließlich verließen

sie den Graben wieder und kehrten in ihre Stellungen

zurück.« Da der Angriff so überraschend ausgeführt

wurde, wurde deutscherseits fast gar kein Widerstand

geleistet, so daf die Englander fast keine

Verluste hatten.

        ln der folgenden Nacht mußten 3 Wagen von der

Bataillonsbagage nach vorne fahren, um die Leichen

                                354

zu holen. Sie sollten auf dem großen Soldatenfriedhof

in Proyart beerdigt werden. Am folgenden Morgen

standen nun die mit den Toten beladenen Wagen

in der Schlucht. Welch ein Anblick! Hoch aufgeschichtet

kreuz und quer, in- und übereinander lagen

sie da, die Todesangst teilweise jetzt noch in den

Gesichtern. Ich habe mal gelesen: »Unsere Soldaten

sterben für ihr Vaterland mit einem Lächeln auf den

Lippen.. Welch dreiste Lüge! Wem wird es wohl

ums Lächeln sein, der einen so schrecklichen Tod

var Augen sieht! Allejene, die solche Sachen erdichten

und schreiben, gehôrten nur in die vordere

Front gesteckt. Dort kônnten sie bald an sich selber

sowie an den anderen sehen, welche infame Lüge sie

in die Offentlichkeit geschleudert haben.

        Am Nachmittag soIlte das Begräbnis der Bedauernswerten

sein. Etwa 20 Mann meiner Kompanie

wurden zum Begräbnis kommandiert. Gruppenweise,

zu nur 3 Mann, gingen wir von der Schlucht

über das freie Feld nach Proyart. Am Tage vorher

war namlich Proyart von der englischen Artillerie

beschossen worden. Deshalb durften wir nur in kleinen

Gruppen abmarschieren, um das Feuer der englischen

Artillerie nicht auf uns zu lenken. Wir befanden

uns auf dem Friedhof, ehe die Wagen mit den

Toten da waren. Das Massengrab war bereits gegraben.

Viele Soldaten hatten hier fern von der Heimat

bereits ihre letzte Ruhe gefunden. Ich ging durch

die Gräberreihen und las die auf die Kreuze geschriebenen

Namen. Auf dem einen stand: »Reservist

Karl Krafft, 5. Kompanie, Infanterieregiment

332.« Diesen Krafft, der aus Berlin stammte und der

dort Gastwirt war, kannte ich sehr gut, denn wir

waren bei der 5. Kompanie in der gleichen Gruppe.

Er war ein angenehmer Kamerad, nur zu überpatriotisch.

Er hatte, wie er mir früher erzählte, eine

Frau mit vier kleinen Kindern zu Hause. Der arme

Krafft sowie seine Familie dauerten mich sehr. Nun

kamen in der Reihe, in der Krafft ruhte, mehrere

Fliegergraber. Diese waren an den zerbrochenen

                                    355

Propellern erkenntlich, die bei den Kreuzen in die

Erde gesteekt waren. Inzwischen waren die Wagen

mit den Leichen angekommen. Sie wurden von den

Wagen heruntergenommen und dreifach aufeinandergelegt.

Vorher wurden ihnen die Stiefel und die

Rôcke ausgezogen, dann wurden sie mit dem sogenannten

Lcichcnpapier, dünncm, gerüseheltem Papier,

zugedeekt. Dann betete der Feldgeistliche, der

zugegen war, einige Begräbnisgebete. Ein Offizier

hielt eine kurze Rede, die nichts als patriotische Lügen

enthielt. Dann wurde das Grab zugeschüttet.

Diese armen Soldaten hatten jetzt Ruhe. Aber ihre

Eltern, Schwestern, Frauen und Kinder? Es war gut,

daf man ihren Schmerz nicht sehen konnte. Wir

gingen nun wieder, zerstreut, wie wir gekommen

waren, in die Schlucht zur Kornpanie zurück.

Am Abend mußte ieh wieder in Stellung, die Besatzung

des Unteroffiziers Peters ablosen. Das MGNest

befand sich nicht im vordersten Graben, sondern

etwa 300 m rückwàrts an einer vollstandig zerschossenen

Waldecke, die sich auf einem erhôhten

Punkt befand, von dem man die deutsche sowie die

englische Stellung gut übersehen konnte. Unteroffizier

Peters sagte mir, daf dies nachts der gefahrlichste

Punkt weit und breit sei, denn jede Nacht prasselten

mindestens 5 bis 6 furchtbare Artilleriefeuerüberfälle

hier hernieder. Peters verlieB IlllIl im Laufschritt

den gefahrlichen Platz. Zum Glück für uns

war von Pionieren ein etwa 6 m tiefer Stollen in den

Kreidefelsen gebaut worden, worin man ziemlich

sicher war. Der Stollen ging zuerst grad in die Erde

hinein, dann erst in einem Winkel in die Tiefe, um

zu verhindern, daf Splitter in den Stollen hinunterflogen.

Wir stellten unser MG oben in den StoIlen,

während wir uns unten auf die Treppe setzten. Ich

hatte mehrere Kerzen mitgenommen, damit wir

doch nicht ständig im Finstern zu hocken brauchten.

Einer der Soldaten muhte sich obcn am Eingang

gedeckt aufhalten, mn besser horen zu kôrmen,

werm vorne etwas losgehen soUte. Bis jetzt war, obwohl

                                    356

immer mit der Artillerie beiderseits geschossen

wurde, noch kein Geschoß in unsere Nähe gekommen.

Aber plôtzlich, mit einem Schlag, ging es los.

Unaufhôrlich donnerte und krach te es über uns und

um uns. Dureh den Luftdruck der in nächster Nähe

platzenden Granaten wurde das VOl' dem Eingang

hängende Zelt weggeweht, so cial) unsere Kerze

mehrrnals erlosch. War das ein Donnern und Drôhnen

über uns, als ob der Jüngste Tag angebrochen

wärel Wir hatten mehrere Pickel und Spaten bei uns

im Stollen stehen für den FaU, daß der Eingang

eingeschlossen und wir verschüttet werden sollten.

So plotzlich, wie sie gekommen war, hôrte die Schie-

Berei wieder auf. Obwohl wir nicht in direkter Gefahr

gewesen waren, atmeten wir doch erleichtert

wieder auf. Noch vier solcher Feuerüberfälle hatten

wir in der ersten Nacht zu überstehen. Nun graute

der Morgen. Alles wurde ruhig. Wir gingen aus dem

Stollen, stellten uns in den Eingangsgraben und

überschauten von diesem schônen Aussichtspunkt

die Gegend. Rundum Ruinen und Verderben. Etwas

rechts von uns das vollständig zu Boden geschossene

Dorf Hamel. Diesseits die deutschen, in und

jenseits des Dorfes die englischen Stellungen. Von

hier aus hatten wir mit unserem Maschinengewehr

bei einem etwaigen englischen Angriff furchtbar untel'

ihnen aufraumen kônnen. Aber in solchem Falle

wäre unsere Position wohl derart unter englischem

Artilleriefeuer gelegen, daf keiner es gewagt hätte,

den Stollen zu verlassen. Ohne nennenswerten Vorfall

vergingen die nächsten 3 Tage. Wir konnten fast

jeden Tag großere und kleinere Luftkämpfe beobachten,

wobei fast immer einer oder mehrere Flieger

abstürzten. Mehrmals sah ich, wie englische Geschwader,

die hinter der deutsehen Front operiert

hatten, auf ihrem Rückweg von kleinen deutschen

Flugzeugen eingeholt wurden. Dabei wurde imrner

der letzte Flieger von seinem Geschwader abgetrennt

und hinuntergeschossen. Manchmal wurden

bis zu 3 englische Flieger auf diese Art zum Absturz

                                    357

gebracht. [... ] Am einem der folgenden Tage wurde

unsere Schlucht mit Gasgranaten belegt. Da wir sofort

un sere Masken aufsetzten, konnte uns das Gas

wenig anhaben. Weiter oben in der Schlucht starben

19 Infanteristen, die schliefen, durch eingeatmetes

Gas.

 

 

DIE SPANISCHE GRIPPE / DIE REISE NACH

            METZ – ANFANG ]DLI 1918

 

Bereits seit einigen Tagen fühlten sich einige Soldaten

unwohl, ohne daI3 man eigentlich wuI3te, was

ihnen fehlte. Da lasen wir in den Zeitungen von einer

neuartigen Krankheit, genannt die Spanische

Grippe, weil sie in Spanien ihren Anfang genommen

hatte. [Weltweit starben 1918/1919 an dieser Epidemie

20 Millionen Menschen.] Nun wuI3ten wir Bescheid.

Immer mehr Soldaten erkrankten und

schlurften wie halbtot herum. Obwohl sie sich krank

meldeten, kam kaum einer ins Lazarett, denn es

hieû, es gebe keine Leichtkranken und Leichtverwundeten

mehr, nur noch Schwerverwundete und

Tote. Da die unterernahrten, von den Strapazen

entkräfteten Kôrper der Krankheit keinen Widerstand

entgegensetzen konnten, war in wenigen Tagen

die Hälfte der Mannschaft erkrankt. Von einer

Pflege war keine Rede. Wir mul3ten mit dem elenden

FeldküchenfraI3 vorliebnehmen. Ich selbst war bis

jetzt von diesem Übel verschont geblieben.

Eines Tages lief der Feldwebel sämtliche in der

Schlucht weilenden Unteroffiziere der Kompanie

antreten. Er sagte: »Eben ist vom Bataillon ein Befehl

gekommen, daf die MG-Kompanie einen Unteroffizier

zu stellen hat, der in Begleitung eines

Soldaten der 6. Kompanie nach Metz fahren solI, um

im dortigen Cefängnis einen Soldaten der 6. Kompanie,

der eigenmachtig die Front verlassen hat und

in Metz erwischt wurde, zum Truppenteil zurückzuwir

                                        358

bringen. Wen solI ich nun hinschicken, da ich weil3,

daß jeder von euch gerne gehen würde?« Da trat ich

vor und sagte: »Herr Feldwebel, da ich seit 4 Jahren

nie mehr in meinem Heimatlande war, môchte ich

bitten, fahren zu dürfen.«  »Ach so, aber natürlich,

Richert, Sie sollen fahren. Es hat doch keiner was

dagegen?« fragte er nun die anderen. Die waren

natürlich aile einverstanden. Ich freute mich doch,

wieder einige Tage von der Front wegzukommen.

[... ]

        Am folgenden Morgen meldete sich der Infanterist,

der mich begleiten sollte, bei der Kompanie,

und wir beide walzten los. [... ] Vorher hatten wir

vom Feldwebel die Fahrbescheinigung sowie die

Verpflegungsbescheinigung erhalten. ln Péronne

bestiegen wir den Zug. Der junge Soldat sagte immer:

»Herr Unteroffizier hier, Herr Unteroffizier

dort.« Ich meinte, er solle das doch bleibenlassen,

denn wir seien nichts weiter aIs Kameraden. Er erzàhlte

mir nun, daI3 er aus Metz sei. »S, sagte ich,

»da kannst du schôn deine Eltern besuchen.«  »Ich

habe keine Eltern mehr. Sie sind gestorben. Nur

noch meine verheiratete Schwester lebt in Metz, deren

Mann sich in franzôsischer Kriegsgefangenschaft

befindet«, antwortete er mir. »Was meinst du,

ist er nicht besser dran als wirP. fragte ich. »Oh,

sicher«, meinte der Junge, »dort wird er doch nicht

totgeschossen und hat jedenfalls besser zu essen als
wir..

        Von Cambrai fuhren wir mit einem überfüllten

Urlaubszug über Neufchäteau, Rethel, Sedan. Zwischen

Rethel und Sedan fühlte ich die ersten Fieberwellen,

bald gIühend heiû, bald kalte Schauer. Die

Grippe hatte mich nun ebenfalls erfaI3t. Ich bekam

grol3en Durst, und aIs der Zug im Bahnhof Sedan

hielt, stieg ich aus und trank am Bahnhofsbrunnen

eine nicht geringe Menge kalten Wassers. Nun ging

die Fahrt weiter über Montmédy und bei Fentsch

über die lothringische Grenze. [... ] ln Metz angekommen,

gingen wir nach der am Bahnhof befind- 

                                    359

lichen Verpflegungsstation und erhielten nach Vorzeigen

unseres Verpflegungsscheines jeder eine

Portion Essen. Auf dem Schein wurclc cler Tag vermerkt,

damit man nicht zweimal am Tag Essen holen

konnte. Nach dem Essen gingen wir zu der Schwester

des Soldaten. Die ganze Stadt war in Dunkel

gehüllt, um den fr anzôsischcn Fliegern die Lage der

Stadt nicht zu verraten. Die Schwester des Soldaten

[… ] kochte noch schwarzen Kaffee. Wir erzählten

uns noch eine Weile, warum wir hier seien und so

weiter. Nachher gingen wir zu Bett. Gott, wieder

einmal in einem Bett ausgezogen zu schlafen. Welch

ein Genuß! Denn es war nun wieder ein dreiviertel

Jahr her, seit ich das letztemal ausgezogen in einem

richtigen Bett geschlafen hatte.

Ich hatte vom Feldwebel 3 Tage zur Reise erhalten:

einen Tag hin, einen Tag in Metz und einen

Tag zur Rückfahrt. Am 1. Tag in Metz muûte ieh

mit d~m Soldaten dessen Verwandte besuehen gehen.

Uberall wurden wir freundlieh aufgenommen

und bekamen von dem wenigen, das die Leute hatten,

aufgetiseht. lu Mittag soIlte ich bei der Sehwester

meines Kameraden essen. Da ieh wußte, daß sie

selbst nieht genug für sich hatte, ging ieh nach der

Verpflegungsstation am Bahnhof und erhielt naeh

dem Vorzeigen des für 2 Mann ausgestellten Verpflegungszettels

2 Portionen. Man aß in Baraeken.

Zwei gefangene ltaliener mu13ten die Schüsseln

wegtragen und die Tisehe abräurnen. Sie sahen

beide zum Erbarmen elend aus. AIs der eine die

Sehüsseln hinaustrug, sah ich, daß er mit dem Finger

die Sesseln inwendig abstreifte und den Finger

dann ableckte. 0 je! dachte ieh, die armen

Leute müssen hier auf der Verpflegungsstation

halb verhungern. Ich winkte beide heran und gab

ihnen die eine Portion, die sie sofort aßen. Sie nickten

mir mit dankbarem Blick zu. [... ] Am folgenden

Morgen ging ieh in ein Schnellphotographieratelier.

Das Bild fiel nicht gut aus, da ich dureh die

Grippe noch elender ais sonst aussah.

                                360

Gefangnisbüro, wo wir unsere Beschcinigung vorzeigten.

Von dem dort befindlichen Feldwebel erhielten

wir nun die Bescheinigung zum Abholen des

Gefangenen. Ich lieûjedoch das Datum des nachsten

Tages aufschreiben, denn ich wollte noch eine Nacht

in einem Bett sehlafen. Dann ging ieh wieder naeh

der Verpflegungsstelle. Die beiden italienisehen Gefangenen

erkannten mich sofort wieder und nickten

mir freundlich zu. Ich holte wieder 2 Portionen. Da

ich infolge der Grippe jede Eûlust verloren natte,

nahm ich nur ein Würstchen aus der einen Portion

und gab alles andere den beiden Italienern, die das

Essen bald verschlungen hatten. Ich ging nun aufs

Pissoir. Eben kam auch ein anderer italienischer Gefangener

hinein. Sofort ekte er sich. Ich sah hin

und war nicht wenig erstaunt. Der Italiener nahm

einige ligarettenstummel, die in der Ablaufrinne im

Urin lagen, wahrseheinlich um sie zu troeknen und

zu rauchen. Wie tief der Mensch sinken kann! Wahrscheinlich

war er früher ein leidenschaftlicher Raucher

gewesen, der nun in der Gefangenschaft nie

etwas zum Rauchen erhielt. Da ich noch einige Zigaretten

in der Tasehe hatte, gab ich sie ihm. Wie mir

dieser Mensch dankte! AIs hatte ich ihm das großte

Geschenk gemacht.

        Am folgenden Tag nahmen wir Abschied von unserer

Quartiersfrau und gingen ins Cefangnis, wo

wir den Gefangenen abholten. Er war erst 19 J ahre

aIt und ebenfalls aus Metz gebürtig. [… ] Unterwegs

sah ich Kirschen, schône, grolle schwarze Kirsehen,

in einem Geschäft zum Kaufen ausgestellt. Sofort

ging ich hin und erstand gleich 6 Pfund, die wir 3

dann sofort im luge aßen. Wie diese gute, so lange

entbehrte Frucht schmeekte! Es war gerade 4 Jahre

her, daß ich das letztemal Kirsehen gegessen hatte.

Wir fuhren nun das schône Moseltal abwarts, durch

das wir auf der Herfahrt naehts gekommen waren,

dann dieselbe Strecke na ch Nordfrankreich zurück.

lu meinem nicht geringen Staunen hôrte ieh auf

                                    361

einer Station vor Cambrai rufen, alles, was zu rneiner

Division geh6re, solle aussteigen. Ich fragte

gleich, was los sei. Unsere Division sei an der Front

abgelôst worden und befände sich in der Umgegend

in Quartier. Ich ging nun nach dem Auskunftsro,

wo mir auf meine Frage geantwortet

wurde, daß das 2. Bataillon, Infanterieregiment 332

in dem Dorfe Bévillers in Quartier liege. Wir hatten

etwa 6 km zu gehen. Auf den Feldern sahen wir

Scharen franzosischer Madchen, die unter der Aufsicht

deutscher Soldaten zwangsweise arbeiten

muûten. ln Bévillers angekommen, gab ich den Gefangenen

beim Bataillonsstab ab und begab mich zu

meiner Kompanie.

 

 

 

                lM QUARTIER lN BÉVILLERS

 

 Mir wurde ein Quartier angewiesen, in dem schon

3 Unteroffiziere waren. Hier kam ich das erstemal

mit franzôsischen Zivilisten in Berührung, denn die

Dërfer an der Front waren aUe von den Familien

verlassen. Die Familie, bei der ich nun in Quartier

lag, war sehr freundlich. Vater, Mutter und deren

19jahrige Tochter Lidga, ein hübsches Madchen,

das schon gut Deutsch gelernt hatte.

    Ich meldete mich sofort krank, da die Grippe nun

starker auftrat und ich ganz heiser wurde. Vor dem

Hause, in dem der Arzt die Untersuchung vornahm,

standen so gegen 100 Mann, die sich fast aIle wegen

Grippe krank gemeldet hatten. Wir Unteroffiziere

wurden zuerst untersucht. Eine Untersuchung war

es eigentlich nicht. Man wurde gefragt, wo es fehlte.

Ais ich geantwortet hatte, mußte mir der Sanitatsunteroffizier

eine etwa pfenniggroße Pfefferrninztablette

geben, wobei der Arzt sagte: »Kochen Sie

sich Tee! Der nächste!« Also konnte ich gehen. Kochen

Sie sich Tee! Das ist ungefahr dasselbe wie:

Stirb oder verreck! Ich wurde innerlich 50 wütend, 

                                    362 

daß ich mir fast nicht zu helfen wußte. Kochen Sie

sich Tee! Ich hatte ja nicht einmal ein Stückchen

Zucker, gar nichts! Ich ging in mein Quartier und

erzählte dem Mädchen das Ergebnis der Untersuchung,

worauf sich das Mädchen mit seiner Mutter

auf franzosisch unterhielt. Obwohl ich nichts verstehen

konnte, sah ich doch, daJ3 sie von mir sprachen.

Dann kam das Madchen, führte mich hinauf auf ein

Zimmer und sagte, daf ich mich zu Bett legen solle.

Dann ging sie hinunter, die Mutter kam und breitete

über mich lächelnd ein Federbett; dabei deutete sie

freundlich: Schwitzen! Nach einer Weile kam sie mit

gezuckertem heiûern Tee herauf, den ich trinken

mußte. Gleich darauf muJ3te ich noch eine Tasse

trinken. Nun kam der Schweiß. So groß ich war,

roUten die Schweißtropfen den Kôrper hinab. Unteroffizier

Peters kam nachschauen, was ich machte.

Da sagte ich, er solle mir das andere Hemd aus dem

Tornister bringen. Peters tat es, und ais ich genug

geschwitzt hatte, zog ich das fris che Hemd an und

stand auf. Da eben kam die Frau herauf; schnell

wechselte sie die Bettwäsche und nôtigte mich, nochmals

ins Bett zu gehen. Wie war ich diesen guten

Menschen dankbar! Wie wohl das tat, daf es wieder

jemand so gut mit mir meinte! Nach einer Weile

brachte mir die Frau ein Stückchen gebratenes

Fleisch mit Sauce und ein Stückchen gutes Weißbrot

dazu, nachher noch eine Tasse Kakao. Dann litt ich

es nicht langer im Bett. Ich stand auf und ging hinunter.

Abends lud die Familie uns aile zu einer Tasse

Kakao ein. Die Einwohner des von den Deutschen

besetzten Teils Frankreichs und Belgiens bekamen

aus Amerika Lebensmittel zugeschickt, um sie vor

dem Verhungern zu schützen. Die Deutschen muJ3-

ten sich verpflichten, die Lebensmittel zu verteilen

und nichts davon wegzunehmen. Daher waren diese

Leute im Besitz von Zucker, Kakao, Fleisch, Weißbrot,

kurz: aUem, was zu einem einigermaßen anständigen

Leben erforderlich ist. Wenn wir hier nur

Iängere Zeit bleiben kônntenl Das war mein sehn-

                                363

liehster Wunseh. Aber sehon kam der Befehl: »Morgen

geht es zur Bahn, wo wir verladen werden; wohin,

ist unbekannt.. Also mußten wir am folgenden

Morgen Abschied nehmen. Ich wollte der guten

Frau für ihre Bemühungen 10 Mark geben. Aber sie

wies das Geld entsehieden zurüek. [... ]

    Da ieh mieh sehwaeh und elend fühlre, setzte ich

mich auf einen MG-Wagen bis zur Bahn. Wir fuhren

dieselbe Linie, die ieh 2 Tage zuvor gekommen war.

leh hatte sehon Hoffnung, vielleieht ins EIsa13und

dort an die Front zu kommen, denn dort ging es

ruhiger her als im Norden. Und zu gerne hätte ieh

mein Heimatland wiedergesehen. Doch ieh hatte

mieh getauscht. Der Zug hielt in Conflans, unweit

der lothringisehen Grenze. Wir ver ließen den Zug

und marsehierten naeh Süden, der Front zu. ln

Mars-la-Tour blieb ich zurück, denn mein Zustand

hatte sieh während der Bahnfahrt verschlimmert.

leh ging in das dortige Revier und meldete mich

krank. Naeh der Untersuchung meinte der Arzt:

"Die Grippe hat Sie feste gepackt..  »Das fühle ich

wohl«, antwortete ieh. "Sie bleiben vorläufig hier«,

entsehied der Arzt. Mir wurde nun eine Baracke

angewiesen, in der sehon etwa 8 Mann gelangweilt

herumhoekten. Ais Lager dienten Drahtbetten, auf

denen verlauste Strohcke lagen. Und die Verpflegung:

der reine J ammer für kranke Menschen. Morgens

sehwarzer Kaffee, narlieh Kaffee-Ersatz

ohne Zueker, und eine Sehnitte Kommißbrot mit

Marmelade darauf. Mittags Dôrrgemüsesuppe, die

nieht einmal ein Sehwein gefressen hätte, und

abends das gleiehe wie morgens. Mir war es sehr

verleidet. Um etwas Zerstreuung zu haben, bat ieh

den Arzt, ausgehen zu dürfen, was er mir aueh erlaubte.

Am zweiten Naehmittag ging ieh naeh Marsla-

Tour, in ein vom Militär eingeriehtetes Kino. Es

wurden zwei schône Stüeke gespielt, naehher noch

ein Laehfilm, so daß ieh, trotz meines elenden Zustandes,

herzlieh mitlaehen mußte und für eine

Weile alles, Krieg, Soldatsein und Grippe, vergaß.

                                    364

Doch sofort nach Spielschluf war alles wieder grausame

Wirkliehkeit. Aus weiter Ferne horte ieh das

Bum-bum der Artillerie bei Verdun und weiter südlieh

vor der Festung Toul. [... ] Am folgenden Morgen

fragte ieh den Arzt, ob ich denn nieht einem

Lazarett überwiesen werden konne. Da war jedoeh

niehts zu machen, alles war überfüllt.

    Da die Verpflegung im Revier nicht besser wurde,

meldete ieh mich gesund, denn lieber war es mir, bei

der Kompanie zu sein, als hierzubleiben. »junge,

Junge«, sagte der Arzt, »von gesund ist gar keine

Rede. Warum melden Sie sieh überhaupt gesund?«

»Weil es mir hier nieht gefallt und die Verpflegung

zu sehleeht ist. leh finde, daf es bei der Kompanie

besser wäre, leh kônnte dort bei den Fahrzeugen

hinter der Front bleiben, bis mir wieder besser

wäre.« – »Na, wenn Sie haIt wollen!« sagte der Arzt

und schrieb mir den Entlassungssehein. leh

sehnallte meinen Tornister mit meinem Hab und

Gut auf den Rüeken und marschierte los in die Riehtung,

in die mein Regiment marsehiert war. Die

Front war noeh 3035 km entfernt. leh wußte natürlich

nieht, wo mein Regiment lag, aber das maehte

mir wenig Sorgen. Es war ein schôner, nieht zu hei-

Ber Sommertag, ungefahr der 1O.Juli 1918. Da

hôrte ieh hinter mir Pferdegetrappel und sah einen

Trupp abgemagerter Pferde in Begleitung einiger

Soldaten daherkommen. Die pferde kamen aus einem

Pferdelazarett und waren auf dem Wege nach

der Front. leh wartete und fragte die Soldaten, ob

ieh nieht auf einem der Gaule reiten kôrine, denn ieh

hatte die Grippe und kônne nieht gut laufen. Nur

2 der pferde trugen Sättel, Ich stieg auf. Das war

wieder was Neues. [... ] leh wurde von einem Major

unterwegs angehalten, der mieh fragte, was ieh eigentlieh

auf einem Gaul zu suehen hatte. Ich sagte,

ieh sei grippekrank und eben im Begriff, mein Regiment

aufzusuehen. Da ieh mich schwaeh fühlte,

hätte ich das Pferd bestiegen. Nun konnte ieh weiter.

[… ] Gegen Abend erreiehten wir das Dorf Jonville,

               365

das Ziel des Pferdetransportes. 1ch ging zu FuH weiter

und kam nach dem Stad tchen Thiaucourt, wo ich

übernachtete.

    Am folgenden Morgen traf ich einige Soldaten

meines Bataillons, die mir sagten, daf das Regiment

in Stellung liege. Nach vielem Herumfragen fand ich

endlieh meine Kompanie, die etwa 3 km vor Thiaucourt

in einem Waldlager, bestehend aus Baraeken

und Unterstanden, kampierte. Die Besatzungen befanden

sich in Stellung, nur einige Reserveschützen,

die Fahrer, die pferde sowie der Kornpaniefeldwebel,

der Schreiber und die Kompaniehandwerker

waren da. Ich meldete mich beim Kornpaniefeldwebel

Bukies, der ein guter Freund von mir war,

zurück. »]a, Richert«, sagte dieser, »du siehst nieht

gesund aus.« – »Bin ich auch nicht, aber ich konnte

es in diesem elenden Revier, wo ieh lag, nicht mehr

aushalten«, antwortete ich. -Kleinigkeit«, meinte

der Feldwebel, »du bleibst einfaeh hier, bis du dich

erholt hast.« Also blieb ich und richtete mich in einem

Unterstand ein, lag auf der faulen Haut, und

der Kompaniekoch sorgte dafür, daf ieh etwas Besseres

zu essen bekam als die übrigen Mannschaften.

Vorne am Waldrand wurde eine Strafie gebaut, an

welcher gefangene Italiener beschaftigt waren. Wie

schlecht diese armen Menschen aussahen, gelb,

mehr graugelb ihr eingefallenes Gesicht, matt der

Blick, kurz: halbverhungert. Es war zum Erbarmen.

Ihre Augen hingen immer im Gebüsch, ob nicht eine

Beere oder ähnliches zu erhaschen wäre. Wenn einer

eine solche sah, schof el' darauf los, um sie zu

verzehren. Diese Menschen waren nicht an der

Front und hatten trotzdem furchtbar zu leiden.

    Nachdem ich etwa 6 Tage im Waldlager gewesen

war, kam der Feldwebel zu mir und meinte: »Na,

Richert, geht's bald wieder? Der Unteroffizier Peters

ist an der Reihe, in Urlaub zu fahren. Konntest du

ihn vielleieht ersetzen? Ieh will dir auch sagen, dan

du nächstens zum Vizefeldwebel befordert wirst. Du

bist schon eingereicht.« – »Ich will es versuchen «

                                                366

sagte ich, »und hier in der Stellung ist es ja ziemlieh

ruhig.« Also, am foigenden Morgen sehob ich ab.

[… ] Auf einer Anhohe kam ich durch die Ruinen

des zerstorten Dorfes Viéville-en-Haye. ln den Ruinen

der letzten Hauser stand gut versteekt eine deutsehe

Batterie. Es ekelte mieh an, ais ieh wieder das

verfluchte Kriegsspiel sah. FEnter der franzôsischen

Front sah ieh einige franzosische Fesselballons

baumeln. [… ] leh stief gleich auf ein Maschinengewehr

meiner Kompanie. Ich fragte nach dem Unteroffizier

Peters; es wurde mir gesagt, daf er etwa

200 m weiter links liege. Ich schaute zur franzôsisehen

Stellung hinüber, und plôtzlich überkam mich

eine heine Sehnsueht. Wenn ich doch nur drüben

ware, dann wäre ich gerettet, hätte Verbindung mit

der Heimat und kônnte sicher bald meine Angehôrigen

wiedersehen! ln die sem Moment faßte ieh den

Entschluß, wenn es eine Môglichkeit gabe, zu desertieren.

Ieh ging den Graben entlang, der sehr stark

ausgebaut war und bombensiehere Unterstände

hatte. Bald traf ieh Peters. »Ich solI dich ablôsen,

Joseph! Du sollst in Urlaub fahren!« ln diesem Moment

daehte ieh, daf ich Peters, der ein guter, treuer

Kamerad von mir war, vielleicht das letztemal sah,

drückte ihm beim Abschied fester ais gewohnlich die

Hand und sah ihm tief in die Augen. »Nicki, paf auf,

es ist viel Draht hier. lm übrigen wünsch ich dir

Glück!« leh war doch etwas betroffen, daf Peters,

der ein sehr heller Kopfwar, meine Gedanken erraten

hatte. Obwohl ich wuûte, dan ieh ihm unbedingt

vertrauen konnte, sagte ieh weiter kein Wort von

meinen Absiehten. »Noch eins, Nicki«, sagte er

dann. »Wir haben einen ekligen Lausejungen als

Zugführer bekommen. Er hockt unten im Unterstand.

Ich hab' ihm sehon gehorig die Lause heruntergemacht.

Laß dir von diesem grünen Jungen ja

nicht auf die Zehen treten!« Dann drückten wir uns

noehmals die Hand. »Auf Wiedersehen und viel

Clück !- Dann verschwand Peters um die nächste

Schulterwehr.

                                        367

Ich war nun gespannt, den neuen Zugführer kennenzulernen,

und ging die Treppe hinab, die in den

Unterstand führte. 30 Staffeln tief mubte ich hinuntersteigen,

ehe ich in den Unterstand kam, der elektrisch

beleuehtet war. Jeden Tag brachte der Essenholer

eine elektrische Batterie, die 24 Stunden

reiehte. An einem Tischchen saß der neue Feldwebel,

ein noeh nicht 20jahriger Bursche. Gemütlich

hing ieh den Tornister ab, schnallte das Koppelzeug

los und sagte dann, ich sei hier, um den Unteroffizier

Peters zu ersetzen. Ich sah gleich, daß es dem

Jungen nieht paßte, diese Getlichkeit. Er hätte

Iieber gesehen, wenn ich strammgestanden wäre

und ihm meine Ankunft vorschriftsmaûig gemeldet

hätte, Er fragte mich nach meinem Namen und

meinte dann: »Hier scheint wenig Disziplin zu herrschenl

Ich sagte ganz einfach: dst auch nicht nôtig.

Man lebt in der Kompanie mit wenigen Ausnahmen

so kameradschaftlich wie nur moglich. Es ist meiner

Ansicht nach gar nicht notig, da13man seine Untergebenen

seine Machtstellung als Vorgesetzter fühlen

laßt.«  »Ich bin dies aber nicht gewohnt«, sagte

der FeldwebeI. »AIs Vorgesetzter muß man immer

respektiert seinl  »Mit Ihren Ansichten, Herr

Feldwebel, würden Sie bald von Ihren Untergebenen

statt respektiert gehaßt werden, und unter Umständen

kann Ihr Leben davon abhangen, ob sie

geliebt oder geha13t sind l – »Wieso denn das?«

fragte er verwundert. »Angenornmen, Sie würden

mal in einer Schlacht schwer verwundet und rnüûten

liegenbleiben. Sind Sie beliebt, so werden IhreUntergebenen

Sie kaum im Stich lassen. Sind Sie aber

geha13t, rde sich keiner der Gefahr aussetzen, Sie

zu retten, und Sie müliten schließlich elend umkommen!

Waren Sie denn noch nicht draußen?« fragte

ich. »Nein«, meinte er. »Ich bin Einjahriger und bis

jetzt immer in einer Garnison gewesen. Nun soll ich

6 Wochen an der Front sein, dann muf ich wieder

zurück, um einen Offizierskurs durchzumachen.

Nachher werde ich Leutnant.«  »Sehen Sie, Herr

                                                        368

Ungerechtigkeit in der deutschen Armee, dan das

Einjahrige gegt, um Leutnant zu werden, auch

wenn der Betreffende von militärischen Dingen fast

keine Ahnung hat. Mit anderen Worten: Wenn der

Vater Geld hat, seinen Jungen studieren zu lassen,

ist ihm der Weg geoffnet, Offizier zu werden, mit

nul' einjähriger oder noch kürzerer Dienstzeit. Hingegen

andere Soldaten, die aktiv dienten und jetzt

seit 4 Jahren im Felde stehen, sind Tür und Tor

verschlossen, Offizier zu werden; selbst solchen,

die 10 bis 12 Dienstjahre in der Kaserne vor dem

Kriege hatten und aIs Feldwebel in den Krieg zogen,

die nun seit 4 Jahren im Felde stehen, also 14

J ahre und mehr Dienst haben. Selbst diese kônnen

nicht Offizier werden, obwohl sie besser imstande

waren, eine Kompanie zu hren aIs aile Einjährigen

zusammengenommen.« Der junge Feldwebel

mußte mir recht geben, doch sah ich, daß er sich

beleidigt fühlte.

    Ich ging dann hinauf zu meiner Besatzung. Die

Leute standen rauchend im Graben und Iießen sich

von der Sonne bescheinen. Alle waren schon früher

mal meiner Besatzung zugeteilt worden, und ich

kannte sie als gute Kerls. Wir sprachen uns unter uns

immer per du an. ln demse!ben Unterstand hauste

noch die Besatzung des Unteroffiziers Gustav Beck,

der ein Lothringer war. Er war bereits 1916 beim

Regiment 44, beim Regiment 260 und jetzt beim

Regiment 332 ständig bei mir. Auch wir beide waren

gute Freunde. Ich sah nun über die Deckung, um

mich in der Gegend umzuschauen. Überall Greue!

der Verwüstung. Die Front befand sich hier seit

Ende September 1914. Alles durchgegraben, verlôchert,

verwachsen. Disteln, Dornen, altes rres

Gras, dazwischen wieder Grünes. Überall zogen sieh

verrostete Drahthindernisse hin. Ich zahlte zwischen

den Linien 10 bis 12 Drahtverhaue. Wirklich, das

war nicht 50 einfach, hier auszureißen! Doch mein

Entschluß stand Fest, nur wartete ich auf eine gün-

                                    369

stige Gelegenheit. Vor der Stellung ging das Gelande

sanft bergab, um dann scheinbar jäh abzufallen.

Aus der Tiefe ragte ein abgeschossener Kirchturm,

der Kirchturm des Dorfes Régnieville. Vom

Dorf selbst konnte man von hier aus nichts sehen.

Jedoch war dasselbe vollstandig in Trümmer geschossen.

Ich holte nun beim Feldwebel die Karte,

um mich in der Gegend zu orientieren. Weiter nach

rechts lagen die Trümmer des Dorfes Lironville,

noch weiter rechts die Dorfer Flirey und Essey, wo

ich im September 1914 bei dem Regiment 112

schwere Gefechte mitmachen mußte. Ich konnte jedoch

nichts mehr erkennen, denn Dôrfer, Wälder,

kurz: alles war zerschossen und zerstort. J enseits des

Dorfes Régnieville stieg das Gelände sanft an. Dort

lagen die gegnerischen Stellungen. Alles war mit

Graben und Drahtverhauen durchzogen, so daß

man nicht wußte, in welcher Stellung eigentlich der

Gegner lag. Die Infanteriehorchposten, die nachts

vorne lagen, behaupteten, daß die feindlichen Vorposten

in den Ruinen des Dorfes Régnieville standen,

denn sie hatten oft einen Feuerschein gesehen,

wenn dort eine Zigarette oder eine Pfeife angezündet

wurde. Das alles interessierte mich sehr, denn es

waren alles Vorteile, die ich wissen mußte, um gcklich

hinüberzukommen. Wenn ich nur gewußt hätte,

wer uns gegenüberlag! Die einen sagten, die Franzosen,

andere, Neger und wieder andere, Amerikaner.

Jeden Tag stand ich stundenlang und schaute mit

dem Glase hinüber, konnte jedoch weder Franzosen

oder Neger noch Amerikaner entdecken; alles

schien verlassen und ausgestorben. Nur hie und da

hôrte man im Walde, der sich im Hintergrund der

feindlichen Stellung befand, die Abscsse der Artillerie.

Dann sausten gewôhnlich die Granaten über

uns, um in den Wäldern hinter uns, irgendwo bei

den deutschen Batterien, zu krepieren. Manchmal,

besonders des Nachts, schlugen auch Granaten in

unserer Nähe ein. Alles sprang dann in den Unterstand,

wo wir vollständig gesichert waren

                                 370

Immer ging mir der Gedanke im Kopf herum:

Wenn ich nur drüben wärel Aber wie anfangen?

Und ganz allein schien mir auch zu gewagt. Zumal

ich fast kein Wort Franzôsisch konnte. Am vierten

Morgen fiel mir auf, dan an einer Stelle rechts von

uns drei franzosische Fesselballons in der Hôhe waren,

wo sonst doch nur einer sich befand. Bald wu13-

ten wir den Grund. Plôtzlich lag dort die deutsche

Stellung in einem furchtbaren Granathagel, der fast

eine Stunde anhielt. Dann flaute das Feuer ab; es

hieß, die Franzosen seien in die deutschen Graben

eingedrungen, hatten Gefangene gemacht und sich

dann wieder in ihre Graben zurückgezogen.

Am 'achmittag verbreitete sich das Gerücht, daß

die Franzosen und die Amerikaner an der Marne

eine Offensive unternommen und Fortschritte gemacht

hatten. Wir sollten nächstens hier weg und

dort hinkommen. Allen Soldaten graute nicht wenig

davor, in eine solche Hôlle zu kommen. ln mir verstärkte

sich der Entschluß, bald den Versuch zu machen,

zu desertieren.

 

 

 

            VORBEREITUNG ZUM ÜBERLAUFEN

 

Am folgenden Mittag, 23.Juli 1918, gab es wieder

ein ganz miserables Mittagessen, angebranntes

Dôrrgernüse. Unteroffizier Beck und ich standen

allein oben im Graben und lôffelten den schlechten

Fraß hinunter. Plôtzlich, in jäh aufsteigender Wut,

nahm Beck sein Kochgeschirr mit Inhalt und schleuderte

es an die neben ihm befindliche Schulterwehr.

»Cottverflucht!« schimpfte er, »jetzt hab' ich's doch

bald satt!« Ich sagte dann, indem ich nach der franzosischen

Front hinüberdeutete: »Was meinst du,

Gustav Jah sah er mich an und fragte: »Cingest du

mit>. Worauf ich ja sagte. Gustav Beek erzählte mir

nun daß er seit einigen Tagen nichts anderes im

Kopf habe, als durchzubrennen. Aber wie, das war

                                            371

eine andere Frage. Kärnen wir noch mal nach dem

Norden, hatten wir die hübsche Aussicht, zu fallen,

kämen. wir hier gIücklich hinüber, wären wir ~zerettet.

Fielen wir während des Uberlaufens, hätte alles

Elend ein Ende.

lm selben Moment kam ein Infanteriegefreiter,

ein Unterelsässer namens Pfaff, den wir beide gut

kannten, an uns vorbei. Er war ein kleiner, energischer

Mann, der, trotzdem er oft den Befehl erhielt,

sein Napoleonspitzbärtchen zu rasieren, dasselbe

immer noch zum Arger der Offiziere tmg. lm Vorbeigehen

blieb er plôtzlich dicht neben uns stehen

und fragte Ieise: »Cehnrer mit he nischt? (Geht ihr

mit heut' nachtr)«  »Wohin P. fragte ich. »Newer

(Rüberjl antwortete er kurz und bündig. »Wie willst

du's anstellen, Pfaff?« sagte ieh. »Ich bin heut' nacht

vorn auf FeIdwache und muß Horchposten stehen.

Da gibt's schon eine Gelegenheit zu verschwinden.«

– »Horch, Pfaff, eben haben wir uns beide verabredet,

überzulaufen. Wußten nur nicht, wie.. – »Wir

machen's so«, sagte nun Pfaff. »Sobald die Dunkelheit

eintritt, kommt ihr beide auf die Feldwache. Wir

wollen dann schon sehen, wie wir loskommen.« Wir

versprachen zu kommen. Pfaff ging nun weg.

»Horch, Nickel«, sagte nun Beck, »wie machen wir's

nun, unauffällig von unserem Maschinengewehr

wegzukommen? Wir haben doch Befehl, die Maschinengewehre

nicht zu verlassen. Du kennst doch den

verrückten, dienstbeflissenen Laffen von Zugführer.«

Ich überlegte eine Weile, nahm dann, nachdem

ich mich versichert hatte, daß es niemand sah, mehrere

Munitionskästen mit Inhalt und warf sie auf die

Deckung ins hohe Gras. »Was machst du denn, NikkeI?

« fragte mich Beek. lch sagte: »Gegen Abend

melde ich dem Feldwebel, daf uns mehrere Munitionskästen

entwendet worden seien, wahrseheinlich

von der Infanterie, die die leichten Maschinengewehre

haben. Ieh wolle versuchen, uns wieder welche

zu beschaffen.. – »Das kônnte vielleicht gehen«,

                                    372

Festung Toul unterging, dachte ich: Wenn ich dich

morgen wiedersehe, bin ich gerettet. Wenn nicht, ist

hait alles aus. lch hatte doeh eine äulierst unangenehme

Empfindung in der Brust, denn das Unsichere

unseres Wagnisses quälte mich.

lch ging nun in den Unterstand hinunter, steckte

unauffällig mein Handtuch und meine Seife in die

eine sowie ein Stück Kommißbrot in die andere hintere

Roektasche und meldete dem Feldwebel den

»Diebstahl« unserer Munition. »Herrgottl fuhr er

auf. »Was machen wir nun? Eine Meldung an den

Kornpanieführer schreiben geht auch nicht gut.«

Ich sagte: »Herr Feldwebel, ich wühte sehon ein

Mittel, damit keine Meldung an den Kornpanieführer

geschrieben zu werden braucht, Wir klauen einfach

bei den leichten Masehinengewehren den uns

fehlenden Kasten.«  »Würden Sie das fertigbringen?

« meinte nun der Feldwebel. »Oanz einfach, nur

muf noch jemand mitkommen. lch alleine kann

nieht 4 Kasten tragen  »Gut, nehmen Sie noeh

einen Mann mit.« Ich sagte: »Arn besten wär's, der

Unteroffizier Beck würde mitkommen. Dies ist ein

schneidiger Kerl..  »Das geht doch nicht, dal3beide

Gewehrführer weggehen«, sagte der Feldwebel.

Worauf ich antwortete: »Die Gefreiten kônnen ja die

Führung des Maschinengewehrs solange übernehmen;

zudem ist alles ruhig, und in einer halben

Stunde sind wir wieder da.«  »Na, gehen Sie meinetwegen.«

    Da man nieht oh ne Waffen im Graben herumlaufen

durfte, schnallte ich mein Koppel mit Seitengewehr

und Mauserpistole, 9 Schul3 enthaltend, urn.

Zwei Ladestreifen zuje 9 Schul3 hatte ich schon vorher

in die Rocktasche gesteckt, ebenso eine neue

Zeitung zusammengefaltet in den Rockärrnelumschlag

geschoben, um etwas Weißes zum Winken zu

haben. Dann hing jeder noch 2 Stielhandgranate

373

an das Koppel, und wir gingen zum Unterstand hinaus.

Der erste Schritt zu unserem Wagnis oder zum

Weg, der zum Leben und zur Freiheit führte, war

getan. Es tat mir doch leid, daf ich meine Leute und

aIle Kameraden verlassen muûte, ohne von ihnen

Abschied nehmen zu kôrmen.

 

 

 

            ÜBERLAUFEN ZU DEN FRANZOSEN lN

            DER NACHT YOM 23. ZUM 24.]ULI 1918

 

Wir liefen nun die Stellung endang; da es bereits

dunkelte, stand aIle paar Schritte schon ein Nachtposten.

Am Laufgraben angekommen, der vorne zur

Feldwache führte, bogen wir in denselben hinein

und erreiehten bald die Feldwache, die etwa 200 m

vor der Hauptstelle lag. Die Feldwache, die aus einer

Gruppe Infanteristen (8 Mann) und einem Unteroffizier

bestand, bewohnte ebenfalls einen starken Unterstand.

Wir unterhielten uns eine Weile mit dem

Unteroffizier, dann wollten wir noch die etwa 30

Schritte weiter vorne liegenden Horchpostenstände

sehen. Beek und ieh gingen da hin. Unauffallig

folgte Pfaff, mit dem wir noch kein Wort geweehselt

hatten. Die Horchposten waren noeh nicht aufgezogen.

Die Horchpostenstände waren mit einem wirren

Stacheldrahthindernis umgeben. Beek und

Pfaff wollten eben die Beine heben, um durch den

Draht zu gehen, aIs ich hinter uns im Graben Sehritte

hôrte. »Pssst«, machte ieh leise. Und sagte dann laut:

»Hier kommt keiner an die Horchposten ran- und

sprang wieder in den Horehpostenstand hinunter.

Beek und Pfaff folgten. Wir unterhielten uns mit

dem Unteroffizier und gingen zur Feldwaehe zurück.

Nun besetzten 2 Horehposten ihre Platze.

Plôtzlich erschien der Oberleutnant der 5. Kompanie,

zu der die Feldwaehe gehorte, um zu revidieren.

»Wer ist denn das hier?« fragte er barseh, aIs er mich

und Beek stehen sah. Ieh stand still und meldete:

                        374

-wir sind 2 Unteroffiziere der S. M. G. [der schweren

Maschinengewehre] und wollen uns mal die

Lage der Feldwache ansehen; im Falle, daß der

Feind angreifen soIlte, da13wir den Mannschaften

der Feldwache nicht in den Rücken schießen.« –

»Schon, gut«, sagte nun der Oberleutnant. »Wenn

aIle Soldaten dasselbe Interesse hatten wie Sie, wäre

die Sache schon längst geschmissen!« Ich dachte:

Wenn du wü13testund unsere Absichten kenntest!

Beck und ich gingen nun in den Laufgraben, der

zur Hauptstellung führte. Wir beide waren überzeugt,

daf heute Nacht nichts zu machen wäre. Nun

kam Pfaff hinterhergelaufen, raunte: »Alle denn

losl- – und schon war er zum Laufgraben hinaus

und in dem hohen Gras verschwunden. Wir beide

kletterten nach und fanden Pfaff, der in einem alten

Granatloch auf uns wartete. Wir befanden uns zwischen

2 Drahtverhauen. Der hinter uns sich befindende

deckte uns gegen die Posten in der Hauptstellung.

Wir krochen den vorderen Drahtverhau entlang

und fanden endlich eine Bresche, die von zwei

hintereinander eingeschlagenen Granaten herrührte.

Dort krochen wir durch den Drahtverhau.

Schon gab es einige Risse in den Kleidern. Nun krochen

wir auf allen vieren weiter, kamen durch einen

tiefen, alten Graben und blieben dann hinter einem

Erdhaufen liegen. Hier schworen wir uns leise zu,

keiner den anderen zu verlassen, komme, was wolle.

Ich erhob einen Moment den Kopf und sah etwa 30

Schritte links von uns die beiden Baumstümpfe, die

ieh direkt vom Horchpostenloeh vor mir gesehen

hatte. Also befanden wir uns kaum 30 Sehritte rechts

von den Horehposten. Ieh sagte dies leise zu Pfaff.

»Wir müssen näher an die Horchposten ran«, sagte

er. »Denn dort befindet sieh ein Gang dureh den

breiten Drahtverhau, wo die oberen Drähte durehgesehnitten

sind, damit die Patrouillen durchkônnen.

« Herrgott, wie wird das werden! daehte ieh.

Also kroehen wir noeh einige Meter nach links, dem

Horchposten zu. Richtig, da fanden wir den im 

                                375

Drahtverhau befindlichen Gang. Pfaff richtete sich

aufund ging gebückt durch den Verhau. AIs er bald

drüben war, hôrte ich plôtzlich kaum 20 m vor uns

die Horchposten sprechen, und päng-pàng knallten

2 Schüsse. Wir waren entdeckt! Pfaff war jenseits

des Verhaus verschwunden. Nun erhob sich Beck

und überwand so schnell wie môglich das Hindernis.

Vier Sehüsse wurden auf ihn abgegeben. Auch

er versehwand jenseits dieses Hindernisses. Nun

kroch ich in die Lücke hinein. Da jedoeh nur die

oberen Drähte durchgeschnitten waren, blieb ich

hängen, mußte mich oft mit den Händen losmachen.

AIs ich etwa die Mitte des Verhaus erreieht

hatte, hing ich überall im Draht fest. Sobald ich

mich bewegte, knirschte der Draht um mich herum.

Was tun? Durehkriechen ging nicht. Stand ich auf,

lief ieh Gefahr, erschossen zu werden, da die

Horchposten bereits auf die Stelle aufmerksam geworden

waren. leh wurde ziemlich aufgeregt, loste

mich vom Draht los, so gut ieh konnte, sprang mit

einem Ruek auf. Krack, gab's Lôcher in Hosen und

Rock. Kaum daß ich mieh erhoben hatte, knallten

2 Sehüsse. So schnell ich konnte, bewegte ich mich

vorwärts, und in dem Moment, als ich mieh jenseits

des Verhaus zu Boden warf, knallte noeh ein Schuß.

Auf allen vieren lief ieh, so schnell ich konnte, den

niedergetretenen Grasspuren nach, hielt einen Moment

an und rief leise: »Beck l Pfaff! « Einige

Schritte vor mir hielten sie den Arm mit Mütze in

die Hôhe. So schnell wie môglich kroch ich zu ihnen.

Schnell erkundigten wir uns gegenseitig, ob

keiner verletzt worden sei. Alle waren noch heil,

außer einigen Rissen, die jeder yom Draht bekommen

hatte. Pfaff sagte: »Wir müssen so schnell wie

môglich machen, daß wir wegkommen! Denn jedenfalls

nimmt der Oberleutnant jetzt die Feldwache,

um uns wieder einzufangen.« Gefangennehmen

hatten wir uns aufkeinen Fall lassen, denn sonst

wären wir sowieso standrechtlich erschossen worden.

ln diesem Falle hatten wir uns gegen unsere

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Soldaten auf Leben und Tod wehren müssen. Wir

kletterten noch dureh 3 breite Drahthindernisse, die

Uniformen waren schon elend zerrissen. Auch

brannten die durch den rostigen Stacheldraht verursachten

Hautrisse. Nun kamen wir in einen alten

Graben, der in Richtung der Franzosen lief. Dieser

wurde immer tiefer und hôrte plôtzlich ganz auf; wir

befanden uns wie in einem Sack. Schnell stellte ich

mieh mit dem Rücken an die Wand, Pfaff stellte sich

auf meine zusammengefalteten Hände, dann auf

meine Schultern, hielt sich oben am Grase fest und

kletterte hinaus. Nun folgte Beek. leh streckte nun

meine Hände in die Hôhe. Die beiden, die auf dem

Bauehe lagen, faßten zu und zogen mich in die

Hohe, während ich mit den Beinen naehhalf. Sofort

ging es wieder weiter. Wir überkletterten noch zwei

weitere sehmale Drahthindernisse und sahen dann

unter uns das zusammengeschossene Dorf Régnieville

liegen. Bis zum Dorfbefand sich kein Hindernis

mehr. Die Gefahr von rückwärts hatten wir nun

überstanden; nun kam die Gefahr von vorne.

    Da Beck und Pfaff franzosisch spraehen, riet ieh

ihnen, die in den Ruinen stehenden franzosischen

Vorposten anzurufen. »Das geht nieht, sonst hart

der uns verfolgende Oberleutnant, wo wir sind!«

Also liefen wir den Abhang hinunter, den Ruinen

zu. Jeden Augenblick befürchtete ieh, daf es in den

Ruinen aufblitzen würde und wir getroffen würden.

Nichts von all dem geschah. Wir kamen in die Ruinen;

alles totenstill, niehts regte sieh. Wir horehten

noch eine Weile; nichts, gar nichts. Pfaff sprang nun

in einen alten Laufgraben, der um die Kirche herumführte.

Er sprang auf ein im Graben liegendes

Stüek Wellbleeh, was einen Heidenlärrn verursaehte.

Wieder horchten wir; alles still. Da fing die franzôsisehe

Artillerie zu schieûen an. ln hohem Bogen flogen

die Geschosse über uns hinweg, um dann hinter

den deutschen Stellungen einzusehlagen. Vor Aufregung

und vom Laufen waren wir alle naligeschwitzt,

denn es war eine laue, helle Sommernacht,

                            377

und der Mond beleuehtete nun alles fast taghell.

Vorsichtig gingen wir den Laufgraben entlang, der

in Richtung der franzosischen Stellung führte und

langsam bergan stieg. Immer wieder blieben wir stehen

und horehten. Niehts war zu horen als einige

lnfanteriescsse oder das Rattern eines Maschinengewehrs

irgendwo oder hie und da in der Nähe

oder Ferne einzelne Kanonensehüsse. Es war sehr

unangenehm, daß wir nicht wußten, wer vor uns lag

oder wo sie lagen. Also gingen wir vorsichtig weiter,

immer wieder stehenbleibend, um zu horehen. Wir

kamen an alten Stollen und Unterstanden vorbei,

die uns fins ter entgegengähnten. Nun kamen wir zu

einer Stellung, die sich mit dem Laufgraben kreuzte.

An einem Pfahl war eine Tafe! angebracht, doch war

es nieht hell genug, um das Daraufgeschriebene lesen

zu kônnen. lch leuchtete mit meiner Taschenlampe

in den Graben. Da sahen wir an den vielen

Fuûspuren, daß der Graben oft passiert wurde. Wir

gingen wieder wei ter und kamen nochmals an einer

Stellung vorbei, die ähnlich der vorigen den Laufgraben

kreuzte. Pfaffmeinte: »Ich glaube bestimmt,

daß wir durch die franzosischen lnfanteriestellungen

durch sind und d hier kein Posten gestanden

hat.«  »Glaub das nur nichrl antwortete ich leise.

leh bat die beiden, nun doch die Franzosen, oder

wer sich sonst in der Stellung befinde, anzurufen.

lmmer noch getrauten sie sich nicht zu rufen aus

Furcht vor den uns verfolgenden Deutschen. Die

Pistole schußfertig in der Hand, gingen wir vorsichtig

weiter. Nun kamen wir zu einem im Graben liegenden

spanischen Reiter. So wurden die um ein

hôlzernes Gestell gezogenen transportablen Drahthindernisse

genannt. Nun war ich überzeugt, daf

wir dicht bei den Franzosen sein müßten. Wir arbeiteten

uns an dem Hindernis vorbei. Einige Schritte

weiter lag im Graben ein rôhrenartiges Gestell, mit

glattem Draht umwunden. Wir krochen auf allen

vieren, einer nach dem anderen, hindurch. Dabei

streiften unsere Rücken oben am Draht hängende,

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leere Konservenbüchsen, die dann gegeneinanderschlugen

und ein klingendes Cerausch verursachten.

Das war sieher das Alarmsignal für die franzôsisehen

Posten. leh sagte noehmals leise zu meinen

Kameraden, sie sollten um Himmels willen die Franzosen

anrufen. Noeh immer wollten sie nicht und

gingen weiter, stellteri sich hinter die nachste Sehulterwehr

und horchten. lch befand mieh noeh einige

Sehritte hinter ihnen und sah plotzlich oben links

neben dem Graben einen Franzosen aufspringen,

jenseits der Schulterwehr über den Graben setzen

und zurüeklaufen. Sofort daehte ich: Das war der

Horehposten, der nun die Feldwaehe alarmieren

geht. leh sprang zu den beiden und rief halblaut:

»Ruft jetzt, ieh habe einen Franzosen zurücklaufen

sehenl Wir drei waren sehr aufgeregt in diesem

Moment. Eben wollten die beiden rufen, als Sehüsse

kurz vor uns knallten und die Kugeln hinter uns in

den Graben sehlugen. Nun sehrien die Franzosen

etwas, indem sie immerfort knallten. »Wir sind drei

Elsasser«, sehrien nun Beek und Pfaff auf franzôsisch,

»die zu eueh woUen! Vive la Francel- Aber in

dem nun einsetzenden tollen Gesehiel3e konnten die

Franzosen ihre Worte nicht verstehen. Pfaff, der

eine unglaubliehe Courage hatte, ging nun um die

Schulterwehr herum und den Franzosen entgegen.

Beek wollte folgen. lm selben Moment rte ich

einen kleinen Knaeks. Dieser Knaeks rührte von der

Feder her, die beim Verlassen einer Handgranate aus

der Hand aufspringt. »Beckl riefich. »Bleib stehenl

Sie haben eine Handgranate geworfen!« Und rif ihn

hinter die Sehulterwehr in Deekung. Bums, kraehte

die Handgranate jenseits der Sehulterwehr. lm selben

Moment noch einmal. Burns. Eine zweite Handgranate

war geplatzt. Da hôrten wir einen Aufsehrei

von Pfaff. Jedenfalls war el' getroffen. Der Rauch der

Handgranaten kam nun um die Sehulterwehr herumgezogen

und hüllte uns vollständig ein. AIs ieh

mieh umsah, war Beck versehwunden. Jedenfalls war

er um die Schulterwehr gegangen.

            379

als ich von oben auf fransisch angerufen wurde.

Ich sah hinauf. Da stand ein Franzose mit drohend

erhobener Handgranate. Sofort lief ich meine Pistole

fallen, riß die Zeitung aus dem Armel und

streekte beide Arme in die Hôhe, indem ieh rief:

»Alsacien, Deserteur!« Der Franzose rief: »Cornbien?

« Das Wort verstand ich: Wieviel? Ich glaubte,

»drei hieße »treize «, und sehrie »Treize!« statt

»trois«. Der Franzose beugte sieh nun nieder und

suchte anscheinend die 13 zu entdecken. AIs er jedoch

au13ermir niemanden im Graben sah, sehrie er

nochmals: »Cornbien?«, woraufieh ihm 3 Fingervor

Augen hielt. Nun streckte er mir die Hand hinunter;

schnell schnallte ich mein Koppel ab, lief es zu Boden

fallen, reichte ihm die Hand hinauf, er zog, und

ich kletterte zurn Graben hinaus. Gott sei Dank!

dachte ich. Jetzt ist's überstanden. Und nahm die

Arme herunter. Der Franzose, der mir nicht recht zu

trauen schien, sprang einige Schritte zurück und

erhob wieder drohend die Handgranate. Wieder erhob

ich beide Arme und wiederholte: »Alsacien, Deserteur!

« Nun gab mir der Franzose freundlich die

Hand und klopfte mir auf die Sehulter. Wie glücklich

ich in diesem Moment war, lalit sich nicht beschreiben.

Ich dachte nun sofort an Pfaff, den ich leise stohnen

hôrte. Ich sagte zum Franzosen: »Kamerad

blessé- und deutete auf mich und in den Graben.

Der Franzose deutete mir, nur zu gehen. Ich sprang

an derselben Stelle, an der ich hinaufgeklettert war,

wieder in den Graben und woIlte rasch um die Schulterwehr

herum zu Pfaff. Dort wimmelte es von Franzosen,

die lebhaft durcheinandersprachen. Wie der

Blitz hielt mir einer davon die Pistole vor die Stirn, so

da13ich die kaIte Mündung spürte. Ebenso schnell

setzte mir ein anderer das Bajonett auf die Brust.

Wie der Wind gingen meine Arme wieder in die

Hôhe, und ich sagte mein Sprüchlein her: »Alsacien,

Deserteur!« Sofort ließen sie von mir ab, und ich

             380

hôrte sagen: »C'est le troisièrne.. Beck hatte ihnen

namlich schon gesagt, daß sich noeh ein dritter im

Graben befinde. Dies alles dauerte seit dem ersten

Sehul3 keine 3 Minuten. Sofort ging ieh zu Pfaff, der

bewußtlos am Boden im Graben lag und mit jedem

Atemzug leise stohnte. Ich drückte die Franzosen,

die sich um ihn bemühten, zur Seite, befühlte überall

seine Uniform, denn an die Grabensohle konnte der

Mond nieht scheinen. SA war nicht zu sehen, wo

Pfaff verwundet war. AIs ich am linken Oberschenkel

fühlte, spürte ieh naf und im selben Moment

warrnes Blut, das mir sto13weisean die Hand spritzte.

Oberschenkelschuû, Schlagader getroffen, schoß es

mir durch den Kopf. Das beste Mittel war, den

Schenkel sofort abzubinden, um das Verbluten zu

verhindern. Ich lôste schnell den Gürtel, der die

Hosen hielt, offnete die Hosen und Unterhosen.

Beek half mir, den Kôrper etwas aufzuheben. Dann

streiften wir die Hosen herunter. Ich ri13meine Halsbinde

herunter und wollte damit das Bein abbinden.

Krack, war das alte, verwaschene Ding entzweigerissen.

Sofort gab mir einer der Franzosen, die rundherum

zuschauten, ein Stüek starke Schnur, die ich

dann oberhalb der Wunde locker um den Schenkel

band. Dann brach ich ein etwa 30 cm langes, fingerdickes

Holz aus der Grabenverschalung, steckte dasselbe

au13erhalb des Schenkels zwischen Schnur und

Bein und drehte das Holz. Dadurch wurde die

Schnur derart angezogen, daf sie ins Fleisch des

Schenkels einschnitt und die Schlagader zudrückte.

Sofort hôrte das Bluten auf. Die Franzosen klopften

mir auf die Schulter und sagten auf franzôsisch, da13

ich es gut gemacht hätte. Pfaff war immer noch

ohnmächtig. Da woIlte ihm Beck ein Stückchen Zukker

in den Mund geben. Einer der Franzosen nahm

ihm das Sckchen Zucker aus der Hand, gol3 aus

einem kleinen Flaschchen eine stark nach Alkohol

riechende Flüssigkeit darauf und schob es dann

Pfaff in den Mund. Sofort war dieser bei Besinnung.

Die ersten Worte, die er sagte, waren: »Moi, mourir

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pour la France!«, was ich nicht verstand, Beck mir

aber übersetzte. [»Ich, sterben für Frankreich! «] Ich

sagte dann Pfaff, daf er nicht so schwer verwundet

sei und sein Bein abgebunden sei. Die Franzosen

waren uns gegenüber sehr freundlich. Alle wollten

uns die Hand drücken. Die einen gaben uns Zigaretten,

andere ein Stückchen Schokolade oder woUten

uns die Feldflasche mit Wein geben. Ich trank einige

Schluck, da ich von der Aufregung sehr Durst bekornmen

hatte. Dieses Getränk kam mir ganz fremd

vor, denn bei den Preulien gab es weiter nichts ais

den schlechten, aus Kaffee-Ersatz bereiteten, schalen

Kaffee zu trinken. Dann zündete mir einer der

Franzosen eine Zigarette an, die ichjedoch fast nicht

zu rauchen vermochte, da sie mir zu stark war.

Wir wurden nun von 2 Soldaten und einem jungen

Offizier durch die franzôsische Stellung zurückgeführt.

Da die ganze Grabenbesatzung alarmiert

war, standen sie Mann an Mann in SchieBstellung.

Alle sagten uns im Vorbeigehen freundliche Worte,

die ich narlich nicht verstand. AIs wir durch den

nach hinten führenden Laufgraben zurückgingen,

kamen schon 2 Sanitäter mit einer Tragbahre an uns

vorbei, um Pfaff abzuholen. Beek plauderte mit dem

vor ihm gehenden Soldaten. Plôtzlich sagte der hinter

mir gehende junge Offizier in einem mit starkem

franzôsischem Akzent gesprochenen Elsasserditsch:

»Wü bisch dü har? (Wo bist du her)?« Ich antwortete

unüberlegterweise in hochdeutsch. » büsch a

Schwob, dü resch net Dialekt.. [vSchwob. bedeutet

im Elsasserdeutsch nicht »Schwabe«, sondern

»Deutscher«] Woraufich antwortete: »Nei, ich bi vo

St. Üalri bi Dammerkirch (Nein, ich bin von St. Ulrich

bei Dammerkirch).«  »So, vo don bisch«,

meinte nun der Offizier. »Sag, wer isch denn Maire

in Dannemarie [franzôsischer Name Damrnerkirchs]?

« Das wuûte ich beim besten Willen nicht. Ich

sagte, ich wisse es nicht, sei bereits seit 5 J ahren von

zu Hause weg und hätte dies alles vergessen. »Ebien,

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gwohnt«, gab ich zur Antwort. »'s stimrnt«, sagte nun

der Leutnant. »1 bi scho mangmol z' St. Ulrich

durch, wenn mer aIs uffSeppois-le-Bas [Niedersept]

marschiert sin.« Ich fragte ihn nun, ob St. Ulrich

auch zerschossen sei. Er glaubte es nicht, konnte sich

aber nicht mehr genau erinnern.

Wir plauderten noch allerlei, bis wir hinten im

Waidiager ankamen. Er sagte mir unter anderem,

daß er aus Rosheim im EIsaßstamme. lm Waldlager

kamen von allen Seiten Soldaten aus den Unterstanden,

die uns sehen woIlten. Beck konnte nicht fertig

werden, auf alle an ihn gerichteten Fragen zu antworten.

Mich ließen sie ziemlich in Ruhe, da sie sahen,

daß ich nichts verstand. Mir fiel am meisten die

Lebhaftigkeit dieser Soldaten auf sowie die dicken

roten Gesichter. Ganz andere Menschen ais diehalbverhungerten,

hageren Deutschen mit ihrer fast

durchweg gelblichen Gesichtsfarbe. Beck mußte

mm zum Kompanieführer in den Unterstand, wo el'

verhort wurde. Mir wurde meine Gasmaske abgenommen.

Mehrere Soldaten brachten mir Wein und

Zigaretten. Ich trank 2 Becher, sollte noch mehr

trinken, wollte aber nicht, denn ich fühlte schon

einen dummen Kopf. Ich war doch das Weintrinken

gar nicht mehr gewohnt. Auch war mir kalt auf dem

Rücken, da ich vom Schwitzen ein waschnasses

Hemd hatte. Iehrere brachten mir Weißbrot und

Kase. Ich langte dann in die Rocktasche und gab

ihnen mein Kommißbrot. Sie rochen daran und

machten: »Brrr.« AIs sei es gar nicht moglich, so

etwas zu essen, hrend wir die letzten 2 Jahre nie

genug davon bekommen konnten. Sofort fing ich

an, von dem Weißbrot zu essen, strich mir über den

Bauch, um ihnen zu zeigen, wie gut es mir

schmeckte. Alle lachten, und obwohl wir uns mit

keinem Wort verständigen konnten, waren wir doch

die besten Freunde. Da kam ein Franzose und fragte

mich auf deutsch: »Was sagen die Leute von Hindenbürg

und Lüdendorfr– Ich antwortete ihm, daß

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Hindenburg geliebt und Ludendorf gehaßt sei. Er

fragte weiter, ob wir es gewußt hatten, daf die Deutschen

am 19./20.juli an der Marne zurückgeschlagen

worden seien und die große franzôsisch-englisch-

amerikanische Offensive begonnen habe. lch

gab ihm nun die neue deutsche Zeitung, die ieh noch

bei mir hatte, wofür er sieh sehr bedankte. lnzwisehen

war das Verhôr von Beek beendet, und wir

wurden von 2 Soldaten zurückgeführt. AIs wir im

Wald eine Straße erreichten, die sich bei einer Eisenbahnbrücke

mit einer anderen Straûe kreuzte, deuteten

uns die Franzosen, mit ihnen im Laufschritt

durchzulaufen. Dann erzählten sie Beek, daf diese

Stelle nachts oft von den Deutschen bombardiert

werde. Natürlich liefen wir, so sehnell wir konnten,

denn wir wollten hier nieht noch was abkriegen.

Dann erzählten uns die beiden Franzosen, daf jetzt

keine Gefahr mehr sei.

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ß

 

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                                                                                                                                       ß ß ß ß ß ß ß ß ß ß ß ß

                                                                                                                                        «