COMMANDE A FAIRE 

 

EXTRAIT

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IM ALTER VON 20 JAHREN 
 

 halben Jahre waren wir Rekruten durch den in der  deutschen Armee üblichen Drill zu kriegstüchtigen  Soldaten ausgebildet. Mitte Juli 1914 kam unser Regiment

   der badisch-württembergischen Grenze, um dieGefechtsübungen

in großerem Maßstabe zu lernen.

Wir wurden dort manchmal aufs gemeinste herumgejagt

und geschliffen.

   Am 29.Juli 1914 [… ] nachmittags hatte die Feldartillerie

Scharfschießen. Da es uns erlaubt war zuzusehen,

ging ich auch hin, denn ich war der Meinung,

daß ich diese Gelegenheit vielleicht nie mehr im Leben

haben würde. Das Schießen vor Ort war wirklich

interessant. Ich stand hinter den Geschützen und

konnte das Platzen der Schrapnells sowie die Einschläge

der Granaten bei den aufgestellten Zielen

genau sehen. Von dem drohenden Kriege hatten wir

Soldaten nicht die geringste Ahnung. Am 30.Juli

1914 gingen wir, durch den Dienst sehr ermüdet,

frühzeitig zu Bett. Etwa um 10 Uhr abends wurde

die Tür plotzlich aufgerissen und vom Kompaniefeldwebel

der Befehl zum sofortigen Aufstehen

gegeben, da der Ausbruch des Krieges unvermeidlich

sei. Wir fuhren aus dem Schlafe auf, keiner

war im ersten Moment vor Überraschung fähig, ein

Wort zu sprechen. Krieg, wo, mit wem? Natürlich

waren sich bald alle einig, daß es wohl wieder gegen

Frankreich gehe. Da fing einer das Lied »Deutschland,

Deutschland über alles« zu singen an. Fast alle

fielen ein, und bald tonte das Lied aus Hunderten

von Soldatenkehlen in die Nacht hinaus. Mir war es

absolut nicht ums Singen, denn sofort dachte ich,

daß man im Kriege nichts so gut wie totgeschossen

werden kann. Das war eine äußerst unangenehme

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Aussicht. Auch war mir bange, wenn ich an meine

Angehörigen und meine Heimat dachte, die hart an

der Grenze liegt und daher der Gefahr ausgesetzt

war, zerstört zu werden.

Eiligst wurde nun gepackt, und noch in der N acht

ging's nach dem im Donautale gelegenen Bahnhof

Hausen. Da kein Zug für uns da war, marschierten

wir ins Lager zurück, bis gegen nächsten Abend, um

dann in einem überfüllten Zuge, zusammergepfercht

wie Salzheringe in der Tonne, nach unserer

Garnisonsstadt Mülhausen zurückzufahren. Morgens

um 6 Uhr, 1. August 1914, kamen wir an und

marschierten in die Kaserne. Bis Mittag sollte Bettruhe

sein, jedoch bereits um 9 Uhr wurde ich mit

noch mehreren Kameraden geweckt. Wir empfingen

auf der Kammer die Kriegsmontur, alles nagelneu

vom Kopf bis zu den Füßen, dann erhielt jeder

von uns 120 scharfe Patronen. Nachher mußten wir

in die Waffenmeisterei, wo unsere Seitengewehre

geschliffen wurden.

Da kamen mein Vater und meine Schwester nochmals

zu mir, um mir Geld zubringen und Abschied zu

nehmen. Nun kam der Befehl, daß kein Zivilist mehr

den Kasernenhof betreten darf. Ich erhielt dann die

Erlaubnis, vor dem Kasernentor noch mit meinen

Angehörigen zu sprechen. Es war ein schwerer Abschied,

denn man wußte nicht, ob wir uns wiedersehen

würden. Wir weinten alle drei. Beim Fortgehen

ermahnte mich mein Vater,ja immer recht vorsichtig

zu sein, und daßich mich nie freiwillig zu irgend etvas

melden sollte. Diese Mahnung war eigentlich nicht

nötig, denn meine Vaterlandsliebe war nicht so gloß,

und der Gedanke, den sogenannten Heldentod zu

sterben, erfüllte mich mit Grauen.

Nun wurde ich mit noch 8 Mann zur Wache bei

der Stationskasse kommandiert. Andere Soldaten

standen am Bahnhof Wache, wieder andere patrouillierten

nach allen Richtungen den Gelesen

entlang. Am 3. August kreiste in großer Hohe ein

französischer Flieger über der Stadt. Alle Soldaten
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knallten in die Hohe. Jeden Augenblick glaubten

wir, daß er abstürzen würde, aber ruhig zog er seine

Kreise. Eine Menge Zivilisten hatten sich auf dem

Bahnhofsplatz angesammelt, um zuzusehen. Plötzlich

schrie einer der Zivilisten: »A Bumma!« (»-Eine

Bornbe!«) Schreiend lief der Haufen Zivilisten auseinander

und verschwand im Bahnhof und in den

umliegenden Gebäuden. Ich selbst sprang ebenfalls

in den Bahnhof und erwartete jeden Augenblick das

Explodieren der Bombe. Alles blieb still. Da wagte

ich mich unter dem Dach hervor, schaute in die

Höhe und sah einen Gegenstand herunterkommen,

an dem etwas flatterte. Bombe ist das doch sicher

keine, dachte ich. In Wirklichkeit war es ein schöner

Blumenstrauß, hauptsächlich aus Vergißmeinnicht

bestehend, der von einem rot-weiß-blauen Band zusammengehalten

war. Ein Gruß Frankreichs an die

elsässische Bevölkerung.

            Am 4. August verließen zwei Züge, angefüllt mit

deutschen Beamten, Mülhausen in Richtung Baden.

Wir hatten von ihnen mehrere Flaschen Wein erhalten,

die wir uns wohl schmecken ließen. Da hieß es,

daß nicht nur Krieg zwischen Deutschland und

Frankreich sei, sondern zwischen Deutschland,

Österreich- Ungarn und der Türkei einerseits und

Frankreich, Rußland, Belgien, England und Serbien

andererseits. Oja, dachte ich, das wird was abgeben.

Am 5. August marschierte ich mit einer kleinen Abteilung

nach Exbrücke. Wir lagen 2 Tage auf dem

sogenannten Kolberg nördlich des Dorfes. Am

7. August sah ich die ersten Franzosen, es waren

Patrouillen, die durch die Kornfelder kamen. Wir

beschossen uns gegenseitig, doch gab's auf keiner

Seite Verluste. Das Pfeifen der Kugeln regte mich

anfangs sehr auf. Da bekamen wir den Befehl, uns

bis über den Rhein nach Neuenburg zurückzuziehien,

und marschierten dahin. Mit Tagesgrauen

marschierten wir über die Rheinschiffbrücke. Beim

Friedhof von Neuenburg schlugen wir unser Zeltlager

auf, todmüde legten wir uns hin, um zu schlafen

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und uns von dem Marsche auszuruhen. Dort blieben

wir 2 Tage, bis zum 9. August, liegen. Mehrere Regimenter

Soldaten waren nun don versammelt. Und

es war ein schönes militärisches Bild, das sieh dem

Auge bot.

Am 9. August morgens hieß es: »Fertigmachen!

Antreten!« un ging's wieder über die Rheinbrücke

in den großen Hardtwald hinein. Es wurde uns nicht

gesagt, was los sei oder wohin wir gehen würden. [… ]

Alle Unteroffiziere mußten zum Hauptmann gehen,

Befehl empfangen. Dann gab jeder Gruppenführer

seiner Gruppe den Befehl bekannt: Die Franzosen

haben die Linie Habsheim – Rixheim – Napoleonsinsel-

Baldersheim und so weiter besetzt. Wir müssen

gegen Abend angreifen und sie zurückwerfen. Unser

Regiment hat die Aufgabe, das Dorf Habsheim, Rixheim

und die dazwischen liegenden Rebhügel zu

erstürmen. Plötzlich war jedes Lachen, jeder Humor

wie weggeblasen, denn keiner glaubte, die heutige

Nacht zu erleben, und von der in patriotischen Schriften

so oh gerühmten Kampfbegeisterung und dem

Draufgängertum sah man herzlich wenig. Nun hieß

es weitermarschieren. Auf dem Straßenrand lag der

erste Tote, ein französischer Dragoner, der einen

Lanzenstich in die Brust erhalten hatte. Ein schauderhafter

Anblick: die blutende Brust, die verglasten

Augen, der offene Mund sowie die verkrallten

Hände. Wortlos marsehierte alles vorüber.

[… ] ln der Nähe von unseren Schießständen lagen

6 tote deutsche Infanteristen, alle auf dem Gesicht.

Wir mußten nun im Walde ausschwärmen und

bis gegen den Wald rand vorgehen und uns dann

hinlegen. lch lag in der 2. Schützenlinie. Vor uns am

Waldrand standen die Flugzeugschuppen des Habsheimer

Exerzierplatzes. Also mußten wir über den

1200 m breiten, deckungslosen Exerzierplatz vorgehen.

Ich dachte: Die Franzosen knallen uns weg,

sobald wir vorgehen. »Sprung auf! Marschmarsch!«

schallte das Kommando. Die 1. Linie erhob sieh und

rannte zum Walde hinaus. Ein Reservefeldwebel
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blieb liegen. leh weiß nicht, war's aus Feigheit oder

war er vor Angst. ohnmächtig geworden.


 

DIE SCHLACHT BEI MÜLHAUSEN


 


 

Sofort ais die 1. Schützenlinie var dem Waldrand

erschien, prasseIte es ihnen aus dem etwa 1200 m

entfernten Gebüsch schon entgegen. Die Kugeln

zischten über uns hinweg, zischten durch das Laub

oder klatschten in die Bäume. Mit klopfendem Herzen

schmiegten wir uns alle an den Waldboden,

so dicht wir nur konnten. »Zweite Linie, Sprung auf!

Marschmarsch!« Wir erhoben uns und sprangen aus

dem Walde. Sofort zischten uns die Kugeln um die

Ohren. Die 1. Linie hatte sich hingelegt und hielt die

Gebüsche lebhaft unter Feuer. Schon lagen einzelne

Gefallene und Schwerverwundete hinter der ersten

Linie herum. Leichter Verwundete rannten zwischen

uns durch, zurück in den schützenden Wald.

Unsere Artillerie beschoß mit Schrapnells die zwischen

Rixheim und Habsheim gelegenen Rebhügel.

Das Sausen der Geschosse war für uns neu. Das

Krachen, Knattern und Zischen brachte uns in eine

nicht geringe Aufregung. Plötzlich sauste es dicht

über uns: Zwei französische Granaten explodierten

kaum 20 m hinter uns. Im Laufen schaute ich mich

um, und als ich den Rauch und die umherfliegenden

Rasenstücke sah, dachte ich: Wenn mir 50 eine zwischen

die Beine flöge, 0 weh!

»In die erste Linie einschwärmen !- scholl das

Kommando. Wir sprangen hin und ließen uns in den

Lücken der 1. Linie zu Boden fallen. Wir mußten

nun das uns gegenüberliegende Gebüsch unter

Feuer nehmen. Wie oft schon hatten wir mit Platzpatronen

in Friedenszeit Sturmangriffe auf jenes Gebüsch

gemacht; doch damals war der Feind durch

rote Flaggen markiert. Heute war es leider ganz,

ganz anders. »Der Armbruster ist gefallen«, sagten

                           19   

sich  die Soldaten gegenseitig in der Schützenlinie. Er

war ein Soldat meines Jahrganges. Das regte noch

mehr auf. [A., ein 23jähriger Schreiner, ist Iaut

Stammrolle des 112. Infanterieregiments bei diesem

Gefecht nicht gefallen, wurde an diesem Tag aber

durch einen Brustschuß schwer verwundet.] Zing,

schlug eine Kugel längs neben mir das Gras weg.

30 cm weiter nach links, und aus wär's mit mir gewesen.

-Sprung auf! Marschmarsch !- Alles stürzte vorwärts,

sofort prasselte es uns noch viel arger entgegen.

Wieder stürzten einzelne getroffen, manchmal

mit schrecklichem Aufschrei, zu Boden. »Stellung,

Feuer aufnehmen! 1., 3., 5., 7., 9. Gruppe springt!

2., 4., 6., 8. und 10. Gruppe schießt inzwischen

Schnellfeuer l- So ging's nun abwechselnd vor.

Als wir uns dem Gebüsch näherten, horten die

Franzosen mit Schießen auf. Als wir uns durch das

Gebüsch gewunden hatten, sahen wir eben die

letzten Franzosen beim Bahnhof Habsheim verschwinden.

Das waren die ersten Franzosen, die ich

beim Angriff zu sehen bekam. Im Gebüsch sah ich

nur zwei Tote liegen.

Als wir nun über das freie Feld gegen Habsheim

vorgingen, bekamen wir wieder starkes Feuer aus

dem Bahnhof und von den Rebbergen herunter.

Jedoch nur ganz wenige wurden getroffen. Als wir

mit Hurra den Bahnhof stürmten, waren die Franzosen

schon wieder gewichen. Wir waren dort auch

zu sehr in der Übermacht. Nun ging's zum Sturm

auf die Rebhügel. Anfangs prasselte uns ein starkes

Feuer entgegen, doch ais wir bald oben waren, flüchteten

die Franzosen in die Reben und waren verschwunden.

Die französische Stellung bestand nul'

aus einem etwa 50 cm tiefen Graben, dahinter Iag ein

Haufen Weißbrot und ein Fäßchen Rotwein. Beides

war bald in unseren Mägen verschwunden. Selbst

der größte Patriot fand das französische Weißbrot

besser ais unser Kommißbrot.

[… ] Inzwischen war es Nacht geworden. ln den

Reben fanden wir einen jungen, ohnmächtigen 
             20

Franzosen . Im Scheine angezündeter Streichhölzer 
sahen wir, daß er einen Oberschenkelschuf3 erhalten

hatte. Ein Badenser aus Mannheim wollte ihn totschlagen,

ich und mein Kamerad Ketterer aus Mülhausen

hatten Mühe, den Unhold von seinem Vorhaben

abzuhalten. Da wir sofort weiter vor mußten,

ließen wir den Franzosen liegen.

Als wir mit Hurrageschrei auf Rixheim losstürmten,

mußten sich die Franzosen zurückziehen, um

nicht in Gefangenschaft zu kommen. Trotzdem

wurden beim Häuserabsuchen noch Gefangene gemacht,

die sich vor Angst verkrochen hatten. Die

meisten Soldaten waren wie verrückt und wollten

überall im Dunkel Franzosen gesehen haben. Eine

blödsinnige Knallerei ging los, auf Bäume und alles

mogliche, sogar auf Schornsteine auf den Dächern

wurde geschossen. Überall zischten und schwirrten

die Kugeln herum, so daß man nirgends seines Lehens

sicher war. Der größte Soldat des Regiments,

der 2 m lange Hedenus, stürzte zu Tode getroffen zu

Boden. [H. war ein 19 jähriger Gymnasiast, laut

Stammrolle am 10. August 1914 um 10.30 Uhr

durch Brustschuß gefallcn.] Einzelne Hauser waren

in Brand geraten und beleuchteten die Umgebung.

l)je Verwundeten beider Parteien wurden aufgelesen,

die Toten blieben liegen.

Wir mußten uns sammeln, marschierten in Rich-

tung Mülhausen und mußten dann auf den Wiesen

ctwa 1km vor Rixheim übernachten. Da wir alle

naß yom Schwitzen waren, empfanden wir die

Kühle der Nacht unangenehm und hatten gro/3es

Verlangen nach unseren Strohsäcken in der Kaserne.

Doch müde, wie man war, schlief man bald

ein. Durch Schüsse und über uns schwirrende Geschosse

wurden wir aufgeschreckt. »Was ist los?«

schrie alles im Dunkel durcheinander. Da die

Schüsse in unserem Rücken bei dem Dorfe Rixheim

aufblitzten, immer zahlreicher wurden und sogar

ein Masehinengewehr anfing zu rattern, hien es:

..Die Franzosen sind in unserem Rücken«. Es gab

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ein unbeschreibliches Durcheinander. Gellend tö nten

die Aufschreie der Getroffenen. Die Offiziere

befahlen uns, eine Linie zu bilden, uns hinzulegen

und die Stellen, wo die Scsse aufblitzten, kräftig

untel' Feuer zu nehmen.

Mehrere Minuten knallte alles drauflos. Da hieß es

plötzlich, es sind ja Deutsche. »Feuer einstellen

Wir mußten nun »Deutschland, Deutschland über

alles. singen, darnit die Soldaten bei Rixheim hören

sollten, daß wir Deutsche seien. Herrgott, war das

ein Gesang! Fast alle drückten das Gesicht in den

Rasen, um möglichst gedeckt zu sein. Langsam

flaute das Feuer ab. Die Offiziere làrrnten und

schimpften. Aber die armen Gefallenen konnten sie

nicht mehr lebendig machen. Wir hatten durch die

deutschen Kugeln so viele Verluste wie von den

französischen.

Am folgenden Morgen marschierten wir nach der

Napoleonsinsel. Überall sah man einzelne Tote,

Deutsche und Franzosen, umherliegen, ein grauenerregender

Anblick. Wir marschierten bis Sausheim,

machten kehrt, dieselbe Strecke zurück nach Mülhausen,

wo wir um 10 Uhr abends unter den Klangen

der Regimentsmusik einzogen. Die Einwohner

verhielten sich ruhig, und ich glaubte in vielen Gesichtern

zu lesen, daß unsere Rückkehr unerwünscht

war. Die nächsten 2 Tage bezogen wir

Alarmquartier in unserer Kaserne und konnten ausruhen.

Die meisten wollten nun weif Gott was für

Heldentaten vollbracht und eine Unmenge Franzosen

totgeschossen haben. Besonders diejenigen rissen

das Maul am weitesten auf, die während des

Gefechts am meisten Angst gehabt hatten.

Am 12. August marschierten wir in Richtung Baden,

überschritten beim Isteiner Klotz den Rhein

und wurden mitten in der Nacht in dem badischen

Dorf Eimeldingen in Scheunen einquartiert. Am folgenden

Tag wurden wir an der Bahn verladen. [... ]

ln Freiburg erhielten wir eine Unmenge Liebesgaben,

hauptsàchlich Schokolade, Zigarren, Zigaretten  
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wohin. Alle müglichen Gerüchte wurden laut: nach

Nordfrankreich, Belgien, Serbien, Rußland und so

weiter. Jedoch aIle hatten sich getauscht, denn bei

Straßburg fuhren wir wieder über den Rhein und

mußten morgens bei Tagesgrauen in Zabern den

Zug verlassen. Sofort marschierten wir die Zaberner

Steige hinauf nach Pfalzburg (Lothringen). Es war

cin herrlicher, klarer Sommermorgen und die Aussicht

an einigen Stellen über die elsassische Ebene

wunderbar. Wir blieben in hochster Alarrnbereitschaft,

selbst kein Stiefel durfte ausgezogen werden.

ln der Ferne horten wir Kanonenschüsse. Aiso

schien auch hier etwas los zu sein.

Gegen Abend ging's weiter in Richtung Saarburg.

Auf einer Höhe mufiten wir Schützengben ausheben,

eine richtige Schinderei, mit den kleinen Spaten

konnte man den harten, trockenen Lehrnboden nur

mit groüer Anstrengung wegarbeiten. [... ] Bei Anbruch

der Nacht entlud sich ein schweres Gewitter

über der Gegend, es wurde stockfinster, und ein

wolkenbruchartiger Regen ging nieder. Keiner

hatte mehr einen trockenen Faden am Leibe. ln den

Suefeln hatte sich das Wasser derart angesammelt,

daß wir dieselben ausleeren konnten. Wir hockten

oder standen auf dem Felde umher und fingen vor

Nasse an zu schnattern wie Ganse. »Alles nach Rieding,

Quartier suchenl Wir tappten über das nun

nasse Feld und kamen endlich auf die Strahe, die ins

1iorf führte. Es war derart mit Soldaten überfüllt,

daJ3 wir lange kein freies Plätzchen unter Dach fanden.

Ketterer aus Mulhausen, Gautherat aus Menglatt

und ich hielten uns zusammen: »Ln der Kirche gibt's

sicher noch Platz «, meinte Ketterer. Wir gingen hin,

jcdoch dasselbe Bild. Die Soldaten hatten die Altarkcrzen

angezündet, so daßdie Kirche ziemlich erlcuchtet

war. Überall in den Banken und in den

(;~ingen Tru ppen. Sogar auf dem Altare lagen oder

s;tfkn die Soldaten herum. Wir verlieBen die Kirche

                23

und kamen am Dorfende zu einem Haus, dessen

Haustür verschlossen war. ln der Scheune kam pierten

Husaren. Wir rüttelten an der Türklinke, niemand

kam. Ketterer polterte mit dem Cewehrkolben,

zuerst leise, dann imrner stärker, an die Haustür.

Endlich fragte jemand: »Wer ist denn drauf.\

en?«  »Drei Soldaten, Elsässer «, sagte ich, »rnöchten

sich gerne einquartieren. Wir sind zufrieden,

werm wir am Boden schlafen körmen.« Die Tür ging"

auf. Wir rnuûten in die Küche. »Herrgott, se id ihr

nabl klagte die Frau, machte uns unaufgefol'dert

heilie Milch, gab uns Brot und Butter dazu, das wir

uns wohl schmecken Iiehen. Die freundliche Frau

sagte uns, daßsie nul' ein freies Bett habe. Wir zogen

uns dann alle drei nackt aus und krochen ins Bert.

Die gute Frau halte unsere nassen Kleider und

trocknete sie am Ofen. AIs wir am falgenden Morgen

erwachten, waren aile Soldaten aus dem Dorfe

verschwunden. Die Frau brachte uns unsere trockenen

Kleider, und wir mubten noch frühscken. Jeder

wollte dann der Frau für ihre Bemühungen 1

Mark geben [Tagessold eines Soldaten: 53 Pfennig];

sie wall te jedoch nichts. Dankend nahmen wir Abschied.

Nun gingen wir auf die Suche na ch unserer

Kampanie, die wir auf der Höhe trafen, wo wir am

vorhergehenden Abend einen Schützengrabenausgehoben

hatten.

Am Mittag marschierten wir nach dem Dorfe

Bühl, hielten, marschierten weiter, hielten wieder

und so weiter. Von vorne marschierten mehrereRegimenter

Bayern  Infanterie, Artillerie, Kavallerie

 an uns vorüber, zurück. Kein Mensch wu/3te,

woran el' war. Endlich marschierten auch wir zurück

und mu/3ten hinter dem Dorfe Rieding an einem

Waldrand in einer sumpfigen Mulde einen Schützengraben

ausheben. Wo man hinsah, arbeiteten Liniensoldaten

am Grabenbau. Bauerien wurden versteckt

eingebaut. Bald war uns allen klar, da/3 wir

hier die Franzosen aufhalten sollten. Mehrere Tage

vergingen ohne Zwischenfall. Am 18. August kamen
                            24
 

franzosische Granaten angeflogen; diejenigen, die

in unserer Nahe in den Sumpfboden einschlugen,

explodierten nicht, während andere auf dem harten

Ackerboden mit lautem Krach zersprangen.

 

 

 

19. AUGUST 1914 – SCHLACHT BEI

SAARB URG (LOTHRINGEN)

 

ln der Nacht vom 18. zum 19. August hatten die

Franzosen die vor unseren Linien liegenden Dörfer

sowie das dazwischen liegende Celände besetzt. Am

Morgen in der Fhe wurde bei uns der Befehl zurn

allgemeinen Angriff gegen die Franzosen gegeben.

Mit einem Schlag war alles Lachen, aller Humor wie

weggeblasen. Alle Gesichter hatten denselben ernsten,

gespannten Ausdruck. Was wird der Tag bringen?

Ich glaube nicht, daû einer an das Vaterland

oder an sonstigen patriotischen Schwindel dachte.

Die Sarge um das eigene Leben drängte alles andere

in den Hintergrund.

Auf der Stra/3e, die bergab etwa 500 m von uns

nach dem Dorfe Rieding führte, fuhr in schnellstem

Tempo die etwa 80 Mann starke Radfahrer-Kornpanie

unseres Regiments auf das Dorf los. Kaum war

sie hinter den ersten Hausern verschwunden, aIs

eine tolle Schieûerei im Dorfe losging. Die ganze

Kompanie wurde vernichtet, bis auf 4 Mann. Plötzlich

setzte das deutsche Artilleriefeuer ein, die Franzosen

antworteten. Die Schlacht hatte begonnen. Mit

geladenem Gewehr und umgehängtern Tornister

knieten wir im Graben und warteten mit klopfendem

Herzen auf weitere Befehle. »Das Bataillon

geht geduckt im Graben nach der Straße hiber.

Weitersagen!« Alles setzte sich mit gebücktem Oberkörper

in Bewegung. Mehrere französische Granaten

schlugen dicht beim Graben ein, so daßman sich

sekundenlang auf den Grabenboden warf. Wir erreichten

nun die Straûe und krochen – meist auf

            25

allen vieren – den Straßengraben entlang vorwärts.

Nur zu bald hatte uns die französische Artillerie

entdeckt. Plotzlich ein Sausen, ein Blitz über uns, ein

Schrapnell war geplatzt, doch keiner wur de getroffen.

Ssst-bum-bum, kamen sie nun angeflogen. Aufschreie

hier und dort, mein zweiter Vordermann

schrie auf, stürzte zu Boden, walzte sich herum und

schrie jammernd um Hilfe. Das regte auf.

»Vorwärts, marschrnarsch!« Alles rannte nun im

Straßengraben vorrts, doch die franzosischenGesehosse

waren schneller, die Verluste häuften sieh.

"Bataillon nach links heraus, kompanieweise mit

4 Schritt Abstand, in Sctzenlinien schwärrnt.

Marschmarsch! ln kaum 2 Minuten war das Bataillon

ausgeschwärmt, im Laufschritt ging's weiter. Die

franzosische Infanterie, von der wir nichts sehen

konnten, eroffnete nun ein lebhaftes Feuer auf uns.

Wieder gab es Verluste. Vom Laufen und von der

Aufregung klopfte das Herz bis zum Halse hinauf.

Wir stürmten den Bahnhof Rieding. Vor unserer

Übermaeht muûten die Franzosen an dieser Stelle

weichen. Einige Gefangene blieben in unserer

Hand. Hinter der Bahnboschung muliten wir gedeckt

liegenbleiben und konnten wieder Atern

schopfen. Überall hörte man das Donnern der Geschütze,

das Bersten und Kraehen der Granaten 50

wie das Geknatter der Infanterie und daschinengewehre.

Oh, wenn wir nul' lange in dieser Deckung

liegenbleiben könntenl dachte ich. Ja, Kuchen! Ein

anderes Bataillon schrrnte von rückwärts bei uns

ein. ,,1. Bataillon lnfanterieregiment 112 zieht sich

gedeckt nach links rüber!« Wir gelangten nun in

eine Mulde, erreichten einen Wald und gingen etwa

2 km im Bogen herum, um das Dorf Bühl, welches

von den Franzosen tapfer verteidigt wurde, von der

Seite anzugreifen. Kaum verlief unsere 1. Linie den

schützenden Wald, aIs schon die franzosischen Cranaten

angesaust karnen. Sie waren gut gezielt, und

die Erdschollen schwirrten brummend um unsere

Këpfe, richteten jedoch in unseren aufgelosten Linien
                                    26
 

wenig Schaden an. Wir mußten ein flaches TaI

durchqueren, durch welches ein Bach HoH. Da die

Wiesen gar keine Deckung boten, blieb uns nichts

übrig, ais im Bache binter der jenseitigen Bëschung

Deckung zu suchen. "Vil' standen fast 2 Stunden bis

an den Leib im Wasser, duckten uns dicht an die

Böschung, hrend die Scbrapnells die Erlen und

Weiden über unsern Köpfen in Fetzen rissen. Wir

bekarnen aus dem Walde mehrere Linien Versrkung

und rnuûten zum Angriff auf die Höhe vorgehen.

Ein prasselndes lnfanteriefeuer knatterte uns

entgegen. Mancher arme Soldat fiel ins weiche

Öhmdgras. [Südwestdeutsch Ohmd: Heu, die zweite

Mahd] Weiter vorzugehen war unrnoglich. Alles

warf sich zu Boden und suchte sich mit Spaten und

Handen einzugraben. Zitternd,dicht an den Erdboden

geschmiegt, lag man da, jeden Augenblick den

Tod erwartend. Da hörte ich auf der Hohe furchthare

Explosionen, hob ein wenig den Kopf und

schaute hinauf. Crolle, schwarze Rauchwolken

schwebten dort oben, neue Rauchwolken schossen in

die Höhe, Erdschollen flogen umher. Die deutsche

FufiArtillerie hielt die Hohe stark untel' Feuer. Wir

konnten nun die Höhe und das Dorf mit wenigen

Verlusten nehmen. ln einern ausgehobenen Keller

auf einern Bauplatz suchten wir gegen die fransische

Artillerie Deckung. eben mir lag ein badischer

Reservist, Vater von zwei Kindern. Er zog eine Zigarre

hervor, beim Annden sagte el' zu mir: »Wer

weill, es ist vielleicht die letzte.. Kaurn hatte er diese

Worte gesprochen, als ein Schrapnell über uns

platzte. Ein Splitter durchschlug den Tragriemen

des Tornisters auf der Brust und drang ins Herz.

Der Reservist stief einen Schrei aus, schnellte hoch

und fiel tot hin. Zwei andere Soldaten und unser

Hauptmann wurden verwundet. Wir blieben bis gegen

Abend im Keller liegen. Dann ging's weiter;

ohne auf Widerstand zu stolien, besetzten wir die

südwestlich von Bühl gelegenen Höfe. Wir sollten

dort die Nacht verbringen. Todrnüde, abgehetzt,

                        27

naf von Schweif und Bachwasser legte sich alles hin.

Ich selbst halte in der Nähe stehende Hafergarben,

breitete zwei in einer Furche aus und deckte mich

mit zwei anderen zu. Ich schlief bald ein. Plotzlich

ging ein Geschrei und eine SchieI3erei los. »Sofort

drei Linien bilden! Erste liegen, zweite knien, dritte

stehen! Sofort Schnellfeuer nach vorne eröffnen!«

Alles rannte riun hin, im Nu waren die Linien gebildet,

und die Franzosen, die einen Gegenangriff

machten, wurden mit einem furchtbaren Schnellfeuer

empfangen. Trotzdem kamen sie stellenweise

bis in die deutschen Linien, wo im Dunkel mit dem

Bajonett gekampft wurde. Schließlich zogen sich die

Franzosen wieder zurück, und die Ruhe kehrte wieder

ein. Ich selbst hatte mich an der ganzen Sache

nicht beteiligt und drückte mich so tief wie moglich

in meine Hafergarben. Lange konnte ich nicht einschlafen.

Das Jammern, Um-Hilfe-Rufen und Stohnen

der Verwundeten ging mir sehr zu Herzen.

Schließlich schlief ich wieder ein. Um 2 Uhr morgens

kam endlich die Feldküche, es gab Essen: heiI3en

Kaffee und Brot. Der heiûe Kaffee schmeckte herrlich,

man hatte kalt in den feuchten Kleidern bekornmen.

Da etwa die Hälfte der Mannschaften fehlte,

erhielt man, so viel man wollte. lch füllte noch meine

Feldflasche für den folgenden Tag. Dann kroch ich

wieder in meine Hafergarben und erwachte erst, aIs

mir die Sonne ins Gesicht schien. Ich stand auf.

Welch ein Anblick bot sich mir! Vor uns lagen tote

und verwundete Franzosen, so weit man blicken

konnte. Die toten Deutschen lagen auch noch da, die

Verwundeten waren schon weggeschafft. lch ging

zu den nächsten französischen Verwundeten und

verteilte ihnen meine Feldflasche Kaffee. Wie diese

Armen dankten! Deutsche Sanitatswagen fuhren

heran, die die verwundeten Franzosen wegführten.

Die Toten waren zum Teil entsetzlich anzusehen,

teils lagen sie auf dem Gesicht, teils auf dem Rücken.

BIut, verkrallte Hände, verglaste Augen, verzerrte

Gesichter. Viele hielten die Gewehre krampfhaft in
            28
 

der Hand, andere hatten die Hände vol! Erde oder

Gras, das sie im Todeskampf ausgerissen hatten. Ich

sah viele Soldaten beisammenstehen an einer Stelle,

ging hin, und es bot sich da ein entsetzliches Bild. Ein

deutscher und ein französischer Soldat lagen da halb

kniend gegeneinander. Jeder hatte den anderen mit

dem Bajonett durchbohrt und waren so zusarnmengesunken.

    Nun wurde ein Korpsbefehl verlesen: Gestern

wurden die Franzosen in 100 km Breite von Metz bis

zum Donon angegriffen und trotz tapferer Gegenwehr

zurückgeworfen, so und sa vide Gefangene

fielen in unsere Hand, Geschütze wurden erbeutet.

Die Verluste werden aufjeder Seite auf 45000 Mann

geschätzt. Unseren Soldaten gebühre voiles Lob für

ihren Mut und ihr Heldentum, und der heiße Dank

ihres Vaterlandes sei ihnen gewiß und so weiter und

so weiter.

Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt? lch will es

fast bezweifeIn, denn im Feuer sah ich nichts aIs

Angst, Bangen und Verzweiflung in jedem Gesicht

geschrieben. Von Mut, Tapferkeit und dergleichen

überhaupt nichts, denn in Wirklichkeit ist's doch nur

die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Solda-

Ien vorwärts und in den Tod treibt.

20. AUGUST 1914

lch mubte dann mit einem Unteroffizier und 10

Mann nach Bühl, Munition holen, um die verschossene

zu ersetzen. Nahe dem Dorfe stand ein Feldkreuz.

Eine Granate hatte den Kreuzesstamm in

Kniehöhe des Heilandes sowie das Querholz weggerissen.

Der Heiland stand unversehrt mit ausgest

reckten Händen da. Ein erschütterndes Bild, wortlos

gingen wir weiter.

Etwa urn 10 Uhr morgens hief es: »Alles fertigrnachen,

vorwärts!« ln mehreren Schützenlinien ging's

                29
 

nun wieder den Franzosen entgegen. Balel karnen

einzelne Granaten heranget1ogcn, cine sehlug in die

dort stehende Ferme [Pachthof in Fran kreich, Gut],

die alsbald lichterloh branrue. Kein Mcnsch dacbte

ans LöschcnvWeit vorn sah ich ein Pferd mit hangendem

Kopfe in cinem Haferfelde stehen. Bcim

Hinzukomrnen sah ich, daH dasselbe bei seinern toten

Reiter, einern französischen Kavalleristen, stand

und selbst an einem hinteren Beine und am Bauch

schwer verwundet war. Aus Mitleid scholl ich ihrn

eine Kugel in den Kopf. Tot brach es zusammen.

Einige Schritte weiter trat ich im Hafer auf etwas

Weiches. Es war eine abgerissene Hand, an der noch

ein Fetzen yom Hemdärrnel hing. Unweit davon lag

neben einern Granatloeh die zerrissene Leiehe eines

franzosischen Infanteristen, jedenfalls der Eigentürner

der abgerissenen Hand.

Beim Weitervorgehen erhielten wir starkes Cranatfeuer.

lm Laufsehritt eilte alles hinter den steilen

Abhang eines vor uns liegenden etwa haushohen

Hügels. Die Granaten sehlugen nun entweder oben

auf der Höhe ein oder sausten über uns hinweg.

Nun ging's aber los mit Sehrapnells, die fast aile über

uns platzten. 0 diese verflixten 75er-Kanonen! Wie

der Teufel kamen die Gesehosse herangesaust. Man

hatte nicht einmal Zeit, sich zu Baden zu werfen. ln

einer Sekunde: Abschuû, Sausen und Krepieren.

Vor Angst hielten wir die Tornister über unsere

Köpfe, doeh gab es bald mehrere Verluste. Unser

Major narnens Müller gab uns ein Beispiel grofier

Unersehroekenheit. Eine Zigarre rauehend, ging er

zwisehen uns, die platzenden Sehrapnells nicht achtend,

hin und her, uns aufmunternd, keine Angst zu

haben. Etwa 500 m links, rückwärts von uns, fuhr

eine deutsche Batterie auf. ln wenigen Minuten war

dieselbe von der französischen Artillerie zusarnmengeschossen.

Nur wenige Kanoniere konnten sich

. durch Davonlaufen retten. Allhlich horte das

Schielien auf, wir gingen weiter VOl' und brachten die

Nacht im Walde bei dem Dorfe Hatten zu. 
            30
 

                21.AUCUST 1914-GEFECHTHEI

                    LÖRCHINGEN (LOTHRINGEN)

 

Morgens in der Frühe ging's nun wieder weiter, in

c-inern Tale der Onsehaft Lürcbingen zu. Ein Leutliant

Vogel, eiu verdrieblicher, schlecht aussehender,

heiserer Mensch, führte seit der Verwundung

uuseres Hauptrnanns cl.ie Kornpanie alleine nach

lörchingen. lm Dorfe angekommen, meldeten vor-

ausgeschickte Patrouillen: »Auf der Höhe links von

dem Dode, fast in unserem Rückert, zurüekgehende

lranzösische Infanterie.« lm Laufschritt ging's das

Dorf hinauf, und wir besetzren dort eine mit einer

siarken Mauer umgebene Cärtnerei. Die Franzosen,

die in etwa 400 m Entfernung ahnungslos auf uns

zukamen, wurden plötzlich von einem furchtbaren

Feuer überschüttet. Viele stürzten, andere warfen

sich hin und erwiderten das Feuer. Doch konnten sie

uns nichts anhaben, da wir durch die Mauer gedeckt

waren. Da hielten einzelne, dann imrner rnehr die

Gewehrkolben in die Hohe, zum Zeiehen, daßsie

sich ergeben wollten. Wir hörten auf mit Schieûen.

Daprangen rnehrere Franzosen auf, um zu fliehen.

Sie wurden zusammengesehossen. Mieh dauerten

die armen Menschen. leh konnte es nieht fertigbrin-

gen, auf sie zu schieûen. »Vorwärts, marschmarseh!«

schrie Leutnant Voge!. »Wir wollen den Rest der

Bande gefangennehmen!« Alles kletterte über die

Mauer und lief den Franzosen zu. Diese schossen

nicht mehr. Da plötzlich von rückwarts ein Sausen.

Bum zerplatzte ein grolles Schrapnell über uns,

mehrere folgten. Wie vom Blitze getroffen, stürzten

mchrere Mann zu Baden. Alles wollte nun zurückl.

iufen, Deckung suchen, denn wir wurden von unse

rer eigenen Fufiartillerie besehossen, und das regte

auf Leutnant Vogel schrie: »Vorgehen!« Ais einige

Soldaten zogerten, schof er kurzerhand vier dersel

ben nieder, zwei waren tot, zwei verwundet. Ein gu

ter Kamerad von mir namens Sand war einer der

Vcrwundeten. (Der Leutnant Vogel wurde zwei Mo-

                                31

einnate

spa ter in Nordfrankreich von eigenen Soldaten

erschossen.) [Der 23jahrige Zuckerfabrikarbeiter

Sand wurde laut Stammrolle am 21. August 1914 bei

Lörchingen durch Schuf ins rechte Schienbein verwundet.

Der 1871 geborene Feldwebelleutnant Vogel,

im Zivilleben Oberpostassistent, wurde Ende

1914 nicht erschossen: Zwei Tage nach dem Gefecht

kam er zur Etappe nach Belgien, wo er bis 191 7

blieb.]

Die Franzosen kamen nun, zitternd vor Angst, mit

erhobenen Händen zu uns gelaufen. lm Laufschritt

ging's zurück nach Lörchingen, wo wir uns in Kellern

und so weiter Deckung suchten. Gegen Abend

gingen wir, unsere Gefangenen mitnehmend, in das

weiter zurückliegende Dorf Hessen, wo wir, in Obstgarten

schlafend, die Nacht verbrachten.

 

                     22/ 23 / 24 AUGUST 1914

 

Morgens in der Frühe Alarm, Kaffeetrinken, Abmarsch

nach vorne. Verflucht, dachte ich,jeden Tag

mußman nun den Tod suchen. Mit welchem Widerwillen

ich weiterging, kann ich nicht beschreiben.

Wir erreichten nach einigen Kilometern Marsch die

französische Grenze. Der deutsche Grenzpfahl mit

dem Adler war von den Franzosen umgebrochen

worden. Ich dachte, daf vielleicht beim Grenzüberschreiten

hurra gebrüllt werden mub, Doch wortlos

tappten wir weiter. Jeder dachte wohl, ob er die

Grenze wieder rückwärts überschreiten werde. Wir

marschierten bis in die Nacht hinein und karnpierten

auf einem freien Ackerfelde.

Den Morgengruß brachte ein franzosischer Flieger,

der 2 Bomben abwarf. Jedoch wurde niemand

verletzt. Die Feldküche blieb aus, der Hunger stellte

sich ein. Vor uns lag ein Dorf. Wir hofften, dort

etwas Lebensmittel zu finden, durften es jedoch

nicht betreten und marschierten dicht an demselben

                                32

vorbei. Wir rissen in den Pflanzungen gelbe Rüben 
aus, schüttelten im Vorbeigehen einige Mirabellen

von den Baumen, das war unser Frühstück. Doch

Hunger ist der beste Koch, das sollten wir noch ofters

erfahren. Folgen dieser Verpflegung: Durchfall-

und wie! Über die Halfte der Mannschaften liu

daran. Viele meldeten sich deswegen krank und wären

lieber ins Lazarett spaziert, ais langer im Feld

den Helden zu spielen. Ja, Lazarett! Vom Bataillonsarzt

ein Opiumtropfen auf einem Stückchen Zucker

und marsch, ran an den Feind! Ach, wie gerne hatten

wir uns nun im Kasernenhofe schleifen lassen!

Und die Betten! 0 ihr Strohsäcke, wie glücklich wären

wir nun, auf euch unsere Glieder trocken und

warm ausstrecken zu k6nnen! Weiter, oh ne Ruh,

ohne Rast.

Am Mittag wurde in einem Dorf haltgemacht.

Eine wahre Treibjagd auf die Hühner begann. Kaninchen

wurden aus Kisten und Ställen geholt, der

Wein aus den Kellern, der Speck und Schinken aus

dem Kamin. lch suchte die Eiernester und trank

(j-8 Eier aus. Ich ging dann in ein Haus. ln der

Stube standen auf den Milchschäften [Schaft: süddeutsch

für Gestellbrett, Schrank] Reihen von

Milchtopfen. lch langte hinauf und erwischte einen

mit süßer Sahne gefüllten Topf. Wie das schmeckte,

so süß und kühl! lm schönsten Trinken erblickte

ich hinter der Stubentür eine altere Frau, die bleich

und zitternd dastand. Obwohl ich kein Verbrechen

begangen hatte, schämte ich mich, oh ne weiteres

die Sahne wegzunehmen. lch wollte der Frau eine

halbe Mark geben, sie wollte jedoch nichts und gab

mir noch ein großes Stück Brot. Die Frau war die

cinzige Zivilperson, die ich im Dorfe sah. Entweder

hatten sich die Einwohner var Angst verkrochen

oder waren geflohen. Antreten, weiter! Mehrere

Kompanien gingen ausgeschwarmt vor, wir folgten

ais Reserve. Pang, pang, ging's vorne wieder los. Es

war die Franzosen-Nachhut, die leichten Widerstand

leistete. Unsere Kompanie brauchte nicht einnate
                                33
 

zugreifen. Beim weiteren Vorgehen sahen wir

einige gefallene Deutsche herumliegen. Wir gingen

weiter und übernachteten in eineGroßen Gebirgswald.

An deUnruhe und Aufregunder Offiziere

konntman merkendaß für den folgenden Tag

etwain Aussicht war.

 

            AUGUST 1914– ÜBERGA G ÜBER DIE

 

                            MEURTHE

 

  

Morgenin der Frühfingen deutsche Batterien

ununterbrochen zu schieJ3eanDrüben hörte man

deEinschlag der Granaten. Wir standen marschbereit

im Walde und wartetenDiKompanieführer

ließen nun ausschwärrnenMeinKompanie stand

in de2. Schützenlinie. »Vorwärts, marsch!« Alles

setztsich in Bewegung. Vorne schimmerte es hell

durch diBaume, der Wald hörtdort auf. Kaum

zeigte sich die 1. Linie am Waldrand, aidie franzosische

Infanterie ein rasendes Schnellfeuer eroffnete.

Der Wald selbst wurde von der franzosischen Artillerie

mit Granaten und Schrapnellbelegt. Zwischen

und über uns krepierten diDingerman lief wie

verrückhin und herDicht neben mir wurde einem

Soldaten deArm abgerissen, eineanderen der

halbHaldurchgeschlagen. Estürzte hingluckste

ein paarmaldas Blut scholihm audem IundeEr

war tot. Einin der Mitte getroffene Tanne stürzte

zu Bodenman wulitnichtwo masicverstecken

sollte. »Zweite Linie vorrts!« AWaldrand angekommen,

sah icvor mir ein ziemlich tiefes TaI,

welches von einem Flusse, einer Straûe und einer

Bahn durchzogen wurde: das Tai der Meurthe. Das

Dorund die Höhen jenseits des Flusses waren von

deFranzosen stark besetzt. Sehen konnte man nur

einzelnesie lagen gedeckt. Überall sah man die

Rauchwolken der deutscheGranaten ernporschie-

ßenBeiderseits von uns brachen die deutschen  
                                        34

Schützenlinien audem Wald hervor, sausend kamen

die franzosischen Artilleriegeschosse angeflogen

und forderten ihre Opfer. ln dem Krachen und

Knattern hörtman fast keine Kommandomehr.

lm Laufschritt ging es hinunter ins 'l'al, wo wir endlich

im Straßengrabeetwas DeckunfandenEtwa

éOO m vor uns befand sich die Straßenbrücküber

dem Fluss. Beim weiteren Vorrücken drängte alles

n.rch der Brücke, diFranzosen übersctteten diesc-

lbe mit einem Hagevon Schrapnells, Infanterie

und Maschinengewehrfeuer. Haufenweise stürzten

die Anstürmendegetroffen zu Boden. An ein Hinùberkommen

ùberkommen war nicht zu denken. Zitternd lag ich

auf der deckungslosen Wiese neben der Straßin

der Nähe des Flusses. Zu rühren trautich mich

nicht, Ich dachte, mein letztes Stündlein segekommen,

und sterben wollte, wollte ich nicht. Ich betete

zu Gott um Hilfe, so beten kann man nul' in grüJ3ter

lebensgefahr. Es waein angstvolles, zitterndes Fle-

hen aus tiefstem Herzen, ein inbrünstigesqualvolles

Schreien nacoben. Wie ganz anders ist so ein Gebet

in höchster Not irn Vergleich zum sonstigen Beten,

das meistendoch nur aus einem gewohnheirsmàssigen,

oft gedankenlosen Hersagen besteht.

Rums, dicht neben mir hatte eine Granate einges(

Irlagenprasselnd fielen Splitter und Erdschollen

heruieder. Ein Sprung, im Granatloch lag ich!

Plumps,,prang ein anderer Soldat, ebenfallDekk

kung suchendauf michDoch icwazuunterst und

Iiess  mich nichverdrängen. »Vorwärts, zum Sturm

Durch den Fluss<< schollen die Kommandos durch

Das Getöse. Alles sprang aufoh ne langes Besinnen

In den Flussum hinter der jenseitigeUferböschung

Deckung zu bekommen. Das Wasser reichte

An die Brustdoch das wurde weiter nicht beachtet.

Mehrere Mann wurden im Wasser voeinem

SCHRAPNELL getroffen und fortgespült. Kein Mensch

half  ihnen, jeder hatte mit sich selbst zu tun.

Am Dorfranwaren mehrere Hauser in Brand

geschossen; durch diHitze gezwungenmullten die
            35

Franzosen stellenweise die Verteidigung des Dorfrandes

aufgeben. Wir mußten nun zum Bajonettangriff,

die Franzosen mußten weichen. Gefange~e

wurden gemacht. Waschnaß, erschöpft suchten wir

hinter den Häusern Deckung, um etwas auszuruhen.

Nach und nach hörte das Schießen ganz auf.

Gegen Abend mußten wir den links var dem Dorfe

gelegenen bewaldeten Hügel angreifen. Wir kehrten

na ch Thiaville zurück, um zu übernachten. Ich

lag mit vielen Kameraden in einer Scheune im weichen

Ohmd. Es war eine gewittersch,vere Nacht.

Rauschend stürzte der Regen auf die Dachziegel.

Infolge des Krachens der zusammenstürzenden, in

Brand geschossenen Hauser konnte man trotz aller

Müdigkeit keinen Schlaf finden. Viel Vieh war noch

in den brennenden Ställen angebunden und brüllte

vor Todesangst in allen Tonarten. Entsetzlich! Endlich

schlief ich ein. Nach Mitternacht hörte ich in der

Scheune rufen: »Cruppe Heuchele solI sofort herunterkornmen!-

Dazu gehbrte au ch ich. Wir kletterten

hinunter, die nassen Kleider klebten am Korper.

Wir 8 Mann mit dem Unteroffizier mußten einige

hundert Meter vor dem Dorf Feldwache beziehen.

Dort standen oder kauerten wir bei strörnendem

Regen und starrten und lauschten in die stockdunkle

Naeht hinaus. EndIieh graute im Osten der

Morgen. Was wird der neue Tag bringen?

 

        26. AUGUST 1914- WALDGEFECHT BEI

                            THIAVILLE

Ais es hell wurde, warteten wir auf Ablösung, doch

niemand kam. Einige Schritte von uns stand ein kleines

Haus, das wir im Dunkel gar nieht bemerkt hatten.

ln einer Heeke daneben lag ein toter, vom Regen

vollstandig durchnäûter deutseher Infanterist.

lm Hofe des Hauschens lagen zwei tote franzosische

Infanteristen. Neben dem einen lag ein Portemon
 
                                36

naie, ich hob es auf. Es enthielt zwei 20-Franken-

Stüeke in Gold. lch hatte jedoch gar keinen Sinn

mehr naeh Geld und warf es weg. Wahrseheinlieh

hatte einer der Franzosen sein Geld hergeben wollen,

damit er verschont würde. Vom Dorfe her ritt

eine Dragoner-Abteilung heran und an uns vorbei,

der Straûe entlang dem etwa 400 m entfernten

Walde zu. Infanteriekompanien folgten. Wir muûten

uns unserer Kompanie ansehliel3en. ln unseren

nassen Kleidern tappten wir hinterher. Kein Menseh

fragte uns, ob wir etwas gegessen oder getrunken

hatten. Vorne im Walde knallten Schüsse. Verflucht,

sehon wieder! Die Dragoner, die aus dem Wald in

vollem Galopp zurückgesprengt kamen, maehten

unserem Brigadegeneral, Generalmajor Stenger,

die Meldung, daßsie auf Franzosen gestoßen seien.

Der General erteilte nun den Kompanieführern folgenden

Befehl [über den sieh in rnilitärischen Akten

nichts ermitteln liefi], der jeder Kompanie vorgelesen

wurde: »Heute werden keine Gefangenen gemacht.

Verwundete sowie gefangene Franzosen

werden erledigt.« Die meisten Soldaten waren starr

und spraehlos, andere wieder freute dieser volkerreehtswidrige,

niederträchtige Befehl. »Ausschwärmen,

vorwarts, marsch!« Gewehr im Arm ging's dem

Wald zu, in denselben hinein, meine Kompanie in

der 2. Schützenlinie. Kein Sehuß fiel. Sehon hofften

wir, die Franzosen, welche die Dragoner besehossen,

hatten sieh zurüekgezogen. Päng-päng-päng, ging's

los. Einzelne Kugeln kamen bis zu uns geflogen und

Iuhren klatsehend in die Baume. Morgens in der

Frühe waren frisehe Ersatztruppen angekommen,

die in die Kompanie eingeteilt wurden. Diese Soldaten,

die noeh keine Kugel pfeifen gehërt hatten,

machten fragende, ängstliche Gesichter. Da das

Feuer stärker wurde, muliten wir in die vordere

Linie einschwarmen. Jeden Baum,jeden Strauch als

Deekung benutzend, ging's weiter. Mehrere Schützenlinien

folgten uns. Die französischen Alpenjäger

und lnfanteristen mußten anfangs trotz tapferer

                                    37

hinter Bäumen und in Waldgräben fest und knallten

uns entgegen. Die Verluste häuften sich. Dieverwundeten

Franzosen blieben Iiegen und gerieten in

un sere Hand. Zu meinem Entsetzen gab es bei uns

solche Ungeheuer, welche die armen, um Gnade

flehenden, wehrlosen Verwundeten mit dem Bajonett

erstachen oder ersehossen. Ein Unteroffizier

meiner Kompanie namens Schirk, Kapitulant [ins

Moderne übersetzt: ein Zeitsoldat; ehemals im deutschen

Heer ein Soldat, der sieh durch Vertrag über

die gesetzliche Dienstzeit hinaus verpflichtete] des

älteren Jahrgangs, schof hohnlachend einem im

Blut liegenden Franzosen durch das Gesäû, dann

hieJt er dem in Todesangst um Gnade flehenden

Unglüeklichen den Gewehrlauf vor die Schläfe und

drückte los. Der Arme hatte ausgelitten. Aber nie

kann ich das in Todesangst verzerrte Gesicht vergessen.

Einige Schritte weiter lag wieder ein Verwundeter,

ein junger hübseher Mensch, in einem Waldgraben.

Unteroffizier Schirk lief auf ihn zu, ich hinterher.

Sehirk wollte ihn niedersteehen, ich parierte

den Stof und schrie in höchster Aufregung: »Wenn

du ihn anrührst, verrecksch!« Verdutzt schaute er

mich an, und meiner drohenden Haltung nicht trauend,

brummte el' etwas und folgte den anderen Soldaten.

Ieh warf mein Gewehr zu Boden, kniete mich

bei dem Verwundeten nieder. Er fing an zu weinen,

fte meine Hände und küûte sie. Da ich gar nichts

französisch sprechen konnte, sagte ich, auf mich

deutend: »Alsacien Kamerad!« und gab ihm durch

Zeichen zu verstehen, daf ich ihn verbinden wolle.

Er hatte kein Verbandszeug. Seine beiden Waden

waren von Gewehrschüssen durchbohrt. leh entfernte

seine Gamasehen, sehnitt mit dem Taschenmesser

die roten Hosen auf und verband mit meinem

Verbandspäckchen die Wunden. leh blieb

dann neben ihm liegen, teils aus Mitleid, teils wegen

der Deckung, die ich im Graben hatte. Ich hob ein

wenig den Kopf, konnte die vorgehenden Truppen
                                    38

nicht mehr sehen. Ununterbrochen zisehten Kugeln

durch den Wald. Sie schlugen Zweige ab und fuhren

in Stämme und Aste.

Ganz in der Nahe standen einige Heidelbeersträucher,

die voll von reifen Beeren hingen, welche ich

pflückte und aû, Sie waren das erste Essen seit etwa

30 Stunden. Da hörte ich Sehritte hinter mir. Es war

der Kompaniefeldwebel Penquitt, in der Kaserne

cin sehr gefahrlicher Qualgeist, der jedesmal, wenn

er zu spreehen begann, ein paarmal stotterte. Mit

Erhobener Pistole schrie er mich an: »Aaaas, verfluehtes,

willst du machen, daf du naeh vorne

kommstl Was wollte ich maehen? Nahm mein Gewehr

und ging. Ein paar Schritte wei ter steIlte ich

Illich hinter einen Baum, um zu sehen, ob er dem

Verwundeten etwas anhaben wolle. Mein Entschluf

war, ihn sofort niederzuschielien, wenn er den Franwsen

töten wollte. Er betrachtete ihn und ging weiler.

Ich lief nun schnell vor ihm her dureh dichtes

Brombeergeseh. Darin lagen 6-8 Franzosen, aile

.ruf dem Gesieht. leh merkte gleich, daßsie sich nur

lotstellten. Fliehen konnten sie nieht mehr, denn die

dcutschen Linien waren vor ihnen. Ieh berührte den

cinen mit dem Bajonett und sagte: »Kamerad..

AlIgstlich schaute er mieh an. Ich bedeutete ihm,

ruhig liegen zu bleiben, was er mit eifrigem Kopfnikkr-

ken bejahte. Tote und Schwerverwundete lagen zersi

streut im Walde umher. Das Knattern und Knallen

wollte kein Ende nehmen. Leichtverwundete rann-

ten an mir vorbei, rückwärts. lch sehlieh mieh, imnier

Deekung suchend, in die Gefechtslinie. Mit

Hurra ging's wieder weiter var, die Verluste häuften

sich schreeklich. [ ] Beim weiteren Vorgehen ka

men wir an eine breite Schlucht. Die Franzosen kletl-'

terten im Zurückweichen den jenseitigen Hang hin

:auf. Viele le von ihnen wurden wie Hasen abgeschosse-

sen. Manche der Getroffenen rollten den Abhang

hinab. AIs wir die Schlucht überschritten hatten, bek.

uuen wir plötzlich von einer Anhohe, die mitjung('

gen Tannen bepflanzt war, ein furchtbares Feuer.

                                    39

Alles sprang hinter Baume oder warf sich zu Boden.

Einige flohen. Major Müller schrie, den Degen

schwingend: » Vorwärts, Kinder l und brach dann

sofort tot zusammen. [Major M.,Jahrgang 1863, fiel

bei diesem Gefecht nach :~1 Jahren Militärdienst.]

Nun wurde es oben in denjungen Tannen lebendig.

Ganze Scharen von Alpenjäger n liefen mit gef~illtern

Bajonett auf uns ZU. Wir machten kehrt. lm schnellsten

'Tempo ging es zurüek. Ieh lief mit etwa 6 Mann

zusammen, vier davon stürzten aufschreiend zu Boden.

Ich nahm mir nicht die Zeit, mich naeh ihnen

umzuschauen. Unsere Verwundeten blieben fast

alle liegen. lch schnallte im sehnellsten Laufen meinen

Tornister los und schrnif ihn weg. Weiter zurück

hörte ich 2 bis 3mal meinen Namen rufen.

Mich umsehend, sah ich meinen guten Stubenkarneraden

Schnur, Landwirtssohn aus Wangen am Bodensee,

auf einem Zelt liegen, welches von Sanitätern

an Tragstangen befestigt worden war. Die Sanitäter

lichen ihn liegen und liefen davon. Sofort rief

ich 3 Kameraden herbei. Wir nahmen die Stangen

auf die Schultern, und im Laufschritt ging's nun

rückrts, Für den armen Schnur war dies ein echter

Leidensweg. Die Zeltschnüre rutschten zusarnmen.

Schnur sa/3 mit dem Hintern im tiefen Zelt, die

Beine und der Kopf schauten oben hinaus. daßei

schwenkte das Zelt zwischen uns immer hin und her.

»Haltet! Um Gottes willen langsamer!« stohnte el',

aber wir liefen immer weiter, um aus dem Bereich

der Kugeln zu kommen. Offiziere hielten nu n alIe

zurücklaufenden Soldaten an und zwangen sie, eine

Linie zu bilden, um die Franzosen abzuwehren. Wir

vier durften den Verwundeten nach dem Verbandsplatz

bringen, der in einer kleinen Ferme nahe am

Waldrand sich befand. Die Ferme war von Verwundeten

derart überfüllt, daßwir gezwungen waren,

Sehnur im Hofe niederzulegen. Er hatte einen

Schuf ins Kreuz erhalten und war yom Blutverlust

sehr geschwaeht. Da es wieder zu regnen anfing,

suchte und Iand ich ein leeres Plätzchen in der Küche
                                    40
 

Küche,

und wir trugen Schnur hinein. Gatt, wie sah es

in diesem 1Iaus aus! Blut, Ächzen, Stühnen, Betcn l

Meinern Kamerarlen gute Besserung wünschend ,

verlief ich dieses Haus des Elcnds. (Drei Monate

spater starb Schnur in einern Lazarett in Strabourg.)

[Laur Stammrolle: verwundet am 26. August 1914

durch Oberschenkelschuß, verstorben am 2. Dezernber

1914 infolge Oberschenkelschuß, Amputation

und Blutvergiftung.] [... ]

Da ich seit etwa 30 Stunden oder mehr nichts als

ein paar Heidelheeren gegessen halte, regte sich der

Hunger. Da nichts Eûbares bei der Ferme aufzutreiben

war, ging ich in den Wald zurück, um Heidelbeeren

zu suchen. Don lag ein roter Franzose. lch

schnallte den Tornister auf und entnahrn eine

Büchse Fleisch und ein Päckchen Zigaretten. Einige

Sehritte wei ter lag ein roter Deutscher. Ihm schnallte

ich den Tornister ab, um meinen weggeworfenen zu

ersetzen. ln demselben befand sich die eiserne Portion

sowie ein reines Hemd. lch zog sofort mein

dreckiges, nal3gesehwitztes aus und zog das reine an.

Dann af ich die Büchse des Franzosen mit unglaubiicher

Gier auf. Das Schieûen im Walde verstummte.

Langsam senkte sich der Abend hernieder. Die

Kompanien sammelten sieh am Waldrand, meine

Kompanie bestand noeh aus etwa 40 Mann. Über

100 waren geblieben! Meine Karncraden Cautherat

und Ketterer waren auch noch da. Die waren

schlauer gewesen ais ich und hatten sich gleieh nach

Beginn des Gefechts im Gesch verkrochen. Die

Nacht verbrachten wir an einem Bergabhang untel'

strömendern Regen. Stumpfsinnig, todmüde, halb

verzweifelt hockten wir herum.
                                    41
 

27. AUGUST 1914

 


Morgens sollte eine Patrouille, bestehend aus einem

Leutnant und 8 Mann, die Leiche des Majors Müller

aus dem Walde holen. Bald hörten wir aus der Richtung,

die sie eingeschlagen hatten, Scsse. Keiner

kehrte zurück. Wie Soldaten erzahlten, hatte auch

Major Müller zwei verwundete Franzosen mit der

Pistole erschossen. Gut, daß ihn sein Schicksal erreichte.

Auch der Unteroffizier Schirk fehlte [der

22jahrige Metzger wurde bei diesem Gefecht laut

Stammrolle schwer verwundet], ebenso ein Reservist,

der ebenfalls einen Verwundeten erschoß.

Ich ging nun nach Thiaville, um einige Kochgeschirre

Wasser zu holen zum Kaffeekochen. Neben

der Straße stand eine Batterie des 76.Feldartillerieregimentes.

Die Mannschaften empfingen eben Essen

von der Feldküche. »Richert, wo laufsch urna?«

schrie ein Kanonier. Es war der Jules Wiron aus

Dammerkirch. »Hasch Hunger?" fragte er mich. Ais

ich bejahte, empfing er noch eine gehorige Portion

für mich, welche mir trefflich mundete, dann füllte

el' aus einer Großen Korbflasche, die auf der Protze

[Vorderwagen von Geschützen] stand, mein Kochgeschirr

mit gutem Wewein. [... ]

Gegen Mittag gingen wir zurück über die Meurthe

und marschierten etwa 5 km talabwärts nach dem

Städtchen Baccarat, das 2 Tage zuvor von den Deutschen

erobert worden war. Heiß muß der Kampf

besonders an der Meurthe-Brücke gewesen sein.

Das Geschäftsviertel auf der westlichen Seite des

Flüßchens war total verbrannt, der Kirchturm

durchlochert. lm Stadtgarten mußten wir unsere

Zelte aufschlagen und konnten dort 2 Tage ausruhen.

Neben unseren Zelten war ein Massengrab, in

dem über 70 Franzosen ruhten. Daneben war ein

bayerischer Major beerdigt.

Alle Hühner, Kaninchen und Schweine, welche

noch aufzutreiben waren, wurden trotz des Protestes

verschiedener Einwohner gestohlen und geschlach– 
                                    42
 

tet. Der noch vorhandene Wein wurde ebenfalls aus

den Kellern gestohlen, und überal! sah man betrunkcne

Soldaten.

Mit frischen, aus Deutschland kommenden Soldarcn

wurden die Kompanien wiederaufgefüllt. Dann

ging's wieder vorwärts, zuerst aufwärts in Richtung

Ménil. Links und rechts auf dem Stral3enrand lag

eine Unmenge von den Franzosen weggeworfener

Tornister, Gewehre, eine Trommel und Trompe

ten Weiter oben gingen wir durch den Wald, überall

lagen tote deutsche und franzosische Alpeninfanteristen

im Gebüsch. Sie fingen bereits an zu verwesen

und strornten einen entsetzlichen Geruch aus. Auf

ciner Anhöhe jenseits des Waldes mul3ten wir Schüt

zengraben ausheben. Da es heiß war, schickte mich

mein Unteroffizier mit mehreren Essgeschirren auf

die Suche nach Wasser. Ich fand solches in einern

Straßengraben in der Mulde hinter uns. lch trank

sofort 3 bis 4 Becher voll und füllte die Kochge schirre.

Es kam mir nach dem Trinken vor, als habe

das Wasser einen faulen, widerlichen Geschmack,

glaubte, daß das langsame Fließen daran schuld sei.

lch ging dann einige Schritte den Graben entlang,

ein entsetzlicher Gestank kam mir in die Nase. Ne

ben einem Weidengesch sah ich einen toten Franwsen,

der bereits in Verwesung übergegangen war.

Die Stirne, welche von einem Granatsplitter aufgerissen

war, schaute zum Wasser heraus und war mit

Maden und kleinen Würmern bedeckt. lch hatte das

durch den Toten sickernde Wasser getrunken! Es

crraßte mich ein furchtbarer Ekel, so dass ich mich

mchrmals erbrechen mußte. [... ]
                                    43
 

            DER ANGRIFF AUF MÉNIL UND
                        ANGLEMONT

 

 

Wir lagen no ch 3 Tage im Schützengraben. [… ] Am

vierten Tag morgens in der Frühe kamen mehrere

Bataillone Verstärkung. Wir sollten die Dorfer Ménil,

Anglemont sowie den im Hintergrund liegenden

Wald angreifen und nehmen. Dns allen graute davor.

Heimadressen wurden ausgetauscht, Photographien

der Lieben daheim betrachtet. Viele beteten

leise. ln allen Gesichtern lag tiefer Ernst, Angst und

Grauen. Gegen 10 Uhr morgens liefen Offiziere und

Melder umher und brachten den Befehl zum sofortigen

Angriff. »Fertigrnachen, Tornister umhängen,

Kompanie in Schützenlinie ausschwärmen}-

Sechs Schützenlinien wurden gebildet. »Vorwarts,

marschl- Alles setzte sich in Bewegung. Unsere Artillerie

beschof die beiden Dörfer. [… ] Wir drangen

in das Dorf. Kein Franzose war zu sehen, das Dorf

war nicht besetzt. Ein entsetzlicher Gestank machte

uns im Laufschritt Ménil passieren. ln vielen Häusern

war das Vieh in den Ställen verbrannt und nun

bereits in der Sommerhitze in Verwesung übergegangen.

Nun ging's weiter in Richtung Anglemont.

Vor uns liefen viele Ochsen, Kühe und Kälber hin

und her. Viel Vieh lag tot auf dem Boden. Es hatte

auf den Kleefeldern zuviel jungen Klee gefressen

und war an Aufblähung verendet. Anderes Vieh war

durch Geschosse getotet worden. AIs wir uns dem

Dorfe Anglemont näherten, wurden wir plotzlich

von der franzosischen Artillerie stark mit Schrapne

Ils beschossen. Das Infanteriefeuer setzte ebenfalls

ein. Wir konnten nur sprungweise vorwärtskommen.

Hinter einer Böschung sammelten wir

uns, dann ging's im Laufschritt, mit gefalltem Bajonett,

untel' Hurrageschrei aufdas Dorflos. Die Franzosen

verteidigten sich tapfer, rnubten aber VOl'unserer

Übermacht weichen. Gleich bei einem der ersten

Hauser saßein verwundeter Franzose auf einem

Schubkarren. Ein Soldat meiner Kompanie
                                    44

wollte ihn erschieBen. Auf meinen energischen Protest

hin stand er davon ab. Ein hinzukommender

Sanitàter verband die Wunde.

Die französische Artillerie konzentrierte ihr Feuer

auf das Dorf. Ich sprang hinter einen hohen, mit

Mauersteinen gebauten Scheunengiebel, wo schon

eine ganze Anzahl Soldaten in Deckung stand. Plötzlich

über uns eine Explosion, Mauersteine stürzten

herab, mehrere Soldaten wurden von ihnen zu Boden

geschlagen. Eine Granate war durch das Dach

geflogen und an der Mauer geplatzt, ein großes

Loch in die Wand reißend. Nirgends war man mehr

sicher. Ich legte mich unter den Stamm eines schräg

stehenden dicken Apfelbaumes. Da kam der Befehl

zum weiteren Vorgehen. Kaum waren wir vor dem

Dorfe sichtbar, als auch schon die Franzosen wie

wahnsinnig zu schiefien begannen. Auf allen Seiten

schlugen Granaten ein. Schrapnells streuten ihren

Bleiregen aus der Luft. Sausen, Zischen, Krachen,

Rauch, umherfliegende Erdschollen und Getrofferie.

Eine Granate schlug etwa 3 m rechts vor mir

cin, unwillkürlich bückte ich mich und hielt den

linken Arm schützend vors Gesicht. Rauch und Erdschollen

trafen mich. Ein Splitter hatte meinen Gewehrkolben

unten am Schloßweggeschlagen. Meine

heiden Nebenmänner lagen tot am Boden. Ich selbst

blieb wie durch ein Wunder unverletzt, hob schnell

das Gewehr eines Gefallenen und sprang in das gar

uicht tiefe Granatloch. Ich wollte drinnen liegenbleiben,

denn ich war sehr erschreckt. »Na, Richert,

weiter l- Es war ein Unteroffizier meiner Kompanie.

Was wollte ich machen? Ich mußte mit. Über Klee-,

Kartoffel- und Turnipsäcker [Saatrübenäcker]

ging's weiter vorwärts, Die französische Infanterie

über schüttete uns mit Geschossen yom Walde her.

Wir warfen uns in die Ackerfurchen, muBten jedoch

imrner weiler. Dabei rif eine Infanteriekugel eine

tiefe Rinne in das Holz meines Gewehres dicht unter

der Hand. Infolge des immer zunehmenden Feuers

und der Verluste war es unmöglich, weiter vorzu-
                                    45

Ich warf mich in eine Ackerfurche, in der

schon mehrere Mann lagen. Ein Glück für uns, daI3

die Acker quer zum Walde liefen, 50 hatten wir doch

etwas Deckung.

Die Regimenter und Kompanien waren beim Vorgehen

durcheinandergekommen. Neben mir lag ein

Grenadier des badischen Grenadierregiments. Ich

nahm meinen Spaten heraus, um mich einzugraben.

Der Boden war hart und trocken, ich konnte nur mit

gr6I3ter Mühe im Liegen ein Loch graben. Ein neben

mir liegender Soldat meinte, er kanne in der Furche

jenseits des Ackers besser graben, da dort ein Kartoffelacker

war und der bebaute Boden nicht so hart sei

wie hier auf dem Kleeacker. »Bleib hier und zeig

dich nichtl- sagte ich. »Wosich jetzt etwas regt, knallen

die Franzosen drauflos, denn im Feld ist jetzt

niemand mehr sichtbar.« – »Ach was, ich bin in einem

Sprung drüben!« Sein Gewehr in der Hand,

sprang er auf. Peng-pratsch. Mehr ais 20 Schüsse

fielen. Kugeln zischten über mich. Der Soldat stürzte

aufs Gesicht und rührte sich nicht mehr. lch konnte

nur seine Beine sehen. Der Oberkorper lag in der

jenseitigen Furche. Der Reservist Berg rutschte nun

neben mich. »Richert, gib mir deinen Spaten «, sagte

er. Ich gab ihn hin. Ein Grenadier sagte zu Berg:

»Wenn du fertig bist, gibst du mir den Spaten, nicht

wahr?« Ich rollte mich in meinem Loch zusammen

und nickte ein, bis mich eine in der Nähe einschlagende

Granate aufschreckte. Berg lag bereits in seinem

fertigen Loche, der Grenadier arbeitete nun

mit dem Spaten. Ich schlief wieder ein. »Richert,

guck doch mal nach, was der Grenadier macht!«

sagte Berg. Der Grenadier kniete in der Furche mit

dem Rücken gegen mich, hielt den Kopf gesenkt

und den Spaten in den Händen, rührte sich aber

nicht. »He, Kameradl- rief ich, kroch zu ihm und

rüttelte ihn. Da fiel er auf die Seite und stohnte. Eine

Infanteriekugel hatte oberhalb des Ohres den Kopf

durchbohrt. Das Gehirn stand in Bleistiftform etwa

3 cm heraus. Ich wickelte einen Verband um den  
                                    46
 

Kopf, trotzdem ich wuûte, daßhier nichts mehr zu

helfen war. Nach und nach ging das Stohnen in ein

Röcheln über, das immer schwächer wurde. Nach

etwa 2 Stunden war er tot.

Wir blieben liegen, bis es dunkelte. Da kam der

leise Befehl: »Alles zurückziehen, in Anglemont

sammeln!« Jeder suchte nun so schnell wie möglich

ins Dorf zu kommen. Man hörte Verwundete flehend

um Hilfe rufen: »Urn Gottes willen, laût mich

nicht liegen, ich habe Frau und Kinder zu Hause!«

Manche wurden mitgenommen, andere blieben liegen.

Hier hießes eben: J eder ist sich selbst der Nächste!

ln Anglemont wimmelte alles durcheinander.

»Infanterieregiment 112, 1. Kompanie hier samrneln!

« horte ich meinen Kompanieführer rufen.

Ich ging hin, einer nach dem anderen kam. Viele,

viele fehlten. »1. Kompanie, Infanterieregiment 112

hier samrneln!« rief der Kom panieführer nochmals.

Noch ein einzelner kam. Kein Wort wurde gesprochen.

Alle dachten an ihre gefallenen Kameraden.

»0hne Tritt, marsch!« Die zusammengeschmolzenen

Kompanien tappten in die Nacht hinaus, rückwärts,

Das Dorf wurde vollständig geraumt.

Auf einer Hohe hinter dem Dorfe muBten wir

cinen Schützengraben graben, eine verteufelte

Schinderei in dem harten Lehm! Gegen Mitternacht

wurde ich mit noeh einem Mann und einem Unterolfizier

ais Patrouille vorgeschickt, um auszukundschaften,

ob Anglemont sehon wieder von den Fran-

zosen besetzt sei. Die Naeht war dunkel. Vorsichtig

iIII Straßengraben vorwärtschleichend, hörten wir

sic.h uns nahernde Schritte. Wir drückten uns dieht

an die Straûenboschung. Eine 8 Mann starke französische

Patrouille ging langsam auf dem Straßenlxmkett

kaum 1m VOl' uns vorüber, bemerkte uns

aber nieht. Ruhig blieben wir liegen. lm Dorfe hör-

1Cil wir Laufen und Französisch-Sprechen. Dies gab

uns GewiI3heit, daß die Franzosen das Dorf wied el'

besetzt hatten. Kurze Zeit darauf fielen in Riehtung

(1er Deutsehen Schüsse. Keuehend kamen 6 Franzo-

                            47

sen zurückgerannt. Zwei fehlten. Wir gingen zurück

und crstatteten Meldung.

An Sehlaf war in jencr Nacht nicht zu den ken.

Gegen Morgen endlich konnten wir von der Feldküche

Essen holen. AIs die Franzosen am folzenden o

Morgen unseren Graben sahen, schickten sie Granaten

herüber. Cleich cine der erstcn war ein Volltreffer,

welche :3 Mann zerrib. Wir blicben dort cinige

Tage liegen. Eine deutsche Batterie Feldartillerie,

welche gedeckt hinter uns auffuhr, wurde in wenigen

Minuten von der franzosischen Artillerie in Fetzen

geschossen. Es war ein schauderhafter Anblick,

wenn man bei mondhellen Nachten die Stelle passieren

muûte. Bald ging man im Großen Bogen um die

Batterie herum, da der Gestank nicht auszuhalten

war. Ans Beerdigen schien niernand zu denken.

Eines Nachts versuchten die Franzosen einen Angriff

auf unsern Graben, wurden aber abgewiesen.

Am folgenden Tag fiel mein Kamerad Rein Camill

aus Hagenbach, ein Granatsplitter spaltete ihm den

Kopf. [R., laut Stammrolle Ziegeleiarbeiter, gefallen

am 5. Septernber 1914 durch Granatsplitter.] Rogert

Alfons aus Obersept wurde am Bein schwer verletzt.

Die Franzosen hatten sich wieder in den Waldzurückgezogen.

Eines Abends kam der Befehl: »Angreifen!

« Mein Stubenkamerad Urs sagte: »Richert,

ich komme nicht mehr nach Hause, ich fühl's.. 1ch

suchte es ihm auszureden, er jedoch beharrte darauf.

Nur 2 dünne Schützenlinien stark gingen wir

vor. Ich war wütend. Was sollten wir paal' Mann

zweeklos uns totsehieBen lassen] [... ] Einzelne

Scsse fielen. Zing, zisehten die Kugeln uns um die

Ohren. Mein Nebenmann stürzte lautlos tot zu Boden.

»Ooooh l schrie der Unteroffizier Liesecke

warf sein Gewehr weg und schüttelte die Hand. EÎl~

Finger war ihrn abgeschossen worden [faut Starnmrolle

Verwundung am 10. September 1914 durch

Schuf in die linke Hand]. Tak-tak-tak, rasselte ein

MG drüben. »Hinlegen, eirigraben l– Alles lag am

Boden und fing an zu buddeln. 
                48
 

Mein Kamerad Uts wurde mit noch 2 Mann nach

einem etwa 300 III VOl' uns Iiegenden Erlen- und

Weidengebüseh geschickt, 1I111 festzusteIJen, ob noch

Franzosen dort seien. Langsam sank der Abend nieder.

Die Patrouille war noch imrner nicht zurück.

»Die drei nächsten Leute -dazu gehürte auch ich

»begebcn sich sofort nach dem Gebüsch, umnachzusehen,

wo die 3 Mann geblieben sind l befahl der

Kompanieführer. Wir ersehraken nicht wenig, doch

wir muliten gehen. Mit der grüGten Vorsicht schlichen

wir dem Gebüsch zu, oft liegenbleibend, um zu

lauschen. Nichts war zu hören. Finster hob sieh das

Gebüseh im Dunkel ab. Endlieh kamen wir an und

gingen, den Finger am Drücker, mit vorgehaltenem

Bajonett in das Cebüsch. Da horten wir leises Rachein.

Vor uns lag Uts tot [laut Stammrolle am

10. Septernber 1914 um 7 Uhr vormittags durch

Brustschuf beim Patrouillengang gefallenJ, einige

Schritte weiter der röchelnde Soldat in den letzten

gen. Er hatte einen BauchschuG erhalten. Von

<lem dritten fehlte jede Spur. Wir liefen zurück und

crstatteten dem Kompanieführer Bericht. Dann legten

wir uns wied el' in die Linie. »Alles leise zurückgehenl

Weitersagen.« kam der Befehl von links; dies

machte uns glücklich. Alle erhoben sieh, in schnellen

Sehritten ging's rückwärts. Inzwischen war's stockdunkel

geworden, man tappte in Ackerfurehen und

Granatlöchern herum, mancher stürzte zu Boden.

1 ... ] Mehrere Male fingen var mir gehende Soldaten

plotzlich zu laufen an. Was haben denn die? dachte

ich, ging weiter, fing aber bald selbst an zu laufen.

Ein entsetzlieher Leichengeruch kam mir in die

Nase. »Atern anhalten! Weglaufen!« Diesel' Geruch

karn von Toten, die bereits in Verwesung übergegangen

waren und die man im Dunkel nieht liegen

sah. Endlich erreichtcn wir unseren Graben und

bcsetzten ihn. Ein Gefühl der Sicberheit überkarn

uns, Fast alle Soldaten murrten: »So cin Bkidsinn!

Vorgehen, ein paar Mann sich totschielicn lassen

und dann wieder zurückgehen, ohne Zie! und

                                    49
 

Zweck l« – »Alles da?« fragte der Kornpanieführer.

»Jawohl!« – »Die Kornpanie geht mit Sack und Pack

zurück und samrnelt sich bei der Kirche von Ménil!«

Was soli das bedeuten? fragtcn sich die Soldaten.

WiT hingen die abgelegten Tornister wieder um,

nahmen die Gewehrc, kletterten zum Graben hinaus

und tappten durch das Dunkel Ménil zu. Armer

Kamerad Uts, nun liegst du tot in jenem Gebüsch,

doch du hast das Kriegselend hinter dir, bist fast

gcklicher als ich, dachte ich. AIs wir in ~énil an~amen,

wimmelte es dort von Soldaten. Uberall dieselbe

Frage: »Was ist denn eigentlich los?«  »Kornpanien

sarnrneln!« tönten Befehle durch die Nacht.

Wir traten ein, mehrere Bataillone marschierten an

uns vorbei, rückwärts. »Ohne Tritt, marschl lm

Walde oberhalb Baccarat wurde haltgemacht. [… ]

Mehrere Batterien Bagagen fuhren an uns vorbei,

rückwars. »1. Kompanie Infanterieregiment 112 bildet

die Nachhutl- Also hatten wir die GewiBheit: Die

Gegend, die zu erobern Tausenden armen Soldaten

das Leben gekostet hatte, wurde geraumt. [… ] Der

Gedanke, zurückzubleiben und die Ankunft der

Franzosen abzuwarten, um mich zu ergeben, wirbelte

mir im Kopf herum. Aber die verfluchte Disziplin

hielt mich davon ab. Und vielleicht schießen

oder stechen mich die Franzosen tot, aus Wut, wenn

sie ihre ausgeraubten und zerstörten Dörfer sehen.

Also ging ich weiter.

AIs wir in Baccarat die Meurthe-Brücke überschritten,

bereiteten einige Pioniere die Sprengung

VOl'. Kaum hatten wir den Ort verlassen, aIs mit

gewaltiger Explosion die Brücke in die Luft flog. Wir

maschierten noch etwa 20 km wei ter zurück und kamen

endlich in einem Dorfe an, wo haltgemacht

wurde und wir Kaffee und Brot empfingen. Einige

Stunden Ruhe. Dann ging's mit dern Schanzzeug auf

eine VOl'dem Dorf gelegene Höhe. Dort wurde ein

Schützengraben gebaut. Wir Ireuten uns schon, hier

liegenbleihen zu können. ln weiter Ferne vor ~ns

hörten wir das Burn-Bum der Iranzösischen Artillerie. 
                                    50
 

Artillerie.

Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug

gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.

Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:

»Fertigmachcn] Wir hockten und warteten. Was

gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts

hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es

war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.

Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei

Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt

die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten

die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen

_____________________

 

Artillerie.

Also hatten sie doch nichts von unserern Rückzug

gemerkt und beschossen unsere leeren Craben.

Bcim Anbruch der Nacht hieb es schon wieder:

»Fertigmachcn] Wir hockten und warteten. Was

gibt's schon wiedcr? Vor- oder rückwarts? Von rückwarts

hörtcn wir heranrnarschierende Truppen. Es

war cin Reserveregirncnt, das uns ablöste.

Wir marschierten zurück, die ganze Nacht. Bei

Tagesanbruch passierten wir bei Deutsch-Avricourt

die franzosisch-lothringische Grenze. [... ] Wir marschierten

die folgenden 6 Tage durch ganz Lothringen

über Morchingen, Rémilly, Metz nach Vionville.

Von Metz hörten wir in der Ferne schon wied el'

Kanonendonner, und gegen Abend waren wir dernselben

ganz nahe. Brrr, eine Cänsehaut lief über den

Rücken, das Grauen vor der Zukunft. ln Vionville

verbrachten wir die Nacht. Ich schleppte eine Welle

[Bündel, Garbe] Suoh in eine ausgeraubte Épicerie

[Lebensmittelladen] und legte mich mit meinem Kameraden

Gautherat darauf.

VOl' Tagesanbruch Alarrn. Alles sprang vom

Schlafe auf, Tornister urngehängt, Gewehr in die

Hand, raus und antreten, alles in einigen Minuten.

Jeder erhielt einen Becher heil3en Kaffee und ein

Stück trackenen Kara [Kornmibbrot]. [… ]

Der Morgen war unfreundlich, regnerisch und

neblig. Wir waren vielleicht eine Stunde marschiert,

da hieû es: »Ausschwärrnenl Der ebel verschwand,

die Sonne kam zum Vorschein. VOl'uns lag

in etwa 400 rn Entfernung ein Wald. Darauf zu

ging's. Zingzing, zischte es uns von dort um die

Ohren. »Vorwarts, marschmarsch, zum Sturrnlschrien

die Offiziere. Wir rannten gegen den Wald,

den Oberkörper geduckt, vorwärts, Einzelne Mann

Iielen. Schrapnells, und wie genau gezielt. Ver-

Huchte 75er-Kanonen! Die Franzosen zogen sich zurück.

Wir besetztcn den Wald. ln einer schmalen

Wiesenmulde zwischen zwei Waldern ging's wei ter

vor. Abseits stand der dicke Bataillonsarzt, der irnmer

fort schrie, wahrscheinlich, urn uns Mut zu ma-

                                    51
 

chen: »Die Festung Maubeuge ist gefallenl«

Tsching-bum, platzten Schrapnells über der Mulde.

lm Laufschritt ging's weiter, um von der gefahrlichen

Stelle wegzukommen. Da hief es: »Der Bataillonsarzt

ist gefallen.« Aus einem kleinen Fichtenwäldchen,

das auf einer Höhe vor uns lag, bekamen

wir starkes Infanteriefeuer. Wir sprangen in den

Wald zurück, krochen an den Wald rand und nahmen

das Fichtenwäldchen stark unter Feuer. Das

Feuer der Franzosen wurde schwächer und horte

ganz auf. Wir gingen var und besetzten das Waldchen.

Die Franzosen hatten sich verduftet.

Es ging gegen Abend, wir muJ3ten die im Waldchen

Iiegenden toten Franzosen begraben. Es waren

alles alte Soldaten, so gegen 40 Jahre alt. Die armen

Menschen, jedenfalls fast durchweg Familienvater,

dauerten mich. Man konnte mit dem besten Willen

kein ordentliches Grab schaufeln; 30 cm Erde, dann

Kreidefelsen. Wir legten sie hinein, ihr Kor per

schnitt gerade mit dem Erdboden ab. Wir bedeckten

sie mit etwas Erde. Die traurige Arbeit war zu Ende.

Kein Mensch schaute nach, um Namen oder sons tige

Erkennungszeichen festzustellen, und 50 figurieren

diese Armen wahl auf der Liste der VermiHten.

Die Nacht verbrachten wir im Fichtenwaldchen.

Ein kalter Wind wehte, Regenschauer gingen nieder,

wir wurden pudelnaH, es fror uns sehr. Für was?

Für wen? Eine ohnrnachtige Wut überkam mich. Das

half alles nichts. Zahneklappernd, der Verzweiflung

nahe, hockte ich auf einigen von mir heruntergebogenen

Fichtenästen und starrte in die Nacht hinaus,

dachte an die Heimat, an meine Angehörigen und

an mein Bett. Es überkam mich eine unglaubliche

Sehnsucht nach der Heimat und meinen Lieben. Ich

mulite weinen. [... ] Mich durchzuckte der Gedanke:

Hab' ich eigentlich noch eine Heimat, leben meine

Eltern noch? Oder wo sind sie? Seit Kriegsausbruch

hatte ich einen Brief von dort erhalten, datiert vom

Anfang August. Was alles konnte dort seither passiert

sein! So nahe der Grenze! Vielleicht alles zerschossen,
                52
 

zerschossen,

verbrannt, die Angehürigen geflohen.

Wohin? Diese Ungewiûheit quälte mich fürchterlich.

Nun war das MaS der Leiden voll, zu der UngewiHheit

meiner Zukunft noch die Sorgen urn Angehörige

und Heimat. An Schlaf konnte ich nicht mehr

denken. lch stand auf, lief var dem Wäldchen hin

und her, schlug mit den Händen um mich, um sa

etwas warrn zu bekommen. Endlich graute der Morgen.

Wie würde ein Becher heiûer Kaffee guttun!

Keine Feldküche, nichts. Wir gingen nun nach dem

var uns liegenden Dorfe Flirey. Die Kaninchen- und

Hühnerschlächterei ging wieder los. Es wurde alles

weggenommen, aIs wenn überhaupt keine Eigentümer

da waren. Man sah fast keinen Menschen, fast

alles hatte sich bei unserer Ankunft versteckt. Ich

ging in einen Stail, um vielleicht etwas Milch von

ciner Kuh melken zu konnen. Mit Mühe und Not

brachte ich vielleicht einen halben Liter heraus. lnzwischen

holten andere Soldaten die Hühner samt

den Kaninchen zum Stail heraus, Da ging die Türe

auf, angstlich kam ein alter Bauer in den StaIl. AIs er

die leeren Kaninchenkisten und den Hühnerstall

sah, schlug el' die Hände über dem Kopf zusammen

und sagte: »Mon Dieu, mon Dieu!« Der Mann daucrte

mich, und ich ging beschämt hinaus.

Jeder bemühtesich nun, irgend etwas zu kochen.

Die einen kochten Kaninchen, andere rupften Hühner,

einige plünderten eben einen Bienenstand,

SI ürzten die Korbe um und bohrten mit denSeitengcwehren

den Honig heraus, dabei eine Menge Bielien,

die an dem kühlen Morgen nicht f1iegen konntcn,

zerquetschend. Wieder andere schüttelten die

Zwetschgen von den Bäurnen. Da holte ich mir auch

cinige Handvoll. Nachher riû ich einige KartoffeIstauclen

im Garten aus, nahm die Kartoffeln, schälte

sie, tat sie in das Kochgeschirr, gab etwas Wasser und

Salz dazu, und nun ging's ans Kochen. Da ich groGe

Lust auf Honig hatte, holte ich mir auch ein wenig

und tat ihn in den Kochgeschirrdeckel. AIs nun eben

mein Wasser war m war, kam der Befehl: »Fertigrna-

            53
 

chen, weiter l- Gegessen oder nicht gegessen, danach

wurde nicht gefragt. lch schüttete das heilie Wasser

ab, die Kartoffeln lieB ich drin, in der Hoffnung, sie

bei nächster Gelegenheit fertig zu kochen, stülpte

den Deckel auf das Kochgeschirr, und weiter ging's,

zum Dorf hinaus, den Franzosen entgegen.

Wir passierten noch das Dorf Essey. Kaum waren

wir zum Dorf hinaus, ging der Tanz wieder los.

Französische Schrapnells flogen heran, zum Glück

am Anfang über uns hinaus. BaIe! bekamen wir aus

dem vor uns liegenden Wald schwaches Infanteriefeuer,

und nun gab es einzelne Getroffene. Unsere

Artillerie beschoßden Wald. Die franzosische Infanterie

zog sich zurück. Wir besetzten den Wald. Der

Wald war von einem schmalen Wiesentale, etwa

200 m breit, durchzogen. Quer durch ging ein ziemlich

hoher Eisenbahndamm, den wir besetzten.

Plötzlich bekamen wir aus dem gegenüberliegenden

Walde starkes lnfanteriefeuer; der neben mir stehende

Reservist Kalt wurde getroffen und kollerte

den Bahndamm hinab. Dasselbe Schicksal erlitten

mehrere andere. Wir schossen nun über die Schienen

in den Wald. Franzosen konnten wir keine sehen.

Bald wurde ihr Feuer aber sa stark, daßkeiner

mehr wagte, den Kopf zu heben und zu schieben.

Nach einer starken BeschieBung unserer Artillerie

verstummte das französische Feuer.

Etwa eine Stunde spater kam der Befehl, Offizierstellvertreter

Bohn [ein Lehrarntspraktikant von 32

Jahren, 1908 als Einjährig-Freiwilliger eingetreten]

soUe mit 4 Mann den Wald absuchen; ich hatte das

Pech, dieser Patrouille zugeteilt zu werden. Mit bangem

Herzen betraten wir den Wald, jeden Augenblick

in der Gefahr, von einer Kugel niedergestreckt

zu werden. Vorsichtig schlichen wir durch das niedrige,

dicht stehende Ceholz und kamen dann zu

einer geraden Schneise (Durchhau) vor. [… ] Auf

einmal erblickte ich etwas Rotes, etwa 20 m VOl'uns

im Cebüsch. Ich mach te mich schuHfertig. Da sich

das Rote nicht bewegte, gingen wir vorsichtig darauf
                                        54
 

ZU. Var uns lag neben einem Granatloch ein alterer

Franz.ose, dem ein Bein beim Knie total abgerissen

war, Mit einem Hemd war der Beinstumpf umwikkelt.

Der arme Mensch war schon ganz gelb im Gesicht

vom Blutverlust und sehr schwach. Ich kniete

mich neben ihn, machte seinen Tornister untel' seinen

Kopf und gab ihm aus meiner Feldflasche Wasser

zu trinken. Er sagte »Merci- und deutete mir an

den Fingern, daßer drei Kinder zu Hause habe. Der

Arme dauerte mich sehr, aber ich mußte ihn verlassen,

nachdem ich noch auf ihn deutete und sagte:

»Allernand hospital.« Er lächelte schwach und schüttelte

den Kopf, aIs woUte er sagen, daßdies fûr ihn

nicht mehr in Betracht kàme. Langsam schlichen wir

nun bis zum jenseitigen Waldrand. Offizierstellvertreter

Bohn schickte mich mit noch einem Mann

zurück mit der Meldung, daßder Wald frei sei. Beim

Passieren des Verwundeten sah ich, daû derselbe

den Rosenkranz in der Hand hielt und betete. Mit

der einen Hand deutete el' auf seine Zunge zum

Zeichen, daßer Durst habe. Ich gab ihm den Rest

Wasser aus meiner Feldflasche. AIs wir etwa eine

halbe Stunde später mit der Kompanie vorbeikamen,

lag el' tot da, noch immer den Rosenkranz in

der Hand haltend.

Wir besetzten nun den Waldrand, ich stand beim

Eingang der Schneise und schaute über die hügelige

Gegend vor uns. Da sah ich einen Franzosen auf

etwa 500 m Entfernung. AIs er mich erblickte, legte

el' sich nieder; gleich sah ich den Dunst seines Schusses

aufsteigen, und knapp 1m VOl'mir klatschte die

Kugel in den Boden. Nun verkroch ich mich schleunigst

im Gebüsch und versuchte, ein Loch zur Dekkung

zu graben. Der Boden bestand aber aus einem

derartigen Wurzelgef1echt, daßdies unrnoglich war.

Nun knatterte eine Salve, und prasselnd zischten die

Kugeln durch das Cebüsch. Da wir gaI' nicht gedeckt

waren, gab es bald l'ote und Verwundete. Mein Stubengefreiter

Mundiger bekam eine Kugel durch die

Schlagader am lin ken Oberarm, so daßdas Elut wie

                                        55
 

aus einer Röhre vorne am Armel herausschoß. [Der

Maurer M., damaIs 23 .lahre aIt, wurde laut Stammrolle

am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarrnschuf

verwundet.] Schnell band ich ihm den

Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser

den Armel ab und verband ihm die

Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,

führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.

Nun schickte uns dieschwere Artillerie der Forts von

Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate

schweren Kalibers], gurgelnd sausten sie über uns

hinweg und explodierten mit furchtbarem Krachen

zurück im Walde. Ais wir zu dem Bahndamm kamen,

wo unsere Toten noch yom Morgen lagen,

woIlte ich der Bahn entlang das Dorf Essey erreichen.

Der Verwundete beharrte jedoch darauf, nach

der in der Nähe vorbeiführenden Straße zu gehen.

Ich woUte ihm nicht widersprechen, und so gingen

wir den Bahndamm entlang der Straße zu. Kaum

hatten wir einige Schritte zurückgelegt, ais unter

schrecklichem Krach eine der graßen Granaten auf

dem Bahnkörper platzte. Erde, Splitter, Steine und

Schienenteile sausten über unsere Kopfe, und wir

wurden in Rauch und Staub ganz eingehüUt. Zum

Glück wurde keiner verletzt. Hätte der Verwundete

vorher meinen Rat befolgt, auf der Bahn entlangzugehen,

sa wären wir aile drei zerrissen worden. Der

Verwundete, der vorher mehrere Male var Schwäche

zusammengesunken war, konnte nun sa laufen,

daßich ihm kaum folgen konnte. Dann brach el' aber

doch wieder auf den Wiesen zusammen. Gegen

Abend erreichten wir das Dorf Essey, wo wir den

Verwundeten dann zum Arzt brachten.

Da ich keine Lust mehr hatte, nach verrie zu gehen,

beschloßich, im Dorfe zu übernachten. Ich ging

zu einer Frau und verlangte einige "Pommes de

terre«, AIs ich sie bekam, gab ich ihr 2 »Nickel«. Wie

mich die Frau erstaunt ansahl Denn das war ihr wahl

noch nicht vorgekommen, von deutschen Soldaten

etwas bezahlt zu bekommen. Sie nahmen, was sie
                                    56
 

wollten, einfach weg. Ich machte nun ein Feuerchen

im Hofe und kochte die Kartoffeln. Die Frau brachte

mir dann noch einen Liter Milch heraus. Ais ich

bezahlen wall te, nahm sie das Geld nicht, sondern

deutete mir, ich salle nur ruhig trinken. Da ich gro-

Ben Hunger hatte, schmeckte es mir vorzüglich.

Nachher legte ich mich in der Scheune aufs Strah,

um die Nacht zu verbringen. Es war für mich ein

Vergnügen, in Sicherheit, trocken und warm zu

schlafen.

ln der Nacht erwachte ich durch das Ceräusch auf

der Straße zurückmarschierender Truppen. lch

stand auf und fragte, was es für Truppen seien. Es

war mein Bataillon. Schnell hing ich meinen Tornister

um und schloßmich ihnen an. Etwa 1km hinter

dem Dorfe wurde auf der Höhe haltgemacht, eine

Linie gebildet und angefangen, einen Schützengraben

auszuheben. Eine schwierige Arbeit, da man

nichts sah und in etwa 30 cm Tiefe auf harten Kalkstein

stieû, Gegen Morgen waren wir doch 1m tief.

Unser Graben führte durch ein Rebstück. Ich aßvon

den halbreifen Trauben. Die Folge waren Leibschmerzen

und Durchfall.

Die Hälfte der Truppen durfte nun in den weiter

zurückliegenden Wald, um zu schlafen; es waren die

letzten Septembertage 1914. Gegen Mittag wurde

Post verteilt, und ich erhielt den ersten Brief aus

meiner Heimat, die seit Kriegsbeginn von den Franzosen

besetzt war. Wie glücklich war ich zu lesen, daß

meine Angehorigen noch gesund und zu Hause

seien. Da mein Heimatdorf nur etwa 8 km hinter der

Front lag, befürchtete ich imrner, dasselbe sei von

den Einwohnern verlassen.

Am nachsten Abend muliten wir wieder in den

Graben. ln der Nacht rnachten die Franzosen einen

Angriff; ohne daßman einen sehen konnte, schoß

man in die Nacht hinaus. Da es hieß, sie seien dicht

vor unserer Stellung, schoßunsere Artillerie auch

sehr kurz. Nach und nach hörte die SchieHerei auf.

AIs der Morgen grau te und die 4 Mann Vorposten,

                                     57
 

aus einer Röhre vorrie am Armel herausschoû. [Der

Maurer M., damais 23 .Jahre ait, wurde laut Stammrolle

am 25. September 1914 bei Essey durch Oberarmschuß

verwundet.] Schnell band ich ihm den

Arm oberhalb der Wunde ab, schnitt mit dem Taschenmesser

den Armel ab und verband ihm die

Wunde. Um aus dem Feuer herauszukommen,

führte ich ihn mit noch einem Kameraden zurück.

Nun schickte uns die schwere Artillerie der Forts von

Toul ihre Zuckerhüte [Soldatensprache: Granate

schweren Kalibers], gurgelnd sausten sie über uns

hinweg und explodierten mit furchtbarem Krachen

zurück im Walde. Ais wir zu dem Bahndamm kamen,

wo unsere Toten noch yom Morgen lagen,

wollte ich der Bahn entlang das Dari" Essey erreichen.

Der Verwundete beharrtejedoch darauf, nach

der in der Nähe vorbeiführenden Straûe zu gehen.

leh wall te ihm nicht widersprechen, und so gingen

wir den Bahndamm entlang der Straûe zu. Kaum

hatten wir einige Schritte zurückgelegt, ais unter

schrecklichem Krach eine der Gren Granaten auf

dem Bahnkörper platzte. Erde, Splitter, Steine und

Schienenteile sausten über unsere Kopfe, und wir

wurden in Rauch und Staub ganz eingehüllt. Zum

Gck wurde keiner verletzt. Hätte der Verwundete

vorher meinen Rat befolgt, auf der Bahn entlangzugehen,

50 wären wir aile drei zerrissen worden. Der

Verwundete, der vorher mehrere Male var Schwäche

zusammengesunken war, konnte nun sa laufen,

daßich ihm kaum folgen konnte. Dann brach er aber

doch wieder auf den Wiesen zusammen. Gegen

Abend erreichten wir das Dorf Essey, wo wir den

Verwundeten dann zum Arzt brachten.

Da ich keine Lust mehr lutte, nach vorne zu gehen,

beschlof ich, im Dorfe zu übernachten. Ich ging

zu einer Frau und verlangte einige »Pornmes de

terre«. AIs ich sie bekam, gab ich ihr 2 »Nickel«. Wie

mich die Frau erstaunt ansah! Denn das war ihr wahl

noch nicht vorgekomnien, von deutschen Soldaten

etwas bezahlt zu bekommen. Sie nahmen, was sie   
                                    56
 

wollten, einfach weg. Ich machte nun ein Feuerchen

im Hofe und kochte die Kartoffeln. Die Frau brachte

mir dann noch einen Liter Milch heraus. Ais ich

bezahlen wollte, nahm sie das Geld nicht, sondern

deutete mir, ich solle nur ruhig trinken. Da ich gro

Ben Hunger hatte, schmeckte es mir vorzüglich.

Nachher legte ich mich in der Scheune aufs Stroh,

um die Nacht zu verbringen. Es war für mich ein

Verggen, in Sicherheit, trocken und warm zu

schlafen.

ln der Nadu erwachte ich durch das Geräusch auf

der Straûe zurückmarschierender Truppen. Ich

stand auf und fragte, was es für Truppen seien. Es

war mein Bataillon. Schnell hing ich meinen Tornister

um und schlof mich ihnen an. Etwa l km hinter

dem Dorfe wurde auf der Hohe haltgemacht, eine

Linie gebildet und angefangen, einen Schützengraben

auszuheben. Eine schwierige Arbeit, da man

nichts sah und in etwa 30 cm Tiefe auf harten Kalkstein

stieli. Gegen Morgen waren wir doch 1m tief.

Unser Graben führte durch ein Rebstück. Ich aH von

den halbreifen Trauben. Die Folge waren Leibschmerzen

und Durchfall.

Die Halfte der Truppen durfte nun in den wei ter

zurückliegenden Wald, urn zu schlafen; es waren die

letzten Septembertage 1914. Gegen Mittag wurde

Post verte ilt, und ich erhielt den ersten Brie!" aus

meiner Heimat, die seit Kriegsbeginn von den Franzosen

besetzt war. Wie gcklich war ich zu lesen, daf

meine Angehürigen noch gesund und zu Hause

seien. Da mein Heimatdorf nur etwa 8 km hinter der

Front lag, befürchtete ich immer, dasselbe sei von

den Einwohnern verlassen.

Am nachsten Abend muûten wir wieder in den

Graben. ln der Nacht machten die Franzosen einen

Angriff; ohne daf man einen sehen konnte, schof

man in die Nacht hinaus. Da es hieß, sie seien dicht

VOl' unserer Stellung, schof unsere Artillerie auch

sehr kurz. Nach und nach hörte die Schief3erei auf.

Ais der Morgen graute und die 4 Mann Vorposten,

            57
 

die etwa 50 m vor uns in einem kurzen Grabenstück

lagen, nicht zurückkamen, wurde ich mit noch einem

Mann vorgeschickt, um zu sehen, was los sei.

Wir krochen dahin. Alle vier lagen, teils die Gewehre

noch im Anschlag, tot da. Sie waren von der zu kurz

schießenden deutschen Artillerie getroffen worden,

das zeigten ihre Verwundungen am Hinterkopf und

auf dem Rücken. Dabei war auch mein Stubenkamerad

namens Sandhaas. [Laut Stammrolle ist der

22jahrige Zigarrenmacher S. bei Essey am 27. September

1914 durch einen Bauchschuf getotet worden.]

Wir ließen sie liegen, krochen zurück und erstatteten

Bericht.

Am Tage blieb die Halfte der Mannschaften im

Graben, die andere Hälfte ging zurück, um Unterstände

zu bauen für die Reserven. Da es am Nachmittag

heif war, arbeiteten wir in Hosen und Hemd.

Bald kreiste ein französischer Flieger über uns, der

uns in unseren weißen Hemden entdeckt hatte. Er

flog wieder zurück, und bald dachte niemand mehr

an ihn. Aber plötzlich sauste es heran, und etwa

8 Granaten schlugen in uns und hart neben uns ein.

Sofort erhob sich ein schreckliches Wehgeschrei, da

viele getroffen waren. Die meisten liefen nach allen

Richtungen davon. Ich selbst duckte mich, so tief ich

konnte, in das ausgehobene Loch. Schon kam die

zweite Lage. Eine der Granaten zersprang auf dem

Erdhaufen über mir, den ich selbst hinausgeschaufelt

hatte. Eine andere schlug in die auf der Seite

zusammengesetzten Gewehre, eine ganze Anzahl

zermalmend. Nun rannte ich, so schnell mich meine

Fülie tragen konnten, davon, mit vor das Gesicht

gehaltenen Handen durch das Cebüsch. Sehon krepierre

hinter mir die dritte Lage. Bald kam ich an

einen Eisenbahndamm, wo ich mieh in einem

Durchlaf verkroch, in dem sehon einige Kameraden

kauerten. Nachdem das Schieûen aufgehort hatte,

näherten wir uns langsam der Arbeitsstelle. Die ganz

zerrissenen Leiehname einiger Kameraden lagen da

und mehrere Schwerverwundete. Ein guter Kamerad  
 
                                58
 

Kamerad

von mir namens Krarner hatte den Bauch aufgerissen,

so daß die Gedärrne heraushingen. Er bat

und flehte mich an, ihn doch totzuschießen, da er es

VOl'Sehmerzen nicht mehr aushalten könne , Seinen

Wunsch konnte ich mit dem besten Willen nicht

erfüllen. Nun kam der Bataillonsarzt, verband zuerst

den Kompanieführer, dem ein Bein in der Mitte

der 'Vade abgerissen worden war. Dann untersuehte

el' Kramer, legte die Gedärrne zurecht, nähte zu und

gab uns den Befehl, den Verwundeten zurückzutragen.

Wir machten aus Stangen eine Tragbahre, legten

Mäntel und Zelte darauf, ho ben den Verwundeten

behutsam darauf und trugen ihn zurück, wo er

gleich mit einem Krankenwagen weiter zurücktransportiert

wurde. Zwei Monate später schrieb er mir,

daßel' vollstandig geheilt sei, da die Cedärrne nicht

verletzt und nul' die Haut und der Bauchspeekaufgerissen

waren. [Laut Stammrolle ist K. zwei Tage

nach seiner Verwundung am 27. September 1914

verstorben. ]

[… ] ln der letzten Septembernacht wurden wir

von andern Truppen abgelöst und marschierten

:~5km zurück nach Metz. Bei Tagesanbruch kamen

wir dort an und wurden in der Vorstadt Longeville

in einem Kinosaale einquartiert. Drei Stunden

wurde gesehlafen, dann soUte Gewehrreinigen,anschließend

GewehrappeU sein. lch zog es VOl',mir

cinen gemütlichen Tag zu machen, bestieg die Tram

und fuhr in die Stadt. Ich hatte groGes Verlangen

nach einem guten Mittagessen, da mir das ewige

Einerlei der Feldküche zuwider war. Es schmeckte

mir vortrefflich, 50 daßich in drei verschiedenen

Wirtsehaften zu Mittag aG. [... ] Dann besah ich mir

die Stad t, besonders den schonen Dom, kaufte noch

c-in Quantum Schakolade und Dauerwurst und ging

.rlx.nds wieder zur Kompanie. Der Feldwebel

srh nauzte mich an. [... ] Am Tage waren ErsatztruppCtl

aus Deutschland gekommen, urn die Großen

l.ücken aufzufüllen. Dabei befand sich auch August

j,;lllger aus Struht. Da wir früher schon gute

                                59
 

Freunde waren, freute uns dieses Zusammentreffen

sehr. Wir gingen gleich zum Feldwebel mit der Bitte,

in die gleiche Gruppe eingeteilt zu werden , was auch

geschah.

 

DIE REISE NACH NORDFRA;\JKREICH

 

Am 2.0ktober 1914 wurden wir verladen und fuhren

mit der Bahn die Mosel entlang bis Trier. Eine

schöne Fahrt durch die hintere Eifel bis Aachen

durch Belgien über Lüttich, Brüssel und Mons nach

Nordfrankreich. Belgien ist ein sehr schönes, reiches

Land mit einer groûen Industrie und vielen Bergwerken.

[... ] Dort sah ich auch die ersten Windmühlen.

Die Bevölker ung betrachtete uns mit unfreundlichen

Blicken, was gar nicht zu verwundern war.

Wir wurden zwischen Valenciennes und Douaiausgeladen

und rückten dann in die Stadt Douai ein, die

kurz vorher von den Franzosen geumt worden

war. ln der Kür~ssierKaserne wurden wir einquaruert.

Unser Regunentskommandeur hielt im Kasernenhof

eine Rede, in der er sagte, der schlimmste

Krieg wäre für uns vorbei; wir hätten jetzt ma' noch

Engländer und Schwarze vor uns. Wir wurden bald

eines anderen belehrt.

Vor Douai rückten wir dann vor, durch eine

schöne, reiche Gegend. [… ] Die Landstraûen waren

fast durchweg mit Steinen gepflastert. ln der Gegend

von Richebourg stieûen wir das erstemal mit

Engländern zusammen. ln einem dreckigen Stra

J3engraben sollten wir uns an sie heranschleichen.

Bei einer Einfahrt auf die Acker muûten wir über die

Einfahrt springen, um jenseits davon wieder den

Graben zu erreichen. Bald bemerkten uns die Engländer.

Teder, der den Sprung machte, bekam einen

Hagel von Kugeln zugeschickt. Bald lagen mehrere

Tote auf der Einfahrt. Die letzten fünf fielen aIle.

Nun war die Reihe an mir. Da es der sichere Tod

                             60
 

ge"wesen ware, weigerte ich mich, trotz des Lärrnens

der Vorgesetzten. Ein Unteroffizier gab mir den

direkten Befehl, den Sprung zu machen. Ich sagte

ganz kaltblütig zu ihm, er sollte mir's mal vorrnachen,

wozu ihm aber auch der Mut fehlte. So blieben

wir bis nachts liegen.

Den nachsten Morgen bei Tagesanbruch griffen

wir mm Richebourg an, und die Englander muhten

zurück. Auber ihren Verwundeten erwischten wir

dort keinen einzigen Gefangenen. Fast in allen Häusern

konnte man sich zu Tisch setzen, die Englander

hatten für uns gekochtln einem Großen Kessel

kochte ein Schwein, welches wir unter uns verteilten.

Überall auf den Feldern lagen deutsche Kavalleristen

mit ihren Pferden, die bei den Patrouillengefechten

gefallen waren. Gegen Abend bildeten wir

VOl'dem Dorfe eine Linie und gruben uns inSchützenlocher

ein, welche von 1 bis 4 Mann besetzt wurden.

Gegen Mitternacht wurden Zanger, ein 18jahrigel'

Freiwilliger und ich auf Vorposten geschickt.

Wir hockten in einem Graben neben einem Feldweg.

[... ] Auf einmal hörten wir links Gehen. Gleich

tauchten drei Gestalten im Dunkel auf. Jeder von

uns nahm einen aufs Korn. Die beidenjungen Krieger

wollten gleich schielien, und ich hatte Mühe, sie

davon abzuhalten. Denn ich wulite ja nicht, waren es

Deutsche oder Engländer. Ich lief sie auf etwa 10 m

herankommen. Das Gewehr immer schußfertig,

schrie ich dann: »Halt! Parole!« Wie die drei zusarnmenfuhren!

Sie gaben aber sofort die richtige Parole.

Es waren 3 Mann meiner Kompanie, die den

Horchposten links von uns besetzt hatten, abgelöst

worden waren und sich im Dunkel verlaufen hatten.

Nun waren wir sehr froh, nicht geschossen zu haben.

Bald nachher wurden auch wir abgelost. Nachdem

ich eine Weile in meinem Sctzenloche geschlafen

hatte, kam plötzlich der Vorposten zurückgclaufen

mit einer Mitteilung: "Die Englander kommen!

« Es ging nun eine wütende Knallerei los. Unsere

jungen Soldaten verknallten, so schnel

                                        61
 

konnten, ihre Munition. Ich gab;) Schuf ab. Da ich

aber von Englàndern keine Spur sah noch hörte ,

sparte ich meinc Munition. Am Iorgcn wurde eine

Patrouille vorgeschickt, urn das Gelände nach toten

Englàndern abzusuchen. Aber was fanden sie) Zwei

tote Kühe und ein Kalb. Dieser Angriff war natürlich

leicht abzuschlagen. Dann munte jcder seine

Munition vorzeigen, und die keine mehr hatten, wurden

von den Vorgesetzten gehorig ausgeschimpft.

Nun wurde die Halfte der Grabenbesatzungherausgezogen

und dem Regiment 114 Zll Hilfe geschickt.

Unsere Stellung war dadurch sehr geschwacht.

Zudem waren noch viele ins Dorf gegangen,

um nach Lebensmitteln zu suchen. Plötzlich

fing die englische Artillerie an, uns stark zu beschie

Ben. Granaten und Schrapnells zersprangen in gro

[)er Anzahl. [… ] Bald tauchten vor uns englische

Infanterielinien auf, die sich sprungweise naherten.

Wir nahmen sie kraftig unter Feuer. Da sie aber in

groûer Übermacht waren, zogen wir uns zurück.

[... ] ln einem mit Weidenstümpfen bepfIanztenAblaufgraben

ging's nun im Laufschritt zurück, wahrend

die englischen Schrapnells immerfort über uns

platzten. Mancher von uns fiel, bevor er im Zurücklaufen

die Hauser erreichen konnte. Ein Schrapnell

schlug über meinem Kopf den oberen Teil eines

morschen Weidenstumpfes ab. Durch den Knall

und den Schreck flog ich der Linge nach in den

dreckigen Graben, erhob michjedoch sofort wieder,

um aus der gefàhrlichen Schulilinie herauszukornmen.

Die Englander besetzten nun das Dorf, machten

aber keinen Versuch, uns weiter zu verfolgen.

Wir gruben uns wieder ein und lagen einige Tage

dem Feinde gegenüber. Man mulite sehr vorsichtig

sein, denn die Tommys, wie wir die Englander nannten,

waren gute Schützen. Wo sich einer von uns

zeigte, hatte er schon was weg.

Dann wurden wir abgelöst und kamen 3 Tage in

Ruhe, in das Dorf Douvrin. Sofort ging die Kaninchen-,

Hühner- und Schweineschlachterci wieder

                                         62
 

los. Kurz: Alles EB und Trinkbare wurde weggenommen.

Unser Zug war in einer Schule einquartiert.

Uns gegenüber,jenseits der Stralie, befand sich

eine große Wein und Likorhandlung. Die Offiziere

hatten einen Posten davorgcstellt, um den Mannschaften

den Zutritt zu verwehren, Und natürlich,

daßalles für sie crhalten bliebe. Wir sahen, daH der

Posten oft in den Keller ging. SchlieHlich war er so

betrunken, dan er am Tor niedersank und einschlief.

Die Situation ausn ützend, holten Zanger und

ich uns mehrere Liter Anisette [Anislikör]. Bald

ging's im Keller aus und ein wie in einem Taubenschlag,

und bis gegen Abend blieb für die Offiziere

wenig mehr zum Holen.

Am dritten Tage um Mittag hief es wieder abrnarschieren.

Zuerst ging's zur Kirche, wo sich das ganze

Infanterieregiment 112 sammelte. Da die Kirche bereits

überfüllt war, nahmen mehrere Kompanien

vor derselben Aufstellung. Ein Feldgeistlicher hielt

cine kurze Ansprache und gab uns die allgemeine

Absolution. Dann ging's wieder weiter. Wir passierten

rnehrere von den Einwohnern verlassene Darfer.

[ ] Beim Anbruch der Nacht wurde haltgernacht

auf einem Zuckerrübenfeld, um dort zu übernachten.

Keiner von uns ahnte, daßdies für viele die

letzte Nacht ihres Lebens sein werde. Da die Nacht

ziemlich kalt war, waren wir froh, aIs es gegen Morgen

weiterging. Bald tauchten aus dern Dunkel Häuserreihen

auf. Wir befanden uns in dem Stad tchen

La Bassée und hörten in den Càrten Soldaten arbeiten,

die Deckungen bauten. Da fragte cine Stimme

<tusdem Dunkel: »Welches Regimentistdas? Welche

Kompanie?«  »112, die 1.«  »Ist der Zanger dahei?

« Auf die bejahende Antwort kam er gelaufen,

und zwei Brüder lagen sich weinend in den Armen.

War das ein Wiedersehen! Wir weinten aile drei, da

schon lange keiner cine Nachricht aus der Heimat

erhalten hatte. Charles begleitete uns bis an dasjenseitige

Ende des Stadtchens, wo cr von uns Abschied

nahm. Bald hiess es: »Halt !

                                    63
 

22.0KTOBER 19I4DERANGRIFF AUF

DAS DORF VIOLAINES

Wir mußten im Dunkel auf dem Felde Schützenlinien

bilden. Nun ging's vorwarts. Da der Morgen

zu orauen beg an n, sahen wir vor uns Hauser und b t1

Obstbaume auftauchen. Es war das Dorf Violaines.

Wir steckten unsere Bajonette auf die Gewehre, und

im Laufschritt ging es auf das Dorf los. Unserejungen

Soldaten schrien »Hu rra«, wie sie es auf dem

Exerzierplatze gelernt hatten, statt sich ruhig zu verhalten.

Dureh das Geschrei wurden die Englander

im Dorfe alarrniert. Bald knallten uns einzelne

Schüsse entgegen, eine Minute später prasselte es

uns aus allen Fenstern, ren, hinter Hecken und

Mauern entgegen. Gleich eine der ersten Kugeln

traf meinen Nebenmann in den Bauch. Mit einem

furchtbaren Schrei stürzte er zu Boden. Zanger August

drehte sich nach mir um und rief: »Nickl, bist

du getroffen?« lm gleichen Moment durchbohrten

3 Kugeln seinen Tornister und das Kochgeschirr,

oh ne ihn zu verletzen. Sein Nebenmann stürzte mit

einem Schulterschuf zu Baden. Sa schnell wir konnten,

liefen wir hinter eine Dornenhecke. Alles duckte

sich hinter die Hecke, die die Engländer nun unter

starkes Feuer nahmen. Mehrere Kameraden rührten

sich bald nicht mehr. lm Verein mit neu hinzukommenden

Schützenlinien durchbrachen wir die

Hecke und srmten durch die Cärten auf die Häuser

los, wobei noch rnancher von uns getroffen

wurde. Da wir in der Übermacht waren, wichen die

Engländer zurück. Wir sprangen zwischen den Häusern

durch auf die Straûe und konnten noch einen

Englander erwischen, der eben die neben der Stralie

sich hinziehendc Kirchhofmaucr ûberklettern

wollte. Durch die uns umzischenden Kugeln waren

wir genütigt, zwischen den Häuscrn Schutz zu suchen.

Der Englander glauhtc, wir würden ihn erschieûen,

cloch wir gaben ibm zu verstehen, dal3 wir

ihm nichts tun würden, woraufer sehr glücklich war  
                                64
 

und uns sein Geld geben wollte. Wir nahmen es aber

nichtan. Ein hinzukommendcr Leutnant zwang uns,

weiter vorzugehen. Weiler unten stand auf der

Straße ein englischer Munitionswagen, unter welchem

ein Engländer lag, der auf die von der andcren

Seite des Dorres heranrüc:kenden Deutschen schoß.

lch berührte ihn von hinten mit dem Bajonett. Er

schaute sich um. Bei unserem Anblick erschrak er

sehr. Aber statt sich zu ergeben, sprang cr auf der

anderen Seite unter dem Wagen hervor und wollte

fliehen. Wir schrien ihm »Halt« nach, er aber lief

weiter. Da schof ihn Tambour Richert aus Reichwei

1er nieder. [Tambour R., ein 1891 geborener »Cernenteur

«, wurde drei Tage spater verwundet. lm

Mai 1915 fiel cr im Gefecht bei Liévin. ] Etwas weiter

zurück stand eine englische Revolverkanone im

Straßengraben, welche uns mit ihren Geschossen

überschüttete. Einige gut gezielte Schüsse streckten

die Bedienungsmannschaft nieder.

Das Regiment sammelte sich im Dorfe, und nun

ging es zum Sturm auf einen etwa 300 m hinter dem

Dorfe liegenden englischen Schützengraben. Ein

furchtbares Maschinengewehr- und Infanteriefeuer

empfing uns. Cranaten und SchrapneIls zersprangen

zwischen und über uns. Trotz der Großen Verluste

stürmten wir den Graben. Zum Teil hielten die

Englànder die Hande hoch, viele flohen. Sie wurden

aber fast aIle auf dem deckungslosen, ebenen Felde

niedergeschossen. Urn aus dem Artilleriefeuer zu

kornmen, nahmen Zanger und ich einen Verwundeten

und schleppten ihn ins Dorf zurück, wo wir ihn

zu den Ärzten trugen. Wir verkrochen uns dann in

einem Keller, in dern von den Bewohnern des Hauses

allerhand Lebensmittel aufgestapelt waren. ln

ciner Ecke hockten angstlich eine Frau und ein etwa

20jàhriges Madchen, die vor uns sehr Angst hatten.

Wir gahcn ihnen durch Zeicben zu verstehen, daßsie

vor uns keine Angst zu haben brauchten. Wir Icbten

g Tage garlZ gemütlich bcisammen. Wir machten

einen Ofen in dem Keller, das Ofenrohr zurn Keller–  
                                65
 

loch hinaus, und nun kochten die beiden Frauen

Hühner und Kaninchen, die wir abends im Dorfe

holten. Das Dorf lag dauernd unter englischemArtilleriefeuer.

Unser Haus bekarn mehrere Treffer,

und einmal flogen Backsteine die Kellertreppe hinunter.

Am dritten Tag gegen Abend polterten

Schritte die Kellertreppe hinab. Es war ein Leutnant,

der Regimentsadjudant. »Ihr verfluchten Drückeberger,

wollt ihr machen, daC ihr rauskornrntlschrie

er uns an. Wir packten unsere Sachen zusammen.

Das Madchen narnens line Copin gab uns

zum Andenken noch einige 1edaillen der heiligen

Muttergottes. Auf der Straûe standen etwa 60 Mann,

die sich aIle in den Kellern verkrochen hatten. Der

Regimentsadjutant hrte uns zum Regimentskommandeur,

welcher uns eine geh6rige Strafpredigt

hielt, die uns aber ganz gleichgültig li. Unser Regiment

war inzwischen etwa 5 km vorgekommen. [... ]

Wir erfuhren nun, daß der Tag von Violaines unsere

Kompanie über 100 Mann gekostet hatte. Über

% des Bestandes. Da wieder Ersatz aus Deutschland

gekommen war, trafen wir sehr viele unbekannte

Gesichter. Wir lagen in einer Scheune, um die Nacht

zu verbringen. Unser neuer Kompanieführer hielt

eine Rede, die ich noch genau im Gedächtnis habe,

nämlich: »Ich bin der Oberleutnant Nordmann, ich

habe die Führung der 1/112 übernommen. Ich bitt'

mir aus, daf jeder seine Pflicht tut. Der sie nicht tut,

den solI der Teufel holen! Wegtreten!« [N., geboren

1885, war zu diesem Zeitpunkt seit neun Jahren

beim Militar.]

Am anderen Morgen, als es noch dunkelte, wurden

wir zu Gruppen eingeteilt, dann ging's gedeckt

nach einer etwa 200 m VOl' dem Dorfe liegenden

Ferme. Von dort sollten wir gruppenweise, das heiût

zu je 8 Mann, über das Feld zu einigen Weidenbaumen

springen und uns dort eingraben. Wir wußten

nicht, wo die Engländer lagen. Die ente Gruppe

sprang, bald fing es an zu knallen. Wir sahen gleich,

daß3 Mann stürzten. Die anderen liefen hinter einen
                                     
66
 

einen

im Felde stehenden Weizenhaufen. Nun mußte

die zweite Gruppe springen, der auch Zanger und

ich zgeteilt waren. Mit welchen Gefühlen ich mich

zum Laufen anschickte, kann ich niernandernbeschreiben.

Aber das furchtbare IVIuJ).Da gab's keine

Widerrede. Ein kurzes Stoßgebet, und los ging's.

Kaum wurden wir sichtbar, als es schon wie ein Bienenschwarrn

uns umzischte. Mein Vorderrnann

stutzte, warf die Arme in die Hohe und stürzte auf

den Rücken. Ein anderer stürzte aufs Gesicht.

Schnell wollte ich hinter den Weizenhaufen springen.

Da sah ich, daf von der ersten Gruppe kein

Mann auBer dem Unteroffizier Luneg mehr am Leben

war. Wir warfen uns nun auf die Erde und

dckten das Gesicht in den weichen Ackerboden.

Die ganze englische Grabenbesatzung richtete nun

ihr Feuer auf uns. Rundherum schlugen die Kugeln

ein, so dan die Erde über uns spritzte. Ein englisches

MG setzte nun ein. Kaurn eine Handbreit sausten die

Kugeln über uns, einer nach dem anderen blieb tot

liegen. Ich glaubte, auch mein letztes Stündlein habe

geschlagen, dachte noch an die Lieben daheim und

betete. Der neben mir liegende Zanger sagte: »Hier

können wir nicht liegenbleiben«, richtete sich etwas

auf und sah etwa 50 m vor uns einen Feldweg, auf

dessen beiden Seiten sich Graben befanden. Mit einem

Satz sprangen wir aufund stürzten dem rettenden

Graben entgegen. Trotzdem die Engländer ein

knatterndes Schnellfeuer auf uns richteten, kamen

wir wie durch ein Wunder unversehrt an. Hinterher

kam auch der Unteroffizier Kretzer, unser Gruppenführer,

herangesprungen. Da der Graben an

dieser Stelle sehr flach war, krochen wir auf dem

Bauche nach einigen von den Englandern verlassenen

Schützenlochern. Bei diesem Vorkriechen bekam

Unteroffïzier Kretzer einen SchuH durch das

Kreuz, sagte noch »Clien Sie … « zu mir und war

lot. [Der Maurer K., 22 Jahre alt, starb nach Angaben

der Stammrolle am 23. Oktober 1914 bei Violaines

durch Kopfschuû. Angeblich wurde die Eintra
                                        67
gung allerdings bereits am 22.April 1914 (!) vorgenommen.]

Zanger und ich waren mm die einzigen Überlebenden

unserer Gruppe. Da die in der Ferme gebliebene

Kornpanie unser Schicksal sah, wagte niemand

mehr, auf das Feld zu kommen. Und so blieben wir

beide den ganzen Tag alleine in den Schützenlochern

liegen. Die Engländer belegten nun das Dorf

den ganzen Tag mit Artilleriefeuer, während kein

einziges GeschoH in unsere Nähe kam. AIs wir uns

anschickten, bei Anbruch der Nacht zur Kompanie

in die Ferme zu gehen, kam dieselbe, um die am

Morgen bestimmten Stellungen zu besetzen. Die

Mannschaften staunten sehr, uns beide noch lebend

zu finden.

Wir rnuliten nun eine Linie bilden und einen

Schützengraben aufwerfen. Jeder arbeitete, 50

schnell er konnte, um in die Erde zu kornmen, denn

beständig pfiffen einzelne englische Infanteriekugeln

durch das Dunkel. Nun ring es an zu regnen;

ich hing mir ein aufgefundenes englisches Gummizelt

um die Schultern. AIs der Graben tief genug

war, holte ich für mich und Zanger vom Weizenhaufen

2 Garben, um darauf zu schlafen. Unterwegs

stolperte ich zweimal über Tote. AIs ich eine Weile

im Graben geschlafen hatte, erwachte ich, da ich kalt

fühlte. Ich spürte, daßich längs im Wasser lag, das

sich von dem strörnenden Regen im Graben gesammelt

hatte.

Nun kam der Sergeant Hutt. Zanger, ich und noch

2 Mann muûten Unteroffizier Kretzer begraben gehen.

Es war ein guter Freund von Hutt. [Auch der

Maurer H. überlebte den Krieg nicht; er wurde im

März 1915 verwundet und starb drei Monate spater

im Alter von 23 Jahren.] Wir suchten lange in der

stockfinsteren Nacht, bis wir die Leiche fanden. Wir

scharrten nun die klebrige, nasse Ackererde mit unseren

Spaten weg, wickelten den Toten in sein Zelt,

das wir vom Tornister schnallten, legten ihn in das

keine 30 cm tiefe Grab und scharrten ihn zu. AIs wir  
                                    68
 

glaubten fertig zu sein, fühlte Zanger mit den Handen,

ob Kretzer überall mit Erde bedeckt sei. Da

schauten noch die Stiefelspitzen und die Nase zur

Erde heraus, welche clann noch zugedeckt wurden.

Zanger nahm nun clas Seitengewehr des Toten,

steckte es quel' durch die Lederscheide und steckte

es 50 in Form eine Kreuzes auf das Kopfende des

Grabes.

Kaum waren wir wieder im Graben, als der Befehl

kam, leise vorzugehen. Wir kamen dann clurch eine

mit mannshohem Schilf bewachsene Niederung. Bis

wir uns durch das Schilf gewunden hatten, waren

wir alle bis auf die Haut durchnäût. Der Regen fiel

unaufhörlich. Nun kam der Befehl: »Halt] Eingraben!

« Ich und Zanger gruben nun schnell ein Loch.

AIs wir fertig waren, muHten wir etwa 10m weiter

vor, da die Linie nicht gerade war. Da die englischen

Infanteriekugeln von vorne, links und rechts über

uns pfiffen, warfen wir die Erde l'und um uns, zur

besseren Deckung. AIs der Morgen graute, schaute

ich vorsichtig nach den Engländern hinüber und sah

ihren Graben etwa 150 m VOl'uns. AIs die Engländer

nun die Erdhaufen vor sich sahen, knallten sie eine

Weile wie wahnsinnig darauf los. Sie lieûen nach,

und ich sah, daßeiner derjungen Soldaten, der mit

noch zwei anderen das Loch neben uns besetzt hatte,

vorsichtig nach den Englàndern hinüberschaute.

Schnell rief ich ihm zu, sich zu ducken, was er auch

tat. Doch die Neugierde war zu groû. Nach einer

Weile wollte er wieder hinüberschauen. Kaum

wurde sein Kopf sichtbar, als el', in die Stirn getroffen,

tot niederstürzte. Die beiden Kameraden wollten

nun die Leiche hinter sich auf das Feld legen, da

in dem Loch zuwenig Platz war. Dabei kam der eine

zu hoch und erhielt einen Schuf in den Rücken. Er

stürzte tot in das Loch, und die Leiche des anderen

kollerte auf ihn. Nun waren zwei Tote und ein Lebender

in dem Loche. Die En glander schossen mit

Schrapnells auf uns, doch keiner wurde verletzt. Es

war sehr langweilig, den ganzen Tag so im Loch zu
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hocken. Wir lagen in einem Runkelrübenfeld. Urn

mir die Zeit zu vertreiben, steckte ich mein Seitengewehr

auf die Flinte, stach eine Runkelrübe an und

zog sie sa ins Loch. Dann steckte ich von unten das

Seitengewehr in die Rübe, setzte meinen Helm darauf

und lief das Ganze über die Deckung hinausschauen.

Die Engländer glaubten, es sei ein Kopf,

und schossen bald lustig drauf1os. Bald waren Rübe

und Helm wie ein Sieb durchlöchert.

ln der foIgenden Nacht stellten wir dann einen

durchgehenden Schützengraben fenig. Gegen Morgen

kam das 3. Bataillon zur Verstarkung und der

Befehl zum Angriff auf die englische Stellung. Ein 

wahnsinniges Unternehmen. Die Offiziere zogen

die Revolver und trieben uns aus dem Graben.

Kaum waren wir sichtbar, ais die Engländer auf uns

zu schießen begannen. Viele von uns stürzten gleich

zu Boden. Der Rest mach te kehrt und rannte wieder

zurück in den Graben. Die Schwerverwundeten blieben

liegen, manche stöhnten und jammerten bis gegen

Abend, bis auch sie starben. Trotzdem wurde

2 Tage spater, aIs neue Verstärkung herankarn,

noch mal angegriffen. Trotz großer Verluste kamen

wir bis an den englischen Graben. Es war aber unmöglich

hineinzukommen, denn die Englander

standen Mann an Mann und schossen uns nieder. Es

blieb nichts übrig, ais so schnell wie moglich wieder

unseren Graben zu erreichen. Das Feld zwischen

den beiden Graben war ganz mit Toten und Verwundeten

überstreut, welch letzteren niemand Hilfe

bringen konnte. Zanger und ich kamen beide wieder

heil davon. Die nächsten Tage blieben wir uns ruhig

gegenüberliegen. Da es oft regnete und das Regenwasser

sich in den Schützengben sammelte, gab es

einen derartigen Schlamm, d man sich bald nicht

mehr bewegen konnte.

Nun hießes auf einmal, der englische Graben sei

von Schwarzen, Indiern besetzt. [Englander wie

Franzosen setzten Kolonialtruppen ein.] Und wirklich

sahen wir hie und da einen Turban, ihre Kop
                                    70
 

Kopfbedeckung.

Da wir diesen nicht gut trauten, mußte

die Hälfte von uns nachts Posten stehen. ln einer

dunklen Nacht sprang plotzlich einer der Indier in

unseren Graben und hielt die Hände in die Höhe.

Niemand hatte ihn kommen hören. Er zeigte immer

nach den Englandern hinüber und machte mit der

Hand das Zeichen des Halsabschneidens. Ein Einjähriger,

der Englisch verstand, wurde herbeigeholt,

und da der Indier auch etwas Englisch sprechen

konnte, konnten sich beide verstandigen. Der Indier

sagte, daß er und seine Kameraden die EngIander

hassen würden, sie wollten aIle zu uns kommen und

gegen die Engländer kämpfen. Wir glaubten ihm

und lieûen ihn wieder laufen, um, wie er sagte, seine

Kameraden zu holen. Wir lauschten in die Nacht

hinaus, ob sie denn noch nicht kämen. Bald zeigte

uns ein schallendes Hohngelächter von drüben, daf

der Schwarze uns zum besten gehalten hatte. [... ]

Da hieJ3 es auf einmal: »Wir werden abgelost..

Und wirklich, die nachste Nacht besetzte das Infanterieregiment

122 den Graben, und wir rnarschierten

zurück. Es war ein schönes, freies GefühI für uns,

aIs wir uns auûer Schußweite befanden. [... ] Auf

dem Schlachtfelde von Violaines lagen noch die Leichen

der VOl' 3 Wochen gefallenen Englander. Wir

sahen mehrere Raben auf ihnen sitzen, die ihre

Mahlzeit hielten. Die gefallenen Deutschen waren

aIle begraben. lm Stad tchen La Bassée bezogen wir

Quartier. Aber wie sah es dort aus! Wer's nicht gesehen

hat, kann sich keine Vorstellung machen. Einwohner

waren keine mehr zu sehen. ln allen Häusern

und Zimmern lag alles drunter und drüber.

Kleider, Hüte, Photographien, kurz: alles, was in

den Zimmern war, lag kreuz und quer durcheinander.

Man sah au ch eine Menge unsittlicher Bilder

und Schriften umherliegen. Die Mëbel waren gröûtenteils

zerschlagen worden und aIs Brennmaterial

benutzt. ln einem Kleiderstoffgeschäft rissen die

Soldaten Streifen von den Stoffrollen, um sich Wikkelgamaschen

zu machen. ln einem Hutgeschäft

                                     71
wollte ich mir eine Mütze mit Ohrenklappen hole n,

um mich spater im Graben etwas gegen die Kälte

schützen zu körinen. J n dern Laden war dasselbe

Bild: Mützen, Hüte, Strohhütc, Zylinder. Alles lag

etwa einen halben Meter hoch auf dem Boden, und

darüber schritten die Soldaten mit ihren dreckigen

Stiefeln.

[... ] Wir lagen 8 Mann in einem Zimmer, in der

Nähe der Kirche.In der Nacht wurden wir durch ein

furchtbares Gepolter geweckt. Das Haus zitterte wie

bei einem Erdbeben. [… ] Der Kirchturm, der früher

einige Artillerietreffer abbekommen hatte, war zusammengestürzt.

Wir waren 3 Tage in La Bassée

und benutzten die Zeit, um unsere Kleider zu trocknen

und einigerrnaûen vom Dreck zu befreien. Dann

ging's wieder in die Graben. Wir lagen nun etwa

1km nordlicher ais vorher. Vor uns lagen die Dorfer

Festubert und Givenchi. Wir hatten wieder Indier

vor uns und lagen ihnen etwa 80 m gegenüber. Bald

hatten wir einige Tote und Ver!etzte, die aile durch

die Schiefischarten getroffen wurden. Es muête drüben

ständig ein Indier im Anschlag stehen, der bei

jeder Bewegung bei uns drauflosschoH. Zanger und

ich gaben uns aile Mühe, um den Ker! ausfindig zu

machen. Wir konnten seinen Standort aber nicht

entdecken. Da fiel eines Nachts Schnee. Durch die

englischen Schielischarten konnten wir an der hinteren

Grabenwand Schnee sehen. Sobald ein Indier

nun durch die Schiellscharte beobachtete, verschwand

der weilie Schneefleck. So hatten wir bald

den Stand des indischen Schützen entdeckt. Ich

schob mein Gewehr in die Schieûscharte, zielte und

scholi, traf aber nicht, denn dicht daneben spritzte

der Schnee weg. Der Indier verschwand hinter der

Schiebscharte, und der weilie Fleck wurde sichtbar.

Nun Iegtc sich Zanger auf die Lauer. Bald verschwand

drüben wieder der weibe Fleck, der Indier

beobachtete wieder. Zanger schoü, der Indier war

getroffen. Nun hatten wir etwas mehr Ruhe.

Es kam der Befehl, den Graben der Indier zu 
                                        72
 

stürmen. Unsere Pioniere gruben Sap pen das sind

Zickzackgräben  bis dicht vor die Stellung der l ndier.

Eines Nachts wurdc ich mit noch 8 Mann zur

Deckung der vorne arbeitenden Pioniere bestirnmt.

Wir standen etwa 6 m hinter ihnen, das Gewehr irn

Anschlag. und lauschten in die dunkle Nacht hinaus.

ichts war zu sehen und zu horen. Auf einrnal töriten

zwei entsetzliche Aufschreie durch die Nadu, die

von unseren Pionieren kamen. Schnell schossen wir

in das Dunkel und sprangen dann zu den Pionieren.

Aber beide lagen am Boden der Sappe, der eine tot,

der andere schwer verwundet. Beide hatten von heranschleichenden

Indiern Messerstiche erhalten.

Am 21. Novernber eroberten wir den indischen

Graben. Aus den Sappen wurden Handgranaten,

die ich dort das erstemal in Verwendung sah, in den

indischen Graben geworfen. Dann sprangen wir

hinüber und trieben die l ndier im Graben zurück.

ln einem Sackgraben, der zur Latrine führte, konnten

wir über 60 der braunen Gesellen gefangennehmen.

Ein junger Leutnant von uns, der erst einige

Tage im Felde war, kletterte zum Graben hinaus und

schrie zu den Indiern: »Hands upl« Das heiût:

Hände hoch! Aber einige Schüsse knallten, und der

Leutnant stürzte kopfüber in den Graben hinab.

Meine Kompanie, die durch die neuen Mannschaften

zu 240-Mann-Starke aufgefüllt war, verlor nur

drei Tote und den Leutnant. lm Graben lagen rnehrere

tote Indier; die alteren trugen lange Haare, die

jüngeren trugen sie kurz geschoren. Sie waren aile

ganz neu gekleidet und wohl erst kurze Zeit in den

Graben. Ebenso lagen viele neue, wollene Decken

und auch aile rh and von ihren Lebensmitteln, denen

ich keinen Namen geben konnte, im Graben umher.

Wir nahmen die englischen Schiefischarten und bauten

sie auf der anderen Seite ein, Front nach den

Indiern, die etwa 200 m zurück noch einen Graben

besetzt hatten. Wo sich ein Turban zeigte, wurde

drauflosgeknallt, und bald wagte keiner mehr den

Kopf ZlI heben.

                                     73
 

22. NOVEMBER 1914- FURCHTBARES

NACHTGEFECHT MIT INDIERN

Bei Anbruch der Dunkelheit wurden wir mit Infanteriefeuer

überschütter, hatten zum Glück aber wenig

Verluste, da wir aIle am Boden im Graben lagen.

Einige Mann wurden verschüttet, zum Teil konnten

sie sich selber frei machen, zum Teil muliten wir sie

mit unserem Spaten frei machen. Da wir einen Gegenangriff

befürchteten, muûte die Hälfte von uns

Posten stehen. Zanger und ich losten uns gegenseitig

ab; während der eine stand, schlief der andere, in

mehrere indische Decken gehüllt. Von 4 bis 6 Uhr

morgens war die Reihe an mir. Da ich den lndiern

nicht traute, spähte ich in die Nacht hinaus. Plotzlich

glaubte ich ein Geräusch vorne zu hören. Mein Nebenposten,

der blof 2m neben mir stand, fragte

mich, ob ich nichts gehart hätte. Auf meine bejahende

Antwort entsicherten wir unsere Gewehre,

machten uns schuEfertig und suchten mit den Augen

das Dunkel zu durchdringen. Etwa eine halbe

Stunde lang war nichts zu sehen und zu hören, und

wir waren schon wieder beruhigt. Plotzlich durchdrang

ein lautes Pfeifsignal die Stille der Nacht. lm

gleichen Moment krach te dicht vor uns eine Salve,

und mit furchtbar gellendem Geschrei kamen die

lndier herangestürmt. Wir waren vollig überrascht,

und viele von uns verloren ihre Geistesgegenwart.

Schnell schoßich meine 5 Patronen ab, steckte mein

Bajonett aufs Gewehr und stellte mich an die vordere

Grabenwand. Zanger war taumelnd aus dem

Schlafe aufgefahren und konnte in der Aufregung

zuerst sein Gewehr nicht finden. AIs er es hatte,

stellte er sich neben mich. Die lndier schossen von

oben in den Graben, da wir uns aber an die vordere

Grabenwand drückten, flogen ihre Kugeln über uns

hinweg. Sehen konnten sie uns in dem dunklen Graben

nicht, während wir sie sofort erblickten, indem

sie sich gegen den Himmel abhoben. Wir schossen

und stachen immer in die Hahe, und keiner der
                                74
 

lndier wagte es, in den Graben zu dringen. Bald

jedoch sagte uns ein schreckliches Geschrei, daßdie

lndier etwa 30 m neben uns in den Graben eingedrungen

waren. Nun entstand ein wirres Durcheinander.

Wir wurden von der Menge von unseren

Plätzen weggeschoben und so zusammengedrängt,

daßich kaum in meine Patronentasche greifen

konnte, um mein Gewehr wieder zu laden. ln der

Aufregung und der Dunkelheit schossen manche

von uns ihren eigenen Kameraden in die Köpfe.

Nachdem die lndier eine Strecke unseres Grabens

erobert hatten, kletterten viele von ihnen hinten

zum Graben hinaus, liefen an ihm entlang und

schossen von rückwärts in unseren Graben hinein.

Nun waren wir in einer wahren Hölle. Von vorne,

von hinten und von der Seite knallten die lndier in

den Graben. Alles drängte nun nach dem in unsere

alte Stellung führenden Laufgraben. Die Getroffenen

stürzten und wurden zu Tode getreten. Alles

schrie durcheinander. Vor dem Laufgraben gab es

ein furchtbares Cedränge, jeder wollte der erste

sein. Doch der Eingang war so schmal, daßnur einer

nach dem anderen hineinkonnte. Endlich gelang es

auch mir und Zanger, in den Laufgraben zu kommen.

Kaum waren wir etwa 10m darin zurückgelaufen,

als es nicht mehr weiterging, da die in der alten

Stellung liegenden paar Mann Reserve uns nach

vorne zu Hilfe kommen wollten. Wir waren bald eng

eingeklemmt, da die Mannschaften hinter uns unbedingt

zurückwollten. Da ertönte der Ruf: »Rette

sich, wer kann!« Zanger und ich warfen die Gewehre

zum Laufgraben hinaus und liefen über das Feld

zurück. Mehrmals muûte ich mich zu Boden ducken,

um von den lndiern nicht gesehen zu werden. Zangel'

hatte ich bale! aus den Augen verloren. Auf einmal

horte ich ihn halblaut um Hilfe rufen. Schnell

sprang ich nach der Richtung und sah bald im Dunkel

zwei Gestalten miteinander ringen. Den lndier

kannte ich bald an seinem Großen Turban und

machte ihn kampfunfähig. So schnell wir konnten, 
                                    75

liefen wir nun in unsere alte Stellung. Zanger woIlte

nun schnell sein Gewehr laden, der Patronenrahmen

aber woIlte absolut nicht in die Kamrner des

Gewehres. Beim näheren Hinschauen sah er, daf er

das Gewehr des lndiers in Händen hatte, in das

narlich unsere Patronenrahmen nicht paßten. lmmer

wieder kamen einzelne Mann zurückgelaufen.

Vorne dauerte die Schießerei noch an. Nun grau te

der Morgen. Wir schossen nun auf die im Felde

auftauchenden lndier, die bald aIle im Grabenverschwanden.

Auf einmaJ wurden sie einige Meter voraus

im Laufgraben sichtbar. Durch unsere Scsse

stürzten die vordersten zu Boden. Nun verbarrikadierten

wir den Laufgraben mit Sandsäcken und

hatten Ruhe. Wir waren sehr müde und abgespannt,

und unsere Nerven waren ganz futsch. Und in welcher

Verfassung waren wir! Dreckig yom Kopfbis zu

den Fülien, meine Hosen waren yom Knie bis ans

obere Ende aufgerissen, mein Tornister mitsamt

meinem ganzen Hab und Gut war weg, da ich keine

Zeit mehr gehabt hatte, ihn beim Überfall der Indier

urnzuhangen. Auch den Helm hatte ich verloren,

die Patronentaschen waren leer. Zanger und die übrigen

waren ungefähr in derselben Verfassung.

Gegen Mittag kam unser Leutnant Hüliler, ein

Elsässer und guter Vorgesetzter, und schrieb aIle

auf, die von der Kompanie noch da waren. Er

brachte noch 24 Mann zusammen; also 90 Prozent

der Kornpanie waren weg. Sehrecklich! Wie ich

später hörte, waren von der 4. Kompanie nur noeh

16 Mann übrig.

ln der folgenden Nacht wurden wir von einem

anderen Regiment abgelost und marschierten in den

Laufgräben zurück. Stellenweise kam man kaum

vorwarts und versank oft bis zu den Knien im Dreck.

Wir waren froh, aIs wir die feste Stral3e unter unseren

Fül3en hatten, marsehierten nach La Bassée und

erwarteten dort den Morgen. Von der Feldküehe

bekamen wir Kaffee und trockenes Kornmiûbrot.

Ein mageres Frühsck. Wir glaubten, ein besseres 
                                    7
6
 

verdient ZLl haben. AIs wir gegessen hatten, marschierten

wir weiter zurüek. Von Marschordnung

und Disziplin war keine Rede mehr. Jedel' ging, wie

er woIlte. Nun gab der Bataillonskommandeur den

Befehl zum Singen. Ein allgemeines Gemurrnel war

die Antwort, aber singen, das tat keiner. Wir passierten

auch die Ortschaft Courrières. Dort kamen bei

einern Bergwerksungck vor ein igen Jahren 1400

Bergarbeiter ums Leben. [Das Unglück ereignete

sich 1906.J

ln dem Stad tchen Hénin-Liétard [heute: Hénin-

Beaumont] wurden wir einquartiert. Zanger und ich

kamen zu einem alteren Ehepaar. AIs wir eintraten,

war die Frau alleine. Bei unserern Anblick schlug sie

die Hände überm Kopf zusamrnen, denn so drekkige,

zerlumpte Soldaten hatte sie wohi noch nie

gesehen. Dazu waren wir noch unrasiert. Sie winkte

uns, nach hinten in den Hof zu kommen, gab uns

warmes Wasser, Seife und Bürsten. Nachdem wir

uns einigerrnaûen gereinigt hatten, holte sie uns je

eine Zivilhose, Jacke, Strümpfe und Hausschuhe.

Wie wohl war uns, endlich einmal wieder trockene

Fübe zu haben! Die Frau war sehr gut zu uns, trotzdern

wir uns nicht einmal mündlich verstandigen

konnten. Sie gab uns dann noch heilien Kaffee und

Cognac und Bu tterbrot.

achher ging ich mit meinen Lumpen zum

Kornpaniefeldwebel mit der Bitte um neue Kleider.

Nachdern el' sie naehgesehen hatte, gab er mir eine

Bescheinigung, mich beim Bekieidungsamt einkleiden

zu lassen. Dort bekam ich neue Hosen, Rock,

Stiefel und Mütze. Dann lief ich mir die Haare

schneiden und mich rasieren. Darauf ging ich wieder

in mein Quartier. Die Frau kannte mich gar

nicht mehr. [... ] Nun kam der Mann nach Hause. Er

schien keineswegs über uns erfreut und betrachtete

uns mit der unfreundlichsten Miene der Welt. Da

sagte ich, auf uns deutend: »Alsaciens«; er aber

glaubte es nicht. Wir zeigten ihrn unser Soldbuch,

worin unsere Heimatadresse eingetragen war. Nun

                                     77
 

wurde el' schon etwas freundlicher. N achher gab ich

ihm mehrere Zigarren. Da war sein Widerstand gebroche

n, und er holte sogar eine Flasche Wein. Da

wir beide schon sehr müde waren, deuteten wir, dan

wir schlafen rnöchten. Wir wären mit einer 'Velle

Stroh zufrieden gewesen, aber wir mußten die Stiege

hinauf, und die Frau zeigte uns ein gutes Ben in

einem freundlichen Zimmer. Welche Freude für

mich, in einem Bett schlafen zu këmnen! Hatte ich

doch in bald 4 Monaten nur eine einzige Nacht in

einem Bett zugebracht. Wir schliefen bald ein, ich

erwachte jedoch wieder, und es war mir unrnöglich,

die Fülie ruhig liegen zu lassen. Ich glaubte, in den

Füûen, welche wochenlang kalt und naf gewesen

waren und nun richtig erwärrnt wurden, Hunderte

von Ameisen zu haben. Bald jedoch rann der

Schweif derart aus meinen Füfien, daßdas Bettuch

an der Stelle ganz naf wurde. Nun konnte ich einschlafen.

Wir blieben 14 Tage beijener Familie, und

wir wu l'den mit jedem Tag besser zueinander. Wir

al3en zusammen, und manches Kaninchen mulite

dran glauben. Wir brachten der Familie ais Gegendienst

neue Hemden, Unterhosen, Schnürschuhe,

eine Menge Zigarren und Tabak und so weiter. Damais

war von allem im Überfluf vorhanden.

Wir hatten nur wenig Dienst, hauptsachlich Postenstehen.

Einmal stand ich auch Ehrenwache bei

einem Prinzen von Hohenzollern, der in einem

Schlof wohnte. Diese Vögel konnten es schon aushalten

im Krieg! Hingen sich die Brust voll Auszeichnungen,

obschon sie nie eine Kugel pfeifen

hörten, alien und tranken im Überfluß und waren

hinter den Mädchen her. Dazu bezogen sie ein hohes

Gehalt, während der gewahnliche Soldat bei seinem

Hundeleben 53 pfennig Löhnung bekam. Einmal

waren wir ais Brückenschutz auf Wache. Das Wachlokal

war in einem öffentlichen Hause. lch hätte

vorher nie geglaubt, dan Weibsleute in sittlicher

Hinsicht so tief sinken könnten. Überhau pt waren in

jener Gegend viele Mädchen und Frauen in sittlicher 
            78
 

Hinsicht sehr tief gesunken. Bald füllten sich die

Lazarette mit geschlechtskranken Soldaten.

Wir bekamen dann neue Ersatzmannschaften aus

Deutschland, darunter auch eine Menge Freiwillige

unter 20 Jahren. Nun hieû es wieder: »Marsch nach

der Front} Und mit Bedauern nahmen wir von

unseren guten Wirtsleuten Abschied. Wir kamen

dann in eine bessere Stellung, hatten dort Franzosen

in etwa 800 m Enrfernung VOl' uns. Weiter zurück lag

die Stadt Béthune. Obwohl jene Stadt unter deutschem

Artilleriefeuer lag, wurde in den Bergwerken

weitergearbeitet. [... ] Wir lagen nun 3 Tage vorne

im Graben, 3 Tage in Reserve in einer Arbeiterkolonie

1km hinter der Front und dann 3 Tage in Ruhe

5 km weiter zurück. So vergingen dort etwa 3 Wochen

ohne nennenswerte Vorkommnisse. [… ]

Wenn wir in Reserve lagen, rriubten wir aile Nächte

durcharbeiten, Laufgraben und Stellungen graben.

Da die Gegend dort ganz waldfrei ist, konnten wir

infolge Holzmangels keine Unterstände bauen. Und

so lebte man immer im offenen Graben, den Unbilden

der Witterung ausgesetzt. Unsere Stellung Iief

dicht an einer Kohlenmine, Fosse [Schacht] 8, vorbei,

bei welcher eine Arbeiterkolonie, alles schëne,

schmucke Hauschen, erbaut war. Kohlen zumFeuermachen

waren in Mengen da. Da es aber an Holz

fehlte, ~urden zuerst die Fensterläden, dann die

Türen, "Iobel, Baden, Dachlatten aus den Hausern

genommen, um Feuer anmachen zu können. ln kurzer

Zeit standen nur noch die kahlen Mauern da.

[... ]

Nun kam das Weihnachtsfest, die erste Kriegsweihnacht.

Unsere Kompanie feierte das Fest in

Vendin-le- Vieil. Es waren eine Menge Liebesgaben

angekommen. Da ich, Zanger und Gautherat aus

Menglatt mit der Heimat keine Verbindung mehr

hatten und daher auch keine Pakete bekommen

konnten, gab uns der Kompanieführer extra Liebesgaben.

Dann bekamen wir noch einen Teil wie die

anderen. Auch bekamen Zanger und ich eine große

                                    79
 

Kiste mit guten und nützlichen Dingen von einer

reichen Fabrikantin aus Mannheim, welche uns heimatlosen

Soldaten eine Freude machen wollte. VÙr

konnten unsere Sachen kaum auf einmal in unser

Quartier tragen. Wir hatten einen ganzen Tisch voll

Schokolade, Zuckerbr6tehen, Bonbons, Zigarren,

Zigaretten, Dauerwurst, Olsardinen, Pfeifen,Hosenträgern,

Halstüehern, Handsehuhen und sa weiter.

leh verteilte Schokolade und Bonbons an die

Kinder, die ich auf der Straße traf. Bald kannten

mich aile, und wo ich mieh zeigte, kamen sie gelaufen

und baten mieh um Sül3igkeiten. Aber ich

konnte nur geben, solange der Vorrat reiehte.

Bald kam der Befehl zum Abrücken, naeh der

etwa 12 km entfernt liegenden Lorettohöhe. [... ]

Wir gruben uns im Gebüsch am Abhang ein, über

uns lagen die Trümmer der zusammengesehossenen

Kapelle Notre-Dame-de-Lorette. Auf dem Gipfel

entlang lagen die mit Alpenjägern besetzten französischen

Graben. Da unsere Stellung einen Bogen

beschrieb, bekamen wir bald von der Seite Artilleriefeuer

mit sehwerem Kaliber. Auf allen Seiten sehlugen

die groHen Granaten ein. Ein mit 4 Mann besetztes

Sehützenloch bekam einen Volltreffer, die zerrissenen

Korper der Unglückliehen wurden nach allen

Seiten zerstreut. Man konnte nicht weglaufen, denn

wo sich nul' einer von uns zeigte, wurde el' gleich von

den Alpenjagern niedergeknallt. Dort verlor ich

auch einen guten Kameraden namens Sand. [Siehe

auch Sei te 31 f. Erst am l.Januar 1915 an die Front

zurückgekehrt, wurde der Zuckerfabrikarbeiter S.

laut Stammrolle am 21.Januar 1915 durch Kopfschuf

verwundet und starb zwei Tage spater.]

Eines Nachts fiel Schnee, und ich munte mit noch

4 Mann untel' Führung des Sergeanten Hutt eine

Patrouille den Hügel hinauf machen. Wir hatten

weiûe Hemden über unsere Uniformen angezogen,

um im Schnee nicht so gut gesehen zu werden. Was

wir dort oben suehen sollten, weif ich heute noch

nicht, es war der reine Blödsinn. Wir wu l'den bald
                                80
 

bemerkt, und einige Kugeln flogen uns um die Ohl'en.

Ein Mann bekam einen BrustschuI3. Wir rannten,

50 schnell wir konnten, bergab in unsere Stellung.

Sergeant Hutt erstatter.e eine Schwind~lmeldung

und bekam einige Tage später das Eiserne

Kreuz.

Nach 3 Tagen kam unsere Kompanie in Ruhe in

das sogenannte Wasserschlofi, ein großes, auf allen

Seiten von einem Bache umflossenes Cebäude. [... ]

Dort erfuhr ich, daß das Ill. lnfanterieregiment

links neben uns lag. Der Reservist Emil Schwarzentrüber

aus meinem Heimatdorfe befand sich bei

der Il. Kornpanie jenes Regiments. Sofor~ .fante ich

den Entschluß, ihn aufzusuchen, und hoffte, etwas

Neues aus der Heimat zu erfahren, denn ich hatte

bereits mehrere Monate keinerlei Nachricht von

dort bekommen. Ich ging nach dem Dorf Saint-Nazaire,

traf dort Soldaten des Ill. Regiments, welche

mir sagten, die Il. Kompanie liege oben in Stellung.

Sie beschrieben mir den Weg dahin, und ich machte

mich auf die Suche. lch kam bald in den Laufgraben,

der zur Stellung hinaufführte. Da der Schnee

schmolz, lief eine Masse Dreckwasser den Graben

hinab. Trotz allem patsehte ich in der dunklen Nacht

weiter hinauf und kam endlicb in der Stellung an.

Ich fragte einen Posten nach meinem Kamer~den.

Er konnte mir keine Auskunft geben. Ich fragte

einen anderen, der mich zur Gruppe wies, in der

mein Kamerad sei. Ich ging dorthin, und auf meine

Frage gab man mir nur ausweichende Antworten,

aus denen ich nicht klug werden konnte. Ich verabschiedete

mich und ging wieder fort. Da kam

mir einer nachgelaufen, ein Elsässer, u?d ~ragte.

mich, ob ich ein guter Kamerad von Emil sei. Auf

meine bejahende Antwort sagte er mir, dan Emil

vor 2 Tagen desertiert sei. .

lch ginO' nun wieder zu meiner Kompame und

munte do:t mehrere Gefallene begraben helfen. Ein

trauriges Stück Arbeit, besonders da man nie wußte,

wie bald die Reihe an uns war. Wir blieben etwa

                                81
 

10 Tage an der Lorettohöhe. Da kam der Befehl,

zurück nach Vendin-le-Vieil in unsre alten Quartiere

zu marschiere n. [... ] Den nächsten Abend beim

Postverteilen bekam ich einen Briel' von meinen Eltern.

Da ich nicht wußte, ob sie über haupt noch zu

Hause seien, l'iD ich den Brief schnell auf und las:

»St. Ulrich, den … Lieber Sohn ' Wir sind aile gesund

und noch zu Hause ... « Weiter kam ich nicht.

Vor Freude und Sehnsucht schossen mir die Trärien

in die Augen, und ich konnte nicht weiterlesen. Da

ich mich vor den Kameraden scharnte, ging ich hinaus.

Ich beruhigte mich bald wieder und konnte den

Brief fertiglesen. Er enthielt nur Gutes, und ich war

nun über das Schieksal meiner Angehorigen beruhigt..

Wir blieben einige Tage in Vendin-le-Vieil,

dann hief es abmarschieren nach einer Gegend, aus

der dauernd Kanonendonner herüberdröhnte. [… ]

Durch einen Laufgraben, der teilweise zusammengeschossen

war, gelangten wir in die vorderste

Stellung. Mit Tagesanbruch fingen unsere Artillerie

und Minenwerfer furchtbar auf die mit Englandern

besetzten Graben zu schießen an. Wir mußten zum

Sturm vorgehen. [... ] Trotz der Großen Verluste

eroberten wir zwei dicht hintereinanderliegende

englisehe Graben. Die Engländer, die in den Laufgraben

zurückwollten, wurden fast alle niedergeschossen.

Wir sollten noch einen 3. englischen Graben

nehmen. ln demselben stand en je do ch die Englander

Mann an Mann und schossen uns nie der.

Bald lag eine ganze Reihe Toter und Verwundeter

vor ihrem Graben, und der Rest der Kompanie

flüchtete zurück in den 2. englischen Graben. Hier

fiel auch der Walther Theophil aus Struht. Es war

ein schreeklicher Anblick, überall lagen Tote und

Verwundete, Deutsche und Englander durcheinander,

und aus den Wunden rieselte das Blut. Wenn

man in die Laufgräben hineinschaute, sah man

nichts als Beine mit Wiekelgamaschen und verkrallte

Hände in die Höhe stehen. Der Boden dieser Graben

war ganz mit toten Englandern bedeekt.
                                82
 

Wir muliten nun die in den Stellungen liegenden

Toten begraben. An der hinteren Grabenwand

machten wir etwas Erde weg, legten die Toten hin

und deckten sie mit etwas Erde zu. Da man sonst im

Graben keine Sitzgelegenheiten hatte, dienten diese

kleinen Hügel ais Sitze. Nun fing es wieder an zu

regnen. Die Graben füllten sieh bald mit dem Wasser

und Sehlamm, und bald waren wir wieder so drekkig,

daI3 man nichts mehr aIs das Wee im Auge sah

vor lauter Dreck. lch mußte dann Munition heranholen;

überall sah ich Stiefelspitzen, verkrallte

Hande, aueh vom Dreck zusammengeklebte Haare

aus der Erde hervorsehauen. Es war ein schauerlicher

Anbliek, der rnich fast zum Verzweifeln

brachte. Es war mir derart verleidet, dal3 ich dem

Leben gar nichts mehr naehfragte. Die Kampfe dauerten

an jener Stelle sehon seit Oktober, und die

Gefallenen von damaIs lagen noeh auf dem Felde

zwischen den Graben. Es war unmoglich, sie zu begraben.

Etwas reehts vor meiner Schießscharte lag

ein deutseher Soldat auf dem Gesicht, den Kopf

gegen mich. Der Helm war ihm beim Sturze vom

Kopf gefaIlen, die Haut mit den Haaren war infolge

der Faulnis herabgerutscht, und die vom Regen und

von der Sonne gebleiehte Hirnschale war in der

Gröbe einer Hand siehtbar. ln der einen Hand hielt

el' noeh das rostige Gewehr mit dem Bajonett, das

Fleiseh war bereits von den Fingern weggefault, und

die Knochel sahen hervor. Besonders des Nachts

war es ganz unheimlieh, den weißen Schädel VOl'mir

zu sehen. Von den imrnerwàhrend, insbesondere

des Nachts, umherschwirrenden Kugeln war der

Körper wie ein Sieb durchbohrt.

Die nächste Naeht, den 26.Januar 19]5, kamen

wir etwa 400 m weiter nach rechts, hinter den sogenannten

Prellbock. Wir lagen an einem Eisenbahndamm

und schossen über die Sehienen in die englisehen

Graben. Bald nahm uns ihre Artillerie untel'

Feuer. Wir duckten uns nun hinter den Bahndamm.

Entweder platzten die Granaten oben auf dem
                                83
 

freie Feld. Die Nacht darauf kamen W1r wieder

200 m nach links. Dicht vor unseren Graben waren

mehrere haushohe Backsteinhaufen, da sich dort

eine zu Boden geschossene Ziegelei befand. Die Engländer

kletterten beim Dunkelwerden von hinten

auf die se Backsteinhaufen, und wo sie einen von

uns im Graben erblickten, knallten sie ihn nieder.

Eines Abends standen Zanger, ich und unser Karnerad

Kopf im Graben und erzählten eben etwas. Zanger

und ich standen gedeckt hinter der Schulterwehr,

während Kopf an der Rückenwand des Grabens

angelehnt stand. Auf einmal knallte ein Schuf

von dem Backsteinhaufen herunter, hinter dem

Kopf unseres Kameraden spritzte die Erc~eweg. Er

selbst sank röchelnd mit durchbohrter Stirn zu Boden.

Er wurde zurückgetragen, starb aber beim weiteren

Rücktransport im Krankenwagen. [Del:

24jahrige Zigarrenmacher K., laut Stammrolle bel

der Ziegelhaufenstellung in Auchy am 29.Januar

1915 durch Kopfschuf verwundet, starb am 31. J anuar

1915.]

Von den 280 Mann, die mit der Kompanie ins Feld

gezogen waren, waren wir nur noch 5, die ohne

Unterbrechung den Krieg bis dahin mitgemacht

hatten. Dazu kamen noch mehrere hundert Mann

Verluste der Abteilungen, die während des Feldzuges

als Ersatz zur Kompanie gekommen waren. Bei

einem Angriff, den wir auf ein vorgeschobenes englisches

Grabenstück machen muûten, wurde Zanger

durch eine Handgranate an der Stirn verwundet

und kam zurück. [Laut Stammrolle wurde der

22jahrige Maurer Z. am 1. Februar 1915 bei Auchy

durch Granatsplitter am rechten Auge verletzt.]

Bald schrieb er mir, daßer sich in einem Lazarett der

Stadt Douai befinde. Man nannte uns in der Kornpanie

nur »die beiden Unzertrennlichen«. Da er nun

fort war, war es mir noch mehr verleidet, und ich

sann auf Mittel, wie ich diesem schrecklichen Hundeleben

entrinnen könne.
                                84

Ein anderer Kamerad von mir, ein Badenser namens

Benz, hatte auch dick an der Geschichte, und

wir berieten, was wahl Zll tun sei. Auf einmal sagte

Benz: »Ich hab's! «, nahm sein künstliches Gebißaus

dem Mund und trat es mit dem Stiefel in den Dreck.

»So, jetzt meld' ich mich krank wegen Magenschmerzen

und komme zurück ins Lazarett«, sagte

er. Da fiel mir ein, daßich mehrere faule Zähne im

Munde hatte. Obschon ich gar keine Zahnschmerzen

hatte, wickelte ich mein vor Dreck starrendes

Halstuch um den Kopf, ging zum Kompanieführer

und meldete mich krank; ich körme es VOl' Zahnschmerzen

nicht mehr aushalten. Bald kam auch

Benz mit seinem Anliegen. Der Kompanieführer

sagte, er konne uns nicht zurückschicken. Er habe

Befehl erhalten, aile nur einigermaHen kampffähigen

Soldaten vorne im Graben zu behalten, da immer

ein Angriff der Englander befürchtet wurde.

Trotz unserer Bitte weigerte er sich, uns eine Bescheinigung

zu geben. Und oh ne Bescheinigung des

Kompanieführers lief man nicht weit. Wir gingen

wieder zurück an unsere Plätze. Die Engländer

schossen dauernd mit kleinen Minen in unseren

Graben. Das am weitesten vorgeschobene englische

Grabenstück muliten wir räumen, da dasselbe nur

16m von dem englischen Graben entfernt war und

die Engländer immer wieder Handgranaten hineinwarfen.

Benz und ich beschlossen nun, ohne Bescheinigung

zurückzugehen. Wir hingen die Tornister

um, nahmen die Gewehre und schlichen zu dem

rückwàrts führenden Laufgraben. Dort lagen mehrere

Tote im Dreck, die beim Munitionsholen gefallen

waren. Wir schritten über sie hinweg, und etwa

400 m zurück gelangten wir ans Ende des Laufgrabens,

der auf die Straûe mündete. AIs wir um die

Ecke wollten, stand da ein Feldgendarm und verlangte

unsere Ausweise. Trotz allen Redens lief er

uns nicht durch und schickte uns wieder zur Kornpanie

nach vorne. Wir gingen zurück in den Laufgraben;

nachdem wir etwa 50 m zurückgelegt hatten,

                            85
kletterten wir zum Graben hinaus und liefen hinter

einigen Häusern durch, um weiter vorne die Straûe

zu gewinnen. Die Englander, die uns sahen, 5ch05-

sen aufuns, zum Glück, ohne zu treffen. Wir erkundigten

uns nach dem Bataillonsarzt, der sich in einem

Keller aufhielt. Da wir keine Bescheinigung

hatten, sagte el' »Drückeberger!« undjagte uns zum

Keller hinaus. Nun gingen wir zum Regimentsarzt,

der auch in einem Keller wohnte. Ais wir eintraten,

fragte Er: »Na, wo fehlt's?« lch sagte, daß ich starke

Zahnschmerzen hätte. Er schaute mir in den Mund,

und aIs er meine schiechten Zähne sah, schrieb er mir

gieich einen Aufnahmezettel fürs Kriegslazarett II,

Zahnstation in Douai. Mein Kamerad Benz hatte das

gieiche GIück, und wir beide waIzten los. Wir waren

übergIückIich, dem elenden Leben im Graben für

einige Zeit entronnen zu sein. ln Hénin-Liétard bestiegen

wir den Zug und fuhren nach der Stadt

Douai. Dort angekommen, ging ich gieich ins Lazarett.

Sofort wurden mir 2 Zàhne gezogen. Und auch

die nächsten 3 Tage wurden mir je 2 Zahne gezogen.

Es war kein geringer Schmerz, denn es geschah ohne

Einspritzung.

Da wir ausgehen durften, besuchte ich auch langer,

der in einem anderen Lazarett Iag. Seine Wunde

an der Stirn war bald wieder geheilt. Beim Abschied

dachte keiner von uns, daßwir uns 2Jahre lang nicht

mehr sehen würden. Nach 3 Tagen wurde ich aus

der Zahnstation entlassen und mulite mich in der

Kürassierkaserne melden. [Laut Stammrolle des Regiments

112 war D.R. 18 Tage, vom 8. bis 26. Februar

1915, im Lazarett.] Dort wurden aile aus den

Lazaretten Entlassenen nochmals ärztlich u ntersucht

und entweder an die Front oder nach Deutschland

geschickt. Der Arzt stellte bei mir einen schweren,

infolge der Erkältungen zugezogenen Katarrh

fest, und ich wurde zum Ersatzbataillon des Infanterieregiments

112, welches in Donaueschingen/Baden

lag, zurückgeschickt. Wie glücklich war ich, ganz

von der Front wegzukommen! Und doch war es mir

                                    86

nicht ganz recht, da ich meinen Kameraden langer

verlassen mulite. lch ging gleich zum Bahnhof in

Douai und fuhr mit einem bayerischen Lazarettzug

durch Belgien bis Aachen. Dort mubten wir aussteigen,

bekamen etwas zu Essen, und ich fuhr dann mit

einem Personenzug nach Kain. Dort blieb ich einen

Tag, besichtigte die Stadt und den Rhein. Dann bestieg

ich den Schnellzug und fuhr 1. Klasse durch

das herrliche Rheintal. [… ] Am nächsten Morgen

fuhr ich mit dem ersten lug nach Donaueschingen

und meldete mich beim Ersatzbataillon, welches in

Baracken untergebracht war. Bald traf ich mehrere

Kameraden meiner Kompanie, die zu halben Krüppeln

geschossen waren und nun geheilt auf ihre

Entlassung warteten. [… ] Am folgenden Tage meldete

ich mich krank und wurde dem Karlskrankenhaus

überwiesen. Dort pflegten uns katholische

Schwestern, die sehr freundlich und gut zu uns wal'en.

Es gefiel mir dort ausgezeichnet, und ich hatte

den Wunsch, lange dort bleiben zu körmen. Nur zu

bald sollte die Herrlichkeit ein Ende finden, denn

nach 5tagigem Aufenthalt kam der Befehl: Alle EIsasser

des Ersatzbataillons 112 müssen nach Freiburg

zum Ersatzbataillon des lnfanterieregiments

1ß. So mulite ich von den guten Schwestern Abschied

nehmen. Wir fuhren mit der Höllentalbahn

nach Freiburg hinunter. Unterwegs wurde von den

Elsässern weidlich auf die Preuûen geschimpft, und

man horte Ausdrücke, die wenig patriotisch klangen.

ln Freiburg wurden wir in einem Fabrikraum

untergebracht. AIs Nachtlager diente ein am Boclen

liegender Strohsack. Ich meldete mich gleich wieder

krank. Einige junge Arzte horchten an mir herum,

und das Resultat war, daßich wieder Dienst mitrnachen

mulite. lm ganzen war ich etwa 7 Tage in Freiburg.

Eines Abends nach Dienstschluf salien wir, Eine

ganze Menge Elsässer, beisammen. Es waren lauter

junge Soldaten, die noch nicht im Felde gewesen

waren. Sie sagten, ich solle ihnen etwas von meinen

            87

Kriegserlebnissen erzahlen. Ich erzählte ihnen un ter

anderem auch die Ereignisse yom 26. August, von

dem Befehl des GeneraIs Stenger, keine franzüsischen

Gefangenen zu machen und alles zu tüten,

und daßich mit eigenen Augen gesehen habe, wie

französische Verwundete getütet wurden und sa

weiter. Auf eimnal kam der Kompanieschreiber in

den Saal und rief: »Richert sail auf die Schreibstube

kommenl Ich hatte keine Ahnung, weshalb. Bald

sollte ich es erfahren. Der Kompaniefeldwebel sagte

zu mir: »Na, Sie können schone Geschichten erzählen.

Was erzahlten Sie denn soeben den Mannschaften?

« Ich sagte, ich hatte von meinen Kriegserlebnissen

erzählt. Da schnauzte er mich an: »Was, Sie wollen

wahl behaupten, daf ein deutscher General den

Befehl gab, französische Verwundete zu toten P. –

»Herr Feldwebel, der Befehl wurde tatsächlich am

26. August 1914 ais Brigadebefehl gegeben, und der

General Stenger war der Führer der Brigade.« Der

Feldwebel brüllte mm: »Nehmen Sie sofort diese

Behauptung zurück, oder Sie soUen mal sehen Ich

antwortete: »Ich kann meine Aussage nicht zurücknehmen,

da dieselbe auf Wahrheit beruht.. 

»Soooo, scheren Sie sich weg, das Weitere wird sich

finden!« brüllte nun die Kompaniemutter [soldatensprachlich

für Feldwebel].

Am nächsten Nachmittag war ein Übungsmarsch

in die Schwarzwaldberge mit kriegsrûig bepacktern

Tornister. Die Kompanie war angetreten. Da

wurde ich wieder auf die Schreibstube gerufen. Dort

erwartete mich der strenge Hauptmann der Kornpanie.

Seine Augen funkelten wie die eines gereizten

wilden Tieres. »Sie niedertrachtiges, gemeines Rindvieh!

Sie behaupten, ein deutscher General hätte

den Befehl gegeben, feindliche Verwundete zu Wten.

Nicht wahr?« Sa empfing er mich. Ich stand

stramrn var ihrn, schaute ihrn in die Augen und

antwortete: »[awohl, Herr Hauptmann!- Wütend

fuhr er mm auf mich los und schrie: »Sie verfluchter

Vaterlandsverräter! Auch mir gegenüber wagen Sie

            88

es, lhre Aussagen zu behaupten. Sie Schwein, Sie

Kame!, Sie Rhinozeros!« Und nun folgten die Namen

wohl aller wilden und noch einiger zahmen

Tiere, und der Schluû dieser Litanei war: »Scheren

Sie sich zum T'eu f"el, Sie Himmelhund, Sie gottver-

Iluchter!« Ich machte kehrt und ging hinunter in die

angetretene Kompanie. Wir marschierten nun los.

Ais wir eine Bergstraûe hinaufmarschierten, kam

der Hauptmann, der bis dahin hinter der Kompanie

geritten war, neben die Kompanie nach vorne. Bald

bemerkte ich, daf el' mich suchte.

AIs er mich sah, sagte er: »Na, Sie Lümmel, kommen

Sie mal her!« Ich trat aus dem Glied und stand

stramm vor ihm. »Na, packen Sie mal Ihren Tornister

aus! « lch tat es, aber es fehlte nicht ein Stückchen

darin. Da sagte er: »Sie werde ich schon noch

rankriegenl« Damit ritt er der Kompanie nach. Ich

packte meine Sachen wieder ein und muf3te nun

bergauf Laufschritt machen, um die Kompanie wieder

einzuholen.

Des anderen Morgens beim Antreten jagte mich

der Feldwebel aus dem Glied in das Quartier. Dort

kümmerte sich kein Mensch um mich, und ich wulite

nicht, was das eigentlich zu bedeuten habe. Am

nächsten Tage kam ein Unteroffizier mit 2 Mann in

den Saal und fragte nach mir. Ich meldete mich.

»Komrnen Sie mit!«  »Ja«, sagte ich, »sofort, ich will

nur schnell urnschnallen.«  »Das brauchen Sie

nicht«, sagte er, »Sie sind Arrestant.« Ich war gar

nicht überrascht und ging mit. Wir gingen durch

mehrere Straûen, die beiden Soldaten mit ihren Gewehren

links und rechts, der Unteroffizier hinter

mir. Viele Passanten blieben stehen und schauten

uns nach. Und ich horte mehrere Male halblaut

sagen: »Ein Spion.« So kamen wir in die Kaserne

des Infanterieregiments 1ß. Auf einem Korridor

muûten wir lange warten. Da hörte ich aus einem

Zimmer rufen: »Soll eintreten!« Dort san ein Major

mit seinem Schreiber. Lange sah der Major mich an

und musterte mich von oben bis unten. Ich stand

            89

still und sah ihm ungeniert in die Augen. Nun ging

das Verhör los. Narne, Kompanie, Heimat, Eltern,

ob mein Vater bei der deutschen Armee aktiv gedient

und so weiter. lch beantwortete alle Fragen.

»Nun wollen wir zur Hauptsache«, sagt er. »Sie haben

eine ungeheuerliche Aussage gemacht in Betreff

eines Befehls lhres Brigadegenerals Stenger.

Wie kommen Sie dazu? Erzählen Sie mir mal genau

den Hergang der ganzen Sache.. lch erzählte mm

dem Major so, wie sich die Sache tatsächlich zugetragen

hatte, und nannte als Zeugen die Namen

mehrerer Kameraden, die noch bei der Kompanie

im Felde waren. Der Schreiber mußte alles niederschreiben.

Dann schrieb der Major einen Zettel, gab

ihn dem Unteroffizier, der mich dorthin begleitet

hatte, und sagte ihm, er soIlte ihn der Kompanie

abgeben. Zu mir sagte dann der Major: »Sie können

gehen!«

Wir gingen nun wieder zur Kompanie zurück.

Dort hieB es bald: »Richert macht wieder Dienst

rnit.. Am nächsten Tage wurde ein Transport ins

Feld aufgestellt. Natürlich war ich dabei, obschon ich

mich noch nicht gesund fühlte. Bei der ärztlichen

Untersuchung wurde ich gleich zuvorderst gestellt,

und aIs mich der Arzt untersuchen wollte, hörte ich

den daneben stehenden Feldwebelleise sagen: »Es

ist der Richertl- Nun sagte der Arzt gleich: »K. V,« –

das heilit kriegsverwendungsfahig.

So hatte ich meine Strafe, denn viellieber ware ich

ins Cefängnis als wieder ins Feld. Aber was sollte ich

machen? lch war eben wie noch Tausende anderer

ein wiIlenloses Werkzeug des deutschen Militarismus.

Wir wurden nun ganz neu eingekleidet, und da

es am nächsten Morgen um 5 Uhr zur Bahn gehen

sollte, bekamen wir bis nachts Il Uhr Urlaub. Nun

ging's in die Wirtschaften. Da ich mit meinen Angehörigen

keine Verbindung hatte, war es in meinem

Portemonnaie schlecht bestellt. Ich besaf ganze

5 Mark. Die Hälfe davon wurde in Bier umgesetzt.

Diejungen Soldaten sangen übermütige Lieder und

            90

machten Sprüche, wie sie den Feind verhauen wollten.

lch dachte: Wartet nur, nur zu bald wird euch

der Übermut vergehen! Mit einem halben Bierdusel

legte ich mich dann auf meinen Strohsack, und mit

Schaudern dachte ich an die zukünftigen Nachtlager

im Felde, da es noch immer Winter war. Am Morgen

ging's zur Bahn. Wir 1200 Mann, halb Elsässer, halb

Badenser, fuhren nun Baden hinunter nach Karlsruhe,

wo wir in einer Kaserne die Gewehre bekamen.

Dann ging's wieder durch die Stadt zur Bahn;

die Stimmung bei uns Elsässern war nicht gut. AIs

eine Frau fragte: »Wo wollt ihr denn alle hin?«,

antwortete ein Mülhauser: »Ceh verrecka, gottver

 <

lm Bahnhof hielt der Großherzog von Baden eine

Ansprache, um uns Mut zu machen. Er sagte, daf

wir in die Karpaten kommen, und wir sollten im

Verein mit unseren österreichischen Kameraden die

Russen bald aus Osterreich hinauswerfen. lch

dachte bei mir: Der hat gut reden! Dann ging's weiter;

wir fuhren 3.-Klasse-Wagen, 6 Mann in einem

Abteil. Von Karlsruhe ging's nach Mannheim, Heidelberg,

durch das schöne Neckartal, Württemberg.

ln der bayerischen Stadt Würzburg bekamen wir

Kaffee, Wurst, Butter und Brot. Dann ging's weiter

durch den verschneiten Fränkischen Jura, durch das

Fichtelgebirge über Hof nach Sachsen, über Chemnitz,

Freiberg nach Dresden. Die Reise war sehr interessant.

lch saf am Fenster, betrachtete die vorbeifliegenden

Gegenden und rauchte eine Zigarette um

die andere.

ln Dresden blieb unser Zug bis gegen Morgen

stehen. Dann ging's weiter, und als ich erwachte,

befanden wir uns bereits in Osterreichisch-Böhmen.

Dem Elbtal entlang ging's weiter nach Prag, der

Hauptstadt Böhrnens. Dort bekamen wir wieder zu

essen. Die Einwohner von Prag betrachteten uns mit

feindseligen Blicken, denn die Böhrnen sind keine

Freunde der Osterreicher und ebensowenig der

Deutschen. Dann fuhren wir weiter an der schonen

            91

Stadt Brünn vorbei nach der osterreichischen

Hauptstadt Wien. Dort gab es wieder Essen. Nachher

muliten wir in 2 Gliedern antreten, eine osterreichische

Regimentsmusik spielte, und eine österr~

ichisch~ ~roBherzogin verteilte mit ihrem Gefolge

Bilder mit ihrer Photographie an uns. Mir machte

das wenig Freude, denn diese Zeremonien waren

mir sehr verhafit. Von Wien ging's dann weiter der

herrlichen Donau entlang über Preßburg nach Budapest,.

der Hauptstadt Ungarns. [... ] Überall jubelte

die Bevölkerung uns zu und rief: »Heil und

Si.eg!« Auch bekamen wir, wenn der Zug hielt, oft

Liebesgaben, besonders Rauchmaterial. Von Budapest

fuhren wir 2 Tage durch die große ungarische

Ebene. [ ] Und überall dasselbe Bild: Dörfer, einze~

stehende Gehoft~, aile Hauschen weif getüncht,

mit Stroh oder Schmdeln gedeckt, und dabei der

Schwebebaum des Ziehbrunnens. Zur Abwechslung

sah man oft auch Windmühlen. [... ] Der groHe Fluû,

die The, führte Hochwasser, und die Gegend war

weit überschwemmt.

ln der Stadt Debreczin bekamen wir wieder Essen:

Suppe, gebratenes Fleisch und Kartoffeln mit Sauce.

Aber es war uns fast unmöglich, etwas zu genießen,

da alles mit dem roten Pfeffer, dem in Ungarn 50

beliebten Paprika, zu stark gewürzt war. Es brannte

uns im Mund und Hals wie Feuer. Dann ging's weiter

nach der Stadt Tokay. [ ] ln Ungarn sahen wir

sehr viele, sehr hübsche braune Mädchen. Dieselben

trugen ein farbiges Mieder, kurzes Röckchen und bis

an die Knie reichende Husarenstiefel. Wir bekamen

von ihnen massenweise Kufihände zugeschickt, die

wir natürlich erwiderten. Wenn der Zug langsam

fuhr, kamen massenweise Zigeunerkinder und bettelten

um Brot. Oft wurde ihnen ein Stück hinausgeworfen,

und es machte uns Spaû, wie sie sich darum

balgten. Beim Weiterfahren sah ich in der Ferne die

mit Schnee bedeckten Karpatenberge auftauchen.

[…]

Nun erreichten wir die Stadt Munkacs, Die Stadt

            92

liegt am Fuße der Karpaten. Wir mußten dort aussteigen.

Man war ganz steif und wie gerädert vom

langen Sitzen, denn die Bahnfahrt hatte 7 Tage und

Nachte gedauert. Ais unsere jungen Soldaten die

hohen, schneebedeckten, vor Kalte starrenden

~erge sahe.n, verschwand bereits ein großer Teil

ihrer Begeisterung. Mit Sehnsucht dachte ich an

meine nun über 3600 km entfernten Lieben daheim.

Ob ich sie wohl nochmals wiedersehen würde, oder

ob ich in dem Großen Gebirge vor mir mein Grab

finden würde? Die nächste Nacht verbrachten wir in

l'v~assenquartie~en. Am folgenden Morgen bestiegen

wir nochmals die Bahn und fuhren etwa 8 km in das

Gebirge hinein, bis zu dern Dorfe Volocs. Die Ortschaft

bestand aus einigen armseligen Hütten. Dort

stiegen wir aus und kamen in Baracken, um die

nächste Nacht zu verbringen. Da kein Ofen zum

Heizen da war, froren wir schon die erste Nacht

gewaltig. [… ] Die Wände bestanden aus übereinandergelegten

Tannenstämmen. Dazwischen befand

sich Moos, und die Spalten waren mit Lehm verstrichen.

Die Dacher bestanden aus Stroh. Ich hätte

früher nie geglaubt, daßin Europa solche Behausungen

zu finden seien. Einwohner bekam ich keine

zu sehen.

Am folgenden Morgen brachen wir auf. Wir mars~

hiert.en auf einer. Zick~ackStraße einen hohen Berg

hmauf. Dort sah ich die ersten Russen. Es waren

Gefangene, die an der StraHe arbeiteten, alles starke,

groHe Männer. Ihre Mäntel hatten die Farbe von

Lehm. Auf dem Kopfe trugen sie hohe Pelzmützen

ihre Füûe staken in hohen, bis zu den Knien reichenden

Stiefeln. Beim Weiteraufwartssteigen fïng es an,

stark zu schneien, so daßman keine 50 m weit sehen

konnte. Bald sahen wir aus wie Schneemänner. Endlich

führte die Straûe bergab. Das Schneien hörte

auf, wir sahen tief unter uns etwa 20 der elenden

Ha~lser stehen. Das Dorf hießVerecky. Ein Soldat

memte: »Verreck i, das ist noch die Fragel Wir

marschierten weiter und erreichten bald ein ande-

                                    93

res, ebcnso armseliges Dorf. Auf einer Tafe! stand

der Namc: »Also Verecky«. Nun meinte der Soldat:

»Cibt's fûr uns keine Rettung mchr? Dort stehr's:

Also vcrreck i.« Trotz des Ernstes der Situation

rnuûten wir lachen. ln Also Verecky wurden wir

einquartiert. lch ging mil noch einern Kameraden

zu einer dort stehenden üsterreichischen Feldküche

und bat den Koch um etwas Warmes. Der Koch,

obschon er kein Wort Deutsch verstand [irnVielvolkerstaat

Osterreich-Ungarn nur eine Minderheit

deutsch; selbst im osterreichischen Teil der Doppelmonarchie

waren es lediglich rund 36 Prozent], gab

jedem von uns beiden einen Becher sehr guten Tee

mit Rum. Wir dankten und gingen nach der Hutte,

die uns zugewiesen worden war. Dieselbe war aber

derart mit Soldaten vollgestopft, daßwir nicht das

kleinste freie Plätzchen darin fanden. ln den Nachbarhütten

dasselbe Bild.

Ich fragte nun einen der daherkommenden osterreichischen

Soldaten, ob er uns beiden nirgends ein

Unterkommen wülite. Er sagte, wir solIten nur seinen

Fuûstapfen folgen. Wir kärnen nach einer Viertelstunde

zu einer Hütte, die hinter einem kleinen

Tannenwàldchen stehe. Da wir die Nacht nicht

draen im Schnee zubringen woIlten, gingen wir

dahin und erreichten bald unser Ziel. Ich öffnete die

Türe und befand mich in einern Raum, dem ich

keinen Namen geben konnte. Er war Wohnstube,

Stail und Vorratskarnmer. lch war ganz baff, mein

Kamerad ebenfalls. ln der Ecke vor uns standen 2

Kühe; das Wasser derselben lief über den Lehrnboden

bis zur Eingangsr. Dabei hockten zwei halbnackte

Kinder, kratzten den von dem Wasser aufgeweichten

Lehmboden auf und fabrizierten kleine

runde Kügelchen, ähnlich unseren Klickerle [ddeutsch

für Spielkügelchen, Marrneln]. Neben den

Kühen stand eine Ziege an eincn in den Boclen geschlagenen

Pfahl gebunden. Nirgends ein B~tt,

nicht einrnal ein Tisch. An der Wand war ein GesteU

angebracht, das den vier aufeiner Bank Karten spielenden

                                    94

lenden

osterreichischen Soldaten wohl ais Sehlafstelle

cliente. Unter dem Gestel! bernerkte ich den

Kartoffelvorrat der Familie. Aber wie armselig waren

die g-ekleidet! Der Mann lutte zerrissene Stiefel

an, trug das Hemd über die Hosen, wie dies in der

ganzen Cegend üblich war, Über die Schultern hing

ein Sehafpelzmantel, einen derselben Gattung trug

auch die Frau. Der Mann trug einen machtigen Ban

und die Kopfhaare halblang. Der Kopf selbst war

mit einer Pudelkappe bedeckt. Wir beide konnten

gar nicht fertig werden vor lauter Sehauen.

Weder die Soldaten noeh die Bewohner der Hütte

konnten ein Wort Deutsch, und dureh Zeichen gaben

sie uns zu verstehen, Platz zu nehrnen. Ich hing

nun meinen Tornister ab und legte ihn neben den

mächtigen Ofen, der aIs Wärrnespender, Koch und

Backofen diente und wohl ein Viertel des ganzen

Raurnes einnahm. Dann nahm ich den HeIrn ab und

legte ihn auf rneinen Tornister. Klatsch, fiel mir

beim Bücken etwas in den Nacken. Ich griff mit der

Hand hin, und – 0 Schrecken! – Nacken und Hand

waren besudelt von Hühnerdreck. Ich schaute mm

nach oben und gewahrte etwa 10 Hühner, die friedlich

auf an die Balken genagelten Stäben saûen und,

falls sie etwas drückte, ganz gemütlich in die Stube

hinuntersauten. Das war ein nettes Quartier! Aber

immer war es noch besser, als draen im Schnee zu

überriachten. Wir kochten uns im Ofen etwas Kaffee

und alien ein Stück Kommilibrot dazu.

Da wir von dem Marsche ermüdet waren, deuteten

wir an, daßwir schlafen möchten, AIs Schlafstelle

wurde uns das GesteIl angewiesen. Wir legten uns

claraufund deckten uns mit unseren Oecken zu. [... ]

Da es nun dunkelte, nahm der Mann einen langen

Kienspan yom Ofen herunter, steckte ihn zwischen

2 Tannenstämrnen in die Wanel und zünclete ihn an.

Das war die Bclcuchtung. Zwei der Osterreicher legten

sich dann zu uns; die zwei anderen holten einige

Handvoll Stroh, Jcgtcn es auf den Bodcn. Das war

ihre Schlafstelle.leh war Bun gespannt, wo die Fami-

                                    95

lie sich wohl schlafen legen würde.Bald wurde mir

dieses Ratsel gelost. Die Frau kletterte auf den Ofen,

der Mann reichte ihr die beiden Kinder und stieg

dann selbst hinauf. Alle legten sich hin und deckten

sich mit ihren Schafpelzen zu. Von einer Bettdecke

oder Unterlage war nichts zu sehen. Bald schlief alles

friedlich beieinander: wir 2 Deutsche, 4 Osterreicher,

4 Ruthenen [damalige Bezeichnung für die in

Österreich-Ungarn lebenden Ukrainer], 2 Kühe, 1

Ziege und die Hühner. Jedoch etwas wachte, und

zwar ein gefahrlicher Feind: die Lause. Schon in der

Nacht wurde ich dureh das Beißen wach, wubte aber

nicht, daß es Lause waren, da ich vorher noch nie

keine hatte. Am Morgen gingen wir wieder zu unserer

Truppe. Unterwegs biß es mich ganz gewaltig

auf der Brust. lch kratzte drauflos, aber bald bif es

noch mehr. lch knöpfte nun Mantel, Rock, Unterjacke,

Hemd und Finet [UnterhemdJ auf und sah

nun die Urheber des Beißens: Drei Lause, ganz vollgesogen,

saßen auf meiner Brust. Nun zwischen die

Fingernagel, und knacks, hin waren sie. Nun fing es

mich an zu been: auf dem Rücken, an den Beinen

und noch an sonstigen gewissen Korperteilen. Doch

das war nul' ein ganz kleines Vorspiel von dem, was

noch kommen sollte.

Wir erreiehten nun unsere Truppe, die schon zum

Abmarsch angetreten war. Nun horten wir in der

Ferne vor uns Bum-bum-bum – das Artilleriefeuer

an der Front. Mit welchern Unwillen ich weiterrnarschierte,

kann ich niemandem beschreiben. Was erwartete

uns dort? Schnee, Kalte, nachts Draufienliegen,

Lebensgefahr. Wir marschierten nun an einigen

Baracken vorbei, die als Feldlazarett dienten.

leh versuchte es nochmals mit Krankmelden und

ging in die ers te Baracke hinein. Dieselbe lag voll von

Verwundeten und halberfrorenen Soldaten, halb

Deutsche und Osterreicher. Sie waren fast aile graugelb

im Gesicht und sehr niedergeschlagen. Man sah

ihnen an, daß sie sehr viel durchgemacht hatten. lch

meldete mich nun beim Arzte. Er fragte mich

                                    96

barsch, was ich eigentlich wolle. Ich sagte, daß ich an

einem Katarrh litte und sehr entkraftet sei, Da lachte

er mir ins Gesicht und sagte: »Na, mein Lieber, Sie

waren wohl schon im Felde und haben die Nase vol1.

Machen Sie nul' schleunigst, daß Sie raus und zu

lhrer Abteilung kommen! ({Was wollte ich machen?

leh marschierte hinterher und erreichte die Truppe

bei ihrer nächsten Ruhepause. Wir marschierten

wied el' den ganzen Tag bergauf, bergab. Auf der

glatten SO'aße rutschte man oft aus. Ganze Schlittenkarawanen

fuhren an uns vorbei nach vorne, mit

Munition und Lebensmitteln beladen. Zurück kamen

sie leer. Einzelne Schlitten brachten Verwundete

zurück. Gegen Abend erreichten wir wieder

einige Baracken, wo wir die Nacht verbringen sollten.

Man sah, daßder StraJ3e entlang ein Dorf gestanden

hatte. Die Hauser waren bis auf die Erde

abgebrannt, nur die Großen Ofen und die Kamine

standen noch. Auf den verschneiten Bergabhangen

sah man Stacheldrahtverhaue aus dem Schnee hervorragen.

lch sah auch mehrere Bajonette. Ich

fragte nun einen deutschsprechenden Osterreicher,

der zur Barackenwache gehorte, was das eigentlich

zu bedeuten habe. Ererhlte mir, daß an dieser

Stelle hart gekampft wurde. Die Russen seien bis

hier vorgedrungen und mußten sich naeh schweren

Kärnpfen zurückziehen. Untel' dem Schnee lagen

noch viele Tore, die erst im Frühjahr, wenn es taut,

begraben werden können. Nun war es mit dem Mut

der jungen Soldaten, ais sie dies hörten, vorbei. Und

sie machten lange Gesichter.

Am nachsten Morgen ging's dann wieder weiter.

Wir bestiegen nun einen hohen Berg. Oben auf dem

Kamm machten wir eine Ruhepause. An dieser

Stelle befand sich die ungarisch-galizische Grenze.

Die Aussicht von oben war herrlich. Ringsherum die

verschneiten Berge und Schluchten, und an den Abhängen

sah man oft herrliche Tannenwälder. Von

vorne drohnte der Kanonendonner gut vernehmbar

herüber. Nun ging's wieder im Zickzack bergab. ln

                                    97

einer tiefen Schlucht sahen wir ein Geschütz mit

Bespannung liegen. Wahrscheinlich war es auf der

glatten Straße ins Rutschen gekommen, abgestürzt

und hatte die Pferde mitgerissen. ln dem Tai unter

uns war die Haltestelle der Schlitten. Von hier wurde

alles mit Trageseln auf schmalen Saumpfaden nach

der Front geschafft. Wir ging·en nun einer hinter

dem anderen einen solchen Pfad entlang, der in

Windungen um den Berg führte. Wenn uns Tragesel

begegneten, muhten wir uns eng an die Bergwand

drücken, um ihnen das Vorbeikommen zu

errnöglichen, so eng war der Pfad. Endlich erreichten

wir das Dorf Tucholka. Imrner dieselben elenden

Behausungen, dazwischen die dreckigen Bewohner

mit ihren Schafpelzmanteln. Nachdem wir

in Tucholka etwa eine Stunde geruht hatten, muliten

wir in 2 Gliedern antreten. Nun kamen die

Kompaniefeldwebel des 41. und des 43. Infanterieregiments,

und wir wurden den Kompanien zugeteilt.

lch kam mit noch etwa 50 Kameraden zur

7. Kompanie des Infanterieregiments 41. Meine

Adresse lautete nun: Musketier Richert, 7. Kompanie,

Infanterieregiment 41, 1. Brigade, 1. Division,

1.Armeekorps Kaiserlich-deutsche Südarmee.

 

 

 

KÄMPFE UND STRAPAZEN lN DEN

KARPATEN

 

 

Bei Anbruch der Dunkelheit marschierten wir nun

unter Führung der Feldwebel nach der Front. Am

Tage war jene Strecke nicht zu passieren, da sie im

Feuerbereich der russischen Artillerie lag. Wir erreichten

nun das Dorf Orawa, das aus etwa 20 Hütten

und einer Kirche bestand. Die Kirche war mit

Blech bedeckt, und der Turm hatte die Form einer

Kuppel, Das Kreuz auf der Spitze hatte 3 Querbalken,

wovon der untere schrag stand, das Zeichen der

griechisch-katholischen Religion. Das Dorf lag am

                                98

Fuße eines etwa 8 km langen, 1200 m hohen Berges,

welcher die Form eines Daches hatte und stellenweise

sehr steil war. Der Berg hief Zwinin. Die Stellung

der Russen lag den Gipfel entlang. Die Deutschen

hatten sich etwa 200 m tief am Abhang, etwa

1000 m über der Talsohle, eingegraben. Gegen Morgen

wurden wir in die Stellung hinaufgeführt. Der

Schnee lag durchschnittlich etwa 70 cm hoch, in den

Mulden und Schluchten war er mehrere Meter hoch

zusammengeweht. Am Tage war der Verkehr am

Bergabhang unmoglich, da die Russen von einigen

vorspringenden Punkten die Abhange mit Gewehrund

MG-Feuer bestreichen konnten.

Nun kamen wir zu unserer Kompanie. Die Mannschaften

bestanden hauptsachlich aus Ostpreußen,

die einen schlecht zu verstehenden Dialekt sprachen,

und einigen Deutschpolen. [Etwa 10 Prozent

der Einwohner Preuliens geh6rten der diskriminierten

nationalen Minderheit der Polen an.] Bei Tagesanbruch

sah ich, daßfast aIle sehr heruntergekommen

waren und sehr schlecht aussahen. Sie erzählten

uns, wie furchtbar sie hier unter der Kälte zu

leiden haben, und es solle ja keiner von uns wagen,

den Kopf über den Schnee zu heben, denn die Russen,

sibirische Scharfschützen, knallen jeden weg,

der sich zeigt. Da sah ich etwa 30 m vor mir einen

Deutschen den Graben verlassen, um sich den Berg

hinunterzubegeben. Oben knallten einige Schüsse.

Der Mann warf die Arme in die Hohe und stürzte in

den Schnee. Er war der erste 'l'ote von unserem

Ersatz, ein starker, übermütiger.Junge, der während

der Bahnfahrt wohl hundertmal den Gassenhauer

gesungen hatte: »Der Storch, der ist ein Schnabeltier,

er bringt die kleinen Kinder. Er ist aber nul' im

Sommer hier. WeI' besorgt denn die Sache im Winter?

« Nun hatte der arme Tropf ausgesungen. Wie

ich dann horte, wollte er tiefer unten am Abhang

dürre Tannenreiser holen, um sich etwas Kaffee zu

kochen.

Die Ostpreuûen erzählten uns dann, daßsie sch

            99

mehrere Angriffe auf die russische Stellung gemacht

hatten, aber jedesmal mit graßen Verlusten

zurückgeschlagen worden seien. Ihre Toten lagen

noch oben und wurden eingeschneit. Ich hob einen

Moment den Kopf und sah mehrere starre Hande

und Bajonette aus dem Schnee ragen. Auch sah ich

viele Erhohungen im Schnee, worunter die Leichen

der Gefallenen lagen. Das Essen konnte nur des

Nachts geholt werden. Da keine Feldküchehierherkommen

konnte, wurde unten im TaI in kleinen

tragbaren Kesseln gekocht. Bis mm die Essenholer

die 1000 m gestiegen waren, war das Essen erkaltet,

ebenso der Kaffee. Und so bekarn man nul' jeden

dritten Tag etwas Warmes. Wenn die Reihe des Essenholens

an mir war, dann aßich die Portion gleich

unten. Das Kommißbrot war derart gefroren, daß

man kaum mit dem Taschenmesser ein Stück abschneiden

konnte. Ich steckte das abgeschnittene

Stück Brot zwischen Rock und Unterjacke auf die

Brust, um es so auftauen zu lassen. Fast aIle Iitten

infolge der Erkältungen an Leibschmerzen und

Durchfall. Die meisten hatten Blut im Stuhl. Es war

zum Verzweifeln, und nirgends gab es einen Ausweg;

uns drohte entweder der Tod, Verwundung,

Erfrierung von Gliedmaßen oder Gefangenschaft.

Es herrschte eine unglaubliche Mutlosigkeit unter

den Soldaten, und nu r der furchtbare Zwang

machte uns aushalten. Besonders die bitterkalten

Nächte wollten kein Ende nehmen. An Schlaf war

wenig zu denken, denn alles trampelte von einem

Bein aufs andere und schlug mit den Händen um

sich, um sich so etwas zu erwärrnen. Manchmal

schossen die Russen plötzlich mehrere Salven von

oben herab. Da hielten die meisten von uns die

Hände über den Schnee hinaus in der Hoffnung,

einen Handschußzu bekommen und zurück ins Lazarett

zu kommen.

ln besonders kalten Nachten erfroren oft mehreren

Soldaten die Füße, Nasenspitzen und Ohren.

Eines Morgens fand man 2 Horchposten erfroren

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im Schnee. Eines Tages setzte ein furchtbarer

Schneesturm ein. Der Schnee bestand nicht aus

Flocken, sondern aus hartgefrorenen Nadeln. Der

Graben war bald voIlgeweht, und wir mußten dauernd

mit unseren Spaten den Schnee hinauswerfen.

Die Kälte drang uns durch Mark und Bein, und man

_________________

100

im Schnee. Eines Tages setzte ein furchtbarer

Schneesturm ein. Der Schnee bestand nicht aus

Flocken, sondern aus hartgefrorenen Nadeln. Der

Graben war bald voIlgeweht, und wir mußten dauernd

mit unseren Spaten den Schnee hinauswerfen.

Die Kälte drang uns durch Mark und Bein, und man

konnte in dem Cestöber keine 30 Schritte weit sehen.

Dies dauerte 2 voile Tage. Der Verkehr nach rückwärts

war ganzlich unterbrochen, und wir bekamen

nun einige. Tage se~r wenig zu essen. Drei Tage

bekamen WIr gar kem Brot, nur steinharten,österreichischen

Zwieback. Dann gab es mehrere Tage

nul' zu 8 Mann ein Kommißbrot von 3 Pfund pro

Tag. Wir litten in jenen Tagen schwer Hunger und

froren noch mehr.

Eines Tages erhielten wir Schmalz, um es aufs

Brot Zll schmieren. Unser Cruppenführer, Unteroffizier

Will, ein roher Ostpreuûe, machte gleich die

Hälfte für sich in eine Blechbüchse. Die andere

!1alfte wollte er an uns 8 Mann verteilen. Da sagte ich

ihrn, so etwas gehe doch nicht, das Schmalz gehare in

9 gleiche Teile verteilt. Ais er mich noch dazu ans~

11I1a~zte,w~rde ich derart base, daß ich ihm gehöng

meme Memung sagte. Vonjener Stunde an schikanierte

mich der Unteroffizier, wo el' nul' konnte.

Da ich gegen ihn machtlos war, verleidete es mir

noch mehr, und ich nahm mir vor, mich selbst zu

verwunden, um von hier wegzukommen. Zu diesem

Zwecke band ich ein kleines Brettchen vor die Hand.

Das Brettchen sollte die Pulverkorner und den Pulverschleim

auffangen, damit der Arzt beim Verbinden

nicht sehen sollte, dan der Schuf aus nachster

Nähe abgegeben worden war. ln einem geeigneten

Moment wollte ich die Tat ausführen. Ich lehnte das

geladene Gewehr an mein Knie, hielt die Hand mit

dem davorgebundenen Brettchen etwa 20cm vor

den Lauf, falite mit dem rechten Daumen den Abzug,

bif die Zähne zusammen und — schoßdoch

nicht, da mir im letzten Moment der Mut fehlte.

Wir wurden aile von den Läusen sehr gequalt, und

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der Kuckuck wuHte nicht, wo sie aIle hergekommcn

waren. Da es bei der Kälte unmöglich war, sichauszuziehen,

konnten die Lause ungeniert in den Kleidern

nisten und brütcn. Wenn ich vorne an der

Brust bis unter den Arm kratzte, hingen mindestens

vier an der Hand , wenn ich dieselbe herauszog.

Die Kompanie wurdejeden Tag schwachcr, da es

oft Verwundete und viele Schwerkranke gab. Da

bekamen wir eines Nachts ein Bataillon des 43. Regiments

als Verstarkung. Am Morgen kam der Befehl

zum Angreifen. Ich dachte: Unsere Führer sind verrückt,

Angreifen mit uns halbtoten, entkräfteten

Soldaten! Morgens um 10 Uhr ging's los, zum Graben

hinaus. Vorher muliten wir mit dem Spaten

Ausfallstaffeln [provisorisehe Graben, aus denen

heraus der Sturmangriff erfolgte] machen. Kaum

waren wir draen, als es von oben schon zu knallen

anfing. ln dem hohen Sehnee konnte man sehr

schlecht vorwärtskommen. Gleieh stürzten einige

getroffen in den Sehnee. Leiehtverwundete machten

kehrt und liefen in den Graben zurück. Dann,

wie auf ein Kommando, liefen alle zurück in den

Graben. Die Toten und Sehwerverwundeten blieben

liegen, und versehiedene jammerten bis gegen

Abend, bis sie starben.

ln der folgenden Nacht wurden wir endlieh abgelöst

und kamen hinunter in das Dorf Orawa. Wir

waren 16 Tage oh ne Ablüsung oben gewesen. Wie

froh waren wir, uns wieder mal in einer warmen

Stube, auf einem trockenen Boden und zum Sehlafe

ausstrecken zu können! Am folgenden Tage bekamen

wir unsere Löhnung. Wir bekamen für jeden

Tag l Mark Zulage, also l,53 Mark pro Tag. Nach

3 Tagen Ruhe ging's wieder in Stellung, nach 3 Tagen

Stellung wieder 3 Tage in Ruhe und so weiter.

Da, eines 'Lages, gab es plötzlich Tauwetter, ein lauer

Wind strich über die Berge. Der Schnee fing an zu

schrnelzen, und es gab einen unglaubliehen Dreck in

den Cräben. Wir muliten den Graben tiefer machen,

denn je mehr der Schnee schmolz, um so niedriger

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wurde er. Mit der Schneeschmelze kamen auch die

Gefallenen zwischen den Stellungen zum Vorschein,

und es waren viele, die in allen moglichen Stellungen

herumlagen.

 

9. APRIL 1915 – DIE EROBERUNG DES

BERGES ZWININ

 

Am Morgen begaben wir uns vor Tagesanbruch wieder

in Stellung. [... ] Vor dem Aufstieg wurde uns

nicht gesagt, daßwir angreifen sollten, doch wir

ahnten es. Oben angelangt, mubten wir gleich Ausfallstaffeln

graben. Punkt 8 ging's los. "Der Berg

muf um jeden Preis genornmen werden l- lautete

der Befehl. Kaum waren wir zum Graben hinaus, als

oben schon die Russen auftauchten und uns mit

Schnellfeuer ernpfingen. Trotzdem lief und kletterte

alles nach oben. lm Laufen schossen wir unsere

Gewehre nach den sichtbaren Kopfen der Russen

ab. Dadurch wurden sie beunruhigt und zielten

nicht mehr so genau. leh duckte mieh einen Moment

hinter einen Erdhügel. Zur Seite schauend sah ich,

daßdie Deutschen die ganze Lange des Berges angriffen.

Stellenweise hatten sie bereits den Gipfel

erreicht. Es war ein derartiges Geschrei und GeschieHe,

daf man weder die Kommandos noch sonst

etwas unterseheiden konnte. Plötzlich fing ein russisehes

MG an, uns in die Flanke zu schiel3en. Sehr

viele wurden getroffen und stürzten zwischen die

Toten, die bei früheren Angriffen gefallen waren.

An besonders steilen Stellen kollerten die Getroffenen

eine Strecke weit den Berg hinab. Endlich kamen

wir atemlos vor der russischen Stellung an. Einzelne

Russen woJlten sich noch wehrcn und wurden

mit den Bajonetten niedergestochen. Die anderen

hielten ängstlich die Hände in die Höhc oder flohen

rückwarts den Berg hinunter. Die russische Stellung

war nicht stark besetzt gewesen, denn vicie Russen

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waren in den Unterstanden, die sich am Abhang

hinter ihrer Stellung befanden, mit dem Kochen

ihres Frühscks beschaftigt gewesen. Wir gingen

nun bis an den Rand des Berges vor und sahen, daf

den Abhang hinunter alles von Russen wimmelte,

die abwärts flohen. Sie wurden nun massenweise

niedergeschossen. Da der Nordabhang des Berges

ganz kahl war, fanden sie nirgends Deckung. Dieses

Morden war schrecklich anzusehen. Nul' wenigeerreichten

lebend den Fuf des Berges. Manche rollten

300 bis 400 m tief den Berg hinab. An verschiedenen

Stellen lag noch eine Menge Schnee, der vom Winde

zusammengeweht worden war. Die Russen sanken

darin ein bis zum Leib und wurden am schnellen

Fortkommen gehindert, so daßfast aile totgeschossen

und verwundet wurden.

Nun fingen wir an, die Unterstände nach Lebensmitteln

abzusuchen. Ich schob ein Zelt zur Seite, das

vor dem Eingang eines Unterstandes hing, und ging

hinein, prallte aber gleich zurück, denn darin standen

8 Russen, die nicht den Mut hatten zu fliehen.

Sie hielten gleich die Hände hoch. Zwei von ihnen

woIlten mir ihr Geld geben, damit ich ihnen nichts

tue. ln Wirklichkeit war ich froh, daßsie mir nichts

taten. Ich gab ihnen zu verstehen, daßsie hinausgehen

soIlten. Sie wurden von anderen Soldaten in

Empfang genommen und auf den Gipfel des Berges

geführt, wo schon einige hundert Gefangene beisam

men waren. Ich war wahrscheinlich in den Lebensmittelunterstand

einer russischen Kompanie

geraten, denn darin lag ein machtiges Stück Rindfleisch,

eine Seite geraucherter Speck, mehrere Ballen

Butter und eine Menge Zuckerbrötchen in runden

Rollen. Schnell steckte ich Brotbeutel und aIle

Taschen voll Brötchen, schnitt mit meinemTaschenmesser

die Speckseite entzwei und schnaIlte

ein mächtiges Stück unter meinen Tornisterdeckel,

so daßauf beiden Seiten die Enden heraussahen.

Dann schnallte ich mein Kochgeschirr los und

stopfte dasselbe voll Butter. Zum Schluf nahm ich

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noch einige Handvoll Zucker aus einem Sack und

llte damitjedes leere Plätzchen in meinen Taschen

aus. Inzwischen waren noch andere Soldaten in den

Unterstand gekommen, und in wenigen Minuten

war er ausgeräumt. Viele Soldaten hatten nur Brot

und sons tige Kleinigkeiten gefunden. AIs sie meinen

Speck zu beiden Seiten des Tornisters herausragen

sahen, nahmen mehrere ihre Taschenmesser und

schnitten Stücke davon ab. Bald blieb mir nur das

Stück, das unterm Tornisterdeckel war. Es waren

immer noch 10 Pfund, und ich gab einem guten

Kameraden von mir, [... ] Hubert Weiland, der vor

dem Krieg Theologie studiert hatte, ein schönes

Stück ab, ebenso noch kleinere Stücke mehreren

elsässischen Kameraden.

Nun kam der Befehl, alles solle sich auf dem Gipfel

des Berges sammeln. Die Verwundeten, die inzwischen

verbunden worden waren, Deutsche und

Russen, wurden nun auf Zelte gelegt und von den

gefangenen Russen nach Orawa hinuntergetragen.

Eine Abteilung Russen mußte uns helfen, große Löcher

auszuheben; darin wurden die Gefallenen, die

beim Sturm, sowie die, die schon früher ums Leben

gekommenen waren, begraben. Letztere hatten bereits

ein schreckliches Aussehen. Man mußte seinen

ganzen Mut zusammennehmen, um sie herbeitragen

zu helfen.

Wir blieben nun in der russischen Stellung. ln der

Nacht setzte wieder heftiges Schneegestöber ein,

und am Morgen waren Berge, Schluchten und Wälder

wieder in eine weiße Decke gehüllt. Vor uns

befanden sich zwei Berge in Form von Häusern, mit

der Schmalseite gegen uns. Durch die dazwischen

liegende Schlucht sah man in einem Tälchen wieder

einige der armseligen Hütten stehen und im Hintergrund

noch 3 bis 4 Berggipfel, einer höher aIs der

andere. Es wurden nun Patrouillen auf die uns gegenüber

liegenden Berge geschickt, um festzustellen,

ob dieselben von den Russen geraumt seien.

Bald winkten sie von drüben zum Zeichen, daß die

                                    105

Russen weg waren.Wir kletterten nun den Nordabhang

des Zwinin hinunter; wo man hinschaute, lagen

tote Russen. Eingeschneit am Fu Be einer Mulde,

lagen etwa 12 Stück übereinander, die die steile

Mulde hinuntergerollt waren. lm Bach am Fuße des

Berges lagen eine Menge tot im Wasser, mehrere

lehnten noch am Rand. Es war ein trauriges Bild. Die

Russen waren gegen die Kälte viel besser ausgerüstet

als wir. Sie trugen dicke wollene Mäntel mit Kapuze,

auf dem Kopf hohe Pelzmützen, ihre Füfie staken

meist in Filzstiefeln, und ihre Hosen und Westen

waren mit Watte gefüttert.

Wir gingen nun in der Schlucht zwischen den beiden

Bergen vor und warteten die Nacht ab. Bei

Anbruch der Dunkelheit bestiegen wir den rechts

liegenden Berg und hoben in halber Hohe einen

Schützengraben aus. Es war eine kalte Nacht. Ein

Kamerad von mir namens Brüning aus Mühlhausen,

Familienvater, dem es auch sehr verleidet war,

verlangte von mir, ich solle ihm mit dem Kopf meines

Beiles eine Kugel in die Hand schlagen. Er wollte

die Hand auf einen Baumstumpf legen. lch sagte

ihm, daß ich es nicht fertigbrachte. Am Morgen, als

die Sonne aufstieg und wir weit und breit nichts von

den Russen sahen, setzten wir uns hinter den Graben

auf die Tornister, und jeder aû, was er hatte. Plotzlich

ein Sausen durch die Luft und im gleichen Moment

ein furchtbarer Krach. Erde, Schnee, Rauch,

alles wirbelte durcheinander. Eine große russische

Granate hatte kaum 5 m vor unserem Graben eingeschlagen.

Schnell sprangen wir alle in den Graben.

Schon kam die zweite. Sie schlug unter einem MG

ein und schleuderte es hoch in die Luft. Zwei Mann

wurden getatet. Die dritte Granate explodierte dicht

hinter dem Graben, die vierte mitten darin, etwa 7 m

neben mir. Nun war es mir zu bunt. lch sprang aus

dem Graben und lief am Abhang entlang in ein

niedriges Cehölz, das hauptsächlich aus Haselstauden

bestand. Bald war niemand mehr im Graben aIs

die Getroffenen. Nach einer Weile hörte das Schie-

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Ben auf. Wir gingen nun vorsichtig in den Graben

zurück, um nach den Verwundeten zu sehen. Bald

brachten 2 Mann den Brüning; bleich wie der Tod

wankte er daher, streckte die Arme von sich und

rang nach Atem. Verletzungen konnte man keine an

ihm sehen. Plotzlich schof ihm Blut aus dem Mund

und aus der Nase. Er stürzte hin, und nach einigen

Zuckungen war cr tot. Durch den Luftdruck der

neben ihm platzenden Granate war ihm die Lunge

geplatzt. Sieben Tote lagen noch im Graben, mehrere

bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Wir legten aile

in eines der groHen Granatl6cher und deckten sie

mit Erde zu. Dann befestigten wir mit Weiden zwei

Stäbe in Form eines Kreuzes und steckten dasselbe

auf das Grab.

[… ] ln der dritten Nacht verlieBen wir den Berg,

überschritten ein schmales 'TaI und gruben uns jenseits

des Tales ein. Die Russen lagen uns gegenüber

auf einem langgestreckten Berg, der höher war aIs

der unsrige. Am Tage mußten wir standig sitzen

oder liegen, da die Russen von oben in unseren

Graben hineinschießen konnten. Der Abhang vor

uns war mit mannshohem Gebüsch bedeckt. Eines

Abends beim Dunkelwerden stand ich Posten, paßte

aber nicht auf und plauderte mit den Kameraden.

Plotzlich stand ein Russe vor uns auf dem Grabenrand,

das Gewehr in der Hand. lch glaubte, es kamen

noch viele, und schlug mein Gewehr gegen ihn

an. Da hielt er die Hände in die Höhe und sprang in

den Graben zu uns. Es war ein Überläufer, der wohl

schon genug hatte am Krieg. Wir gaben ihm Zigaretten.

Wie glücklich der Mensch war, mm sein Leben

in Sicherheit gebracht zu haben! [… ]

Am 2. Mai horten wir ganz in der Ferne das

dumpfe Grollen der Geschütze. Es war der Durchbruch

der deutschen Armee durch die russische

Stellung bei Corlice-Tarnow. Am 4. Mai hatte ich

Geburtstag, ich war nun 22 Jahre aIt. Nachmittags

fing der Russe mit Schrapnells unseren Graben zu

beschießen an. Wir hatten Bretter über den Graben

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gelegt und oben mit Erde bedeckt, um uns gegen die

Schrapnells LU schützen. Wir standen zu 5 Mann

darunter. Plötzlich ein Sausen, ein Blitz, ein Knall,

ich erhielt einen Schlag auf den Kopf und war besinn

ungslos. Ais ich wieder zu mir karn, drehte sich :llles

im Kreise. Ich lag halb mit Bretterstücken und Erde

zugedeckt im Graben. Aufdem Kopfe hatte ich eine

mach tige Beule, und im Gesicht untel' dem reehten

Auge hatte ich die Haut abgeschürft. Einer der vier

Kameraden Iag tot im Graben. Ein anderer lehnte

sitzend an der Grabenwand, hing den Kopf vornüber

und stöhnte leise. Beim Zusehen bernerkte ieh,

daI:\ el' ein Sprengstück in den Rücken erhalten

hatte. Ich schrie nach den Sanitätern, aber niemand

kam, denn jeder duckte sich in irgendeine Ecke im

Graben. AIs ich mich nach einer Weile wieder naeh

ihm umsah, war el' tot. Von den beiden anderen sah

ich keine Spur; wahrscheinlich waren sie weggelaufen.

Später erfuhr ich, daßmein guter Kamerad

Weiland, der eine Brille trug, leicht verwundet worden

war. Die Brillengläser, von Erdschollen zertrümmert,

staken ihm unterhalb der Augen im Gesicht.

Wir bekamen dort sehr wenig Verpflegung, und

da meine Beute vom Zwinin langst aufgezehrt war,

litt ich wie aIle anderen schweren Hunger. Eines

Tages wurden wir etwa 10 Mann ~urück nach d:m

Zwinin geschickt, um von den russischen Unterstanden

Bretter zu holen; damit soIlten wir unserem

Kornpanieführer einen Unterstand bauen. Am Zwinin

angekommen, sahen wir, daJ3 die Russen noch

unbeerdigt umherlagen. Ihre Kopfe waren schwarz

und ganz dick, der ganze Korper überhaupt derart

aufgedunsen, daßdie Uniform prall ausgefüllt war.

Wir suchten nun nach etwas EGbarem. Ich sah

meine Kameraden Brotkrusten, die im Dreck lagen,

auflesen sie im Ouellwasser waschen und essen. Vor

mir lag ~in Rus~ auf dem Rücken, den Ruck.sack

hatte el' noch aufgeschnallt. Ich sah, daßel' emen

Brustschuf erhalten hatte. Ich schnitt nun mit einem

Taschenmesser die Riemen durch, zog den Rucksack

108

unter ihm hervor, scnitt ihn auf und fand ein

Säckchen Zucker und ein großes Stüek Brot. Jedoch

war sein Blut durch den Rueksack und das Brot

gesickert. Aber mein Hunger war ~lerart, daß ich das

mit Blut besudelte Stüek wegschnitt und das andere

ali. Wir suehten dann noch weiter, Emden aber

nichts mehr. Wir nahmen jecler ein Brett und gingen

zurück zu unserer Kompanie. Wie wir clann erfuhren,

sind am Zwinin im ganzen 12000 Mann auf

deutscher Seite gefallen.

            BEGINN DER GROSSEN OFFENSIVE

                   IM MAI 1915

Am 5. Mai 1915 verlieGen wir unsere Stellung und

marschierten in einem kleinen Tale hinter der Front

entlang nach Osten. Dort wimmelte alles von friseh

angekommenen osterreichischen Truppen. Es hieû,

daßdort die russische Front durchbrochen werden

müûte. Die Russen hatten ihre Stellung hier ebenfalls

dern Karnm eines Berges entlang. Uns graute

var dern Angriff, cloch cliesmal hatten wir mehl'

Glück; wir blieben in Reserve. Wir lagen in Deckung

gegen Sieht in einem Tannenwaldchen. A~ 7: Mai

morgens ging der Tanz los. Einige osrerreichische

Gebirgsbatterien beschossen die russische Stellun?

Bald ging die deutsch-osterreichische 1nfante~le

zum Sturm vor. Furchtbar prasselte das Infanterieund

Maschinengewehrfeuer. Dazwischen hörte man

das Krachen cl~r Schrapnells und Granaten. Wir

konnten dern Verlauf des Karnpfes zusehen. Wir

sahen, dafi viele Getroffene hinter den emporkletternden

Deutschen und Osterreichern liegenblieben.

Trorzdern erreichten sie den Gipfel, und bald

wurden groHe Kolonnen russischer Gefangener den

Berg hinabgeführt. Aber der Karnpf dauerte fort,

ein Zeichen, daßauf derjenseitigen Seite des Berges

die Russen noch Widerstand leisteten.

            lO9

Nun hießes: »Antreten, vor rùckenl- Wir sam melten

uns am Walclrand; plotzlich schlug eine russische

schwcre Granate rnitten in den Haufen Soldaten

und tötete und vcrwundete über 40 Mann. Vor

Sehrecken liefen wir aile auseinan der. Es kamen

noch mehr Granaten, sie flogen aber aile über uns

hinweg. Wir muûten uns aufs neue sammeln und

kletterten nun den Berg hinauf; zwischen der deutsehen

Stellung und clem Gipfel lagen eine Menge

Toter und Verwundeter von unserer Seite. Die Verwundeten

baten mu Hilfe. Wir muliten aber weiter.

Deutsche Sanitater und Arzte waren mit Hilfe russiseher

Gefangener bemüht, die Verwundeten zu verbinden

und wegzuschaffen.

ln der russischen Stellung lagen eine Menge toter

Russen, die fast aile Stichwunden hatten. Am hinteren

Bergabhang lagen überall zerstreut ebenfalls gefallene

Russen, dazwischen auch einige Deutsche.

An einer Stelle sah ich eine vollstandige russische

Schützenlinie tot liegen. Manche hatten noch den

Spaten in der Hand, um sich einzugraben, andere

lagen da, das Gewehr noch im Anschlag. Sie waren

wahrseheinlich mit einem MG niedergemäht, Die

Russen hatten hinter ihrer Stellung eine richtige

Schweinerei, nirgends sah man eine Latrine. Daher

konnte man kaum passieren, ohne in Menschenkot

zu treten.

Wir erreichten die zu verfolgenden Truppen erst

auf der Höhe des nachsten Berges. Die Russen hatten

dort auch eine starke Reservestellung gebaut,

aber keine Zeit mehr, Widerstand zu leisten. Nun

ging die Verfolgung los. Den ganzen Tag ging's

bergauf, bergab hinter den Russen her. Irnrner wieder

kamen einzeln oder in kleinen Gruppen die Russen

freiwillig zu uns, urn sich zu ergeben. Die hatten

wohl auch übersatt an dem Kriege.

Da es heiû war, loschten wir unseren Durst am

klaren Quellwasser, von dem es eine Menge gab. Mit

dern Essen war es mau, denn jeder harre nur ctwa

1Pfund Konservenfleisch und 1Sackchen Zwieback

               110

d. h. die eiserne Portion. Sie darf nur auf Befehl des

Kompanieführers angegriffen werden. Hungrig

verbrachten wir die Nacht oben auf einern Berge.

Bei Tagesanbruch ging es wieder weiter. Vorher

durften wir die halbe Büchse Fleisch essen und

einige Zwieback.

Gegen Mittag wurden etwa :20 Mann, darunter

auch ich, auf den vor uns liegenden Berg geschiekt,

um Umschau zu halten. Kaurn hatten die ersten die

Bergspitze err eicht, ais sie sofort zu schieûen begannen

und uns zuriefen, schnell heraufzukommen.

Von dern Berggipfel sah ich eine tiefe Schlucht unter

uns. Sie wimrnelte von Russen, die sich auf dem

Rückzug befanden. Wir sehossen nun hinunter, was

'lUS den Gewehren ging, und mehrere Russen stürzten

zu Boden. Dann warfen aile die Gewehre weg

und hielten die Hände in die Hohe. Da wir unsere

Schwàche nicht zeigen wollten, blieben wir gedeckt

liegen und erwarteten die Ankunft des Bataillons.

Die Russen muûten sich nun sammeln und wurd en

zurückgeführt. Es waren über 700 Mann. [… ] Das

Cebirge war hier sehr wild und zerrissen. Nirgends

Weg und Steg, noch weniger eine menschliche WohlIung.

Unaufhaltsam ging es weiter. lnfolge des beschwerlichen

Bergauf- und Bergabsteigens und des

Mangels an Lebensmitteln wurden wir sehr müde

und schlapp, aber trotzdern ging es weiter bis zum

Anbruch der Nacht. Nun afien wir den Rest unserer

l.ebensmittel und schliefen im Walde.

Am nächsten Morgen ging es mit hungrigem Magcn

wieder vorwärts; wir kletterten einen Bergabhang

hinab, ais wir plötzlich von dern uns gegenüber

Iicgenden Berge starkes Infanteriefeuer bekarnen.

I,um Glück gab es bei uns mehrere gro[.)e Felsen,

hinter denen wir Deckung fanden. Es war wohl die

russische Naehhut, die den Rückzug ihrer Armee

decken sollte. Balel knallten zahlreiche Schüsse, die

von deutschen Abteilungen karnen, und die Russen

/Ogen sich zurück. Nachdem wir mm den Berg, auf

rlcrn die Russen vorher lagen, erstiegen hatten, er-

                                    111

blickten wir zu unserer angenehmen Überraschung

ein schönes TaI. [… ] ln der Ferne konnte man die

abziehenden Russen mit bloBem Auge sehen. Die

Straße war, so weit man sehen konnte, mit ihren

Kolonnen bedeckt. Wir stiegen nun in das Tai hinunter,

und der Straße folgend, kamen wir bald in das

Städtchen Skole. Da wir durch den Hunger sehr

geplagt waren, ging es auf die Suche nach Lebensmitteln.

Bald wurde eine Quelle entdeckt. Am Stra

Benrand standen zwei Baracken, die mit russischem

Brot und Lachsfischen angefüllt waren. Sie wurden

nun im Sturm genommen. An den Eingängen gab es

ein unglaubliches Cedränge. Bald sah man überall

Soldaten umhersitzen und -liegen, mit einem Großen

Stück Fisch und einem russischen Brot, tapfer

draufloskauend. Wir verbrachten die nächste Nacht

in Skole. [… ] Beim Weitermarschieren am nächsten

Morgen kamen wir bald zu Hindernissen. Die Russen

hatten am Abhang mach tige Tannen abgesagt

und quer über die Straße geworfen. Sie mußten von

uns weggeraumt werden.

Infolge der ungleichmäfiigen Verpflegung litt ich,

wie viele andere, an starkem Durchfall. Die Disziplin

bei den Ostpreuûen war trotz der Strapazen und des

Elends derart groB, daßman je des mal auf dem Marsche

die Vorgesetzten fragen mulite, um austreten

zu dürfen. lch fragte meinen Zugführer, Unteroffizier

Will, um die Erlaubnis. Da er mich immer noch

hte, schickte er mich zum Kompanieführer, ich

solle denselben fragen gehen. Dieser aber ritt an der

Spitze des Bataillons. Ich fragte nun nochmalsUnteroffizier

Will um die Erlaubnis. Und da es mir

unrnöglich war, langer zu warren, ging ich aus der

Kolonie, legte Tornister, Gewehr und Koppelzug

auf den Straûenrand und begab mich in das neben

der Straße stehende Cebüsch. ln demselben Moment

hief es für die Kolonne hait, da vorne wieder

Hindernisse auf der Straûe waren. Unser Kornpanieführer,

ein schrecklich grober Mensch, kam nun

von vorne zu seiner Kompanie geritten, und als er

                                    112

meine Sachen am Stralienrand liegen sah, schnarrte

er: »Wern gehoren die Sachen hier?" Ich schrie aus

dem Gesch: »Mir, Musketier Richertl  »Nun

kommen Sie mal her!« schrie er. Ich brachte meine

Kleider in Ordnung, ging hin und stand still vor ihm.

»Haben Sie um die Erlaubnis gefragt, austreten zu

dürfen?«  »Jawohl, den Unteroffizier Will«, gab ich

zur Antwort. Unteroffizier Will, kommen Sie mal

her l« sagte der Oberleutnant. »Hat dieser Mann Sie

um Erlaubnis gefragt, austreten zu dürfen?« Der

Unteroffizier Will, der hier eine Gelegenheit sah,

mir eins auszuwischen, log nun: »Nein, HerrOberleutnant!

«  "Sie frecher, gemeiner Lürnmel!«

brüllte mich nun der Oberleutnant an. »Ich bestrafe

S~e mit 5 Tagen strengem Arrest wegen Begens

emes Vorgesetztenl« Ich wollte nun dem Oberleutnant

melden, daf es mindestens 20 Mann geh6rt

haben müssen, ais ich Unteroffizier Will um Erlaubnis

fragte. Kaum tat ich den Mund auf, ais er schon

den Arm mit der Reitpeitsche erhob und schrie:

»Wollen Sie die Schnauze halten!« Ich platzte fast

vor Wut, war aber vollständig machtlos. Das war die

e:ste Strafe, die ich nun in meiner damais bald 2jahngen

Militärdienstzeit erhielt. Ich war mehrere

T~ge derart aufgebracht, daßich nur mit gröûtern

Widerwillen meinen Dienst versah.

Da keine Zeit um Absitzen, auch keine Arrestlokale

vorhanden waren, wurden die Bestraften mit

Stricken irgendwo an einen Baum oder ein Wagenrad

gebunden. Zwei Stunden Angebundensein

loschte jedesmal einen Tag Arrest aus. Aiso soUte ich

10 Stunden angebunden werden [eine damais in

allen europaischen Armeen übliche Militarstrafe].

Eine schöne Aussicht, zurnal wenn ich daran dachte

was ich alles schon für diese Preußen ausstehen und

durchmachen mubte. Einen Großen Trost brachte

mir ein Brief aus der Heimat mit der Mitteilung daf

es meinen Lieben gutgehe, alles gesund sei und sie

trotz der Nähe der Front zu Hause bleiben könnten.

Beim Weitervormarschieren kamen wir zum Ge-

                                    113

birge hinaus und sahen vor uns die weite galizisehe

Ebene. Alles grünte und blühte, und wir waren sehr

froh, endlich das schreckliche Gebirge hinter uns zu

haben. Über die weite Ebene blickend, dachte wohl

jeder, ob er wohl dort irgendwo sein Grab finden

würde. Leider wurde dies r die rneisten der FaU.

Wir passierten mehrere Dörfer, ohne auf Russen zu

stolien. Die Bauart der Hauser war etwas besser als in

den Karpaten. Die Bauern liefen auch hier mit dem

Hemd über der Hose herum, und die Weibsleute

waren auch hier unsauber. Mit verwunderten Blikken

sahen sie uns an, denn wir waren wahl die ersten

Deutschen, die sie zu sehen bekamen. Sprechen

konnten wir mit ihnen kein Won, da sie dort polnisch

sprechen. Einmal ging ich in ein Haus, um Eier

zu kaufen. Ich zeigte der Frau 6 Finger und gackene

wie ein Huhn. [… ] Alles half nichts, sie wollte mich

einfach nicht verstehen. Ais letztes Mittel zeigte ich

mein Portefeuille, aus welchem ich einen Geldsehein

zog. Das half. Die Frau langte einen Korb aus der

Ecke und gab mir 6 Eier. Sie verlangte »1 Kuronna «,

daßheiût 1 öster reichische Krone, die den Wert von

80 Pfennig hatte. Ich gab ihr 1 Mark. Ich bekam

noch 2 Eier mehr, anstelle der 20 Pfennig.

Am folgenden Tage hörten wir links von uns dauernd

Kanonendonner, woraus wir erkannten, daf

die Russen unseren Vormarsch aufhalten wollten.

Machtige Rauchwolken stiegen in die Hohe, Dorfer

brannten. Des Nachts war der Himmel über jener

Gegend blutig rot. Am folgenden Tage ging es wieder

weiter. Wir waren ganz kaputt yom vielen Laufen

und sehnten uns nach einem Ruhetag. Auf einmal

knallten vor uns Scsse. Eine Kavalleriepatrouille

kam zurückgesprengt mit der Meldung, daf

sie auf kleinere russische Abteilungen gestoHen sei.

Nun schien es bald wieder ernst zu werden. Wir etwa

20 Mann wurden mit einem Leutnant vorgeschickt,

um den vor uns liegenden Wald abzusuchen. Wir

fanden jedoch keinen einzigen Russen. Yom jenseitigen

Waldrand sahen wir ein Dorf. Mehrere Häuser

                                114

waren mit Ziegeln bedeckt, andere mit Blech und

Schindeln. Am Waldrand entlang zog sich eine

Schlucht von etwa nur 5 m Tiefe. Wir legten uns an

den Rand der Schlucht und beobachteten das Dorf.

Aber nirgends war ein Russe zu sehen. Auf einmal

kam ein Russe in gestrecktem Galopp um eine Biegung

der Schlucht gesprengt. Wir schlugen sofort

die Gewehre auf ihn an. Er warf die Lanze weg, hielt

beide Hande hoch, und ohne die Zügel zu halten,

sprengte er zu uns. Dann schwang er ein Bein über

den Hals des Pferdes, sprang herunter und ergab

sich. Wir muûten aile staunen über diesesReiterkunstsck.

Wir deuteten dem Russen, bei uns zu

bleiben, und er schien recht zufrieden damit.

Da kam ein Bauer aus dem Dorfe, der auf dem

Felde arbeiten wollte. Wir riefen: »Panje, Moskali?«

Das hießungefahr: »He rr, sind noch Russen dort?«

Der Mann antwortete auf gut deutsch: »Nein, vor

einer halben Stunde sind die letzten weg.« Er erzählte

uns, d letzte Nacht das Dorf voller Russen

gewesen sei, und soviel er verstehen konnte, wollten

sie sich in der Gegend verteidigen. Für uns war das

kein angenehmer Bericht. Das Dorf hief Bergersdorf

und war nur von Deutschen bewohnt. Nachdem

der Leutnant einige Mann mit der Meldung

zum Bataillon geschickt hatte, begaben wir uns ins

Dorf, freudig begrüHt von der Einwohnerschaft. Da

wir alle sehr heruntergekommen waren und ein

schlechtes Aussehen hatten, bedauerten uns die

Leute und gaben uns zu essen: Milch, Brot und was

sie sonst hatten. Nach der Ankunft des Bataillons

muûten wir jenseits des Dorfes einen Schützengraben

bauen, mitten durch ein Kartoffel feld. Die Bewohner

des Dorfes schlachteten nun auf Gemeindekosten

ein Schwein, kochten Sauerkraut und Kartoffeln

dazu und brachten uns dieses Essen in den Graben.

Wie das schmeckte! Das war wieder einmal etwas

anderes aIs das ewige Einerlei der Feldküche.

»Morgen ist Ruhetag!- hief es.

Wir schliefen in einer Scheune. Am Morgen

                                115

brachten uns die beiden Töchter des Hausbesitzers

gekochte Milch. Es waren zwei hübsche, sehr

freundliche Madchen, und ich unterhielt mich tagsüber

oft mit ihnen. Am Nachmittag kam ein Unteroffizier

zu mir und sagte, ich solle in einer halben

Stunde an den im Hofe stehenden Apfelbaum gebunden

werden. Den Strick müsse ich selber besorgen.

Ich hätte vor Wut die ganze Welt zertrümmern

können. Nach etwa einer halben Stunde nahm ich

meinen Gewehrwischstrick [Kettenschnur zum Reinigen

des Gewehrlaufs] aus meinem Tornister und

wollte mich damit bei dem Unteroffizier melden. Da

liefen die Kompaniemelder im Dorfe umher und

riefen: »Sofort alles fertigmachen, es geht weiter!«

Obwohl wir ahnten, daß es nun bald zu einem Zusammenstof

mit den Russen kommen würde, war

ich doch wie erlöst, diesmal noch von der Schande

des Anbindens losgekommen zu sein.

Wir marschierten einige Kilometer durch einen

Wald bis an den jenseitigen Waldrand. Dort übernachteten

wir. ln der Nacht hörten wir vor uns dauernd

Infanteriefeuer. Einzelne Kugeln kamen bis zu

uns geflogen. Es war eine sehr schone, laue Mainacht,

und das Schlafen im Freien war gar nicht so

übel. Gegen Morgen mußten wir vorgehen und kamen

durch ein großes, ganz mit Heidekraut bewachsenes

Celände. Dort hatten österreichische Tru ppen

einen Graben aufgeworfen, den wir nun besetzten.

Bei Tagesanbruch sah ich, daß vor uns in etwa 800 m

Entfernung ein mit jungen Tannen bewachsener

Wald lag, der im Halbkreis die Heide einsaurnte.

Rechts von uns knatterte plotzlich starkes Infanteriefeuer.

Dort war bereits ein Gefecht im Gange. Wir

blieben tagsüber ruhig im Graben liegen. Am Abend

lief der Kornpanieführer die Unteroffiziere zu sich

kommen und sagte ihnen, daßeine Patrouille von

2 Mann – wenn möglich aktive Leute, die bis jetzt

den ganzen Feldzug mitgemacht hatten – nach

vorne gehen müsse, um auszukundschaften, wo sich

die Stellung der Russen befinde. Mein Unteroffizier

                                        116

meldete, daß sich ein solcher Mann in seiner Gruppe

befinde. So wurden ich und ein Badenser namens

Brenneisen vorgeschickt. Wir gingen an den vorne

liegenden Horchposten vorbei, und ich fragte, ob sie

das Losungswort wüHten, nicht daßsie bei unserem

Zurückkommen auf uns schießen. [… ] Wir schlichen

mm vorsichtig weiter, legten uns wieder hin

und lauschten in die Nacht hinaus. So ging es langsam

weiter und weiter. Um die Richtung festzustelien,

lutte ich einen Kompaß mit leuchtender Spitze

bei mir. Brenneisen wollte noch weiter vor, ich

zwang ihn aber, sich ne ben mich ins Heidekraut zu

legen, und sagte: »Mensch, bedenke doch, daß du

cine Mutter hast. Was kannst du hier vorne finden?

1Iöchstens den Tod!« Er antwortete leise: »Aber wir

müssen doch die Meldung bringen, wo die Russen

licgen!« – »LaS mieh nur machen. Für eine Meldung

werde ich schon sorgen.« Dann blieben wir ruhig

licgen. Plotzlich hörten wir links von uns das Heidehaut

rascheln und gleich darauf ein leises Flüstern.

Wir brachten leise unsere Gewehre in Anschlag, und

irh raunte Brenneisen ins Ohr, wenn möglich nieht

1.\1 schießen. Da tauchten 8 Russen neben uns auf.

Vorsichtig spahend gingen sie kaum 20 Schritt vor

IIIIS vorüber, sahen uns aber nicht. Wir hielten den

Atem an, aber das Herzklopfen konnten wir nicht

Iwschwichtigen. Ruhig liegenbleibend lauschten wir

ill die Naeht hinaus. Da hörten wir deutlieh in dem

Walde Klopfen, dann den Sehall von Àxten. Es war

111111 kein Zweifel mehr, die Russen bauten am Waldr.

md vor ihrer Stellung ein Drahthindernis. [… ]

Vorsichtig gingen wir nach etwa 2 Stunden zurüc.

k. Bald schallte uns das »Haltl Wer da?« der

Ilorehposten entgegen. Wir sagten >,Helene« und

konnten passieren. lm Graben angekommen, gingCI!

wir gleich zum Kompanieführer, der in einer

Vcke lag und schlief. Ich weckte ihn und meldete:

..Patrouille zurück l- Er stand auf und fragte: »Nun,

W;IS gibt's Neues vorne?« Ich erzählte ihm nun: »Wir

srhlichen bis an den vor uns liegenden Waldrand

                                    117

var. Wir stießen beinahe mit einer 8 Mann starken

russischen Patrouille zusamrnen, die uns aber nicht

bemerkte. Wir legten uns hin und hor ten, wie die

Russen Baume fällten, Pfahle spitzten und in den

Boden schlugen. Auch hörten wir Drahtrollen knirschen,

zum Zeiehen, daßdie Russen vor ihrer Stellung

ein Drahthindernis bauten. Wir schliehen 50

nahe an die Russen heran, daß wir sie gut sprechen

hörten. lm Zurüekgehen schritt ich die Entfernung

ab, welche von unserer Stellung bis an den Waldrand

ungefahr 800 m betragt.« Mit dem letzten Teil der

Meldung belog ich den Kompanieführer in der

Hoffnung, daßer mir die 5 Tage Arrest schenke. AIs

ich gemeldet hatte, klopfte er uns beiden auf die

Sehultern und sagte: »Sie haben die Patrouille

schneidig ausgeführt. lch bin mit Ihnen sehr zufrieden.

Wie heißen Siei'. Wir nannten unsere Narnen.

»Richert? Riehert? Sind Sie nicht der Mann, den ich

mit 5 Tagen strengem Arrest bestrafte '  »[awohl,

Herr Oberleutnant«, gab ich zur Antwort, »So «,

sagte er, »für die schneidige Ausführung der Patrouille

ist Ihnen die Strafe geschenkt. Andernfalls

hatten Sie das Eiserne Kreuz erhaltenl Ich hatte

erreieht, was ieh wollte, und mit dem Angebundenwerden

war's vorbei. Der Oberleutnant ließgleich in

der Nacht die Gruppenführer zu sich kommen und

gab ihnen den Befehl, sämtlichen Soldaten der

Kompanie bekanntzugeben, mit welcher Bravour

ich und Brenneisen die Patrouille ausgeführt hatten.

Von jener Naeht an konnte mieh der Oberleutnant

gut leiden. Sonst war er ein ganz gefahrlicher, grober

Mensch und in der Kompanie sehr gefürchtet.

Einmal sah ieh, wie er einem Soldaten, einem älteren

Mann, ins Gesieht schlug, daßer aus der Nase blutete.

Ein anderes Mal hörte ich, wie er Verwundete,

die vor Schmerzen jammerten, » Kindskopfe« und

»feige Memmen« schimpfte.

Gegen Morgen verlielien wir den Graben, gingen

nach rechts über die Heide dem Walde zu. Gleich am

Waldrand befand sich ein Forsthaus, bestehend aus

                                        118

Wohnhaus und Stallung. Bei dem Haus und in dessen

Nähe lagen viele deutsche Soldaten, die tags

zuvor bei einem Zusammenstoû mit den Russen gefallen

waren. Wir blieben den ganzen Tag im Walde

liegen. Eine 6 Mann starke russische Patrouille lief

aufuns zu und muhte sich gefangen geben. Es waren

starke Kerle, wahrscheinlich aus Südostsibirien,

denn sie waren gelbbraun im Gesicht, hatten etwas

schiefliegende Augen und hervorstehende Backenknochen

(mongolische Rasse).

 

                            26.MA11915

Dm Mitternacht kam der Befehl, leise im Walde

vorzurücken, bis wir Feuer kriegten. Dann hinlegen

und eingraben. Die Nacht war dunkel, und manchmal

stießman an Baume. AIs wir 50 etwa 300 m

zurückgelegt hatten, blitzte es kurz VOl' uns auf, und

es knallten uns Schüsse entgegen. Wir legten uns

hin, bildeten so ungefahr Linien und gruben uns

ein. Es war keine leichte Arbeit bei der stockfinsteren

Nacht, in dem mit Wurzeln durchzogenen Boden.

Schlieûlich brachte ich ein Loch zustande, legte mich

hinein und schlief. Es war immer ein unangenehmes

Gefühl, so in einem grabahnlichen, kühlen Loch zu

liegen, besonders da man immer den Tod zu erwarten

hatte.

AIs ich erwachte, war es bereits heller Tag. Da kam

ein Befehl, der mich immer mit Grauen erfüllte:

»Fertigmachen, Seitengewehr aufpflanzen, vorwärts!

« [... ] Mit Hangen und Bangen ging's nun

vorwärts, Vorsichtig spähten wir nach vorne, konnten

aber nichts entdecken. Da kamen wir an Draht,

der nur von Baum zu Baum gezogen war. Wir korinten

leicht hinüberkommen. Der Wald bestand hier

hauptsächlich aus Großen Buchen und Eichen, der

Boden war mit niedrigem Brombeergebüsch bedeckt.

Sosehr ich au ch nach vorne spähte, ich konnte

                                    119

von einer russischen Stellung nichts sehen. Plotzlich

krachte kaum 50 m vor uns eine Salve. Maschinengewehre

rasselten, kurz, es war ein ununterbrochenes

Knallen. Die Wirkung dieses Feuers war infolge der

kurzen Entfernung furchtbar. Gleich die erste Salve

streckte etwa die Hälfe von uns tot oder verwundet

zu Boden. Die Unversehrten warfen sich ebenfalls

hin, und jeder suchte sich sa schnell wie moglich

einzugraben. Aber viele wurden bei dieser Arbeit

getroffen. Dann lag fast alles still, und die Russen

hörten so ziemlich auf mit SchieI3en. Das Jammern

und Stöhnen der armen Verwundeten war schrecklich

anzuhören. Ich hatte mich ebenfalls bei der ersten

Salve sofort zu Boden geworfen und war hinter

den machtigen Stamm einer Eiche gekrochen. Ein

Badenser, der etwa 3 m seitwärts von mir lag, bekam

einen Schußschräg durch die linke Wange. Er kroch

zu mir hinter die Eiche, stand auf, nahm den Taschenspiegel

und besah sich seine Wunde. »Es ist

nicht schlimrn«, sagte er zu mir, »ein Heimatschuû.«

So nannten wir die leichten Verwundungen. Auf

einmal blickte er starr vor sich, warf die Hände in die

Höhe, wankte. Das Blut schoßihm zu Mund und

Nase hinaus, und er stürzte auf den Rücken quer

über mich, mich mit seinem Blut ganz bespritzend.

Ich rollte ihn von mir hinunter; ob er noch einen

Schußerhalten hatte oder infolge der Verwundung

im Gesicht gefallen war, konnte ich nicht feststellen,

da ich mich fast nicht zu rühren wagte. Es fiel mir

auf, daßmehrere Kugeln von der Seite knapp über

mich zischten. Ich hob ein wenig den Kopf und sah,

daß die russische Stellung schräg lief. Ich konnte

nun feststellen, wie raffiniert sie gebaut war. Der

Graben war mit Brettern bedeckt, darauf lag Erde,

die wieder mit Laub überstreut war. Auch hatten die

Russen Straucher daraufgesteckt, um so die SteUung

fast ganz unsichtbar zu machen. Ihre Schießscharten

waren nur kleine, runde Löcher knapp über dem

Waldboden. Nun durchschlug eine Kugel meinen

Tornisterdeckel und ging quer durch meinen Wäschebeutel

                                    120

Wäschebeutel.

Ich dachte, mm jeden Augenblick von

einer Kugel durchbohrt zu werden, und rief mehr

Heilige an, als im Himmel sind. Ich sah, daßich

hinter der Eiche nicht mehr liegenbleiben konnte,

zog den Tornister vom Rücken, erhob ein wenig den

Kopf und sah etwa 3 m rechts von mir eine kleine,

etwa 20 cm tiefe Vertiefung, ungefahr in der Lange

cines Mannes. Ich kroch, platt auf die Erde gedrückt,

ganz langsam nach der Vertiefung, vorsichtig

das Rütteln des niedrigen Brornbeergestrauches

vermeidend. Meinen Tornister zog ich am Riemen

nach. ln der Vertiefung befand sich nasses, faules

l.aub und Schlamm. Ich legte mich nun auf die Seite

und scharrte es mit den Handen aus dem Loch nach

vorne, nahm dann meinen Spaten heraus und grub

Illich im Liegen tiefer ein. Durch die hinausgewor-

Iene Erde wurden die Brornbeersträucher ins Rüt-

1 cln gebracht, und schon zischten Kugeln knapp

über mich hinweg. Bald war ich so tief, daßich vollst.

indig gedeckt war. Ich lag nun ruhig im feuchten

Loche. Von der rechten Seite streckte ein Toter

se-ine Beine bis ans Loch. [… ] Links etwas hinter mir

w.ilzte sich ein Pole vor Schmerzen hin und her,

srhreckliche J ammertone ausstoûend. Er hatte bei

der ersten Salve einen Bauchschuf erhalten. Dann,

.rls er sich am Boden vor Schmerz krürnrnte, schlug

ihm ein Querschlager 4 Finger der rechten Hand

wcg, eine weitere Kugel zerplitterte ihm das Kinn. Es

war fürchterlich, 50 etwas mit anzusehen. Trotz der

Iurchtbaren Verwundungenjammerte und stöhnte

der bedauernswerte Mensch bis ungefähr 3 Uhr

nachmittags, bis er durch den Tod von seinen

Schmerzen erlöst wurde. Ein Leichtverwundeter

karn von hinten nach vorne gekrochen; ich dachte,

cler Mensch sei verrückt. Da sah ich, daßer seinen

1 ornister holen woUte, den er nach seiner Verwundung

vor dem Zurückkriechen abgehängt hatte. ln

<fun Moment, ais er nach dem Tornister griff, traf

ihn eine Kugel in die Stirn. Er sackte hin und rührte

sich nicht mehr.

                            121

Ich lag nun den ganzen 'l'ag im Loche, ganz aUein.

Ich wußte nicht, lcben noeh welche oder niemand

mehr. Es war sehr unheimlich, denn ich fürehtete,

die Russen kärnen und körmten mieh in rneinem

Loche niederstechen. Zurn Glüek blieben sie jedoch

im Graben. Ich bekarn nun sehr star ken Hunger,

nahm meine eiserne Portion und aßsie ganz auf. Ich

dachte, beim Dunkelwerden zurückzukriechen und

einem Toten die eiserne Portion aus dem Tornister

zu nehmen. Ich meinte, dieser Tag kormte kein

Encle mehr nehmen. Gegen Abend horte ich eine

Stimme halblaut rufen: »Hopp, hopp, ist clenn niemand

mehr da P. Die Stimme karn kaum 3 m rechts

von mir. Ich gab leise zur Antwort: »Doch, ich bin

hier, der Richert.« Wir fingen nun an, im Knien

einen kleinen Graben zu unserer Verbindung zu

graben, und in einer Stunde waren wir beisammen.

Es war mir viel wohler, wieder bei einem Mensehen

sein zu können. Nach und nach machten sieh noeh

andere bemerkbar, und alle traehteten danach,

dureh Auswerfen von kleinen Graben die Verbindung

gegenseitig herzustellen.

Da keine Vorgesetzten zu hören und zu sehen

waren, nahm ich mir vor, bei Anbrueh der Dunkelheit

nach hinten zu verduften. AIs ich mich eben

anschickte auszukneifen, raschelte es hinter uns im

trockenen Laub. Wir bekamen das Infanterieregiment

222 zur Verstärkung. So leise wie moglich gruben

wir die kleinen Graben tiefer. Doeh rnuûten wir

uns oft ducken, da die Russen uns arbeiten horten

und lu stig drauflosknallten. Endlieh war der Graben

fertig. Ieh machte mir nun mit Hilfe von dürren

Asten, die ich zerbraeh, in den nach vorne aufgeworfenen

Erdhaufen eine Schieûscharte, um 50, werm

ctwas vorkommen sollte, gedeckt schießen zu können.

Von meiner Gruppe, die aus 8 Mann und einem

Unteroffizier bestand, waren nur Petersen und Niederfellmann,

2 Westfälinger, die erst kürzlich zum

Regiment gekommen waren, und ich übriggeblieben

                                122

Die Hälfte mui.\te nun wach bleiben und Posten

stehen. Die andere Hälfte, darunter auch ich, saß

oder lag im feuchten, kalten Graben und schlief.

Plötzlich ging eine Schießerei los, und es hien: »Die

Russen komrnen l- Ich sprang schnell auf, schob

mein Cewehr durch die Schießscharte und knallte,

ohne etwas zu sehen, in das Dunkel hinaus. Auch die

Russen, die wahrscheinlich glaubten, daßwir angreifen

wollten, schossen, was aus den Gewehren hinausging.

Auch warfen sie Handgranaten, die kurz vor

unserem Graben mit Iautern Krach zersprangen. Petersen,

der keine Schießscharte gemacht hatte, schof

nun über den Erdhaufen hinweg, Auf einmal sah

ich, daßer nicht mehr neben mir stand. Mich umdrehend,

sah ich seine Gestalt im Graben kauern. Ieh

schrie: »Petersen, Mensch, schief cloch!" Und

knallte weiter. Da Petersen sich nicht erhob, glaubte

ich, er habe wegen der über uns zischenden Kugeln

Angst zu schießen. Ich stießihn mit der Hancl an den

Kopf, ihn nochrnals aufforclernd, zu schießen. Zu

meinem Schrecken blieb meine Hand an seinem blutenden

Kopf kleben. Ich griff in meine Tasche und

holte meine Taschenlampe hervor. Petersen saf zusammengesunken

tot im Graben; eine Kugel hatte

ihm die Stirne durchbort, und das Blut lief ihm über

Gesicht und Brust hinab. AIs die Schieûerei nach

einer Weile aufhörte, hoben ich und Niederfellmann

den toten Petersen zum Graben hinaus und

legten ihn hinter dem Graben auf den Waldboden.

Da die Nacht nun ruhig verlief, setzte ich mich auf

den Grabenboden, um zu schlafen. Niederfellmann

sagte: »Ich lege mich hinter dem Graben auf den

Waldboden. Ich habe Deckung genug durch den

aufgeworfenen Erdwall.« Dann zündete er seine

Pfeife an und legte sich neben den toten Petersen.

Bei Tagesanbruch lag Niederfellmann anscheinend

noch schlafend mit cler Pfeife im Munde da. Ieh

wollte ihn wecken und sagte, er solle dochjetzt in den

Graben kommen, vielleicht könnte el' doch von den

Russen gesehen werden. Trotz meines Rufens und

                                    123

Rüttelns rührte er sich nicht. Beim näheren Zusehen

stellte ich Fest, daf er tot war. Eine Kugel, die die

Spitze des Erdwalles durchschlagen hatte, hatte ihn

von der Seite ins Herz getroffen. Ohne den geringsten

Schmerz zu spüren, war er im Schlafe gestorben.

Er hatte nun alles Elend hinter sich, und ich

beneidete ihn beinahe. Von meiner Gruppe war ich

nun alleine übriggeblieben. Infolge der eben erlebten

schrecklichen Ereignisse war ich sehr niedergeschlagen.

 

                    27. MAI 1915

AIs es hell wurde, sahen wir VOl' der russischen Stellung

eine grone Tafel stehen. Darauf stand auf

deutsch geschrieben: »Ihr dummen deutschen

Schweine, Italien gehtnun auch mit uns!« Es war der

Tag nach dem Eintritt Italiens in den Krieg. Da es

nachmittags sehr hein war und keiner nichts Trinkbares

bei sich hatte, litten wir sehr Durst. Da sah ich,

dan die Soldaten rechts von uns jeder einen Becher

Wasser bekamen. Sie sagten, dan etwa 100 m rechts

eine Mulde bis an unseren Graben heranreiche,

darin konne man gedeckt zurück und im Brunnen

beim Forsthaus Wasser holen. Ich nahm nun mehrere

Kochgeschirre mit. VOl' der Stallung des Forsthauses

lag eine ganze Reihe Schwerverwundeter, die

den heiben Sonnenstrahlen ausgesetzt dalagen. Die

armen Menschen dauerten mich sehr. Sanitäter wal'en

damit beschaftigt, sie auf Tragbahren einzeln

wegzutragen. Da hörte ich leise, mit schwacher

Stimme, meinen Namen rufen. Ich schaute mich um

und erkannte den Unteroffizier Will, meinen frühel'en

Feind, durch dessen Schuld ich unschuldig

5 Tage Arrest bekommen hatte. »Richert, geben Sie

mir um Gottes willen etwas Wasser!« stöhnte er. Ich

ging zum Brunnen. [… ] Das Wasser war sehr unappetitlich

und hatte einen fauligen Geschmack. 

                            124

Wahrscheinlich hatten die Russen ihre Kochgeschirre

dort gespült und das Wasser wieder in den

Brunnen geleert. Ich ging nun zu Will, kniete neben

ihm nieder, hob mit der Hand sein en Kopfund gab

ihm zu trinken. Er trank mindestens einen Liter

dieses schlechten Wassers. Ich sah nun, daß el' einen

Brustschuf erhalten hatte. »Danke, Richertl- sagte

el' dann matt, und ich legte seinen Kopf wieder zurecht.

Ich brachte es nicht fertig, auch nur ein Wort

mit ihm zu reden. Ich füllte nun meine Kochgeschirre

und ging durch die Mulde gedeckt wieder in

den Graben. Alle wollten Wasser haben. Ich gab aber

nur den Soldaten, die links und rechts von mir den

Graben besetzt hielten.

Am folgenden Morgen kam der Befehl, alles, was

zurn Regiment 41 gehüre, solle sich durch die Mulde

zurückziehen und sich beim Forsthaus sammeln.

Wir verlieBen nun den Graben und die im Wald

umherliegenden toten Karneraden, die noch nicht

Iwerdigt waren. Wir sammelten uns, die Kompanie

w.ir noch 30 Mann stark, 126 waren geblieben. Wir

niarschierten etwa 2 km zurück und karnen nach

«iuern kleinen Dorf, wo die Feldküche auf uns waru-

t e. Der russische Kavallerist, den wir bei Bergersdorf

gefangen hatten und der bei der Feldküche

mithelfen mußte, konnte sich ein höhnisches Li-

.hcln nicht verwehren, als er unsere zusammengeschmolzene

Kompanie sah. Wir bekamen nun zu

('sscn, und es hien, heute sei Ruhetag. Nach dem

l'.sscn war Lühnungsappell. Es war se hl' traurig dalni;

der Feldwebel verlas manchmal6 bis 10 Namen,

worauf sich niemand meldete. Wir Übriggebliebe-

11('11 meldeten dem Feldwebel, was wir von dem

Schicksal der Zurückgebliebenen wuûten: tot oder

vr-rwundet. Diejenigen, von denen keiner Bescheid

wu lite, wurden als vermilit eingetragen. Von 30 Ta-

~~('JI bekam ich 46 Mark und noch 20 Mark Beuteg('

ld von den früher eroberten russischen Kanonen

und Maschinengewehren.

lch mach te es mir bequem, zog Stiefel und

                            125

Strümpfe aus, wusch Fübe, Arme und Kopf, boite

eine Welle Stroh aus einer Scheunc und legte mich

an die Sonne. Ich konntejedoch nicht whig licgenbleiben,

denn die Lause qualten und bissen mich

schrecklich. lch zog nun das Hemel aus, und die Jag-d

begann. Es waren zweierlei Lause: großerc und ganz

winzig kleine, die nur wie ein rotes Pünktchen aussahen;

jene waren die gefahrlichsten. Dann legte ich

mich wieder hin und schlief ein. Gegen Abend kam

der Befehl: »Sofort fertigmachen, antreten!« Mit

der Ruhe war es nun vorbei. Wir marschierten los,

kamen in der Nacht in einem kleinen Dorf an und

verbrachten die Nacht in einer Scheune. Am nächsten

Morgen war Feldgottesdienst. Wir bekamen die

allgemeine Absolution, das sichere Zeichen, daß wieder

ein Gefecht in Aussicht war. Die Regimentsmusik

spielte mehrere Stunden, und am Nachmittag

bekam unsere Kompanie über 100 Mann Ersatztruppen

aus Deutschland, alles junge Soldaten, die

noch nicht im Felde gewesen waren. Beim Anbruch

der Nacht legten wir uns wieder in der Scheune

schlafen. Um Mitternacht wurden wir geweckl. Es

war Post angekommen. Ich bekam eine Karte, nahm

meine Taschenlarnpe und las: »Irn Auftrag Ihres

früheren Kriegskameraden August Zanger teile ich

Ihnen mit, daßderselbe an der Lorettohohe von

einer Granate getroffen wurde und auf den Tod

verwundet hier im Lazarett liegt. Krankenscbwester

Soundso; Reservelazarett Schladern an der Sieg

(Rheinland).« Ich war durch die Nachricht sehr niedergeschmettert.

War doch August außer meinen

Angehörigen seit unserern Beisammensein an der

Westfront mir der liebste Mensch auf der Welt. So

einen braven, treuen Kameraden fand ich nicht so

bald.

Mitten in der Nacht muhten wir abmarschieren.

Vor uns in noch ziemlicb weiter Entfernung hörten

wir Kanonendonner. Von Zeit zu Zeit hörten wir den

Abschuf eines sehr schweren Geschützes. Nach einigen

Kilometern kamen wir an einem osterreichischen

                            126

30-cmGeschütz vorbei; die mächtigcn Geschosse

wurden mittels eines Krans geladen. Der

Abschuf aus nachster Nahe krachte derart, daß man

fast zu Boden {log. Bei Tagesanbruch kamen wir in

ein Dorf, in dem cine Menge dcutsche Batterien

schul3fertig standen. Vor dem Dorfe muûten wir

cine IVI uldc in cincrn Wcizcnfcldc besetzen. Keiner

wuf3te, was eigentlich los war, Plötzlich krachte eine

furchtbare Artilleriesalve der deutschen Batterien,

das Trommelfeuer setzte ein. Es war ein furchtbares

Krachen und Sausen in der Luft. Von vorne tönten

die Explosionen der Granaten zurück. Bald kamen

ais Antwort russische Schrapnells, einige Mann wurden

verwundet. Wir hockten am Boden und hielten

die Tornister über die Kopfe. Die jungen Soldaten,

die hier die Feuertaufe erhielten, zitterten wie

Espenlaub. Nun kam der Befehl zum Vorgehen. Das

russische Artilleriefeuer verstummte. Auf der Rohe

angekommen, sahen wir die russische Stellung in

etwa 600 m Entfernung an einem Wald rand entlang.

ln Schützenlinien ging es nun im Laufschritt vorwarts.

Die russische Stellung war fast unsichtbar im

Rauch der krepierenden Granaten und Schrapnells.

Auf einmal wurde es bei der russischen Stellung

lebendig. Erst einzeln, dann immer mehr und zuletzt

scharenweise kamen die russischen Infanteristen zu

lins übergelaufen, die Hande in die Höhe hebend.

Sie zitterten alle heftig, infolge des furchtbarenArtilleriefeuers,

das sie aushalten mußten. Unsere Artillerie

verlegte nun ihr Feuer in den Wald, und wir

kamen ohne Verluste in die russische Stellung. Der

Boden l'und um den Graben war von den Granaten

allfgewühlt, auch lagen zerrissene russische Soldaicn

in cler Stellung herum.

Da kam der Befehl: »Infanterieregirnent 41 bleibt

ill Reserve!« Wir blieben nun liegen, andere Bataillone

gingen vor, und bald hörten wir von vorne

heftiges Infanteriefeuer, das sich langsam entfernte.

Wir mubten nun nachrücken, erreichten denjenseitigen

Waldrand, der sich auf einem Abhang hinzog.

                                    127

Var uns breitete sich die Ebene von Stryi aus. Das

ganze Gelände war von vorgehenden deutsehen und

österreichisehen Schützenlinien überstreut. Dazwisehen

sah man Kolonnen russischer Gefangener, die

zurückgeführt wurden. Überall sah man SchrapneUs

und Granaten platzen. lm Hintergrunde lag

die Stadt Stryi. Dureh die BeschieBung waren dort

mehrere Brande ausgebrochen, und gewaltige

Rauchwolken stiegen gegen den Himmel. Rechts

von Stryi leisteten die Russen zähen Widerstand.

Links der Stadt hatten sie ein Dorf stark besetzt,

welches sie ebenfalls tapfer verteidigten. DieSchützenlinien

schwenkten nun nach rechts und links, um

die Russen von der Flanke zu fassen. Die entstande

ne Lüeke mußte nun unser Regiment ausfüllen; es

ging direkt gegen die Stadt var. Aus einigen Fabriken

bekamen wir heftiges Infanteriefeuer, und wir

waren gezwungen, uns einzugraben. Einige Batterien

nahmen nun die Fabriken untel' Feuer, und die

Russen zogen sieh zurück. Ich muûte mit einer

8 Mann starken Offizierspatrouille vorgehen, um

nachzusehen, ob die Russen die Stadt geraumt hatten.

[… ) Die Russen waren versehwunden und die

Stadt von ihnen frei. Die Einwohner brachten uns

Weckehen [kleine Brötchen], Zigaretten und sa weiter.

Ein alter Jude stellte sieh var mieh und sagte:

»Wir haben gebeten zu Gatt dem Gereehten, daH el'

möchte geben den Deitsehen den Sieg.« Sofort ging

er ins Gesehaftliehe über, langte in die Tasche, halte

ein Päckchen Tabak hervor und sagte: »Kaifen Sie,

gnadiger deutseher Herr, guten, sehr guten russisehen

Tabak, nicht taier, billig, billig.« Ich sagte ihm,

daß ich fast nie rauehte. Trotzdem lief er mir noeh

eine Streeke weit naeh, mieh immer quälend, ihm

doeh den Tabak abzukaufen. [… )

Wir hofften nun, in Stryi wenigstens einen Ruhetag

zu bekommen. Leider vergeblich, denn bei der

Ankunft des Regiments verliehen wir sofort die

Stadt und marschierten naeh links, wo wir am Stra-

Benrand lagerten. Eine deutsche Batterie Feldartillerie 
                                          128

fuhr neben uns auf und schof in die Ferne auf

die abziehenden Russen. Gleieh eine der ersten Granaten

platzte VOl'der Mündung des Rohres. Zwei

Kanoniere wurden dureh die Splitter getötet.

Die nächste Naeht verbrachten wir im Straûengraben.

Am folgenden Morgen ginges wieder vorwärts.

Wir kamen durch eine waldreiche Gegend. Wir marschierten

auf einer guten Strafie; da es sehr heif war

und nirgends ein Tropfen Wasser, litten wir entsetzlichen

Durst. Endlich karnen wir zu einem Brunnen,

der in der einsamen Gegend hart an der Straûe

stand. Alles stürzte darauf los, um seinen Durst zu

Ioschen. Aber welche Enttäuschung erlebten wir!

Die Wasserflache war mit Teer übersehwemmt, den

die Russen in den Brunnen geworfen hatten. Auberdem

schauten zwei Knochen eines verendeten Pferdes

zum Wasser heraus.

Trotzdem wir den ganzen Tag marschierten, sahen

wir keinen einzigen Russen. Wir kamen nun

wieder in eine fruchtbare Gegend, die mit Dörfern

übersät war. Weiter vor uns sah ieh ein Stad tchen

liegen. Ieh nahm nun eine Karte, auf der die Gegend

genau aufgezeiehnet war (ich hatte die Karte einem

toten Feldwebel abgenommen), und stellte fest, daf

es das am Flusse Dnjestr gelegene Stad tchen Zurawno

sein mußte. Der Dnjestr flofi von Westen nach

Osten, und da wir von Süden nach Norden marschierten,

bildete der FIuH für uns ein gefahrliches

Hindernis. Es war daher bestimmt zu erwarten, dan

uns die Russen den Übergang verwehren würden.

ln der Nacht besetzten wir das Städtchen. Es wurde

gemunkelt, dan am foigenden Morgen der Übergang

über den Flun erzwungen werden müsse.                     
                                  129

ÜBERGANG UND KÀMPFE AM DN]ESTR

 

einer hölzcrnen Brücke überquert, die von den Russen

jedoch abgebrannt worden war. Jenseits des

Flusses befanden sich Wiesen in etwa 200 m Breite.

Dann erhob sich ein langgestreckter, steiler Felshügel

von ungefähr 80 m Höhe; die Russen hatten

3 Schützengràben dort angelegt: einen am oberen

Rand, einer befand sich, in die Felsen gesprengt,

am Abhang und der dritte unten am Fuße des

Hügels.

Hinter einer Hecke gedeckt, beobachtete ich mit

dem Glase des Unteroffiziers die russische Stellung.

Es schien mir unrnoglich, daß dieser Übergang ohne

ungeheure Verluste auszuführen sei. Da ich absolut

kein Verlangen danach hatte, zu ersaufen oder auf

eine sonstige Art den vielgerühmten Heldentod zu

erleiden, beschloßich, mich zu drücken. Mit einem

Kameraden, einem Rheinländer namens Nolte,

schlich ich von der Kompanie weg. Wir beide versteckten

uns hinter einem Hause in einem Holzwellenhaufen

und warteten der Dinge, die da kommen

sollten. Morgens, etwa um 8 Uhr, fing plötzlich die

deutsche Artillerie an, mit allen Kalibern die russischen

Graben mit Granaten und Schrapnells zu

überschütten. Ich schaute um die Hausecke und sah,

daß der von den Russen besetzte Felsenhügel einem

Vulkan glich. Überall zuckten Blitze und schossen

Rauchwolken in die Luft. Bald war der ganze Hügel

in schwarzen Granatenrauch eingehüllt. Einige ganz

in meiner Nahe platzende russische Schrapnells

zwangen mich, meinen Beobachtungsposten zu verlassen

und hinter dem Hause Deckung zu suchen.

Nach etwa einer Stunde mischte sich in den Kanonendonner

Gewehrgeknatter, welches uns sagte,

daß der Angriff der Infanterie begonnen hatte. Da

die russische Artillerie dauernd das Stadtchen Zurawno

beschoß, wagte ich nicht, das schützende

Haus zu verlassen und den Verlauf des Kampfes zu  
                                           130

beobachten. Nach etwa einer weiteren Stunde flaute

das Feuer ab, und es wurden ganze Kolonnen russischer

Gefangener zurückgeführt. [… ] Am folgenden

Morgen marschierten wir beide nach vorne, um

unsere Kompanie wieder aufzusuchen, denn es

wunderte uns sehr, wie es den Kameraden beim

Angriff ergangen war. Die deutschen Pioniere hatten

bereits wieder eine Brücke über den Dnjestr

gebaut, die stark genug war,jede passierende Last zu

tragen. Gleich jenseits des Flusses lagen tote deutsche

Infanteristen auf den Wiesen herum. Man war

eben damit beschaftigt, sie zu begraben. Sie wurden

meist in die von der vorgehenden Infanterie gegrabenen

Schützenlocher gelegt und mit Erde zugedeckt.

»Was meinst du, Richert«, sagte mein Karnerad

zu mir, »wenn wir uns nicht gedrückt hatten,

wären wir vielleicht auch dabeil-

Von der Brücke führte eine Straße über die Wiesen

durch einen tiefen Einschnitt auf den vor uns

liegenden Felsenhügel. Gleich rechts von der Straße

lagen etwa zehn tote Deutsche dicht beisammen;

mehrere hatten das Gesicht schrecklich verzerrt und

hielten noch in der starren Hand eine Handvoll Gras

oder Erde, die sie im Todeskampf ausgerissen oder

ausgekratzt hatten. ln einem der Gefallenen glaubte

ich einen Kameraden meiner Kompanie zu erkennen.

Um mich zu vergewissern, ging ich zu ihm hin,

nahm ihm das Soldbuch aus der Tasche und stellte

l'est, daß ich mich geirrt hatte. AIs ich mich wieder

bückte, um ihm das Buch wieder in die Tasche zu

stecken, sah ich, daß seine Kleider ganz von Läusen

wimmelten, die sich von dem toten, kalten Körper

geflüchtet hatten und sich auf den Kleidern sitzend

in der Sonne wärrnten. Dasselbe war bei allen dort

liegenden Gefallenen zu konstatieren. Wir gingen

weiter. ln den am Felsenhügel gebauten russischen

Stellungen sah es auch schrecklich aus. Von Granaten

zerrissene russische Soldaten lagen umher, zer-

Ietztes Gebüsch, losgebrochene Felsstücke und Erdschollen

bedeckten den Boden. Auch sah ich dort                                       
                                      131
Granatlöcher in der Graße eines Zimmers, die wahrscheinlich

von den Geschossen der osterreichischen

30-cm-Motorgeschütze herrührten. Wir marschierten

mehrere Kilometer nach vorne. Da sahen wir auf

einer NebenStraße eine kleine Abteilung von etwa

30 Mann anmarschieren, geführt von einem Leutnant.

»He, warten Sie mal!« rief er uns an. Wir blieben

stehen. Der Leutnant fragte, woher und wohin.

Wir sagten, wir seien von unserer Kom panie abgekommen

und im Begriffe, dieselbe aufzusuchen.

»Kenne das schon l- schnauzte er uns an. »Ihr seid

ebensolche verdammten Drückeberger wie diese

Bande hier!« Wir mußten nun in die Kolonne eintreten,

und vorwärts ging's. Der Leutnant lieferte uns

am Abend bei der Kompanie ab, die eben dabei war,

einen Schützengraben an einem Waldrand auszuheben.

Ich dachte, daß wir gehorig ausgeschimpft werden

würden, aber wir hatten diesmal verhältnisrnä-

Big Glück. Die Nacht verbrachten wir im Schützengraben.

[… ] Von den Kameraden erfuhr ich, daf

die Kompanie beim Kampfe am Dnjestr etwa 30

Mann verloren hatte. [… ]

Da der Graben nur schwach besetzt war, bekamen

wir osterreichische Jager zur Verstarkung. Einige

Mann wurden zurückgeschickt, bei der Feldküche

Kaffee und Brot zu empfangen. Wir waren eben

nach ihrer Rückkehr damit beschaftigt, unseren

Kaffee zu trinken und Brot zu essen, aIs plotzlich

sehr starkes russisches Artilleriefeuer einsetzte. Ihr

Ziel war unser Graben, und sie schossen gut. Wir

waren vollständig überrascht, ließen unsere Kochgeschirre

fallen, ergriffen unsere Gewehre und Iegten

uns dann auf die Grabensohle. Durch dicht vor dem

Graben einschlagende Granaten wurden mehrere

Mann verschüttet. Ohne Großen Schaden genommen

zu haben, wurden sie aber wieder von den Erdmas

sen befreit. Ein österreichischer J äger, der neben

mir lag, stand auf, um nach vorne Ausschau zu

halten. Kaum hatte er den Kopf über dem Graben,

aIs er schrie: »Die Russen kommen!« Alles sprang  
                                 132

auf. Sofort sah ich mehrere russische Schützenlinien,

die im Laufschritt auf uns zukamen. Wir eröffneten

ein prasselndes Schnellfeuer auf sie. lch sah

gleich mehrere stürzen. Aber es bildeten sich neue

Schützenlinien. Wir sahen uns einer erdrückenden

Übermacht gegenüber. Die russische Artillerie belegte

unseren Graben nun mit starkem Schrapnellfeuer.

Viele von uns hatten nicht mehr den Mut zu

schießen und duckten sich in den Graben. Andere

wurden getroffen. Ebenso der neben mir stehende

österreichische J ager. Er erhielt eine valle Schrapnelladung

in Kopf und Brust und war sofort tot. Die

Russen, die immer sprungbereit gegen uns anstürmten,

waren schon ziemlich nahe gekommen. Da sah

ich, wie bereits einige von uns nach hinten aus dern

Graben hinauskletterten und ihr Heil in der Flucht

suchten. Da ich kein Verlangen hatte, von diesen

halbkultivierten Russen aufgespießt zu werden, verlieD

ich, gefolgt von meinem Freund, dem Rheinländer

Nolte, ebenfalls den Graben. Die Russen sandten

uns eine Menge Kugeln nach, doch mit wenigen

Sprüngen waren wir durch das Gebüsch gedeckt

und ihren Blicken entschwunden. Zu unserem

Glück ging's im Walde bergab, so daßwir gegen

Infanteriegeschosse gedeckt waren, die nun durch

die Kronen der Baume zischten. Die Schrapnells,

deren Kugeln in den Wald niederprasselten, waren

Iür uns gefahrlicher. lm Laufschritt suchten wir aus

ihrem Bereich zu kommen. AIs ich mich umsah,

gewahrte ich, daßuns die ganze Grabenbesatzung

Iolgte. Die Verwundeten, die nicht mehr Iaufen

konnten, kamen in russische Gefangenschaft. Wir

liefen hinter dem Wald an einer Batterie Feldartillerie

vorbei. Der Batterieführer schrie, was denn eigcntlich

los sei. »Die Russen sind durchgebrochen!«

.mtworteten wir. Worauf er die Batterie aufprotzen

licb, um weiter zurück wieder das Feuer aufzunehmen.

Hinter uns hörte das lnfanteriefeuer nun ganz

.urf, zum Zeichen, daßdie Russen uns nicht direkt

n.ichfolgten, während rechts von uns der Kampf
        
                            133
noch in vollen Gange war. Ein ununterbrochenes

Geknatter der Infanterie und der Maschinengewehre

tonte vom Dorfe zu uns herüber. Etwas weiter

zurück, bei Zurawno, gewannen wir die Straûe, die

mehrere Kilometer zurück über die Dnjestrbrücke

führte. Bald wimmelte die ganze SUaBevonzurückgehender

deutscher Infanterie. Die russische Artillerie

nahm nun die Straße unter Feuer, und wir

waren gezwungen, über die Felder zurückzugehen.

Jeder lief, wie er wollte, und auf Komrnandos wurde

überhaupt nicht mehr gehort.

So langte ich müde, keuchend, naBgeschwitzt wieder

ob en auf dem Felsgel am Dnjestr an, wo die

Russen ihre alten Stellungen hatten. Mein Plan war,

so schnell wie möglich die Dnjestrbrücke zu überschreiten,

um den Fluf zwischen mich und die Russen

zu bringen. Doch der Soldat den kt, und der

Offizier lenkt! Mehrere Offïziere hielten uns an und

gaben den Befehl zum Halten und Sammeln. Ich tat,

als hörte ich nichts, denn zu gerne hätte ich mich

über die Brücke in Sicherheit gebracht. AIs mich

jedoch ein Offizier mit erhobener Pistole anschrie,

zu halten oder —, blieb mir nichts anderes übrig,

aIs mich der angesammelten Truppe anzuschließen.

ln aller Eile mußten wir eine Schützenlinie bilden

und uns eingraben. Wir sollten die Russen, wenn sie

bis hierher vordringen würden, aufhalten, bis die

Ietzten von uns die Brücke passiert hatten. »Wir

müssen uns, wenn nötig, für unsere Kameradenaufopfern!

« Iautete der Befehl. »Herrgottsakra «,

meinte ein neben mir liegender Bayer, »dösmal

geht's für uns schiefl Vor uns befand sich in etwa

500 m Entfernung ein Wald. Aus demselben stromten

nun die Truppen zurück, die rechts von uns

ebenfalls zum Rückzug gezwungen wurden. Verschiedene

Soldaten trugen ihre verwundeten Karneraden

auf dem Rücken zurück. Auch sah ich einen

ungarischen H usaren, der einen schwerverwundeten

deutschen Infanteristen aufs Pferd hob, um ihn

vor der Gefangenschaft zu bewahren
                               134

Nach etwa einer Stunde kamen nur noch einzelne,

meist Leichtverwundete, aus dem Walde und an uns

vorüber. Sie sagten, daßdie russische Infanterie

nicht mehr weit sei. Von Russen war immer noch

nichts zu sehen. Da auf einmal wurde es vor uns am

Waldrand lebendig. Scsse krachten, und die Kugeln

pfiffen uns unheimlich um die Ohren. Die Russen

kamen aus dem Walde hervor, immer schieHend

auf uns ZU. Wir antworteten, was aus den Gewehren

hinausging. Da kam der Befehl: »Zuck, marschmarsch!

« Das lieû sich keiner zweimal sagen. So

schnell wie moglich sprangjeder aus seinem Loche,

um hinter dern Abhang in Deckung zu kornrnen. Ein

vor mir laufender Soldat stürzte mit lautem Aufschrei

getroffen auf das Gesicht,jedoch keiner nahm

sich Zeit, sich 1ßchihm umzuschauen, noch viel weniger,

ihm zu helfen. Jeder hatte nur den einen

Gedanken, über die Brücke das rettende Ufer zu

erreichen. So kletterten, rutschten und sprangen wir

den steilen Abhang hinab und 50 schnell wie mëglich

über die Wiesen nach der Brücke. Dieselbe war von

Granaten halb auseinandergerissen, doch gelangten

fast aIle heil hinüber. AIs die russischen Infanteristen

oben auf dem Felsenhügel anlangten, waren wir

bereits hinter den Hausern von Zurawno in Dekkung.

Die Bcke wurde nun von unseren Pionieren

gesprengt. Bei Anbruch der Dunkelheit verlieûen

wir das Stad tchen und marschierten nach einern

etwa 5 km weiter zurückliegenden Dorfe. VieJe

Flüchtlinge aus Zurawno begleiteten uns, die ihre

notwendigsten Habseligkeiten mitschleppten. Vor

dern Dorfe trafen wir auf unsere Kompaniefeldküche,

so daf wir unseren Hunger stillen konnten.

Es waren wieder neue Ersatzmannschaften aus

Deutschland gekommen, die nun in die Kompanie

verteilt wurden. Nachher wurden die Kriegsartikel

verlesen, von welchern jeder endete: »Wird mit

Zuchthaus bestraft. Wird mit dem Tode bestraft.«

Nichts aIs bestraft und wieder bestraft. Diese Kriegsartikel

wurden nur verlesen, um dem Soldaten

                                   135

seine Willenlosigkeit und Ohnmacht den Vorgesetzten

gegenüber vor Augen zu führ en. Nachher

muhten wir vor dem Dorfe einen Feldweg entlang

eine Schützenlinie mit 1rn Abstanc! bilden und uns

eingraben. [… ] Am folgenden Tage blieben wir an

derselben Stelle liegcn. Es sprach sich unter den

Soldaten herum, daßdie Russen auf das diesseitige

Ufer des Flusses gelockt werden sollten. Die deutschen

Flieger und die Artillerie sollten dann im

Rücken der Russen die Übergange zerstoren, worauf

wir angreifen sollten und sie gefangennehmen.

Die Russen warenjedoch zu schlau, um in die Falle

zu gehen; nur kleinere Abteilungen setzten über

den Flub. Die Hauptmacht besetzte wieder die drei

übereinander liegenden Stellungen am Felsenhügel

jenseits des Flusses. Von unseren im Vorgelände

herumschleichenden Patrouillen wurden einige

russische Gefangene gemacht. Sie gehbrten einem

Garderegiment an. Es waren alles sehr große, stark

gebaute Männer, so daßwir ihnen gegenüber fast

wie Knaben aussahen. Auûer einigen zwischen den

Patrouillen gewechselten Gewehrschüssen war tagsüber

alles ruhig.

Gegen Abend nahm unsere Artillerie Zurawno

unter Feuer. Bald zeigten uns mehrere Rauchsäulen

an, daßßrande ausgebrochen waren. ln der Nacht

bildete das Städtchen ein einziges Flammenmeer.

Ein schrecklich-schöner Anblick. Der Himmel war

weithin blutig rot. Die Nacht über und den folgenden

Tag blieben wir an derselben Stelle liegen.

 

DER ZWEITE ÜBERGANG ÜBER DEN

DNJESTR~ MITTEJUNI 1915

Bei Anbruch der Dunkelheit kam der Befehl: »Sofort

fertigmachen!« ln kaum 10 Minuten stand Ul1-

ser Bataillon marschbereit auf der StraGe. Schnell

wurde die Munition erganzt. Auch erhieltjcder eine
                                   136

Büchse Fleisch und ein Sackchen Zwieback für den

FaU, daf:\wir die Verbindung zur Feldküche verlieren

sollten. »Vorwarts, marsch!« Und los ging's. Die

5 km nach Zurawno waren bald zurückgelegt. Fast

das ganze Stadtchen war abgebrannt. Untel' den

Trümmern glimmte noch das Feuer und verbreitete

einen ekligen Brandgeruch. Wir gingen bis an das

Ufer des Dnjestr vor und gruben uns in an den FIuH

angrenzenden Cernüsegärten ein. Da wurde es vor

uns auf dem FluHlebendig. Sehen konnten wir nicht

viel, doch hörten wir leises Klopfen und Ruderschlage.

Unsere Pioniere bauten 2 Stege über den

Fluû, Sie verbanden starke Bohien mittels Klammern

und Draht. Auf beiden Seiten wurden Pfähle

in das Ufer getrieben, der Steg mittels Draht darnit

verbunden, um einem allzu groHen Schwanken vorzubeugen.

Um Mitternacht begann der Übergang.

Zuerst unser 1. Bataillon, dann folgten wir ais zweites.

Um den schwankenden Steg nicht zuviel zu belasten,

durften wir nur mit 4 Schritt Abstand von

Mann zu Mann hinübergehen. Nun setzte noch Regen

ein, und es wurde so dunkel, daßman kaurn die

Umrisse des Vordermannes sah. Bei jedem Schritt

muûte man mit den Füben tasten, um nicht neben

den Steg zu treten und in den Fluf zu stürzen. ln der

Mitte senkte sich der Steg durch unser Gewicht ins

Wasser, so daI3 es uns oben in die Stiefel hineinlief.

Jeder atmete erleichtert auf, ais er jenseits des Flusses

wieder festen Boden unter den Fülien hatte. Dort

stand ein Feldwebel und sagte jedem, sich nach

rechts zu begeben und eine Linie zu bilden. Wir

legten uns nun auf den Flulikies und warteten auf

weitere Befehle. Die Russen, die genau wieder dieselben

Stellungen am Felsenhügel wie beim ersten

Übergang besetzt hatten, knallten die ganze Nacht in

Richtung des Flusses. Doch ihre Kugeln sausten fast

aile über uns. Ais das ganze Regiment übergegangcn

war, kam der leise Befehl, langsam vorzugehen,

wenn wir Feuer bekommen würden, uns hinzulegcn

und uns cinzugraben. Da das Wiesengelände, auf 
                                  137

dem wir vorgingen, zwischen dem Fluf und der

russischen Stellung nur etwa 200 m breit war, bemerkten

uns die Russen bald und knallten uns einzelne

Sehüsse entgegen. Ieh warf mieh sofort zu

Boden, um mich mit dem Spaten einzugraben. lm

Dunkel konnte ich nieht einmal meinen Nebenmann

sehen. Da horte ich leise meinen Namen ru-

Fen: »Richert, komm her, wir wellen uns zusammen

eingrabenl Es war mein Freund, der Rheinlander,

der mich rief. Kaum hatte ich drei Sehritte getan,

als ich in der Dunkelheit in ein Loch stürzte. Ich

tastete mit den Händen umher und stellte Fest, daf

es ein Sehützenloeh war, wohl noeh vom ersten

Übergang herrührend. lch rief nun den Rheinländer

zu mir. Da die Russen stark zu schieûen begannen,

waren wir beide froh, in dem Loche Deckung

zu haben. Ein Aufsehrei und darauffolgendes Stohnen

sagten uns, daßein Mann in unserer Nahe getroffen

worden war. Von Mann zu Mann wurde

nun der Befehl weitergegeben: »Sanitäter nach

Iinksl Bald kamen zwei derselben an uns vorüber.

Zu verbinden brauehten sie den jungen Mann nicht

mehr, denn el' war bereits gestorben. Es war ein

junger Freiwilliger aus Ostpreulien. Er hatte das

Elend nun überstanden.

[... ] Etwa um 8 Uhr morgens kraehte hinter uns

ein Kanonenschuß, das Zeichen der Eroffnung .des

Trommelfeuers, um die russisehen Stellungen

sturmreif zu schiehen. Ein furchtbarer Krach zerrif

plotzlich die Luft. Sàrntliche deutschen Batterien aller

Kaliber schleuderten ihre Gesehosse auf die russisehe

Stellung. [… ] Wir fühlten am Boden liegend

ganz deutlich den Einschlag der sehweren Gesehosse.

Wie das zisehte und sauste über uns! Von

den kleinen Kalibern hörte man nur Tsehing-bum,

Abschuû, Flug und Einsehlag in wenigen Sekunden.

Die mittleren Kaliber erkannte man im Flug an dem

etwas langer gezogenen Tsch-sch, und die sehweren

Granaten kamen mit einem lauten Tsch-sch-sch herangesaust.

Ich hob ein wenig den Kopf, um mir das
                                  138

furehtbare Sehauspiel anzusehen. Der ganze Felsenhügel

glieh einem feuerspeienden Berg; überall

schlugen die Gesehosse ein, Gebüsch, Erde, Felsstücke

umherschleudernd. Verschiedene Splitter

und Erdschollen kamen bis zu uns geflogen. Überall

sah ich die Köpfe unserer lnfanteristen aus den

Löchern hinausragen, das Furchtbare anzusehen.

Manche standen aufrecht, den russischen Infanteristen

ein schones Ziel bietend. Doch die Russen lagen

wohl aile in Todesangst auf dem Grabenboden,

denn wehrlos waren sie dem auf sie niederprasselnden

Eisenhagel preisgegeben. Naeh etwa einer halben

Stunde wurde es im vorderen russischen Graben,

der sich am FuJ3e des Hügels hinzog, lebendig.

Zwischen den einschlagenden Geschossen hindureh

kam die ganze noch marschfähige Grabenbesatzung

mit erhobenen Handen zu uns übergelaufen. Sie

waren fast aile vor Angst bleieh wie der Tod und

zitterten von den ausgestandenen Schrecken heftig.

Sie mußten sich samrneln und sich hinter unseren

löchern auf die Wiesen hinlegen, um gegen die

russischen Anilleriegeschosse, die noch immer vercinzelt

herangesaust kamen, besser gedeekt zu sein.

1lie Besatzung des obersten russischen Grabens

xuchte ihr Heil in der Flucht. Nun war nur der mittle-

re Graben besetzt, der sich im Abhang hinzog.

Da kam der BefehI, den einer dem anderen zurur('

11 mufite: »Fertigrnachen, Seitengewehr aufpflan-

/('11.« [ .•• ] Den kurzen Spaten steckte ich wie immer

lx-im Vorgehen vorne mit dem Stiel in das Koppel,

11111 so durch den Spaten gegen einen Bauchschuf

("1 was geschützt zu sein. Die deutsche Artillerie ver-

Icgte ihr Feuer nun weiter vor. »Zurn Sturm vorw.

irts, marschmarschl erscholl das Kommando. AIlt-

s stürzte aus den Löchern, und im Laufschritt unln

Hurrageschrei stürmte alles auf die russischen

( -räben los. Doch die Hauptarbeit hatte unsere Artilk-

ric besorgt; wir stießen auf nur ganz geringen Wi-

.k-rstand. lm unteren Graben lagen nur Tote und

Vr-rwundete. Aus dem mittleren Graben knallten
                                 139

Oberleutnant das Knie zerschmettert. Der Mann,

der früher die jammernden Verwundeten »Kindskëpfe

und »feige Mernrnen geschimpft hatte,

schrie und jammerte nun wie besessen. Ich konnte

be~m besten Willen kein Mitleid für ihn empfinden.

"':Il~ kletterten nun den steilen Abhang hinauf.

Einige Russen aus dem mittleren Graben wollten

fliehen und kletterten, so schnell sie konnten, nach

oben. Aber wie Hasen wurden sie abgeschosscn und

kollerten in den Graben zurück. Ais wir vor dem

Graben ankamen, streckten aile noch Lebenden die

Hände in die Höhe. Sie wurden hinunter zu den

schon vorher Gefangenen auf die Wiesen geschickt.

Oben kamen auch noch einzelne heruntergeklettert,

um sich zu ergeben. Jene hatten leicht ausreiûen

kënnenl Sie gingenjedoch lieber in Gefangenschaft,

ais den Krieg noch langer mitzumachen. Durch zerfetztes

Gebüsch und Löcher bahnten wir uns nun

einen Weg nach dem Gipfel, wo sich das Regiment

sammelte. Von oben sahen wir, wie eben die gefangenen

Russen rückwärts den Fluf überschritten. Sie

waren jedenfalls glücklicher als wir, denn sie hatten

die Morderei hinter sich

 

DER WEITERE VERLAUF DER OFFE SIVE

 

Das 2. Bataillon muhte nun langsam in Schützenlinien

vorgehen. Einzelne Patrouillen wurden vorausgeschickt.

~as 1. und das 3. Bataillon folgten geschl?

ssen. Lmks und rechts von uns gingen andere

Regimenter vor. Den ganzen Tag stiel3en wir auf

keinen Widerstand. Hie und da kamen einzelne Russen

aus dem Getreide oder Gebüsch, wo sie sich

versteckt hatten, um sich zu ergeben. [… ]

Eines Morgens bekamen wir auf einem mit Weizen

bepflanzten Hügel den Befehl, die unten im

Tale liegende Wassermühle zu besetzen. Etwa 2 km
                                   140

links von uns lag das Stad tchen Rohatyn. Die russische

Batterie richtete ihr Feuer nun auf die Mühle.

[... ] Vier Schrapnells kamen zusammen angesaust.

Alle platzten um und über der Mühle. Die aus Holz

gebauten, mit Stroh bedeckten Cebäude boten uns

nur wenig Deckung. Von einem über dem Holzschuppen

platzenden Schrapnell wurden 4 Mann

verwundet, darunter mein Freund, der Rheinländer,

der schrag von oben eine Kugel in den Oberschenkel

bekommen hatte. Ich schnitt ihm die Hosen

auf und wickelte seine beiden Verbandspäckchen

um die Wunde. Dann trug ich ihn mit Hilfe

eines Karneraden in die Wohnstube, wo etwas mehr

Deckung war. Die Stube lag ganz voll von Soldaten,

die den Wänden entlang aufihren Tornistern lagen.

ln allen Gesichtern lag der Ausdruck angstlicher

Cespanntheit, denn keiner konnte wissen, wem die

nächste Artilleriesalve galt. Nun kamen immer 2

Schrapnells, die in der Luft zerplatzten, und 2 Cranaten,

die beim Aufschlag auf den Boden krepierten,

zusammen angeflogen. Ein Soldat namens Spiegel,

der in der vorderen Ecke der Wohnstube lag,

stand auf, ging durch den Hausflur zur Tür, um zu

schiffen. lm selben Moment krepierte eine Granate

an der vorderen Hausecke, ein gr(1)es Loch in die

Wand reil3end. Splitter, Holzstücke und der Tornister

des Soldaten Spiegel flogen an die Decke. Die

ganze Stube war mit stinkendem Pulverrauch gefüllt.

Spiegels Tornister und Kochgeschirr waren

vollstandig zerrissen und zerfetzt. Ais dieser beim

Hereinkommen sein Zeug betrachtete, wurde er totenbleich,

und ais einer der Soldaten bemerkte, daf

er sein Leben einem glücklichen Zufall zu verdanken

habe, antwortete er: »Ich habe eine Mutter zu

Hause, die täglich für mich betet.. [ ] Da kam der

Befehl: »Sofort die Mühle räurnen!« Wir sollten uns

nun dem Bächlein entlang, durch die Erlen und die

Weidenbüsche gedeckt, nach dem einige hundert

Meter weiter unten liegenden Dorf begeben. Die

Verwundeten wurden mitgetragen. Die Russen be  
                                141

schossen mm bis gegen Abend die Mühle, bis sie in

Brand geschossen war, obwohl kein einziger von uns

mehr dort war. [… ] Ich begab mich in eine Hütte,

urn cin paar Eier zu kaufen. lch harre Glück, dcnn

ich konnte ein halbes Dutzend bekommen. Da noch

Milch vorhanden war, mußte die anwesende Frau

mir 1 Liter kochen, natürlich gegen Bezahlung. So

verging eine halbe Stunde. Meine Kornpanie war

inzwischen bis zumjenseitigen Dorfrand vorgegangen,

wo sie auf Russen gestoßen war, derm plötzlich

knatterte lebhaftes lnfanteriefeuer dureh den still en

Morgen. Gleieh darauf sah ich einzelne unserer Infanteristen

zurücklaufen. Ich fief zum Fenster hinaus,

was denn eigentlich los sei. Sie wußten selbst

nichts Riehtiges und liefen weiter. Sehnell trank ich

meine Milch aus und steekte den Rest der Eier in

meinen Brotbeutel. Da immer mehr Soldaten zurückliefen,

schlof ich mich ihnen an. Was eigentlich

los war, wußte ich nicht.

Wir liefen nun durch ein Wiesental bis zu einem

Bach. ln dem ausgetrockneten Bachbett nahmen wir

wieder Stellung. Nach kurzer Zeit befand sich die

ganze Kompanie dort. Einige Mann fehlten. Sie waren

wohl im Dorfe gefallen oder verwundet worden.

Gegen Mittag sahen wir einige Russen am Dorfrand.

Da wir auf sie zu schießen begannen, verschwanden

sie hinter den Häusern. Am Naehmittag hörten wir

reehts von uns starkes Artilleriefeuer. Bald wurde

dasselbe yom Geknatter der Infanterie und der Masehinengewehre

unterbrochen. Gegen Abend hieß

es, daßdie Unseren die russische Front dort durchbrochen

hatten. Die Nacht verbrachten wir im ausgetrockneten

Baehbette. [... ]

Ohne von der Fe!dküche cine Spur zu sehen, ging

es mit hungrigem Magen weiter. lch se!bst konnte

von Glück reden, denn ich hatte noeh 3 Eier im

Brotbeute!, die mir trefflich mundeten. Nach einigen

Kilometern stiegen wir wieder in ein breites,

Haches T~lI, das in der Mitte etwa 500 m breit mit

meterhohem Schilf bewachsen war. Auf der diesseitigen
                                  142

Talseite standen einzelne Cehöfte. Ais wir uns

den ersten naherten, saustc es heran, und mehrere

Schrapnells platztcn über uns. Ieh sprang hinter den

Stamm einer Weide, die anderen Soldaten Iiefen

hinter die Hauser. Ein Schrapnell riß nun mehrere

Aste von der Weide, hinter der ich stand, so dan mir

ganz unheirnlich zumute wurde. Da horte ich den

Befehl: »Der 2. Zug soli einzeln hinter die links liegenden

Hauser springenl lch gehörte auch zum

2. Zug. Ais die ersten hinübersprangen, bekamen sie

von der jenseitigen Talseite lnfanteriefeuer. leh

schaute scharf hinüber und entdeckte vern am Rand

eines Weizenfeldes, das sanft oberhalb des Schilfes

anstieg, einen langen Erdwall, die russischelnfanteriestellung.

Ich entschlof mich, hinter dern Weidenstamm

zu bleiben und mich hier einzugraben. Kaurn

hatte ich einige Spatenstiche ausgehoben, ais unser

Feldwebel, der hinter dem Hause stehend mich sah,

zu mir herüberschrie: »Richert, wollen Sie schleunigst

machen, daJ3 Sie zu Ihrem Zuge kornmen!« So

sehnell ich konnte, rannte ich über die Acker, den

beiden Hausern zu. [... ] Eine Kuge! schlug knapp

vor mir in die Erde, so daß ich unwillkürlich einen

Luftsprung mach te. Einige Schritte weiter Iag ein

Soldat rot am Boden. Ich selbst kam heil hinter den

Häusern an. Wir waren gezwungen, uns dort einzugraben,

da die Kugeln der Russen durch die Holzwände

und die niedrigen Strohdächer zischten. [... ]

Wir litten sehr Durst, da die Sonne den ganzen Tag

herunterbrannte. Keine 100 m vor uns floß ein

Bach. Da das Wasserholen jedoch mit Lebensgefahr

verbunden war, hatte keiner den Mut dazu. Wir

lagen in den Löchern, bis es dunke!te.

Bei Anbruch der Nacht mußten wir einen Steg

über den Bach machen, jenseits desselben im Schilf

vorgehen und lins etwa 200 m vor der russischcn

Infanteriestellung eingraben. Das war leichter gesagt

als getan. Kaum einen Spatenstich tief sammelte

sich das Wasser im Loch, an ein tieferes Graben war

nicht zu denken. lch stach eine Menge Wasen [Ra- 
 
                                143

senscke, Grassoden] ab und baute sie var mir auf,

um doch etwas Deckung zu haben. Sa hoekten wir

die Naehtim feuchten Schilfe. Trotz allem sehliefich

ein. Gegen Morgen erwachte ich, da ieh kalt fühlte.

Ich saß im Wasser. Sa erging es fast allen Soldaten.

Die Russen hatten nämlich wei ter unten den Bach

gestaut und uns so unter Wasser gesetzt. Die ganze

Naeht knaIlten vom russisehen Graben her einzelne

Gewehrschüsse. AIs es morgens hell ge,vorden war,

hörte ich einen Kameraden rufen: »Die Russen winken,

sie wollen sich ergeben.« leh hob den Kopfund

spähte über das Sehilf. Richtig, ich sah die Russen

winken mit ihren Mützen und weißen Tüchern. Da

wir jedoch der Geschichte nicht recht trauten, wurden

einige Mann vorgesehickt. AIs dieselben vor die

russische Stellung kamen, kletterten die Russen,

etwa 20 an der Zahl, zu ihrem Graben hinaus und

ergaben sich. Sie waren zurückgelassen worden, um

uns durch ihre Schüsse zu täuschen, während sich

die Hauptmacht zurückzog. lm Graben lagen noch

Brotstücke umher, die von uns gierig versehlungen

wurden. Viele Soldaten rissen von den noch grünen

Weizenähren ab, rie ben die Körner aus, bliesen die

Streu weg und allen die Körrier, um sa den Hunger

etwas zu stillen.

Dann wurden mehrere Patrouillen ausgeschickt,

um auszukundschaften, ob noch Russen in der Nahe

seien. Ich selbst wurde mit 2 Mann nach einem etwa

1km rechts vor uns liegenden Dorf geschickt, um zu

sehen, ob dasseJbe von den Russen frei sei. Vorsichtig,

gebückt gingen wir durch die Weizenfelder dem

Dorf zu. Von dem an den Ähren und Halmen hangenden

Tau wurden wir ganz durchnäût. Am Rande

des Weizenfeldes legten wir uns hin und spähten

nach dem nur etwa noch 200 m entfernten Dorfe.

Aus einigen Kaminen stieg Rauch. Russen konnten

wir keine sehen. So schnell wir konnten, liefen wir

nun nach dem nächsten Haus hinüber und spähten

um die Hausecke die dreckige Dorfgasse hinunter.

Von den Russen keine Spur. Da ging eine Haustür 
                                          144

auf, eine Frau kam heraus. An einem Stock, den sie

auf der Schulter trug, hingen 2 hölzerne Wasserbehälter.

Sie ging zu dem neben uns stehenden Ziehbrunnen.

Da wir uns an die Giebelwand lehnten,

erblickte sie uns erst, als sie das Wasser heraufziehen

wollte. Sie ersehrak heftig, stief einen Sehrei

au s, aIs ob sie schon an unseren Bajonetten hinge,

ließ alles faUen und rarinte wie besessen zur Haustür

hinein, die sie sofort verriegelte. Ich ging nun

um das Haus herurn zur Hintertür, denn wir hatten

gern von der Frau erfahren, ob noch Russen im

Dorf seien. AIs ich eben die Hand auf den Drücker

legte, ging die Tür auf. Die Frau wolIte allem Ansehein

naeh mit einem kleinen Kind auf dem Arm

durch die Hintertür entfliehen. AIs sie mi ch sah,

fiel sie vor Sehreek in die Knie und hielt mir ihr

Kind entgegen. Sie sagte etwas in ihrer Spraehe,

wahrscheinlich, ich solle sie doch um des Kindes

wilIen schonen. Um sie zu beruhigen, klopfte ich ihr

freundIieh auf die Sehulter, liebkoste das Kind und

machte demselben ein Kreuzzeichen, damit sie sah,

daf ich aueh ein Katholik sei wie sie. Dann zeigte ich

auf mein Gewehr und auf sie und sehüttelte den

Kopf, um ihr zu zeigen, dan ich ihr nichts tun

würde. Wie glüeklich sie nun war l Sie erzählte mir

eine ganze Menge, wovon ich kein Wort verstand.

Ich muhte nun meine beiden Karneraden hereinrufen.

Sie gab uns gekochte Milch, Butter und Brot.

Wie uns das sehmeckte! Ich fragte nun: »Moskalirund

deutete durch das Fenster nach dem Dorf. Da

ging sie nach der Uhr in der Stube, wo sie auf

12 Uhr zeigte und mit der Hand fortwinkte. Nun

wubten wir, daßdie Russen das Dorf um Mitternacht

verlassen hatten.

Ich ging nun hinter das Haus, bestieg einen dort

liegenden Erdhaufen, steckte meinen Helm aufs

Bajonett und winkte der Kornpanie herzukommen.

Wir marsehierten zusammen ins Dorf. Dort wurde

haltgemaeht, die Gewehre zusammengesetzt und

auf die Feldküche gewartet. Von allen Seiten kamen  
                                      1
45

Madchen und Frauen und brachten gekochte Milch, , '

Brot und andere Lebensmittel. Auch befestigten sie"

Blumen an unseren Gewehren und Helrnen. Wir

waren ganz verwundert, denn sonst sahen wir in den

galizischen Dörfern bei unserer Ankunft wenig

freundliche Gesichter. Wie wir dann erfuhren, hatten

die Russen in dem Dorfe vor ihrem Abzug mehrere

Frauen und Madchen vergewaltigt. Daher sahen

sie in uns ihre Befreier. Endlich kam die Feldküche

heran. Sie hatten guten Reis und Rindfleisch

und einige Hühner gekocht, und das Ende vom Lied

war, daß wir aIle die Magen überladen hatten,

Am Nachmittag bekamen wir wieder Ersatzrnannschaften,

meist Lothringer. Sie wurden von der

Westfront weggenommen, da einige Lothringer desertiert

waren. Auch einige OstpreuJkn waren dabei.

Ebenso mein guter Kamerad Hubert Weiland,

der Theologe, der am 4. Mai in den Karpaten leicht

verwundet worden war und nun geheilt aus dem

Lazarett zu seinem Truppenteil zurückgeschickt

wurde. Wir freuten uns beide über das Wiedersehen,

denn er traf nur noch wenige der früheren

Kameraden in der Kompanie. Die meisten waren

gefallen, verwundet oder krank geworden. Beim

Neueinteilen der Kompanien baten wir den Feldwebel,

uns derselben Gruppe zuzuteilen, was er auch

tat. Bei der Gruppe befand sich noch ein junger

Lehrer sowie ein reicher Student, Sohn einesRittergutsbesitzers,

beide aus Ostpreußen. Wir vier wurden

bald sehr gute Kameraden. [, , ,] Die acht verbrachten

wir im Dorf. Am frühesten Morgen ging es

wieder weiter. Gegen Abend wurde in einem Wald

haltgemacht, wo wir 2 Tage verblieben. Dort konnten

wir uns mal richtig ausruhen.

Am 30.juni morgens ging es wieder weiter. Wir

stieûen auf schwächere russische Abteilungen, die

sich schleunigst zurückzogen. Mehrere ihrer Verwundeten

kamen in un sere Gefangenschaft. Am

l.juli 1915 besetzten wir am Morgen eine Höhe. Es

war uns verboten, uns oben auf der Höhe zu zeigen.   146

So lagen wir bis Mittag gedeckt am hinteren Abhang.

Ich war sehr neugierig, was eigentlich vor uns los sei,

kroch auf die Hohe, legte mich hinter den Stamm

einer dort stehenden mächtigen Hainbuche, nahm

mein Glas und betrachtete die Gegend vor mir. [... ]

lch nahm rneine Karte. Bald hatte ich festgestellt, wo

ich mich befand. Das Dorf vor uns hief Livtira

Corna, der Bach Zlota Lipa. Arnjenseitigen Abhang

entlang zogen sich quer einige Haferacker , dazwischen

befanden sich mit Gebüsch bewachsene Boschungen.

Da entdeckte ich etwas, was mich mit

Schrecken erfüllte: einen durch das Gesch teilweise

gedeckten, frisch aufgeworfenen Erdwall, die

russische Stellung. Da gab's sicher wieder etwas zu

stürrnen, die beste Gelegenheit zurn Sterben. Ich

krach zurück und erzàhlte rneine Entdeckung den

Kameraden. Sie waren aile – besonders die jungen

Soldaten, die noch kein Gefecht mitgemacht hatten

– sehr niedergeschlagen. Von dem Mut oder Draufgängertum,

von dem Uiglich in Zeitungen und chern

zu lesen war, konnte man keine Spur sehen.

 

DIE KÀMPFE AN DER ZLOTA LIPA-

             1./2. JULI 1915

Am Nachmittag des l.Juli kam der Befehl zumFertigmachen.

Wir sollten uns, wenn möglich gedeckt,

ins TaI hinunterschleichen und uns hinter der hohen

Boschung der Eisenbahn sammeln. Zu unserem

Clück zog sich eine mit dichtem Gesch bewachsene

Mulde ins Tai hinunter. Dadurch gelangten

wir, von den Russen ungesehen, hinter den Bahn-

.lamm. Die Kompanien, die links von uns den Bahndamm

zu besetzen hatten, konnten schlechter als wir

dahin gelangen, denn sie muliten den mit freiem

!\ckerfeld bedeckten Hang hinunterlaufen. Jeder

licf, wie er wollte. AIs die ersten oben erschienen,

croffneten die Russen sofort ein lebhaftes Schützen-

                                    147

feuer auf sie. Bald war der ganze Abhang mit im

schnellsten Tempo talwärts strebenden Soldaten

überstreut. Wir sahen deutlich die Einschläge der

russischen Infanteriegeschosse, denn bei jedem

Aufschlag flog ein Staubwolkche n auf. Von 3 Kompanien

bliebenjedoch nur etwa 10 Mann getroffen

liegen. Die Russen belegten nun den Bahndamm mit

Schrapnellfeuer. "Vil' waren gezwungen, zur besseren

Deckung Lecher in den Bahndamm zu graben.

Weiland und ich schrieben nun Feldpostkarten nach

der Heimat. Wir hatten jedoch keine Ge\egenheit

mehr, diese\ben bei der Fe\dche abzugeben an

jenem Tage. Gegen Abend mußten wir uns hinter

dem unten am jenseitigen Abhang hinziehenden

Bahndamm vorarbeiten. Auch hier hatten wir

Glück; durch das Gebüsch, das sich neben einem

dorthin führenden Bächlein hinzog, gedeckt, gelangten

wir ohne Verluste hin. Ais die Sonne bereits

am Horizont verschwunden war, glaubte ich, daß wir

hinterm Bahndamm übernachten würden und der

Angriff erst am folgenden Morgen erfolgen würde.

Ich soli te mich jedoch getauscht haben. Hinter uns

donnerten Artillerieschüsse; die Geschosse sausten

über uns und explodierten oben bei der russischen

Stellung. Vie\e Sprengstücke schwirrten bis zu uns

herunter. Vorgehen schrie unser Regimentskommandeur

von dem hinteren Bahndamm herüber.

Wie mich dieses Wort erschaudern machte! Denn

jeder wußte, daf es für man chen das Todesurteil

war. Am meisten fürchtete ich den Bauchschuß,

denn die armen, bedauernswerten Menschen lebten

gewëhnlich noch 1 bis 3 Tage, bis sie unter den

furchtbarsten Schmerzen ihr Leben aushauchten.

»Seitengewehr aufpflanzen! Zum Sturm vorwärtsl

Marschmarschl Alles lief nun nach oben. Eine

Strecke weit waren wir durch Gebüsch gedeckt. Ais

wir jedoch das schützende Gebüsch durchbrachen,

wurden wir von einem knatternden Schnellfeuer

empfangen. Aufschreie hier und dort. [… ] Schrecklich

war das Schreien der Verwundeten anzuhören.

                                     148
Leichtverwundete rannten, so schnell sie konnten,

zurück hinter den schützenden Bahndamm. Aber

trotz allem ging's vorwärts. ln das Knattern desInfanteriefeuers

mischte sich noch das Rasseln der russischen

Maschinengewehre. Schrapnells platzten

über unsren Köpfen. lch war derart aufgeregt, daß

ich bald nicht mehr wußte, was ich tat. Abgehetzt,

keuchend kamen wir vor der russischen Stellung an.

Die Russen kletterten nun aus dem Graben und

rannten den Hügel hinauf, dem nahen Wald zu.

Jedoch die meisten von ihnen wurden niedergeknallt,

ehe sie den Wald erreicht hatten. Wir gingen

noch weiter vor bis zum Waldrand, wo wir uns hinlegten,

um Atem zu schopfen.

Langsam senkte sich der Abend nieder, das Schie

Ben hörte fast ganz auf. Nur vereinzelte deutsche

Granaten sausten über uns, die oben im Walde explodierten.

Auf einmal prasselte links von uns aus

einem vorspringenden Waldstück Infanteriefeuer.

Zing-zing, zischten die Kugeln über uns hinweg. Ein

vielstimmiges Uräh-Ceschrei scholl uns entgegen;

im Dunkel konnte ich no ch sehen, wie die Russen aus

dem Waldstück heraus mit gefaUtem Bajonett auf

uns zugelaufen kamen. Da sie uns von der Flanke

her angriffen, konnten die meisten von uns nicht

gleich schieBen, ohne die VOl' ihnen knienden oder

liegenden Kameraden zu treffen. Einige von uns

zogen sich zurück. achdern ich einige Scsse abgegeben

hatte, schlich ich mich ebenfaUs zurück. Die

Russen hatten sich hingelegt, und beide Parteien

beschossen sich aus nächster Nähe. Hinter einer B6

schung gedeckt, wartete ich der Dinge, die da kommen

soUten. Inzwischen war es Nacht geworden,

jedoch konnte man seine Umgebung deutlich sehen.

Mehrere Soldaten huschten an mir vorüber und verdufteten

sich. Die Knallerei hielt imrner noch an,

jedoch schwächer werdend. Da horte ich VOl' mir

Schritte; ein Soldat rutschte die Böschung hinunter,

wo er stohnend neben mir sitzen blieb. »Bist du

verwundet, Kamerad?« fragte ich. Worauf ich die

                                    149

stöhnende Antwort bekam: »ja, Arm und Erust tun

mir so weh.« Ich leuchtete mit der Taschenlarnpe

und sah, daßer eine tiefe Rinne am Hals hatte, aus

der das Blut lief. »Es ist nicht schlimrn«, sagte ich,

»ein Streifschuû am Hals.«  »Am Hals spüre ich gar

nichts. Nul' im rechten Arrn und in der Brust.«

Nachdem ich sein en Hals mit einem Verbandspäckchen

verbunden hatte, wollte ich ihn den Hügel hinunterführen.

Er hatte jedoch nicht mehr die Kraft

zu gehen. Erst da bemerkte ich, daf sein rechter

Arm schlaff herabhing. lch leuchtete nochmals. Da

sah ich am rechten Oberarm seitwàrts den Einschu li.

Der Arm war durchschlagen und die Kugel zwischen

den Rippen hindurch in die Brust eingedrungen. lm

selben Moment liefen wieder mehrere Soldaten an

uns vorüber. lch rief sie an, mir den Verwundeten

hinuntertragen zu helfen. Aber aIle rannten weiter.

Nach einigen Minuten kam ein anderer, der war

gleich einverstanden, mir zu helfen. Wir setzten den

Verwundeten auf mein Gewehr, der eine hielt am

Lauf fest, der andere am Kolben. Der Verwundete

legte seinen gesunden Arm um meinen Hals, und

vorwàrts ging's den Abhang hinunter. Aber wir kamen

nicht weit. Bei der steilen Böschung kamen wir

aile beide ins Rutschen, 50 daf wir mitsamt dem

Verwundeten zu Boden stürzten. lch sagte zu dem

Soldaten, el' solle mein Gewehr und meinen Tornister

tragen; mit seiner Hilfe nahm ich den Verwundeten

auf den Rücken und trug ihn, solange ich

konnte. Dann wechselten wir uns ab. So erreichten

wir das Dorf. Einen Sanitäter, der auf uns zulief und

den ich trotz der Dunkelheit an der weiûen Binde am

Arrn erkannte, fragte ich nach dem Ante. »Das

dritte Haus links ist der Verbandsplatz.. Wir gingen

hin und lieferten unseren Verwundeten ab. Wir

beide hielten uns dort nicht lange auf, denn das

Jammern und Stöhnen sowie das Blut griffen uns an

die Nerven. »Wohin wollen wir P. fragte mich mein

Kamerad. Am liebsten wollte ich in einer Scheune

übernachten, doch ich hatte keine Ruhe. lch wufite

                                        150

nichts über das Schicksal von Weiland und den beiden

anderen ostpreuBischen Kameraden. Also entschlossen

wir uns, die Kompanie zu suchen. Unterwegs

trafen wir am Straßenrand sitzend einen Soldaten,

der einen Schuf durch die Ferse erhalten

hatte. Er hatte sich bis hierher geschleppt, bis er vor

Blutverlust, Schmerzen und Müdigkeit nicht mehr

weiter konnte. Wir beide trugen ihn nach dem Verbandsplatz.

Der Verwundete, den wir vorher dahin

gebracht hatten, lag besinnungslos auf dem Stroh

und schien dem Tode nahe. lnzwischen war es Mitternacht

geworden. Nun machten wir uns erneut

auf die Suche nach unserer Kompanie. Wir trafen

sie hinrer dem Bahndamm, von dem wir den Angriff

unternommen hatten. Die Soldaten lagen oder

hockten dort, die einen schliefen, die anderen stierten

in die Nacht hinaus. leh ging den Bahndamm

entlang und fragte jeden: »Lst Weiland hierP. So

kam ich bis zur Nachbarkompanie. Aber den Weiland

habe ich nicht gefunden. Da sagte mir ein Soldat,

er habe ihn taumeln und stürzen sehen. Er

wisse aber nicht, ob er tot oder schwer verwundet

sei. Eine Nachricht, die mich ganz niederschmetterte.

Gerne wäre ich ihn suehen gegangen, aber

erstens hatte es in der dunklen Nacht keinen Zweck,

und zweitens war es zu gefahrlich, da die Russen,

wie Patrouillen festgestellt hatten, wieder ihre Stellung

besetzt hatten. Die Toten und die meisten

Schwerverwundeten blieben oben liegen und befanden

sich in den Händen der Russen. Nun traf

ich meinen anderen Kameraden, den ostpreuBischen

Studenten. Er sagte mir, daß der junge Lehrer

einen Schuf quer durchs Gesicht erhalten hatte,

der ihm einige Zähne ausgeschlagen und die Zunge

verletzt hatte. Also waren wir von vier guten Kameraden

nur noch zwei. Auch unser Gruppenführer,

Unteroffizier Hiller, fehlte. Die Kompanie hatte

schwer gelitten.

ln meiner Nähe saf der Kompanieführer; er unterhielt

sich mit einem jungen Leutnant, der erst in

                            151

der Nacht zu unserer Kompanie kornmandiert worden

war. Ich hörte, wie letzterer sagte, daf3 dies wohl

die letzte Nacht seines Lebens sei, denn bei dem

Sturm morgen früh werde er wahrscheinlich fallen,

da doch sein Zug voranmüsse. Auch der Kornpanieführer,

ein erst 19j;ihriger Junge in jageruniform,

seufzte. Ihm graute es ebenfalls vor dem kommenden

Tag. Ich nahm mir fest vor, den Angriff, wenn

irgend möglich, überhaupt nicht mitzumachen.

Langsam graute der Morgen. Einige Mann WUl'

den zur Feldküche geschickt. Sie brachten Essen,

Kaffee und Brot. Einige Soldaten aßen überhaupt

nichts, aus Furcht, einen Bauchschuf zu bekornmen,

was natürlich mit vollern Magen weit gefahrlicher ist

aIs mit leerem. »Da oben kommt noch ein Verwundeter

«, hörte ich einen Kameraden rufen. Ich

schaute über die Geleise nach oben. Wirklich, da

walzte sich ein Verwundeter immer über und über

den Abhang hinunter auf uns zu. lm Graben jenseits

der Bahn machte el' haIt. Einige Soldaten sprangen

hinüber und holten ihn hinter den schützenden

Damm. Wie der Mensch aussah! Er hatte ein lnfanterie

Explosivgeschoß in die rechte Wade erhalten.

Die Wade war an drei Stellen, von oberhalb des

Knöchels bis zum Knie, auseinandergerissen. Ein

schrecklicher Anblick! Seine Lippen waren vom

Wundfïeber trocken und aufgespalten. Er verlangte

immer wieder zu trinken und trank mindestens

2 Liter Kaffee. Durch die Büsche gedeckt, wurde er

zurückgetragen.

Mit Grauen erwarteten wir alle den Befehl zum

Sturm. Da setzte das deutsche Artilleriefeuer ein,

jedoch viel zu schwach, um die russische Stellung zu

erschüttern. Welche Niedergeschlagenheit unter

den Soldaten herrschte, laßt sich nicht beschreiben.

Man kam sich vor wie ein zum Tode Verurteilter,

der seine Henker erwartet, die ihn zum Schafott

führen. Sich weigern mitzumachen, das ging nicht,

denn ein Kriegsartikellautet: »Wer var dem Feinde

den Gehorsam verweigert, wird mit dem Tode  
                      
152

bestraft!

« Also blieb nur ein Weg: mitzumaehen oder

sich unauffallig irgendwo zu verkriechen.

    »Fertigmachen!« Wir mußten uns hinterm Bahndarnm

aufstellen. Eine Kompanie sollte am Bahndamm

in Reserve bleiben, um im Falle eines russischen

Gegenangriffs denselben abzuschlagen. »Vorwärts!

Marschmarsch !>> Über die Bahnlinie ging's.

loch fiel kein Schuû. Wir waren noch durch Gebusch

gedeckt. Absichtlich blieb ich etwas zurück

und kroch blitzschnell unter einen an der ersten

Boschung stehenden, verkrüppelten Eichenbuseh.

Nun ging oben das Geknatter und Hurrageschrei

los. Ich war sehr gespannt, wie der Angriff ausfaIlen

würde. Bald hatte ich die Gewißheit, daß das Schie-

Ben nachlieb. Eine Menge russischer Gefangener,

begleitet von einigen unserer Soldaten, kamen den

Abhang herunter. Der Angriff war geglückt. Zu

meinern nicht geringen Staunen kam nun unser

Kompanieführer, der sich sicher auch gedrückt

hatte, in beiden Händen Munitionspakete tragend,

von unten herauf. Ich dachte: Wenn der sich mit

seinern Leutnantsgehalt [damais etwa 280 Mark im

Monat] drücken konnte, warurn sollte ich's nicht mit

meinen 53 Pfennig Löhnung pro Tag [also 16 Mark

im Monat]! lch selbst holte nun hinter dem Bahndarnm

auch einige Munitionspakete und ging den

Abhang hinauf wieder zur Kompanie, um sa den

i\nschein zu erwecken, aIs wäre ich zum Munitionsholen

zurückgeschickt worden. Mein Zurückbleiben

war nicht aufgefallen. Unterwegs hielt ich unter den

Toten, von denen wohl die Hälfte auf dem Gesicht

lag, Umschau nach Weiland, konnte ihnjedoch nicht

eutdecken ...

Am Waldrand befanden sich mehrere StelIen, die

mit sehr schonen Blumen wie mit einem Teppich

hedeckt waren, Dazwischen lagen einige auf der

Flucht niedergeschossene Russen. Welcher Gegensatz,

die herrliche Natur, dazwischen die armen, unschuldigen,

aus ihrer Heimat gerissenen Opfer des

europäischen Militarisrnusl

                                    153
Die Kompanie war oben damit beschäftigt, sich

cinzuschanzen. lch ging zum Kornpanieführer, bat

um die Erlaubnis, meinen Kameraden Weiland suchen

zu dürfen, da er mir den Auftrag gegeben

hatte, im Falle, daß ihrn etwas zustoûen sollte, seine

Angehörigen zu benachrichtigen. Ich bekam die Erlaubnis

und ging zurück zur SteHe, wo unsere Kornpanie

vorgegangen war, und hielt Urnschau unter

den armen Toten. Viele lagen auf dem Gesicht, und

ich rnubte sie umdrehen. lch erschrak mehrrnals, ais

ich gute Kameraden von mir erkannte. [… ] Dicht

vor der russischen Stellung fand ich meinen Cruppenführer,

den lothringischen Unteroffizier Hiller.

Er lag auf dem Rücken und hatte einen Bauchschuf

erhalten. Er hatte die Hosen heruntergeschoben,

das Hemd hochgezogen, sein Verbandspackchen

zweimal um den Leib geschlungen. Wahrscheinlich

hatte er dabei das Bewußtsein verloren. Seine Tressen

waren an Kragen und Armel abgetrennt; wahrscheinlich

hatten sie die Russen ais Andenken mitgenommen.

Trotz meines Suchens fand ich von Weiland

keine Spur. Ich konnte es mir nicht anders

erklären, ais daß ihn die Russen im schwerverwundeten

Zustand mitgenommen hatten. ln diesem

Sinne teilte ich den Eltern Weilands das Schicksal

ihres Sohnes brieflich mit.

Weiter oben untersuchte ich die Rucksäcke von

zwei toten Russen; aus dem einen nahrn ich ein Säckchen

Zucker und ein Stück Schwarzbrot, aus dem

anderen ebenfalls ein Säckchen Zucker und ein

neues Hemd. Sofort zog ich es an, nahm mein altes,

von Schmutz und Läusen wimmelndes Hemd und

warf es weg. [… ]

Morgens in aller Frühe nahmen andere Regimenter

die Verfolgung auf. Unsere Division muJ3te sich

bei Livtira Gorna samrneln, um an einem anderen

Frontabschnitt eingesetzt zu werden. Ais wir uns in

Marsch setzten, glaubte ich, hinter mir ein lei ses

Schluchzen zu hören. lch schaute mich um und sah

einen Soldatcn unterdrückt weinen. Sie waren zwei  
                                   154
Brüder bei der Kornpanie gewesen, der cine aktiv,

der andere freiwillig mit 18 Jahren. Dieser war ein

munteres Kerlchen, den alle gLlt leiden konnten und

der in der Kompanie nur »Bubi« genannt wurde.

Bubi war auch gefallen. Wie mir mm sein Bruder

crzählte, hatte el' ihn selbst begraben.

Gegen Mittag fragte ich den Kompanieführer

ums Austreten und blicb absichtlich zurück. AIs die

ganze Division durchmarschiert war, ging ich gemütlich

hinterher. lm nächsten Dorf traf ich einen

Soldaten rneines Bataillons, der auch genug hatte

und sich einige Tage drücken wollte. Wir kauften im

Dorfe Brot, Milch und Eier und blieben in einer

Scheune über Nacht. So bummelten wir mehrere

Tage hinterher. Mehrere Male wurden wir von Offizieren

aufgehalten und gefragt, woher und wohin.

lch sagte, wir seien von unserer Truppe abgekornmen

und eben im Begriffe, dieselbe aufzusuchen.

lch wuûte ganz genau, daßman, werm man 7 Tage

von der Kompanie weg war, für fahnenflüchtig erklärt

wurde und eine harte Strafe in Aussicht hatte.

So gingen wir zu mehreren österreichischen Abtei-

lungen, die eben in den Dörfern lagerten, meldeten

uns bei irgendeinem Kornpanieführer und baren

ihn, uns seiner Truppe anschließen zu dürfen, bis

wir wieder deutsche Truppen antreffen würden.

Wir wurden dann von der Feldküche verpflegt. lch

hat dann den Kompanieführer um einen Ausweis,

damit ich bei der Ankunft bei meiner Kornpanie

vorzeigen konnte, wo ich mich während meines

Fernbleibens aufgehalten hatte. Sobald wir im Besitz

dicses Ausweises waren, verschwanden wir bei der

nächsten Gelegenheit.

     Langsarn näherten wir uns wieder der Front in

Richtung des Stadtchens Brzezany in Nordostgalilicll.

Vor uns in gaI' nicht weiter EnLfernung war ein

schweres Gefecht im Gange; den ganzen Nachmittag

klamgen der Donner der Kanonen, das Rasseln der

Maschinengewehre und das Infanteriefeuer von

vorne. Wie schon es doch war, cincm Gefecht von

                                    155

weitern zuzuhoren, statt dasselbe mitzumachen. Gegen

Abend flaute das Feuer ab. Viele Leichtverwundete,

die meisten mit Arrn- oder Handschüssen, kamen

an uns vorüber. Es waren Soldaten meiner Division,

ebenso viele Österreicher. Nach einer Weile

ging eine große Kolonne gefangener Russen, geführt

von einigen deutschen Soldaten, ebenfalls an

uns vorüber.

      Erst am anderen achmittag gingen wir wieder

weiter. Eine Brücke führte über einen Bach. Mich

überkam grol3e Lust zu baden, denn den ganzen

Sommer hatte ich noch keine Gelegenheit dazu gehabt.

Wir beide zogen uns aus und unterzogen uns

einer gründlichen Reinigung. Ich erschrak, ais ich

meinen nackten Körper betrachtete. Derselbe hatte

eine gelbgraue Farbe und war zum Skelett abgemagert.

Überall war die Haut wegen der Lause aufgekratzt,

besonders unten bei den Knöcheln, Soweit

die wollenen Chaussettes [Socken] reichten, waren

mehrere Wunden vom Kratzen. Der Korper meines

Kameraden bot dasselbe J ammerbild. Nach dem Baden

setzten wir uns an die Sonne und fïngen in

unseren Hemden und Kleidern Lause. Jeder fïng

mehrere hundert dieser schrecklichen Qualgeister.

Nachher ging es wieder weiter. Links und rechts von

der Stral3e befanden sich viele Weidenbüsche,dazwischen

sah ich viele Schützenlöcher. Ais wir aus

dem Gebüsch herauskamen, befanden wir uns auf

der Stelle, auf der tags vorher das Gefecht stattgefunden

hatte. Aus den Weidenbüschen heraus war

der Angriff der deutsch-österreichischen Infanterie

erfolgt. Die russische Stellung hatte sich auf einer

kleinen Anhöhe befunden. Vor dem Graben zog

sich ein teilweise zerschossener Drahtverhau hin.

Von dem Weidengebüsch bis zur russischen Stellung

dehnten sich flache, deckungslose Wiesen aus. Darauf

lag zerstreut eine Menge Gefallener, Deutsche

und Österreicher. Vorne lag eine Zickzacklinie dieser

Annen. Wir beide gingen von der Stralie herab,

um sie naher anzusehen. Viele hatten noch den Spa-  
                                156

ten in der Hand, sie waren beim Eingraben getroffen

worden. Die Deutschen waren vom 43. Infanterieregiment,

aiso von unserer Division. Viele waren

ganz neu eingekleidet und ausgerüstet. Sie waren

allem Anschein nach erst vor wenigen Tagen aus

Deutschland angekommen und hatten hier den Tod

gefunden. ]edenfalls waren sie glücklicher zu schätzen

aIs diejenigen, die jahrelang das Elend mitmachen

und dann doch fallen muûten. An einer Stelle

führte eine Auffahrt nach der höher gelegenen

Straße, dahinter lagen 15 bis 20 Gefallene in- und

übereinander. Dieselben waren wohl von einem russischen

MG, das sie schrag von der Flanke hatte

fassen können, zusammengeschossen worden. Ich

schnallte dort von einem Tornister ein neues Kochgeschirr,

warf mein altes, unappetitliches, verrostetes

weg und schnallte das neue auf. Dann gingen wir

wieder weiler. ln der russischen Stellung sahen wir

nur sehr wenige Gefallene Iiegen.

       Wir kamen nun in ein Dorf, das von der deutschen

Artillerie zur Halfte in Brand geschossen worden

war. Überall umstanden die Bewohner jammernd

ihre verbrannten, noch rauchenden Wohnstätten.

Eswohnten meist deutsche Ansiedler in jenem Dorf.

Fine Frau, die bei ihrem verbrannten Hause stand,

«rzählte uns, daß ihr Haus bereits vorigen Herbst,

"ci dem Vormarsch der Russen, verbrannt sei. lm

Frühjahr hatten sie es wiederaufgebaut, und nun

stehe sie wieder obdachlos da. Sie weinte zum Herzzcrbrechen.

Von ihrem Mann, der in der Festung

Przemysl war, hatte sie, seit die Russen die Festung

erobert hatten, auch keine Nachricht mehr. Was 50

ein KriegJammer und Herzeleid unter die Menschhcit

bringt!

       Zwei Tage spater kamen wir wieder zur Kornpanic,

Ich woilte mich unauffällig dazugesellen, doch

der Kompaniefeldwebel hatte mich bald entdeckt.

Wir hatten wieder einen neuen Kornpanieführer,

dell ich nicht kannte. Zu diesem führte mich der

leldwebel. Ich wurde ganz gehörig abgekanzelt,

                                157
und mit der guten Nummer in der Kompanie war es

natürlich vorbei. Es war mir alles einerlei, so gleichgültig

war ich geworden. »Sie gehoren exemplarisch

bestraftl tobte der Feldwebel. Da langte ich meine

Brieftasche aus der Rocktasche, kramte die Bescheinigungen

hervor und hielt sie dem Feldwebel hin.

»Was haben Sie da für einen Wischj'. schrie er.»Bescheinigungen

über meinen Aufenthalt seit meiner

Abwesenheit von der Kornpanie«, antwortete ich.

Ais der Feldwebel alles durchgelesen hatte, sagte er:

»Sie scheinen ein schlaues Schwein zu sein, aber ich

werde Sie noch rankriegen. Machen Sie, daß Sie mir

aus den Augen kommen! «

          [… ] Ich traf auf viele unbekannte Gesichter. Es

waren neue Ersatzmannschaften, die aus Deutschland

gekommen waren. Auch hatte die Kompanie

seit meiner Abwesenheit mehrere Verluste erlitten.

Ich kam zufällig' zu der Gruppe, in der mein Kamerad,

der Student aus Ostpreußen, sich befand. »]a,

Richert, wo kommst denn du blof her? Wo warst du

denn die Tage? Ich dachte schon, dir sei etwas zugestoûen!

« sagte er. »Ich habe bloß einige Tage Erholungsurlaub

gehabt hinter der Front«, antwortete

ich, worauf wir beide lachen mußten.

Nun ging es wieder weiter. Infolge der graßen

Hitze litten wir sehr Durst. Auf den schlechten

Straßen und Wegen lagerte bei dem trockenen

Wetter eine Unmasse Staub; durch die rnarschierenden

Kolonnen wurde er so aufgewirbelt, daß

man sich in einer regelrechten Staubwolke vorrts

bewegte. Der Staub legte sich auf Uniform und

Tornister, drang in Nase, Augen, Ohren. Da die

meisten unrasiert waren, setzte sich der Staub in

die Bärte, der Schweiß rann unaufhorlich hinab,

wahre Bachlein in den bestaubten Gesichtern bildend.

Bei solchen Märschen sahen die Soldaten

ganz ekelhaft aus.

   Infolge der unregelmaûigen Verpflegung, der

Uberanstrengung, des schlechten Trinkwassers, der

Hitze und der abgeschwächten Kërper brachen unter
                                    158
de Truppen Krankheiten aus, so die Ruhr, der

Typhus, Magen- und Darmkatarrh, welche viele Opfer

forderten. lch selbst litt oft an Durchfall. Ich

meldete Illich mehrmals krank, bekam dann auch

einige Arzneimittel, kam aber doch nicht ins Lazarett,

da ich noch kr äftig genug war, mich mitzuschleppen.

Wir wurden oft g'egen die ansteckenden

Krankheiten geimpft, was manchmal schmerzhaft

war. Die Stelle der Einimpfung auf der Brust schwoll

manchmal hoch an. Nach diesen Impfungen machten

viele Soldaten auf den Märschen schlapp und

wurden auf von Bauern requirierten Wagen hinten

nachgeführt.

         Wir marschierten noch 2 Tage, bis wir in die Nahe

des Städtchens Brzezany kamen. Am 18.Juli abends

erwarteten wir, gedeckt hinter einem mit Weizen

bepflanzten Hügel, die Nacht. Am Tage hörten wir

dauernd Kanonendonner. Ais die Nacht sich niedersenkte,

sahen wir über die Höhe hinweg, daßsich

der Himmel blutig rot farbre: es schienen gewaltige

Brande ausgebrochen zu sein. Nun kam der Befehl,

den Hügel zu besetzen. Wir kamen an mehreren

Gruppen Osterreichern vorbei, die eben dabei waren,

Tate zu begraben. lm Vorbeigehen fragte ich,

was hier eigentlich los sei, erhieltjedoch keine Antwort,

da keiner der Österreicher Deutsch verstand.

Ais wir die Hohe überschritten, sahen wir tief unter

uns mehrere Dërfer sowie einzelnstehende Cehöfte

lichterloh brennen. Es schien uns, als ob die Brande

mit Absicht gelegt worden waren. Mitten in einem

Weizenfeld, das nach vorne schrag abfiel, muûten

wir uns eingraben, etwa in 10 m Entfernung von

Mann zu Mann. Es wurde uns streng verboten, uns

bei Tagesanbruch zu zeigen, da die Russen die Stelle,

\VO wir lagen, gut übersehen konnten. So lagen wir

den ganzen Tag im Loche,jeder einzeln für sich. Die

Sonne brannte den ganzen Tag unbarmherzig hernieder,

qualender Durst stellte sich ein, und jeder

sehnte sich na ch dem kühlen Abend in der Hoffnung,

dass  dann von der Feldküche Kaffee oder

                                     159
doch wenigstens Wasser geholt werden konnte. Ich

war in meinern Loch eingeschlafen, als ich plotzlich

von einern lauten Krach aufgeschreckt wurde.

Gleich darauf schwebte eine Wolke schwarzer, stinkender

Granatrauch über mich. Eine Granate hatte

kurz vor mir eingeschlagen. Wahrscheinlich hatten

uns die Russen im Weizen entdeckt. Nun karn Granate

auf Granate, welche teils kurz hinter oder seitwarts

von mir explodierten. Es war mir ganz unheimlich

zumute, und ich vergaf sogar den qualenden

Durst. Endlich hörte die Schießerei auf, und

langsam senkte sich der Abend nieder. Der Tau

setzte sich an Gras und Halm. Um etwas Kühle und

Feuchtigkeit in den Mund zu bekommen, leckte ich

den Tau ab. Wir hofften, abends da wegzukornmen,

mußten jedoch bis in der Frühe des nachsten Morgens

bleiben. Da hieß es, die Russen hatten sich zurückgezogen.

Wir standen auf und betrachteten die

Gegend vor uns. Nirgends fiel ein Schuß, ebenso sah

man keine Spur von den Russen. Die Feldküche kam

angefahren, wir erhielten Essen: Kaffee, Brot sowie

Rauchrnaterial. Dann ging es wieder vorrts durch

verbrannte Dörfer, die die Russen absichtlich eingeäschert

hatten.

       Am Nachmittag stief3en wir wieder mit der russischen

Nachhut zusammen. Wir mußten in Schützenlinien

ausschwarrnen und gegen die Russen vorgehen.

Sie zogen sich bald zurück. ur von einem

runden Hügel, etwa 1500 m rechts var uns, bekamen

wir in die Flanke lebhaftes Infanteriefeuer. Durch

die große Entfernung hatte das Feuer jedoch nur

geringe Wirkung. Plötzlich stief mein Nebenmann

einen markerschütternden Schrei aus, ließ das Gewehr

fallen, drückte beide Hände VOl'das Gesicht

und schrie immerfort herzzerbrechend. Ich sprang

zu ihrn hin und sah das Blut zwischen seinen Fingern

hindurchlaufen. »Was hast du, Karnerad>. schrie

ich. »Die Augen, die Augenl rief el' weinend. »Ich

sehe nichts mehr! « Ich zog ihm die Hände vom Gesicht

weg und erschrak heftig. Der arme Mensch war

                            160

blind geschossen. Eine Kugel hatte ihm beide Augen

aufgerissen, sa daf sie ausliefen. Ein Jammerbild,

wie ich noch wenige gesehen hatte. DasJammern des

Kameraden ging mir, sosehr ich auch abgehartet

war, so sehr zu Herzen, daß mir selbst die Tranen

herunterliefen. »Ach, wenn mich doch nur eine Kugel

toten rdel jamrnerte er. Da immer noch Kugeln

um uns schwirrten, zog ich ihn auf den Boden

nieder und wickelte meine beiden Verbandspackchen

mn seinen Kopf, tröstete ihn, so gut ich konnte,

und versprach ihm, bei ihm zu bleiben und ihn dann

zurückzuführen, sobald das Feuer nachließ. Nach

einer Weile kamen 2 Sanitäter, die uns hatten liegen

sehen, und führten ihn zurück. Ich selbst lief der

Schützenlinie nach.

      Wir rasteten auf einer Anhöhe, von wo man eine

weite Sicht nach vorne hatte. Wir konnten mit dem

bloßen Auge die Kolonnen der zurückgehenden

Russen sehen. ln einem flachen Tale var uns lag ein

Dorf. Wir sollten dasselbe besetzen. Die Einwohner

hatten ihre paal' Mobel sowie Fenster und Türen von

ihren Hütten weg ins Freie getragen, im Falle, dass

ihr Dorf in Brand geschossen wurde. Eine Frau gab

mir im Vorbeigehen ein grolks Stück Brot. [... ]
 

 

 

 

         DER MARSCH NACH RUSSISCHPOLEN
 

Am anderen Morgen muûte sich das Regiment sammeln.

Es hi, wir sollten an eine andere Front transportiert

werden. Die einen sagten, nach Italien, die

anderen, nach Frankreich, wieder andere, nach Serbien

hinunter. Am liebsten wäre es mir gewesen,

wenn es nach Frankreich gegangen ware. Erstens

wurde man während der Reise nicht totgeschossen,

und zweitens hoffte ich dort auf eine baldige Gelegenheit,

auszukneifen und in Gefangenschaft zu gehen.

Den Russen traute ich nicht, und es wurde uns

vorgelogen, die gefangenen Deutschen würden

                                        161

nach Sibirien geschickt, um dort in den Bergwerken

zu arbeiten, wo die meisten balel vor Kälte undEntbehrungen

zugrunde gehen rden.

Bald wurden wir gewahr, daf wir uns aile getäuscht

hatten. Den ganzen folgenden Tag marschierten

wir hinter der Front entlang in westlicher

Richtung. Gegen Abend kamen wir vor das Städtchen

Przemyslany. Dort wurde haltgemacht. Wir

mußten in Gruppenkolonnen antreten und soUten

vor einigen öster reichischen Generalen im Parademarsch

vorbeimarschieren. Das fehlte noch! Mit unseren

müden Knochen! Ich selbst mußte mich an

den rechten Flügel der Gruppe stellen, da ich ais

aktiver Soldat den Parademarsch vorschriftsmäûig

gelernt hatte. Eine osterreichische Regimentsmusik

fing an zu spielen. »Irn Gleichschritt, marschl- Erst

etwa 30 Schritt vor den Cenerälen sollten die Beine

rausfliegen. Ais ich die beiden vollgefressenen, mit

Orden und Auszeichnungen vollbehängten Dickwanste

sah, die mit der kältesten Miene der Welt den

Vorbeimarsch abnahmen, erfaûte mich eine derartige

Wut, daßich es nicht über mich bringen konnte,

im Paradeschritt zu marschieren, und es ging im

Gleichschritt vorüber. Ein Feldwebel, der hinter mir

an der Spitze des dritten Zuges war, sagte dann zu

mir: »Na, Richert, warum sind Sie nicht marschiert?

«  »Ich war zu müde«, antwortete ich ihm.

»Sie hatten ganz recht«, sagte el' dann zu mir, »solchen

Blödsinn braucht man eigentlich nicht in

Kriegszeiten.« Die Nacht und den folgenden Tag

verbrachten wir in einem Dorfe. [... ] Statt dass wir

uns richtig ausruhen durften, mussten wir allen möglichen

Blödsinn exerzieren: Crüssen üben, Parademarsch,

Einzelmarsch, kurz: wie auf dem Kasernenhof.

       Von da ab sollte nur des Nachts marschiert werden,

um den russisehen Fliegern unmüglich z.u rnachen,

die Truppenbewegung zu beobachten. Mit

dem Dunkelwerden ging es weiter. [… ] Nach etwa

15 km trat ich zur Kolonne hinaus, um zu lesen, was

                                        162

an einern Kilorneterstein stehe. »Lwow J 3 krn «, las

ich. Lwow heilit auf deutsch Lemberg, die Hauptstadt

Galiziens. Diese Stadt will ich mir ansehen:

auch kann ich dort sichcr allerhand einkaufen,

dachte ich. Ich wulite ganz genau, daßman nie in

einer gsseren Stadr einquartiert wird , Also musste

ich auf eigene Faust dorthin gelangen. lch trat aus

der Kolonne und fragte den hinter der Kompanie

reitenden Kornpanieführer, austreten zu dürfen.

»Ja«, antwortete er, »aber machen Sie, dass sie so

schnell ais moglich wieder in Ihr Loch kommenl 

»Jawohl, Herr Leutnant«, antwortete ich, sprang

über den Straßengraben, ging hinter einen Busch,

stellte den Tornister auf den Boden und setzte mich

darauf. Der Vorbeimarsch der Division wollte kein

Ende nehmen. Da ich unter dern Tornister geschwitzt

hatte, bekam ich in der kühlen Nacht ganz

kalt auf dem Rücken. Endlich, nach etwa 2 Stunden,

fuhren die letzten Bagagewagen vorbei. Ich hing

rneinen Torriister um, mein Gewehr um den Hals,

zündete eine Zigareue an und ging gemütlich hinterher.

Nach etwa einer halben Stunde kam ich zu einem

einzelnstehenden Cehoft. Das Scheunentor war unverschlossen.

Ich ging hinein, kroeh ins Stroh und

schlief bald ein. Ich erwachte, ais mir die Sonne

durch ein Loch im Schindeldach ins Gesicht schien.

Eine Frau, die eben im Hof die Hühner fütterte, war

ganz erstaunt, als sie einen deutschen Soldaten aus

der Scheune kommen sah. Ich ging ZlI ihr hin und

grüßte sie auf polnisch: »Tschen dobra, madka!«

Worauf sie erwiderte: »Tschen dobre, pan! Das

heißt: »Cuten Morgen, Frau. Guten Morgen, Herr.«

Ich fragte sie nun um »rnilka«, »jaika«, »rnasla« und

»kleba« (Milch, Eier, Butter und Brot), zeigte ihr

meine Brieftasche und sagte: »Pinunze«, das heiût

»bezahlen«. Die Frau winkre mir, hineinzukommen,

und setzte balel das Verlangte auf den Tisch. Sie

mußte làcheln, ais sie sah, welches Quantum ich vertilgte.

AIs ich sart war, steekte ich noch etwas Brot

                                        163
 

und einige Eier in rneinen Brotbeutel, bezahlte, bedankte

mich und ging hinaus, denn ich hö rte a us der

Richtung, aus der wir gestern nacht gekommen waren,

WagengerasseI. Eine Trainkolonne karn angefahren.

Vorne ritt ei n Leutnant. Obwohl mir absolut

niehts fehlte, hinktc ich nach der nahen Straûe, bat

den Leutnant, mitfahren zu dürfen, da ich fuûkrank

geworden sei und meiner Truppe nicht mehr nachfolgen

konne. Der Leutnant, der ein gutes Herz zu

haben schien, schrie zurück, man solle mir in einem

Wagen Platz machen. Ich bestieg den zweiten Wagen

der Kolonne, legte mich hinter den Fuhrrnann auf

einige Sacke unter das gewülbte Zeltdach. Wir unterhielten

uns eine Weile; der freundliche Trainsoldat

gab mir auch aus einer Flasehe Cognac zu trinken.

Diese Gelegenheit wurde von mir gehorig ausgenützt.

Dann schlief ich ein. Durch ein seltsam surr endes

Ceràusch wurde ich aufgeweekt. Ich kroeh untel'

dern Zeltdach hervor und sah, daßieh mich in einer

Stadt befand. Das konnte nur Lemberg sein. Das

Ceräusch rührte von einem eben vorbeifahrenden

Trambahnwagen her. Auch fuhren wir eben an einem

Mar kt vorbei, wo auf Verkaufsstanden alles

mögliche zum Kaufen feil war. Sehnell nahm ich

Abschied vom Trainsoldaten und kletterte den Wagen

hinab. Nun ging es ans Einkaufen. Schokolade,

Wurst, Süßigkeiten vom Zuckerbacker und so weiter.

Dann ging ich in ein Gasthaus und lief mir ein

gutes Mittagessen vorsetzen. Nach dem Essen besichtigte

ich die Stadt. Es befanden sieh herrliehe

Straßen und sehr schone Gebäude darin, die ich in

Galizien nicht gesucht hätte. Zufällig karn ich zu

einem Militärauskunftsbüro, ging hinein und fragte,

wo das 2. Bataillon, Infanterieregiment 41 sieh gegenwartig

befande. [… ] lch karn eben bei meiner

Kompanie an, als sie sich zum Weitermarseh fertigmachte.

Unauffällig gesellte ich mich lU meiner

Gruppe. »Hcute nacht geht's bis zum Städtchen

Rawa Ruska, 35 krn«, hief es. Aulierhalb des Dorfes

gab es eine Stockung auf dern Marsche. Wir sollten
                   164

wieder im Paradeschritt VOl'einigen deutschen und

österreichischen Ceneràlen und höheren Offizieren

vorbeimarschieren. Von hinten tönte cler Ruf:

»Rechts ran l- Eine Kraftlastwagenkolorme fuhr

langsam an uns vorbei. »Wohin fahrt ihr P. horte ich

hinter mir einen Soldaten den Chauffeur fragen.

»Nach Rawa Ruska«, lautete die Antwort. Sofort

kletterten mehrere Soldaten auf die Camions [Lastwagen],

ich ebenfalls, trotz der wütenden Rufe der

Offiziere und Unteroffiziere. Nach etwa l y~ Stunden

hatten wir Rawa Ruska erreicht. Verschiedene

Einwohner waren noch nicht zu Bett. Wir gingen in

eine Bäckerei und kauften uns eine Menge Milchweeken,

koehten in einem Bauernhaus Miich dazu

und legten uns nach dem Essen ins Stroh, während

unsere Karneraden in der dunklen Nacht hierher

tappten. Am Morgen suehten wir unsere Kompanie,

die in einem Obstgarten schlief. Jeder von uns legte

sich zu seiner Gruppe. Am Abend ging's dann wieder

wei ter. Bei Rawa Ruska schienen schwere

Kämpfe stattgefunden zu haben. Überall sahen wir

Schützenlocher, Granattrichter und Soldatengräber.

Wir begegneten sehr oft Abteilungen russischer

Gefangener, die se hl' glücklieh schienen, in Cefangenschaft

gekommen zu sein. Der Marsch dauerte

6 Tage, dann hörten wir VOl' uns Kanonendonner.

Wir näherten uns wieder der Front. Wir befanden

uns nun in Russisch-Polen, links yom Flusse Bug.

Hier waren fast alle Dörfer und Cehöfte abgebrannt,

nur die gemauerten Ofen und die Kamine

standen noeh. Die Gegend war hier fast ganz eben.

Am Tage sahen wir nicht allzu weit VOl'uns Brande

und Schrapnellwolkchen in der Luft. »Morgen früh

werden wir eingesetzt, um die hier starke russische

Stellung zu durchbrechen!« hief es. Eine schöne

Aussicht!

                            165
 

 

 

 

 

              KÀMPFE lN RUSSISCH-POLEN

                     ENDE JULI 1915
 

ln der Nacht mußten wir vorgehen. Wir kamen an

vielen deutschen Batterien vorbei, die hauptsächlich

an den Waldrändern aufgestellt waren. ln einem

groûen Kartoffelfeld muêten wir uns eingraben. Die

Scsse der Infanterie knallten weiter vorne, sa daß

ich Hoffnung hatte, daf wir beim Angriff in Reserve

bleiben würden. AIs der Tag graute, fing die deutsche

Artillerie an, die russisehe Stellung zn beschie

Ben. [... ] Das Kleingewehrfeuer dauerte lange an, 50

daßwir nicht wissen konnten, wie der Kampf ausgefallen

war. Endlich ka men viele russische Gefangene

mit erhobenen Händen an uns vorübergelaufen. Ich

sah mehrere, die ganz gekrümmt daherkamen, sich

mit den Händen den Bauch hielten und stohnten.

Das waren Kranke, die mit der Ruhr oder Magenund

Darmkatarrh befallen waren. Diese armen Teufel

hatten aueh eine gute Pflege in Aussieht. »Fertigmachen,

vorwartsl- Tornister wurden umgehangt,

und vorwarts ging's. Bald kamen wir var die rus sisehe

Stellung. Gott, wie sah es dort aus! Sehr viele

gefallene Deutsche lagen vor und in dem Drahtverhau,

der teilweise von Granaten auseinandergerissen

war. Die Deutsehen muliten hier sehon vor einigen

T'agen ohne Erfolg angegriffen haben, denn

viele der Toten waren bereits in Verwesungübergegangen

und strömten einen entsetzlichen Gestank

aus. Es waren Bayern; dies sah ich an den Lowen, die

sieh auf den Knopfen ihrer Uniformen befanden.

Die preufiischen Regimenter hatten Kronen auf

ihren Rockknöpfen. Ieh sah dort Gefallene mit

sehrecklichen, angefaulten Kopfwunden, die bereits

von Würmern und Maden wimmelten. Schnell

bahnte sich jeder einen Weg über Cranatlocher und

wirren Draht, um aus dem Bereich dieses Geruchs

herauszukornmen. Dicht vor der russischen Stellung

sah ich einen Russen liegen. Er sah aus wie ein Sack

KartoffeIn, an dem ein Bein war. Kopf, beide Arme

                        166
sowie ein Bein waren weggerissen, die Wunden waren

ebenfalls mit Würmern bedeckt.

Die russische Stellung war sehr stark ausgebaut,

mit Balken bedeckt, darauf waren Bretter gelegt,

und das Ganze war mit Erde zugedeckt. Nur vorne

über dem Erdboden befanden sich die offenen

Schieûscharten. Die Russen hatten nur sehr wenig

Verluste, einige von Volltreffern in der Stellung Getroffene.

ln Sctzenlinien ging es wieder weiter.

Var uns sahen wir das Städtchen Grubeschow. Wir

glaubten dort auf Widerstand zu stoûen, konnten es

jedoeh kampflos besetzen. Es dauerte nicht lange, da

kamen russische Schrapnells herangeflogen. Wir

suchten hinter den Häusern Deckung. Zwei Frauen,

wahrscheinlich Flüchtlinge, suchten auf dem freien

Platze ein graßeres Kalb festzuhalten, das durch das

Sausen und Krachen der Schrapnells wild geworden

war. Trotz der um sie einschlagenden Schrapnellkugeln

lieben die beiden Frauen nicht von dem Kalb

ab. Wir sehrien und winkten, sie sollten doch zu uns

in Deckung kommen; alles half nicht. Da, ein Schrei,

eine der beiden war am Arm von einer Schrapnellkugel

durehsehlagen. Die andere Frau lief nun das

Kalb ebenfalls los, welches in tollen Sprüngen davonjagte.

Ich sprang mit noch einem Kameraden zu

der Frau. Wir beide schieppten sie hinter die Hauser

in Deckung, wo sie ein Sanitäter verband.

Gegen Abend hörte das Feuer auf. Ich schaute

nun um eine Hausecke und sah die russischeInfanteriestellung

am Rande eines Weizenfeides, etwa

700 m entfernt. Zwischen uns und den Russen befand

sich eine Mulde, durch welche ein Bach floû.

Hier müssen wir jedenfalls wieder angreifen, dachte

ich. Da es nachts zu regnen anfing, schiiefen wir in

den Häusern. Diese waren mit Soldaten vollgestopft,

so daßmir nichts übrigbIieb, aIs mich vorne in ein

Bett zn legen, in dem hinten an der Wand ein jüdisehes

Flüchtlingsmädchen schiief. Ich betete Ieise

den Rosenkranz, um beim morgigen Angriff wieder
wohlbehalt
en durchzukommen 
                    
167
 

 

 

 

 

   DER ANGRIFF BEI GRUBESCHOW

             30.JULI 1915

 

Am nachsten Morgen mullten wir hinter den Häusern

mehrere schmale, tragbare Brücken bauen, da

Patrouillen in cler Nacht festgestellt hatten, daf der

zwischen uns und den Russen vorbeifließende Bach

tief mit Treibsand angefüllt war, so daßein Durchschreiten

unrnöglich war. lch clachte bei mir: Das

wird was abgeben, wenn wir beim Angriff auf so

freiem Celande die Brücken zum Bach tragen und

ihn dann im Gänsemarsch überschreiten müssen!

Dieses Unternehmen schien mir tollkühn. Gegen

Abend ging's los; im Laufschritt wurden die Brükken

zum Bach getragen, dann folgten – ebenfalls im

Laufschritt-die lnfanteristen. Aber, 0 Wunder, von

drüben fiel kein Schuß. Ich dachte: Entweder haben

sich die Russen zurückgezogen, oder sie wellen uns

nur naher herankommen lassen, um uns mit

Schnellfeuer zu vernichten. Erst als wir die Brücken

überschritten hatten, fielen var uns einige Schüsse.

Ein Soldat fiel, durch die Stirn geschossen, einem

anderen wurde die Kinnlade zersehmettert. Dann

fiel gar kein Schuf mehr. lm Laufschritt ging es nun

mit Hurrageschrei auf die russisehe Stellung los.

Nichts regte sich. Ais wir vor dem Drahtverhau ankamen,

sahen wir auf einmal eine Menge Gewehre

mit Bajonett, auf denen russische Mützen hingen

oder weiûe cher angebunden waren, hin- und

herschwenken. Es wagte keiner der Russen, auch

nur den Kopf zum Graben herauszustrecken. VoU

Freude kletterten wir über den Drahtverhau. AIs ich

in den Graben hineinschaute, standen die Gewehre

an den Wänden umher. Die Russen waren wieweggeblasen.

lch rief in den Graben hinein. Da wurde

unter mir ein angstliches Gesicht sichtbar. Es befanden

sieh nach vorne, unter unseren lien, Höhlen:

in diese hatten sich die Russen in ihrer Angst verkrochen.

lch lachte gegen den Russen und deutete ihm,

nur herauszukommen. Nun kamen sie, einer nach

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dem anderen, heraus. Einige wollten uns Geld geben,

andere Butter, Brot und so weiter, daf wir

ihnen nichts tun sollten. Wir waren ihnen jedoch

sehr dankbar, denn durch ihr Verhalten hatten sie

manchem von uns sozusagen das Leben geschenkt.

Sie wurden nun aufgestellt und gezahlt. Es waren

450 Mann, 5 Offiziere mit 4 Maschinengewehren.

Wenn sie sich verteidigt hatten, wäre von uns kein

einziger vor ihren Graben gelangt. Wir übernachteten

in der russischen Stellung. Zur Sicherung wurden

Feldwachen und Vorposten aufgestellt. Jedoch

blieb alles ruhig.

Ais es morgens hell wurde, wurden ich, der ostpreuliische

Student und noch ein Soldat nach einem

etwa 1km vor uns liegenden Waldstück geschickt,

um dasselbe abzusuchen, Solche Befehle waren selten

gut auszuführen. Ohne das geringste zu bernerken,

kamen wir in den Wald. Der Student legte hier

die groHte Unerschrockenheit an den Tag. Jede

Vorsicht auber acht lassend, ging er vor uns her, mit

dem Gewehr im Arrn wie auf der Hasenjagd. Am

jenseitigen Wald rand schauten wir durch die Büsche

und sahen in etwa 1500 m Entfernung russischeInfanterie,

die eben mit dem Aufwerfen von Schützengraben

beschäftigt war. »Herrgott, schon wieder

eine Front vor uns! Wo blof die Russen diese Soldateri

alle hernehrnen!« sagten wir uns. Der Student

und ich blieben innen am Waldrand liegen, der andere

Soldat ging mit der Meldung zur Kompanie

zurûck. Abwechselnd beobachteten wir nun mit meinem

Glas die Russen. Viele von ihnen rupften Hafer

und Gras aus und streuten es auf die frisch aufgeworfene

Erde, um so die Stellung unsichtbar zu machen.

Dann kam der Soldat zurück mit dem Befehl,

wir sollten am Waldrand liegenbleiben, bis wir durch

Truppen abgelost werden würden. Gegen Mittag

besetzte ein Reserve-Infanterieregiment den Wald.

Am Nachmittag sollten einige Kompanien eine

Mulde rechts von uns, die mit Büschen bewachsen

war, besetzen. lm Laufschritt liefen die Soldaten

                                169

zum Walde hinaus. Sofort kamen russische Schrapnells

angeflogen. Wie vom Blitz getroffen sah ich

einen Soldaten gleich vor dem Waldrand zu Boden

stürzen. Hinter einer Eiche lag ein Leutnant mit

seiner Ordonnanz. Von rechts kamen aus weiter

Ferne groHe Granaten herangeflogen. Eine der selben

schlug neben der Eiche ein, hinter der die beiden

lagen. Sic wurden zur Seite geworfen und blieben

tot liegen. Wir drei liefen nun, von Zeit zu Zeit

hinter den Stämmen Deckung suchend, zurück. Ein

Kornpanieführer legte die Pistole auf uns an und

schrie, wenn wir noch einen Schritt zurückgehen

würden, knalle er uns nieder. Er glaubte, wir seien

Soldaten seines Regiments. Ich lief zu ihm hin und

teilte ihm den Befehl mit, den wir von unserer Kornpanie

erhalten hatten. Dann gingen wir zurück zu

der russischen Stellung, wo wir unsere Kompanie

verlassen hatten, doch dieselbe war weggerückt. Wohin,

hatten wir keine Ahnung. Wir gingen zurück

nach Grubeschow, kauften uns Lebensmittel und

übernachteten bei einer Judenfamilie, wo wir in einem

Zimmer am Boden schliefen.

         Wir suchten 2 voIle Tage, bis wir unsere Kornpanie

wiederfanden. Drei Kompanien des Bataillons

lagerten bei einem Gute, die vier te kampierte einige

hundert Meter weiter weg auf freiem Feld. Bald

erfuhren wir die Ursache. Injener Kompanie waren

2 Cholerafälle vorgekommen, die todlich verlaufen

waren. Viele Soldaten, die an Durchfall litten, kamen

zur Beobachtung in Seuchenlazarette. Cholera,

das fehlte noch, um die Serie der Leiden vollzurnachen!

Diese Seuche war gefahrlicher als die Kugeln

der Russen, denn dagegen gab es keine Deckung.

Wir wurden mehrere Male dagegen geimpft. Die

Nacht und den folgenden Ruhetag verbrachten wir

in einem armseligen, dreckigen polnischen Dorfe.

lch ging in ein Haus, um Eier zu kaufen. AIs ich die

Stubentür öffnete, fuhr ich erschrocken zurück. ln

der Stube lagen zwei tote Frauen am Boden, wahrscheinlich

Opfer der Cholera. Der eine der beiden

                                    170

Köche bei der Feldküche, der uns am Morgen noch

den Kaffee ausgeteilt batte, lag, ais wir das Mittagessen

holten, tot in einern Holzschuppen. Ebenso starben

am selben Tage noch 2 Soldaten an Cholera. Es

war ein schrecklicher Tod; sie wälzten sich am Boden

hin und her, krürnmten sich wic ein Wurm und

drückten fest immer die Hände gegen den Leib. Sie

muliten sich immer erbrechen, ebenso HoHder Sruhl

dauernd. Die Augen hatten schon die Farbe des

Todes angenommen, als die Ärrnsten immer noch

bei Verstande waren. Gegen Abend muûten wir antreten.

Unser Regimentskommandeur, ein Freiherr

von und zu, hielt hoch zu RoHeine Rede: »Kameraden,

ich fühle mich etwas unwohl. Morgen muf ich

mich für einige Tage zur Erholung in ein Lazarett

begeben. Ich wünsche und hoffe, euch aIle bei meiner

Rückkehr gesund anzutreffen. Wegtreten!« Am

anderen Morgen in aller Frühe hief es, der Regimentskommandeur

sei gestorben, ebenfalls an der

Cholera. Es wurde uns allen unheimlich zumute. Da

die meisten einen verdorbenen Magen und aft

Durchfall hatten, befürchtete man immer, ebenfalls

von der Krankheit befallen zu sein. Es wurde streng

verboten, Wasser zu trinken, das nicht abgekocht

war.

 

 

 

 

 

 

GEFECHT BEI CHELM (RUSSISCH-POLEN)

                     ANFANG AUGUST 1915

 

Morgens in aller Frühe verlielien wir das von der

Cholera verseuchte Dorf. Wir waren etwa 2 km

marschiert, als vorne schon die Knallerei losging.

Unsere Vorhut war auf Russen gestoHen. Wir muliten

uns hinlegen und abwarten. Allem Anschein

nach waren die Russen stärker aIs zuerst angcnommen,

denn plötzlich karn der Befehl: »Ausschwärmen

und vorgehen!« Vorläufig waren wir noch

durch eine sanft ansteigende, mit Hafer bepflanzte

                                171

Anhöhe gedeckt. Auf der Höhe angekommen, sah

ich var uns wellenförmiges Hügelland, meist mit

Hafer bepflanzt, dazwischen ein weit verstreutes

Dörfchen. Von den Russen konnte ich nichts sehen,

obwohl uns sofort Infanteriegeschosse umschwirrten.

»Hinlegen, eingraben!« Kaum hatten wir

einige Spatenstiche getan, aIs 4 Schrapnells über

uns platzten; mehrere Mann wurden verwundet,jedoch

keiner schwer. Sie konnten aIle ohne Hilfe

zurücklaufen. Die Batterie schoß mindestens 20 SaIven,

aber alles knapp über uns hinweg. Jeder arbeitete,

so schnell er konnte, mu so bald als moglich

gedeckt zu sein. Dann saßen wir in unseren Lachern,

die Sonne brannte uns unbarmherzig auf

den Pelz. »Becker, hast du noch etwas zu trinken?«

rief ich einen Kameraden an, der ein Loch vieUeicht

1Y2 m von mir gegraben hatte. Keine Antwort. Ich

dachte, er sei eingeschlafen, und kroch zu ihm hinüber.

Aber welches Bild bot sich mir! Becker saf in

seinem Loch und starrte mich an. Ich sah, daß el'

etwas sagen wollte, er brachte aber keinen Ton heraus.

Er mußte sich immer wieder erbrechen. Rock

und Bose waren ganz voU davon. Ich untersuchte

ihn und entdeckte eine Schußwunde im Nacken.

Die russische Infanteriekugel hatte die locker aufgeworfene

Erde durchschlagen, war in den Nacken

eingedrungen, wo sie dann wahrscheinlich in der

Kehle sitzen geblieben war. Ich verband ihm den

Hals, weiter konnte ich ihm nicht helfen. Matt griff

er nach meiner Band und schaute mich flehend an.

Ich verstand die Cebärde und sagte: »[a, Becker,

ich bleibe bei dir.« Ich steckte unsere beiden Seitengewehre

links und rechts von ihm in die Erde,

schnaUte sein en Mantel vom Tornister und spannte

denselben über die Seitengewehre, damit er vor

den heiBen Sonnenstrahlen geschützt war. Von

links kam der Befehl: »Fertigmachen zum Vorgehenl-

Ich bat noch 3 Kameraden, doch hierzubleiben,

um Becker am Abend zurückzutragen. Sie waren

gleich zufrieden, denn es war ihnen wie mir

                            172

lieber, im Loche zu liegen, als vorzugehen. Unser

Gruppenführer war vorher von einem Schrapnell

verwundet worden und zurückgelaufen, so daß niemand

da war, uns vorzutreiben. »Vorwärts, marschrnarsch!

« scholl das Kommando. Die Soldaten

sprangen aus den Löchern, und schon fingen die

Russen wie wahnsinnig zu schieûen an. Viele Kugeln

pfiffen über uns hinweg und durch den Hafer.

Was vorn los war, wußten wir nicht. Auch hatte keiner

von uns vieren den Mut, den Kopf über den

Hafer hinauszustrecken und Ausschau zu halten.

So lagen wir bis gegen Abend in den Löchern. Dann

breiteten wir Beckers Zelt auf den Boden, legten

ihn darauf. Zwei Mann zogen vorne an den Zipfeln,

2 Mann schoben hinten. Das war ein Transport!

Alles rnuûte im Kriechen geschehen, denn wir durften

über dem kurzen Bafer nicht sichtbar werden.

Endlich, nach vieler Müh' und Schweiß, kamen wir

hinter die Höhe, wo wir aufrecht gehen konnten.

Für Becker war dieser Weg der wahre Kreuzweg.

Er winkte mit beiden Händen zum Zeichen, daß el'

gehen wollte. Ich faßte ihn auf einer Seite, ein Kamerad

auf der anderen. Wir hoben ihn auf und

führten ihn eine Strecke weit, dann knickte er wieder

zusammen. Wir legten ihn wieder aufs Zelt und

schleppten ihn ins Dorf zum Bataillonsarzt. ln einer

Stube, in der schon viele Verwundete lagen, legten

wir Becker aufs Stroh. Ich bat den BataiUonsarzt,

sich doch seiner anzunehmen. Er kam, besah die

Wunde und gab mir durch einen Blick zu verstehen,

daß hier jede Hilfe nutzlos sei. Dann ging er

wieder zu anderen Verwundeten. Wir nahmen Abschied

von Becker. Er schien schon halb bewuûtlos,

denn er lag ganz still.

    AIs wir aus dem Haus traten, wurde eben eine

Truppe gefangener Russen zurückgeführt. Zwei

von uns steckten ihr Bajonett aufs Gewehr und gingen

aIs Begleitmänner mit. Da es nun dunkelte,

suchten wir bei den anderen Quartier für die Nacht,

schleppten Stroh in eine leere Stube und legten uns

                                 173

darauf. Jedoch der Magen fing an zu knurren, und

zum BeiBen hatten wir nichts. Ich stand auf, ging

hinter das Haus und machte im Gemüsegarten beim

Mondschein ein Kochgeschirr von Kartoffeln aus.

Nun sollten wir noch Wasser haben, um sie zu waschen

und zu kochen. Ich ging zu einem Ziehbrunnen,

der an der Straße stand. [... ] Da kam ein Soldat

und sagte: »Karnerad, du mußt hier kein Wasser

nehmen, es ist choleraverdàchtig. Siehst du, da

hängt ein Verbot am Brunnengestell.« Ich hörte

gleich am Akzent, daßder Soldat ein Elsässer war.

Auch kam mir die Stimme bekannt vor. Ich schaute

ihm in sein vom Mond beschienenes Gesicht, und

wirklich, es war der Schorr Xavier von meinem

Nachbardorf Fülleren. »Bisch  net der Schorr

Xeri vo Füllera?« redete ich ihn an. Er fiel fast auf

den Hintern, ais er sich so angesprochen horte.

»Doch, wer bisch denn dü?« Ich leuchtete mir mit

meiner Taschenlampe ins Gesicht. Er konnte mich

aber nicht erkennen, so abgemagert war ich. Auch

war ich noch unrasiert. Wir gingen nun zusammen

in mein Quartier. Schorr war Unteroffizier und

hatte die Aufsicht über die MGKompaniewagen,

brauchte so au ch kein Gefecht mitzumachen und

hatte immer genug Lebensmittel. Er holte in seinem

Quartier ein Kommißbrot, eine Büchse Fleisch, ein

Säckchen Zucker und Zwieback. Ais wir gegessen

hatten, legten wir uns aufs Stroh und erzählten uns

von der Heimat. Ich hatte kurz vorher einen Brief

aus der Heimat erhalten mit der Mitteilung, daßdie

Einwohner von Fülleren trotz der Nähe der Front

noch zu Hause seien. Darüber war Schorr sehr erfreut,

denn er hatte lange keine Nachricht von zu

Hause mehr erhalten. Wir erzählten uns, bis der

neue Tag zum Fenster hereinsah. Da nun Schorr

seinen Dienst versehen mußte, nahmen wir Abschied.

Ich selbst schlief dann bis zum Nachmittag.

Dann brachen ich und mein Kamerad auf, um unsere

Kompanie wieder aufzusuchen. Wir kamen

durch das Celände, wo tags zuvor das Gefecht stattgefunden

                                174

hatte. Überalliagen vereinzelte Tote, zuerst

Deutsche, dann Russen. [… ] Wir brauchten 2

Tage, bis wir unsere Kompanie wieder trafen. Wir

hatten es auch gar nicht eilig.

 

 

 

 

                GEFECHT BEI WOLODAWA

                        ANFANG AUGUST 1915

 

ln der folgenden Nacht marschierten wir wieder

mehrere Stunden. Dann mußten wir uns an einer

sanft ansteigenden Anhöhe zugweise in Reihen eingraben.

lm Dunkel gingen mehrere unserer Bataillone

leise nach vorne an uns vorüber. Keiner von uns

wulite, was los war. Mit Tagesanbruch fingen mehrere

Batterien hinter uns zu schießen an. Der Einschlag

der Geschosse erfolgte ziemlich weit vor uns.

Also lagen wir wieder in Reserve. Vorne ging das

Infanteriegefecht los. Es war aber nur von kurzer

Dauer, die Russen ergaben sich nach geringem Widerstand.

Ihre Artillerie streute mit kleineren Kalibern

das Celände ab. Auf einmal schlug eine

schwere Granate etwa 300 m vor uns ein. Gleich kam

die zweite, sie schlug etwa 200 m vor uns ein, die

dritte 100 m, alle drei genau in der Richtung auf uns

zu. »Du«, sagte ich zu dem ostpreuûischen Studenten,

der bei mir im selben Loche lag, »paf auf, die

nächste sitzt in der Kompaniel Es war uns unheimlich

zumute; wir duckten uns, so tief wir konnten, in

unser Loch. Dann kam die vierte angesaust. Sie

schlug in ein Loch etwa 3 m vor uns, in welchem 2

Soldaten des ersten Zuges lagen. Ais sich der Rauch

verzogen hatte, sahen wir einzelne Gliedmaßen von

ihnen herumliegen, Teile von Eingeweiden hingen

in der N ähe in einem Strauch, ein schrecklicher und

doch leichter Tod. Die nächste Granate flog über

uns hinweg. Dann hörten die schweren Geschütze zu

schießen auf. Nur noch einzelne Schrapnells kleiner

Kaliber kamen hie und da angeflogen. Da sagte der

                                175

Student: »Ich rnuf mal austreten« und ging hinter

einen in der Nähe stehenden Busch. Da kam ein

Schrapnell, platzte über ihm. Eine Kugel drang ihm

an der Schlafe in den Kopf. Er war sofort tot. Ich

halte ihn mit Hilfe meiner Kameraden und legte ihn

in das Granatloch, das die große Granate geschlagen

hatte. Die aufgelesenen Leichenteile der beiden anderen

Soldaten lagen bereits darin. Sie wurden nun

zugeschüttet. Ich schnitt mit dem Taschenmesser

2 dicke Stäbe aus dem Gesch, nahm eine Weide,

verband damit die beiden Stabe in Form eines Kreuzes

und steckte dasselbe auf ihr Grab. Ein Unteroffizier

schrieb ihre Namen auf ein Blatt Papier, welches

er mit einer Schnur am Kreuze oben festband. Nun

hatte ich den letzten meiner besten Kamer aden verloren.

Es war mir 50 sehr verleidet, daû ich mir bald

nicht mehr zu helfen wuûte.

»Vorwärts, marschl « hief es nun. Wir gingen über

die Felder der russischen Stellung zu. Davor lagen

einige gefallene Deutsche. ln der russischen Stellung,

die wunderbar angelegt und ausgebaut war,

sah ich nur zwei tote Russen liegen. Wir gingen nun

weiter vor und folgten den Truppen nach, die be-

, reits die Verfolgung aufgenommen hatten. ln einem

bis an den Boden abgebrannten Hause bot sich uns

ein grauenhaftes Bild, das uns fast alle erschaudern

machte. ln dem Hause hatte sich wahrscheinlich der

Verbandsplatz der Russen befunden. Ein Haufen

vollständig verkohlter Leichen lag am Boden. Eine

davon war einige Meter entfernt und nur auf der

einen Sei te verbrannt. Wahrscheinlich war es ein

Verwundeter, der sich retten woIlte, aber nicht mehr

weiterkriechen konnte. »Den Heldentod fürs Vaterland

gefallen!« Heldentod! Welche Lüge ist doch

dieses Wort. lch habe sa viel erlebt und durchgemacht.

Aber ich habe unter 1000 kaum einen Helden

entdecken können.

    Die Russen hatten sich wieder ganz aus der Gegend

verduftet. Wir marschierten mehrere Tage,

ohne daßein Schuf fîel. Wir kamen in wellenformiges

                                        176

Hügelland, welches meist mit Hafer und Gerste

bepflanzt war. Dort stießen wir mit Russen zusammen.

Ausgeschwarrnt in Schützenlinien ging's var.

Plotzlich bekamen wir starkes Schrapnellfeuer. Von

einem Schrapnell wurde mein Kamerad Anton

Schmitt aus Oberdorf schwer verwundet. Er bekam

3 Kugeln durch Schulter und Oberarm. Ich

schleppte ihn hinter eine in der Nähe stehende

Hütte, wo ich ihn mit Hilfe eines hinzukommenden

Sanitäters verband. Ein Feldwebeljagte mich wieder

in die Linie. Eine Gruppe unter Führung des elsässischen

Unteroffiziers Walter ging ausgeschwärrnt

etwa 100 m VOl' uns. Das Schrapnellfeuer hielt imrnerfort

an. Russische Infanterie konnte ich keine

sehen. Auf einmal wurde es var uns irn Hafer lebendig.

Russen, in Massen, standen plötzlich vor uns. Sie

liefen unter Uräh-Geschrei auf uns zu. Bald hatten

sie die Gruppe Walter erreicht. Die Soldaten Walters

warfen die Gewehre weg und ergaben sich den Russen.

Sie wurden sofort abgeführt. Wir waren alle

sehr aufgeregt, knieten irn Hafer nieder, und jeder

schoû, so schnell el' nur konnte. Wir standen einer

etwa 10- bis 15fachen Überrnacht gegenüber. Die

vordersten Russen schossen irn Vorgehen immer auf

uns. Wir hatten bereits mehrere Verluste. Sie waren

nur noch etwa 50 Schritt von uns entfernt. Ich wollte

eben mein Gewehr wegwerfen, um mich zu ergeben

– ein furchtbarer Moment, wubte man doch nicht,

ob man niedergestochen wird oder nicht-, da ertonte

hinter uns Hurrageschrei, und aus einer

Mulde stürmten 2 Kompanien unseres Regiments.

Sofort schossen sie über unsere Köpfe hinweg auf

die Russen. Die vordersten Russen stutzten. Sie wufiten

nicht, wie stark ihre neuen Angreifer waren.

Einige machten kehrt und rissen die anderen mit

sich. ln wenigen Minuten befanden sich aile auf der

Flucht. Wir schossen ihnen nach, was aus den Gewehren

ging. Sie hatten furchtbare Verluste.

    AIs wir nachher durch den Hafer vorgingen, lagen

überall von ihnen die Toten, fast aile auf dem

                            177

Gesicht. Die Überlebenden waren in einer Mulde im

Felde verschwunden. Die Verwundeten beider Parteien

wurden verbunden und an einen Fahrweg getragen.

Wir muliten wieder weiter. ln Schützenlinien

näherten wir uns einem Wald. Einzelne Schüsse

knallten uns entgegen. Plötzlich glaubte ich, einen

Peitschenhieb auf den rechten Ellenbogen bekornmen

zu haben.lch lief rnein Gewehr fallen, faßte mit

der linken Hand da hin und sah, daßmein Rock von

einer Kugel durchbohrt war. Am Ellenbogen fühlte

ich ein heftiges Brennen. Mein erster Gedanke war:

Gott sei Dank! Jetzt kornm' ich ins Lazarett! Ich lief3

mich zu Boden fallen, um den Russen kein lie! mehr

zu bieten, stülpte den Armel auf und erlebte eine

grof3e Enttäuschung. lch hatte nur einen Streifschull:

Eine Kugel hatte nur eine Rinne in die Haut

gerissen. Ich verband mich mit der linken Hand,

unter Mithilfe der Zähne, und blieb liegen. Ais die

Schüsse vorn aufhörten, ging ich zurück und lief

gerade auf den Bataillonsarzt zu. Ich wollte mich

eben vorbeidrücken, um mich weiter nach hinten zu

begeben, aIs er mich anrief: »Na, Mensch, was haben

Sie eigentlich? Kommen Sie mal her!« lch ging zu

ihm und wickelte meinen Verband auf. »]a, Junge,

das langt nicht fürs Lazarett! Sie bleiben vorläufig

2 Tage bei der Feldküche Ihrer Kompanie. Nachher

melden Sie sich wieder bei mir l- Ja, Feldküche! Wo

bist du? Gegen Abend kam sie angefahren, und ich

ging hinterher, nachdem ich mein Gewehr und meinen

Tornister aufgeladen hatte. [… ]

    Nach 2 Tagen meldete ich mich wieder beim Bataillonsarzt.

»So, Sie können wieder in Ihre Kornpanie

eintreten!« Ich wartete bis zum Abend und ging

mit den Essenholern wied el' zur Kompanie. Am

nachsten Tag marschierten wir an der Stadt Brest-

Litowsk vorbei und wandten uns ostwarts durch die

Rokitnosümpfe in Richtung Pinsk. Seit einigen Tagen

hatte ich wieder sehr an Leibschmerzen und

Durchfall zu leiden. Dadurch wurde ich derart abgeschwächt,

daß ich kaum nachlaufen konnte. lch meldete

                                178

mich wieder krank, muûte wieder zur Kompanie,

Dienst mitmachen. Wir kamen nun in eine waldreiche

Gegend, unsere Kompanie marschierte auf

einem schlechten Waldwegdahin. Pang-päng, knallten

vor uns einige Schüsse. Ein Aufschrei! Einer der

Soldaten hatte einen Schuf mitten durchs Knie erhalten.

Wir mußten uns hinlegen. Die russischen

Vorposten waren fortgelaufen. [… ] Wir muûten uns

im Walde eingraben und abwarten. Am Morgen

hieß es: »Vorgehenl- Es war wieder ein sehr heilier

Tag. [... ] Der Schweiß floß wie Bächlein an unserem

Korper hinab, und der Tornister drückte. Die Füûe

in den Stiefeln brannten wie Feuer. Es war Vorschrift,

daßjeder 300 Patronen mitschleppte. Das

war mir zu schwer. lch warf einfach 200 davon weg.

Meine Leibschmerzen nahmen derart zu, daßich es

nicht mehr langer aushalten konnte. Beim nachsten

Hait meldete ich mich krank. Ieh durfte Gewehr und

Tornister auf die Feldküche laden, mulite jedoch

weiter mitlaufen. Wir übernachteten in einem Gebüschwald.

Dort wurde ich vom Bataillonsarzt für

krank befunden: Magen- und Darrnkatarrh. HeITgott,

wie gcklich ich warl Das kann ich niemandem

beschreiben! Nun wußte ich, daßich von der Front

weg in ein Lazarett kommen würde.

    Beim Weitermarseh am nächsten Morgen mufite

ich wieder mit, denn der Bataillonsarzt sagte zu mir,

daß wegen mir alleine kein Sanitätswagen zurückgesehiekt

werden könne; ich solle noch dableiben, bis

mehrere Verwundete und Kranke beisammen seien.

Ich ging nun mit der Bataillonsbagage. Auf einem

fast unbefahrbaren Waldweg trafen wir auf eine

Flüehtlingskolonne. Diese armen Menschen waren

von den Russen zum besten gehalten worden: Wir

würden bei unserer Ankunft alles niedermetzeln.

Hals über Kopf warfen sie einige Lebensmittel und

das Notwendigste auf Wagen und flohen vor uns

her. ln jenem Walde hatten wir sie eingeholt. Es war

eine einsame, fast ganz unbewohnte Gegend. Die

Pferde der Bagage konnten fast nicht mehr weiter-

                                    179

kommen auf dem schlechten Weg. Da wurden einfach

die Pferde der arrnen Flüchtlinge ausgespannt

und als Vorspann genommen. Das Jammern und

Bitten dieser armen Menschen ging mir sehr zu Herzen.

Manche Frauen fielen vor den Soldaten auf die

Knie und baten und flehten, ihnen doch die Pferde

zu lassen. Alles war vergebens. Einige der rohesten

Soldaten kletterten noch auf die Flüchtlingswagen

und stahlen die Lebensmittel. Nun ging's wieder

weiter. Diejammernden Flüchtlinge wurden einfach

stehengelassen.

    Vorne fielen einige Schüsse der Patrouillen. Ein

Soldat kam zum Bataillonsarzt mit einem Armschuß.

Am Abend wurden noch zwei krank befunden. Der

eine hatte dieselbe Krankheit wie ich, der andere

Blutbrechen. Die folgende Nacht, die letzte an der

Front, schliefen wir vier unter einem Zelt. Am Morgen

in der Frühe kam ein Sanitater mit einem mit

2 pferden bespannten, leichten Wagen, wie sie in der

Gegend in Gebrauch waren. Wir setzten oder legten

uns darauf, und fort ging's nach rückwärts, Trotz

meiner Leibschmerzen hätte ich aufjauchzen können.

Nun war es sicher, daßich für einige Zeit nicht

totgeschossen werden würde. Auch freute ich mich

rie sig darauf, wieder in einem Bett schlafen zu können.

Meine drei mitfahrenden Kameraden befanden

sich trotz ihres Zustandes in der freudigsten

Stimmung. [… ]

    Der Sanitäter gab uns zu Mittag Kommihbrot und

Büchsenfleisch. lch wagte jedoch nicht zu essen aus

Furcht vor den danach wiederkehrenden Leibschmerzen.

[… ] Des anderen Morgens früh fuhren

wir mit einem Krankenauto, etwa 15 Mann an der

Zahl, meist Ruhrkranke, nach Grubeschow, wo wir

in der Nacht ankamen. Die russische, ganz neue

lnfanteriekaserne in Crubeschow war in ein Feldlazarett

umgewandelt worden. Ein verschlafener Sanitäter

empfing uns. Jeder erhielt eine Tasse Tee,

dann wurden uns Betten angewiesen, Soldatenbettstellen,

wie sie eben in der Kaserne üblich sind. Todmüde

                                180

 180

müde legte ich mich hin, deckte mich mit der darüber

liegenden weiûen, wollenen Decke zu und

schlief sofort ein. lch erwachte. Am ganzen Körper

bif und juckte es mich, so daßich mir nich t zu helfen

wuûte. An die Lause war man ja gewühnt, aber so

etwas, das war fast nicht mehr zum Aushalten.

Trotzdem schlief ich gegen Morgen wieder ein. AIs

ich erwachte, war es bereits heller Tag. Ich besah

meine Decke. Herrgott, die wimmelte ganz von Lausen!

[… ] Cerne wäre ich langer liegengeblieben,

aber es war mir unmüglich. lch erhob mich, kleidete

mich an, eine Arbeit, die ich auch nicht mehr gewöhnt

war, denn seit Februar (1915), also bald

6 Monate, hatte ich keine einzige Nacht unangekleidet

geschlafen.

    Gefangene Russen, die ais Krankenwärter fungierten,

brachten uns Tee und Kommißbrot. lch

ging hinaus, um mir die Umgebung anzusehen.

Gleich hinter der Kaserne war ein neu angelegter

Soldatenfriedhof. Etwa 10 Russen waren damit beschaftigt,

Graber zu graben. Aus dem ehemaligen

Exerzierhaus, das in ein Lazarett fur Cholerakranke

umgewandelt worden war, wurden eben zwei Leichen

herausgetragen und ohne Sang und Klang von

den Russen beerdigt. Auf allen Gräbern standen

schöne schwarze Kreuze, auf welchen mit weiûer

Farbe der Name, das Regiment und die Kompanie

der Toten verzeichnet waren. Auf den Kreuzen der

Russen stand nur: »Hier ruht ein tapferer Russe«

oder auch: "Hier ruhen drei tapfere Russen«, je

nach der Zahl der Soldaten, die in dem Grabe beerdigt

waren. Auf einem Kreuz las ich: »Musketier

Schneidmadl, 7. Kompanie, 1. Regiment 41«. Ein

Soldat, mit dem ich gut befreundet war. Es war mir

bei der Kompanie schon einige Tage aufgefallen,

daßer fehlte. So mulite ich ihn wiederfinden. lm

Feldlazarett wurden wir unserer Krankheit entsprechend

sehr schlecht verpflegt; es war eben noch

nicht richtig eingerichtet. Mit einem Kameraden

ging ich am Nachmittag in das Stad tchen Grube-

                                    181

schow. Wir hatten Glück. Jeder konnte einen schonen

Laib Weifibrot kaufen, welches jedenfalls für

unsere kranken Magen besser war als das Kommif3-

brot. Auf dem Heimweg wurden wir von einem J uden,

der vor seiner Haustür stand, angehalten.

»Gnädiger Herr, kommen Sie rein, trinken Sie eine

Tasse Tai, können Sie maehen Sehw ... für 2 Mark

mit meiner Tochter, soviel Sie wollen.« Mein Kamerad

haute ihm eine ganz Cehorige ins Gesieht, und

wir gingen wieder ins Lazarett. Viele dieser polnischen

J uden suchten auf aIle mëglichen Arten Geld

zu verdienen, niehts war ihnen zu gemein. Nur Geld,

Geld, weiter schienen sie niehts zu kermen.

    Jeden Tag kamen neue Verwundete und Kranke

in das Lazarett, manche waren dem Tode nahe. So

lag aueh ein Soldat neben mir, der sich vor Leibschmerzen

krürnmte wie ein Wurm in der Sonne. Er

hien Simon Duka, aus Obersehlesien. Ais der Arzt

ihn untersuehte, sagte er zum Wärter: »Bringen Sie

diesen Mann nach der Abteilung C!« Das war das

Exerzierhaus, in dem die Cholerakranken untergebracht

waren. Nach 2 Tagen ging ich über den

Friedhof. Auf dem Kreuze, das auf einem ganz frischen

Grab stand, las ich den Namen Simon Duka.

Die Cholera hatte ein Opfer mehr gefordert. Ich

hatte nur den einen Wunsch, so bald aIs möglich von

hier wegzukommen. Ich war 6 Tage in Grubeschow,

aIs wir aIle vom Arzt untersucht wurden. Alles, was

transportfähig war, soIlte anderntags weiter zurückbefördert

werden. Wir fuhren einen halben Tag auf

requirierten Bauernwagen, dann kamen wir zu einer

Feldbahn. Dieselbe war schmalspurig, und die

Züge, bestehend aus kleinen Plateauwagen, wurden

von Pferden gezogen. [... ] Die Gegend war sehr

langweilig und wenig bevölkert, die meisten Cehofte

und Dorfer abgebrannt. [… ] Wir passierten [am anderen

Morgen] die russisch-galizische Grenze. Auf

dem Bahnhof der Stadt Unow bestiegen wir den

Zug, der uns über Rawa Ruska nach Lemberg

brachte, wo wir des Nachts ankamen.

                                182

 

 

 

 

           IM KRIEGSLAZARETT lN LEMBERG

 

 

Das Kriegslazarett in Lemberg, in dem wir untergebracht

wurden, war ein grones Gebäude, eine frühere

Schule. ln dem Saale, der mir zugewiesen

wurde, befanden sich lauter Soldaten, welche an

Ruhr, Magen- und Darmkatarrh sowie Typhus litten.

Alles arme Menschen, welche die Hàlfte der Zeit

auf dem Abort sitzen muHten. AIs Lager dienten uns

am Boden liegende Strohsäcke. Die Verpflegung

war schleeht. Es herrschte überhaupt keine Ordnung;

österreichische Zuständel Langsam sehlichen

die Tage dahin. Es wurde sehr wenig erhlt, denn

fast aile Iitten furchtbare Leibschmerzen. Wenn einer

zu sehr jammerte, karn ein Wàrter, steekte ihm

das Thermometer unter den Arm, um das Fieber zu

messen. Ais ob das etwas nützen körinte. Ein Soldat

war darüber derart aufgebracht, dan er das Thermometer

an die Wand schleuderte, wo es in kleine

Stücke zerschellte. AIs ihn der Arzt deswegen zur

Rede stellte, sagte der Soldat, er verlange, wie ein

Mensch behandelt zu werden. Wir alle konnten

kaum den Tag erwarten, wo wir weitertransportiert

wurden.

 

 

                REISE ACH DEUTSCHLAND

 


 Endlich nach 6 Tagen ging's zur Bahn. Wir fuhren

3. Klasse. Die Reise ging durch Galizien an der Festung

Przernysl vorbei, dann über Jaroslau, Tarnow

nach Krakau. Wir fuhren auf einer zweigleisigen

Bahn. Alle 5 Minuten fuhr ein Zug aus Richtung

Deutschland an uns vorüber, beladen mit Mannschaften,

Kriegsgerät, Munition und Lebensmitteln.

Die Russen hatten auf ihrem Rückzug rntliche

Brücken zerstort, überall waren hölzerne Notbrükken

erbaut, über welche die Züge nur im Schritt

fahren durften. Manche dieser Notbrücken führten

                                     183

über tiefe Schluchten, 50 daßman sich kaum getraute

hinunterzusehen, Vor der Festung Krakau

hatten wir Aufenthalt; Tausende russischer Gefangener

waren gleich neben der Bahn mit Erdarbeiten

beschaftigt. Ein Gewitter kam, und es fing an zu

regnen, wie ich es noch selten erlebt habe. ln wenigen

Minuten waren die Russen bis auf die Haut

durchnäbt. Die Arbeitsstelle zu verlassen schien ihnen

verboten zu sein. Beim Weiterfahren passierten

wir die galizisch-deutsche Grenze. Unser erster Hait

in Deutschland war die Station Annaberg. Alles

mußte aussteigen, antreten, dann ging' es in die Entlausungsanstalt.

Diese war so groß wie ein kleines

Dorf. Jeden Tag wurden dort Tausende von Soldaten

von ihren Läusen befreit. Wir kamen dort aile

zuerst in einen Großen, erwärrnten Raum, wo wir uns

ausziehen mußten. Alles befand sich im Adamskostüm;

die meisten Soldaten waren derart abgemagert,

daß sie aussahen wie ein Knochengestell. Doch

aile schienen glücklich, weil sie mm wieder in ihrem

Heimatland waren und das angenehme Lazarettleben

in Aussicht hatten. Nun ging es in den Baderaum.

Von oben spritzte das warme Wasser in mehr

ais 200 Strahlen hernieder. Jeder stellte sich untel'

eine Brause. Wie wohl das tat, ais das warme Wasser

den Korper herunterrieselte. Seife war genug vorhanden,

bald waren wir aile ganz weif von Seifertschaum.

Nun noch einmal untel' die Brause, dann

ging es in den Ankleideraum. Jeder bekam ein neues

Hemd, Unterhosen sowie Strümpfe. Unsere Uniformen

waren inzwischen in Großen, eisernen Rohren

aufgefangen worden, die nun bis zu 90 Grad erhitzt

wurden. Die Hitze tötete Lause und Nissen, die sich

in den Kleidern befanden. Die Kleider selbst waren

arg zerknüllt und gelblich geworden. Das war uns

aber einerlei. Wir bekamen Verpflegung, die Magenkranken

Schleimsuppe, die uns weniger Leibschmerzen

verursachte ais festere Speisen.

    Nun ging es wieder zur Bahn, Wie wohl uns war,

làusefrei zu sein, kann nur der verstehen, der schon

                                    184

von diesem Ungeziefer gequalt wurde. Auf einem

Bahnhof trank ich ein Glas Bier; ebenso aHich einen

Apfel, den ich von einer Frau geschenkt erhalten

hatte. Es war eine große Unvorsichtigkeit von mir,

die so gut wie den Tod zur Foige hätte haben können.

Ich bekam derartige Leibschmerzen, daß ich

mich im Abteil herumwälzte. Nach und nach ging es

wieder besser. Die Nacht senkte sich nieder. Wo wir

des Nachts hinfuhren, wußten wir nicht. Am andel'en

Morgen hielt der Zug injedem Stad tchen. J edesmal

muliten so viele Kranke und Verwundete aussteigen,

ais Plätze in den Lazaretten frei waren. Die

letzten, darunter auch ich, verlielien in Fraustadt

(Provinz Posen) den Zug. Diejenigen, die nicht lau-

Fen konnten, wurden mit Wagen abgeholt. Das Lazarett

war in der dortigen Infanteriekaserne eingerichter,

darin lagen über 2000 Verwundete und

Kranke. Diejenigen, die an Magen- und Darrnkatarrh,

an der Ruhr und an Typhus litten, kamen in

die Seuchenabteilung, welche sich im Exerzierhaus

der Kaserne befand. Das große, geraumige Exerzierhaus

war in mehrere groHe Zimmer eingeteilt,

darin standen die weilien, reinlichen Betten. Neben

jedem Bett stand ein Nachttischchen, in der Mitte

lange Tische, mit allerhand Büchern, Zeitungen und

Zeitschriften bedeckt. Alles war peinlich sauber gehalten.

Hier wäre es zum Aushalten, dachte ich bei

mir. Neugierig blickten die in den Betten liegenden

Kranken uns an. Jeder von uns bekam ein Bett angewiesen.

Dann kam der Arzt und untersuchte uns

nochmals. Ich muûte mich sofort zu Bett legen. Wie

wohl das tat, ausgezogen, läusefrei in einem weichen,

sauberen Bett liegen zu könnenl

    Ich mulite jedoch of t, sehr oft aufstehen und

den Abort aufsuchen. Dabei hatte ich derartige

Schmerzen in den Cedärrnen, daßich mehrere

Male bewulitlos wurde. Es war, ais ob mit rnehrel'en

Bohrern darin herumgearbeitet wurde. Ich

durfte nichts, gar nichts zu mir nehmen ais Haferschleim

oder Reisschleimsuppe. Der Arzt warnte

                                    185

mich, sonst etwas zu genießen, da er sonst fÜT

nichts garantieren könne.

Die Behandlung war sehr gut, Schwestern, Arzt

und Wärter sehr freundlich. Jeden Morgen beirn

Erwachen stand auf jedem Nachttischchen ein

schöner Blumenstrauß, daneben ein Glas Wasser

mit etwas darin zum Mundausspülen. Jeden Tag

kam der Arzt zweimal durch. Nach und nach

wurde ich derart schwach, daßieh nicht mehr aufstehen

konnte. Jeden Samstag wurden wir gewagen.

Das erstemal wog ich noch 118 Pfund in Rock

und Hose, jedoch ohne Stiefel, das zweitemal im

Hemd 115 Pfund, das drittemal 114 Pfund [D. R.

war 1,78 Meter groß]. Fast alles Blut ging im Stuhl

fort. leh mußte oft stundenlang im Bett auf der

Bettpfanne liegen. Die Leibschmerzen wollten kein

Ende nehmen. Meinen Kameraden ging es nicht

viel besser. Manchen sogar schleehter. Von vielen

Kranken kamen die Angehörigen zu Besuch. Wie

gerne hätte auch ich meine Angehörigen gesehen.

[...]

    Eines MOIgens war mein Nachbarbett leer. Der

Kranke, der darin gelegen hatte, ein Familienvater,

war schon mehrere Tage so schwach gevvesen,

daßer kaum noch spreehen konnte. Nun war er in

der Naeht gestorben. Die folgende Nacht starb

wieder ein Ruhrkranker im selben Zimmer. lch erwachte

im Moment, ais die Wärter seine Leiche

hinaustrugen. Trotzdem ich immer Hoffnung

hatte durchzukommen, war mir manchmal nicht

einerlei [sic!], ich tat nichts ais leise beten, bis ich

vor Schwàche wieder einschlief. lch konnte nicht

einmal mehr die Schleimsuppe alleine schlürfen;

die Schwester mulite mir die Tasse an den Mund

halten und mich am Rücken etwas hochheben, so

schwach war ich. 16 Tage bekam ich weiter nichts

ais Schleimsuppe. Wie mir das zuwider wurde!

Wenn ich die Schwester damit kommen sah, ekelte

ich mich zuletzt sehr.

    Einmal bei der Visite tat ich, aIs ob ich schliefe.

                                186

Arst und Schwester traten leise an mein Bett.

»Nun, Herr Doktor, was halten Sie von Richert?«

fragte die Schwester leise. » lch habe bestimmte

Hoffnung, ihn durchzubringen. Er hat ein äuûerst

zähes Leben«, antwortete der Arzt ebenso leise.

Wie mich diese Worte glücklich machten! Ich war

von neuer Hoffnung beseelt, denn sterben, das ist

immer etwas Schweres im Alter von 22 J ahren.

    Nach und nach fühlte ich mich etwas kraftiger,

ich konnte mich wieder alleine erheben im Bett.

[... ] Wie ein Kind wurde ich wieder ans Essen

gewohnt. Endlich durfte ich etwas anderes genie

Ben. [... ] ln der ersten Woche, in der ich essen

konnte und durfte, nahm mein Körpergewicht

um 7 Pfund zu. Rasch kehrten die Kräfte zurück,

so daßich wieder gut aufstehen konnte.

Oft saûen wir draußen in bequemen Sesseln und

ließen uns von der Herbstsonne anscheinen. Mir

war so wohl wie noch nié seit Kriegsausbruch. ln

unserem Saal war kein Schwerkranker me hl', so

ging es manchmal laut zu. Es wurden Karten,

Dame, Domino und aile moglichen Spiele gespielt,

um die Zeit zu vertreiben. Es gefiel mir

sehr gut, doch schon oft dachte ich daran, daß

die Herrlichkeit ein jähes Ende finden könne,

denn immer weiter tobte der Krieg. Die gesund

aus dem Lazarett Entlassenen kamen gewohnlich

noch kurze Zeit in ihr Ersatzbataillon, dann wieder

an die Front; davor grau te mir, denn der

Winter stand wieder vor der Tür.

    Mein Kamerad Zanger August, mit dem ich immer

in regem Briefverkehr stand, war bald wied erhergestellt,

jedoch untauglich, um nochmals Soldat

zu spielen. Er befand sich noch immer im Reservelazarett

im Rheinland. Er schickte mir einen Aufnahmeschein

vom dortigen Lazarett. Ich freute mich

schon, daßdie Aussicht bestand, wiederzusamrnenzukommen.

Ich zeigte den Aufnahmeschein dem

Arzt und bat ihn, mieh dorthin reisen zu lassen. Er

sagte mir jedoch, daßdas unrnöglich sei, da mein

                                187

Ersatzbataillon vom Infanterieregiment 41 in Speyersdorf

bei Kënigsberg in Ostpreußen liege. Dann

sagte der Arzt zu mir: »Richert, Sie konnen

einen Erholungsurlaub von 4 Wochen beantragen;

ich werde denselben befürworten.«  »Das

ist mir unmöglich, Herr Doktor«, antwortete ich.

» Meine Angehörigen und Verwandten befinden

sich aile in dem von den Franzosen besetzten

Teil des Elsall.« [… ] »Sie sind wirklich zu bedauern,

Richert«, sagte der Arzt, erkundigte sich

noch, ob ich Nachricht von zu Hause bekommen

hätte, und ging dann wieder weiter. Am nächsten

Tag fragte ich den Arzt, ob ich nicht einem Erholungsheim

für 4 Wochen überwiesen werden

könne. »[a, das ist zu machen«, sagte der Arzt

und brachte mir einen Aufnahmeschein fürs Erholungsheim

bei den katholischen Grauen Schwestern

in Fraustadt. [… ]

    Dort wurde ich bei meiner Ankunft sehr freundlich

aufgenommen. Das Erholungsheim war das

frühere Bürgerspital der Stadt Fraustadt. Die Soldaten,

die sich dort befanden, hatten fast durchweg

ein gutes Aussehen. Sie waren bald wieder

reif, um auf die Schlachtbank geführt zu werden!

Die Verpflegung war ausgezeichnet und reichlich,

die Schwestern sehr freundlich und gut. Zwei

freundliche junge Mädchen servierten bei Tisch

die Speisen mit einem freundlichen "Bitte schönl

Des Morgens wurde bis 8 Uhr geschlafen, dann

wurde aufgestanden, gewaschen, dann erhielten

wir Kaffee, guten Mi1chkaffee mit Semmeln, die

entzweigeschnitten und mit Butter oder Marmelade

bestrichen waren. Um 10 Uhr eine Tasse

Fleischbrühe. Zu Mittag Suppe, Fleisch und Gemüse

oder Gebratenes und Nudeln. Dazu bekam

jeder eine kieine Flasche Bier. AIs Nachtisch Äpfel,

Birnen und hie und da Trauben. Um 4 Uhr am

Nachmittag Tee mit Semmel, natürlich mit Butter

oder Marmelade, manchmai belegt mit Schinken

oder Wurst. Abends 6 Uhr Bratkartoffeln mit  

                                188

Würstchen, nachher Milchkaffee. jeder konnte soviel

nehrnen, wie er wolIte.

Das war eine herrliche Zeit, rrur gingen die Tage

zu schnell um, und die 4 Wochen näherten sich

ihrem Ende. Oft brachten reiche Damen und

Fräuleins aus der Stadt Liebesgaben und unterhielten

sich rnit uns. Die Schwestern spielten oft mit

uns Domino, Dame und so weiter. Die jungen Soldaten,

die oft in einer kleinen Spitalkapelle der

heiligen Messe beiwohnten und auch hie un? da

die heiligen Sakramente empfingen, waren bel den

Schwestern besondes gut angeschrieben.

    Jede Woche nur einmal kam ein Arzt, der uns

untersuchte. jedesmal wurden Soldaten gesund erklart

und muûten uns verlassen und sich zu ihrern

Ersatzbataillon begeben. Nun waren meine 4 Wochen

ebenfalls vorüber. » Morgen kommt der

Arzt«, hi es. An jenem Morgen aß ich gar nichts,

rauchte schnell hintereinander emlge ZIgaretten,

trank den Magen voll kaltes Wasser, rannthinten

beim Aborr kurz vor der Visite wie wahnsmmg hm

und her und ging dann zur Unternuchung. Der

Arzt konstatierte zu rege Herztaugkelt. Auch hatte

ich infolge des Rauchens und Wassertrinkens auf

nüchternen Magen cin blasses Aussehen. "Sie bleiben

vorlaufig noch eine Woche hier.'" sagte der

Arzt zu mir. Ich hatte vorläufig erreicht, was ich

wollte, und konnte noch sieben der schönen Tage

verleben. ln der letzteu Woche wurden wir wieder

gewogen. Ich wog in Hernd und Hosen 157 Pfund.

Also hatte ich 43 pfund zugenommen. AIs diese

Woche vorbei war wurde ich gesund erklärt und

hekam die Reisebescheinigung nach Speyersdorf

bei Konigsberg. Ich schlief schlecht die letzte

acht, traumte vom Kasernendrill und vom Leben

an der Front. 28. Oktober 1915: ln jener Nacht fiel

der erste Schnee. [... ] 

                            189

 

 

 

            IM ERSATZBATAlLLON DES

          lNFANTERIEREGlMENTS 41 lN

             SPEYERSDORF UND MEMEL

 

Am Bahnhof bestieg ich den Zug Richtung Kéinigsberg.

Die Reise war langweilig, da es kalt und alles

versehneit war. lch fuhr den ganzen Tag und die

folgende Nacht. [… ] Das Ersatzbataillon des Infanterieregiments

41 war vor dem Orte Speyersdorf

gleich neben der Stralie in hölzernen Baracken untergebracht.

[… ] Der Feldwebel wies mir eine Baracke

an und sagte, daßich mieh um 9 Uhr bei der

Visite des Arztes untersuchen lassen müsse. lch ging

in die Baracke, wo mir ein Bett angewiesen wurde.

leh bekam Kaffee und Kommißbrot. AIs ich den

ersten Bissen Kommillbrot aß, glaubte ich, ein Stück

Erde im Mund zu haben. lch bekam eine große

Sehnsueht nach der guten Verpflegung bei den guten

Sehwestern in Fraustadt. Das war jedoeh vorbei,

und ich mußte mieh ins Unabänderliche fügen. Yom

Arzte erhielt ich 10 Tage dienstfrei und kam in die

Genesungskompanie. Naeh der Untersuchung ging

ich im Hofe spazieren. Es waren viele Soldaten da,

die zu halben Krüppeln geschossen waren und auf

ihre Entlassung warteten. Eben humpelte ein Soldat

an mir vorbei, der in jeder Hand einen Stock hielt,

um sich zu stützen. lch dachte: Der hat sicher beide

ße durchgesehossen. lm Vorbeigehen sah er mir

ins Gesieht, blieb stehen und rief: »Menschenskind,

bist du nieht der Richert?« – »Ja, der bin ich«, antwortete

ich. »Na, kennst du mieh denn nicht mehr?«

sagte er, worauf ich verneinte. »Wir waren doch in

den Karpaten zusammen, bis mir am Berge Zwinin

beide Füße erfroren!« Nun erkannte ich ihn. Sein

Gesicht war jetzt fast doppelt so breit als darnals in

den Karpaten. Deswegen konnte ich ihn nicht gleieh

erkennen. Er erzählte mir, daß ihm nun alle 10 Zehen

abgenommen worden seien. Jedoch er freute

sich darüber und sagte: »Es ist mir lieber, oh ne Zehen

zu leben, als mit Zehen irgendwo an der Front

                                    190

 

verscharrt zu werden. Für mich ist der Krieg vorbei,

und ich bekomme 70 Prozent Rente.« Wirklich, er

war zu beneiden, wenn er auch zeitlebens ein halber

Krüppel war. Ich traf an jenem Tage noch mehrere

Soldaten meiner Kompanie aus dem Felde. Mehrere

von ihnen humpelten oh ne Zehen umher. Einer

hatte einen Arm abgenommen, ein anderer einen

    Arm und ein Bein steif. Sie schienen jedoch aile

g-lücklich, denn bald konnten sie für immer zu ihren

Eltern zurückkehren.

Am folgenden Tage traf ich Anton Schmitt aus

Oberdorf, den ich im Felde verband, als er von

😉 Schrapnellkugeln verwundet worden war. Er

mulite jeden Tag nach Königsberg, um sich seinen

Arm, der geheilt, aber doch steif war, elektrisieren

und massieren zu Iassen. (Er wurde vollständig wiederhergestellt,

kam später ins Feld, wo er fiel.)

    Eines Tages traf ich auch den jungen ostpreußischen

Lehrer, der beim Angriff auf Livtira Gorna

am l.Juli 1915 einen Schuf quer durehs Gesieht

bekornmen hatte. An beiden Wangen hatte er rote

Punkte, Ein- und Austritt der Kugel. Da die Zunge

verietzt war, konnte er nieht mehr so gut spreehen

wie vorher. Er war Vizefeldwebel geworden, da er

das Einjahrige hatte. ln nächster Zeit sollte er Leutliant

werden. Er Iud mieh ein, einen Abend mit ihm

in Kéinigsberg zu verbringen. Wir amüsierten uns

recht gut. Es war jedoch für mieh das erste- und

letztemal, denn mein Portefeuille hielt das nieht

aus. leh hatte weiter niehts als 33 [sic!] lumpige

Pfennig Léihnung pro Tag. Und das reiehte nieht

einmal, um das Néitigste zu kaufen. So konnte ich

zusehen, wie andere Soldaten, die Verbindung mit

der Heimat hatten, Geld und Pakete mit Eûwaren

crhielten und sich's gut sein lieûen, wie sie Theater,

Kinos und Wirtschaften besuchen konnten, während

ich auf die lumpige Soldatenkost angewiesen

war und mit Ieeren Tasehen in den Mond gueken

konnte. Trotzdem fühlte ich mieh glücklieh, werm

ich mein Leben mit dem an der Front verglich, und

                            191

ich wünschte, dass es immer bis Kriegsende so bleiben

möge.

    Ich war vielleicht eine Woche in Speyersdorf, als

das ganze Ersatzbataillon an der Bahn verladen

wurde. Wir fuhren über 1nsterburg, Tilsit, Heydekrug

nach Memel hinauf, wo die Kaserne desInfanterieregiments

41 sich befand. ln der Nacht kamen

wir dort an. [... ] Das Leben dort war doch angenehmer

als in den Baracken. Es war viel wärrner in den

Stuben und besser sauberzuhalten.

Memel ist eine Hafenstadt an der nordostlichen

Spitze Deutschlands, an der Ûstsee gelegen. Da ich

noch nie das offene Meer gesehen hatte, hatte ich

großes Verlangen danach, es zu betrachten. [... ] Ich

ging ohne Urlaub am Torposten vorbei durch die

Stadt nach dem Hafen. Yom Hafen ging ich auf die

Mole, auf welcher vorne an der Spitze ein Leuchtturm

aus Beton stand. [… ] Eben war stürmisches

Wetter, ich konnte mich nicht satt sehen an dem

Bild, das sich mir bot. Immerfort kamen rnehrere

Meter hohe Wellen herangerollt, die sich an der

Mole brachen und zum Teil darüber hinwegspritzten.

Es war, als ob eine Woge die andere jagte. Es

war, aIs ob das Wasser bis auf den Grund aufgewühlt

wurde. [... ]

    Am nächsten Tag lief mich der Feldwebel rufen.

Er hatte in meinem Soldbuch gesehen, daf ich seit

Kriegsausbruch im Felde stand und noch keinen

Urlaub erhalten hatte. Ich bekärne 14 Tage Urlaub,

sagte er. »Ich kann denselben nicht annehrnen«,antwortete

ich, »denn ich weif nirgends hinzufahren«,

und klärte den Feldwebel über meine Verhältnisse

auf. »Donnerwetter!« sagte er. »Das ist allerhand.

Na, wir wollen sehen. Es liiI3t sich auch hier leben,

und ich werde Sie beim Dienst berücksichtigen!«

Dieser Feldwebel war ein Mann, wie sie in der deutschen

Armee nicht zahlreich herumliefen. ln den

folgenden T'agen mulite ich wenig Dienst mitmachen,

obwohl die 10 vom Arzt befohlenen dienstfreien

Tage vorüber waren. [… ]

                                    192

    Einmal war ich auf Hafenwache abkommandiert.

Ich muûte an dem Tore Posten stehen, das aIle ausund

in den Hafen gehenden Pers onen passieren

mußten. Der ganze Hafen war nämlich mit einem

Gitterzaun umgeben. Wenn die Hafenarbeiter zu

Mittag essen gingen, gab es viel Arbeit, um aIle Passe

nachzusehen. Ebenso, wenn sie wieder ZUT Arbeit

kamen. Es war meist ein ganz gemeines, grobes Volk,

das einen Dialekt sprach, den der Teufel nicht verstehen

konnte. Mehrere fuhren mich grob an, aIs ich

ihre Passe verlangte, denn ich hätte sie doch erst vor

einer Stunde gesehen, als sie zum Essen gegangen

waren. Ich hatte jedoch den strikten Befehl, keine

Person ohne Paß passieren zu lassen. Mir wäre es ja

ganz gleichgültig gewesen, aber ich wußte ja nicht,

ob ich von einem Vorgesetzten beobachtet wurde.

Da hätte ich gleich meine 3 Tage Loch weggehabt.

Ich konnte sie alle beschwichtigen bis auf einen, der

ein ganz gemeiner Mensch zu sein schien. Er wollte

mir unbedingt den PaH nicht vorzeigen. Da trat ich

etwa 2 Schritt zurück, rif mein Gewehr an die Backe

und forderte ihn noch mal auf, den Pa/3 vorzuzeigen

oder sich zu entfernen. Nun gab er nach, zeigte den

Paß und ging brummend hindurch. Am Abend wollten

einige liederliche Dirnen zu den auf den Schiffen

befindlichen Matrosen. Ich lief sie jedoch nicht

durch. Sie gingen zurück. Doch später sah ich, daf

sie über den Zaun kletterten und doch auf die

Schiffe gingen. Was wollte ich mach en? Ich tat, aIs

hatte ich nichts gesehen.

    Am nächsten Morgen kam ein etwa 17jahriger

Junge zu mir und ließ sich in ein Cesprach mit mir

ein. Er wollte sich freiwillig zum Kriegsdienst melden.

lch riet ihm davon ab und malte ihm das Leben

an der Front derart vor, daßihm die Haare zu Berge

standen. »Nein, wenn es so ist, will ich lieber warten,

bis ich eingezogen werde..  »Es wird dann noch viel

zu früh sein«, sagte ich. Er bedankte sich und ging

weg. Ich hatte das GefühI, ein gutes Werk getan zu

haben.

                                    193

    Am folgenden Tag war Löhnungsappell, ln Memel

erhieltenwir 53 Pfennig Kriegslöhnung statt 33.

Ais alles entlöhnt war, rief der Oberleutnant: »Musketier

Richert solI vortreten!« Ich hatte keine Ahnung,

weshalb, trat vor und stand still. »Es ist meine

Pflicht«, fing er an, »der Kompanie von Ihrer mutigen

und energischen Haltung auf Posten bei der

Hafenwache Mitteilung zu machen. Ich spreche Ihnen

meine voile Anerkennung aus. Sie sind närnlich

yom Offizier der Runde beobachtet worden, ais Sie

jenen rohen Lümmel von Hafenarbeiter zum Vorzeigen

des Passes zwangen.« Ich war ganz überrascht.

Nun, schaden kann esja nichts, wenn man bei

den Vorgesetzten eine sogenannte gute Iumrner

hat.

    Eines Sonntagabends wurde ich zur Wirtschaftspatrouille

kommandiert. Wir waren ein Unteroffizier

und 2 Mann. Wir mußten die Gewehre mitnehmen

und den Helm aufsetzen. Der Unteroffizier war

ein ganz gemütlicher Mensch, der den Kopfvoll von

Spaûen hatte. Er benahrn sich gar nicht ais unser

Vorgesetzter, sondern ais Kamerad. Wir hatten den

Auftrag, nach der Polizeistunde in den Wirtschaften

Feierabend zu bieten und Soldaten, die keinenUrlaubsschein

hatten, aufzuschreiben und zu melden.

Wir besuchten mehr ais 20 Wirtschaften. Kaum

blinkten unsere Helrne in der Gaststube, ais der Win

oder die Wirtin uns zum Schanktisch rief, einem

jeden einen Humpen oder ein Cläschen Cognac hinstellte

und uns zum Trinken aufmunterte. Nach und

nach bekamen wir ganz gehorige Schwipse. Den SoIdaten,

die wir auf der Straße trafen und die keinen

Urlaubsschein hatten, sagte der Unteroffizier, sie

sollten nur hinter der Kaserne über die Mauer klettern

und sich nicht erwischen Iassen. Die Soldaten

waren sehr froh, denn aIs wir sie anhielten, glaubten

sie bestimmt, ins Loch zu fliegen. So kamen wir auch

in ein öffentliches Haus. Herrgott, wie die halbnackten

Dirnen zusammenfuhren, als wir eintraten.

Denn sie wußten, daß ihnen, wenn sie nach der Polizeistunde

                                    194

Polizeistunddie Bude nicht geschlossen hatten und

erwischt wurden, das Haus geschlossen wurde. Unser

Unteroffizier tat, ais wolle er eine Meldung

schreiben. Die Dirnen baten und flehten, wollten

uns schmeicheln und küssen und alles mögliche. Der

Unteroffizier jagte ihnen eine ganz gehorige Angst

ein. Schließlich muI3te er doch lachen, zerriI3 die

angefangene Meldung und sagte, sie brauchten

keine Angst zu haben; worüber sie sich nicht wenig

freuten und gleich 2 Flaschen Bier hinstellten. Wir

hatten jedoch genug getrunken und gingen in die

Kaserne, um unseren Rausch auszuschlafen.

Am nachsten Tag hieß es, daI3 ein Transport Ersatzmannschaften

von unserem Ersatzbataillon nach

der russischen Front geschickt werden sollte. Das

wirkte wie eine Bombe. Jeder befürchtete, nach der

Front geschickt zu werden. Vor dem russischen Winter

hatten aile einen heiligen Respekt. Es war eben

erst Ende November. 1ch wußte bestimmt, daß ich

auch an der Reihe war, denn ich war ganz gesund

und hatte 110ch ein gutes Aussehen von der guten

Lazarettverpflegung.

Da kam plotzlich der Befehl: »Alles antretenl Das

Ersatzbataillon soIlte ~O Mann nach Pillau senden,

zur 1. Ersatzmaschinengewehrkompanie des 1.Armeekorps.

»Wer freiwillig zu den Maschinengewehren

gehen will, soli sich meldenl Ich war einer der

ersten, der vorsprang. Denn ich dachte: Sei es, wie es

will, es ist immer besser aIs an der Front. Und die

MG-Mannschaften brauchen nie einen Bajonettangriff

mitzumachen, das ist auch was wert! Also

wurde ich nach Pillau bestimmt. 

                                195

 

 

 

                        BEI DER

ERSATZMASCHINENGEWEHRKOMPANIE

            DES I. ARMEEKORPS lN PILLAU

 

Am folgenden Tag- fuhren wir ~() Mann mit der

Bahn nach Königsberg, von da nach Pillau. Das

Städtchen liegt an der Spitze einer [… ] Landzunge,

die vom Festland in die Ostsee hinausragt. Pillau ist

von drei Seiten mit Wasser umgeben: nach Nordwesten

von der Ostsee. nach Südwesten von der Einfahrt

ins Frische Haff und nach Osten yom Frischen

Haff selbst. PilIau selbst ist eine Seefestung. Gleieh

hinter dem Städtchen liegt auf einer kleinen Anhohe

das Fort Stiele.

            [… ] Wir hatten vom Bahnhof etwa eine Viertelstunde

zu gehen bis zur Kompanie. Dieselbe bewohnte

einstückige, gemauerte Baracken. Davor

muJ3ten wir antreten. Der Kompaniefeldwebel namens

Hoffmann, ein Mann mit einem machtigen

Körperbau, Bulldoggenstirn und Stiernacken, hielt

eine Begrûfiungsrede, und was für eine! Ich glaube

nicht, daSS naeh Cayenne [1852-1938 berüchtigtste

Straflingsinsel Frankreichs in Französisch-Guayana]

gebrachte Verbrecher mit soleh unvernünf ..

tigen Worten empfangen werden würden. Dann

wurden wir in die Stuben verteilt, wo uns Spinde

und Betten zugewiesen wurden. Alles war in peinlichster

Ordnung und Sauberkeit. Daran konnte

man schon sehen, dan hier eine äulierst strenge Disziplin

zu Hause war, ahnlich wie in den Kasernen

var dem Krieg. Am folgenden Tag begann die Instruktion

über das Masehinengewehr. Das war nicht

sa einfach, bis man die Namen aller Teile und Teilchen

kannte und das Zusammenarbeiten aller Teile

beim SchieHen erfassen und dann selber vortragen

konnte. Das Excrzieren draulicn im Sehnee

war viel unangenehmer, auch waren die mit Steinen

gefüllten Munitionskästen sehr schwer zu

schleppen.

    Die Unteroffiziere, die sehon im Felde gewesen
                         
196

waren, behandelten uns viel bosser als jene, die immer

in Garnison geblieben waren und derien das

Schleifen und Qualen der Soldaten zur Cewohnheit

geworden IVar. Eine Zeitlang gehürte ich zur Gruppe

des Unteroffiziers Altrock, der ein dumrnes Luder

war, aber uns Ull1 so besser drangsalieren konnte. Es

war mir rnanchmal verleidet, doch trostete ich mich

darnit, daf ich hier doch nicht totgeschossen wurde.

Manchmal mubten wir das MG mehrere hundert

Meter im Kriechen durch den Schnee schleppen;

dabei kam der Schnee in die Armel. fast bis zu den

Achseln hinauf. Ebenso hatte man die Stiefel davon

voll. Die Hände waren so kalt, dali man das Eisen am

Gewehr fast nicht mehr anfassen und halten konnte.

Am kältesten IVar es, werm der Wind über die Ostsee

pfiff und wir am Strande exerzierten.

    Die Verpflegung war ziemlich gut, besser als in

Memel. lu Mittag gab es oft Kartoffeln mit Solie und

2 Künigsberger Klopse (Fleischknödel), die ich

gerne aû. Jeder durfte nur eine Portion holen. Mehrere

Male gelang es mir jedoch, 2 Portionen zu erhaschen,

denn die Klopse schmeckten abends gut zum

KommiI3brot. Ich machte, daßich beim Essenernpfangen

einer der ersten war, aI3 dann schnell meine

Portion auf und schlof mich hinten an der Reihe an.

Einmal erwischte mich der Unteroffizier, der beim

Essenholen die Aufsicht hatte, und meldete rnich

dem Ungeheuer von Feldwebel Hoffmann. Das wird

was Schönes absetzen! clachte ich mir. leh warjedoeh

derart abgehartet, dan mi ch die Sache ziernlich

gleiehgültig lien, und fressen konnte mieh Hoffmann

ja nieht. »Richert soli auf die Schreibstube

kornmen!« hien es. Ich ging hin. »Sie Kaffer! Sie

stamrnen wohl aus der Polakei, daßSie an einer

Portion nicht genug bekommen. Sie wollen wohl ins

Loch fliegen?« Alles war in einem Ton gesproehen,

daß die Wande zitterten. Ais er fertig war, bat ich,

sprechen zu dürfen, und erzählte ihrn, daßich aus

dem von den Franzosen besetzten Teil des Elsasses

starnmte, daher keine Verbindung mit der Heirnat  

                            197

hätte und einzig auf die Verpflegung in meiner Kaserne

angewiesen sei. »So, wenn das so ist, können

Sie meinetwegen 2 Züge holen!« Hoffmann schien

doch noch ein bilichen menschliches Gefühl im

Leibe zu haben! So konnte ich jeden Tag 2 Portionen

empfangen. Die eine Portion sparte ich gewöhnlich

für den Abend auf und wärrnte sie dann auf dem

Ofen.

    Einmal wurde ein Film gegeben, über den ich

mich ärgerte. »Franktireurs- hieß er. Es wurden aile

möglichen Schliche und Kniffe gezeigt, wie die französische

Zivilbevölkerung einzelne oder mehrere

deutsche Soldaten in ihre Gewalt lockte und dann

ermordete. Diesel' Film diente dazu, den HaI3 gegen

die Franzosen noch wei ter aufzustacheln. Dabei

wuûte ich, daßes in diesem Krieg gar keine Franktireurs

gab. [… ]

    Nun nahte das Weihnachtsfest heran. Ein schöner

Christhaum wu l'de in einem groI3en Saale aufgestellt;

zuerst wurden einige Weihnachtslieder gesungen,

dann das »Deutschland, Deutschland über alles-

und »Heil dir im Siegerkranz«. Solcher Blödsinn!

Der Hauptmann Grosse, ein Elsässerhasser,

hielt eine Rede, die wohl in die Kriegszeit paûte, aber

urn so weniger an Weihnachten. Dann erhielt jeder

eine kleine Bescherung.

    Wir waren nun am Maschinengewehr vollstandig

ausgebildet, und der Dienst war nicht mehr so

streng. [… ] Manchmal hatten wir ScharfschieI3en

mit dem Maschinengewehr. Anfangs war ich etwas

aufgeregt, wenn das Geknatter losging. Beim guten

Funktionieren des Maschinengewehres konnten wir

in der Minute 2 Gurte, 500 SchuI3, hinausjagen. [… ]

    Auf meiner Stube herrschte untel' den Soldaten

eine gute Kameradschaft. Mein bester Kamerad war

ein Ostpreuße namens Max Rudat, dessen Eltern

eine groI3e Landwirtschaft betrieben und der von

ihnen oft Paketchen erhielt, von denen el' mir immer

etwas abgab. Eines schönen Tages Mitte Januar 1916

mubten wir antreten. Die MG-Kompanie des 1nfanterieregimentes

                                      198

44, welches an der nordrussischen
Front vor der russischen Festung Dünaburg lag,

hatte 16 Mann Ersatztruppen verlangt. 1ch hatte das

Pech, zu den 16 zu gehören. Mein Freund, der nicht

eingeteilt war, bat den Feldwebel, mit mir an die

Front gehen zu dürfen, was auch geschah.

        Am folgenden Tag erhielten wir reichlich Verpflegung

auf die Reise. Ais ältester Soldat wurde ich

als Transportführer bestimmt. Nachdem wir Abschied

von unseren gIücklichen Kameraden genommen

hatten, ging es zur Bahn. Herrgott, wie wird das

wieder werden! j etzt, mitten im Win ter, in die eisige

Kälte Rußlands hinein! Jedenfalls hab' ich noch eine.

nen Kameraden, dachte ich. Damit trostete ich mich 
ein  wenig.

 

                DIE REISE NACH DER NORDRUSSISCHEN

                            FRONT – MITTEjANUAR 1916

 

Wir bestiegen in Pillau den Personenzug und fuhren

nach Königsberg. [… ] Die Fahrt ging über 1nsterburg,

Gumbinnen. Bei Eydtkuhnen passierten wir

die preuHisch-russische Grenze. Gleich beim Eintritt

in Rußland war die Bauart der Hauser wieder armseliger.

[… ] Wir passierten die Festung Kowno, fuhren

über den Fluf Njemen, der ganz mit treibenden

Eisschollen bedeckt war. 1mmer weiter ging die

Fahrt über Radsiwilischki, Rakischki, Abeli nach Jelovka.

Wir kamen an, als es Abend wurde. Wir konnteri

mit noch vielen anderen Soldaten, meist Urlauhern,

in Baracken schlafen. Da nicht eingeheizt war,

Iroren wir, obwohl wir uns in unsere Decken hüllten.

(· ..) 
                                199

 

 

 

 

                    BEI DER MG-KOMPANIE,

                    INFANTERIEREGIMENT 44

Am Morgen […] kamen wir in dem hohon Schnee

nur langsam vorwärts. Endlich, nach 2stündiger

Wanderung, erreichten wir das Gut Neugrünwald.

Von der Front tönten einzelne Kanonenschüsse herüber.

Ich meldete mich beim Kompaniefeldwebel

und teilte mit, daßdie 16 Mann Ersatz aus Pillau

angekommen seien. Der Kompaniefeldwebel namens

Kaminsky machte einen guten, freundlichen

Eindruck auf mich. »Na«, sagte er, »Lhnen wirds

hier schon gefallen.« Er kam mit mir hinaus, ich lief

die 16 Mann stillstehen, wie das eben Vorschrift war.

Der Feldwebel fragtejeden nach seinem Namen, wo

el' her sei und so wei ter. Dann wies er uns einen

Raum an, in dem ein Ofen und Soldatenbetten aus

Draht waren. Wir waren aIle über den Empfang bei

der Kompanie zufrieden, denn hier herrschte ein

viel freundlicherer, kameradschaftlicherer Ton als

in Pillau. Gleich mußten wir Essen empfangen. Es

war gut und reichlich. Die ersten beiden Tage

brauchten wir gar nichts zu tun als nur im Walde

Holz zum Heizen holen.

    Das Gut Neugrünwald bestand aus einem groHen

Wohnhaus und mehreren Stàllen und Nebengebauden.

[… ] Die Reserveschützen, zu denen wir 16 gegenwartig

gehorten, waren in 2 Räumen untergebracht.

lm ErdgeschoH des Wohnhauses wohnte der

Bataillonsstab, in einem Nebengebäude eine Kompanie

»Schipper«, wie man die Soldaten ohne Waffen

nannte, die hinter den Fronten ReservesteIlungen

bauen mußten. lhr richtiger Name war Armierungssoldaten.

ln einem kleinen Nebengebäude war

eine Kompaniebadeanstalt eingerichtet. Drei Badewannen

standen bereit, in denen sich die Soldaten,

die aus dem Schützengraben kamen, reinigen konnten.

Ein Barbier muhte jedem, der es verlangte, unentgeltlich

die Haare schneiden und rasieren. Beque-

mer konnte man es wirklich nicht verlangen. [… ] 
                                    200

 

200

 

    Am dritten Abend, mit dem Dunkelwerden, muß-

ten wir nach der Front, Arbeitsdienst machen. Der

Weg führte fast eine Stunde immer durch düsteren

Tannenwald. Vorne an einem Waldrand in einer

kleinen Mulde mußten wir warten. Hier hörte ich

wieder die ersten Kugeln pfeifen. »Na, Max, wie

gefaIlt dir diese Musik?« fragte ich meinen Freund

Max Rudat, der noch nie im Felde gewesen war.

»Offen gestanden, Nickel«, antwortete er, »ich finde

die Sache etwas unheimlich.«

    Nachdem wir eine halbe Stunde gewartet hatten,

karnen von vorne einige Mann unter Führung eines

Unteroffïziers durch den Schnee. Nun mußten wir

schwere Stahlplatten von 2 m Lange und 1rn Breite

nach vorne tragen. Es war eine Schinderei, bis die

Platten auf die Schultern gehoben waren. Da man

ganz dicht zusammenstand, konnte man nur ganz

kurze Schritte machen. Wir mussten über freies Gelande

nach dem Schützengraben gehen. Der Schnee

reichte uns bis an die Knie. Wenn die Russen Leuchtkugeln

in die Hohe schossen, muliten wir stehenbleiben,

um nicht so gut gesehen zu werden. Dicht hinter

dem Graben legten wir die Platten nieder. Wir

schleppten 8 Stück nach vorne. Bei der letzten Platte

wurden wir wahrscheinlich von den Russen bemer

kt, denn viele Schüsse knaIlten, und die Kugeln

pfiffen dicht um uns. Jeder hätte sich gern fallen

lassen, nur war dies unmoglich. Da rief ich: »Achtung

– schmeisst weg!« Die Platte flog zu Boden,

während aIle links und rechts etwas zurücksprangen.

Dann steIlten wir die Platte hoch und knieten

uns dahinter. Klatsch, schlug eine Infanteriekugel

vorn in die Platte. Wie das klang! Nach einer Weile

hörte die Schieûerei auf, und wir trugen die Platte

nach varne. Dann ging's in schnellem Tempo zurück

nach Neugrünwald, denn aIle hatten nasse, kalte

Füsse und verlangten nach heiliem Kaffee.

    Am folgenden Tage erhielt ein Mann vorne einen

Armschufi. Ein Sanitater brachte ihn zurück nach

Neugrünwald. Ich rnulite meine Sachen packen, um

                                        201

vorn in der Stellung seinen Platz einzunehmcn.

Vorne am Wald rand gingen der Sanitater und ich

durch den Laufgraben nach der vorderen Stellung.

Ich war ganz erstaunt, ais ich die Stellung bei Tage

sah. Wirklich, so was harre ich noch nie gesehen! Der

Graben war auf beiden Seiten mit Tannenstangen

verschalt, am Boden lagen sogenannte Roste aus

Dachlatten, so d man sich keine Stiefel dreckig

machte. Jeder lnfanterist hatte seine Schießscharte.

ln der vorderen Grabenwand waren Kästchen mit

Munition und Handgranaten angebracht. Der Graben

schien fast ganz verlassen, nur die Posten standen

in gedeckten Postenstanden und beobachteten

durch den Grabenspiegel, eine Art Periskop, die

russische Stellung. Die anderen Soldaten hielten sich

in warmen Unterständen auf, die schrag nach hinten

eingebaut waren. »Hier«, sagte der Sanitäter zu mir,

»wohnt Ihre Besatzung. Sie haben einen guten Unteroffizier..

lch ging in den Unterstand. Dichter

Tabakrauch füllte denselben wie dichter Nebel,

darin sah ich 4 Mann an einem Tisch Karten spielen.

Ein weiterer Soldat war eben mit Briefeschreiben

beschaftigt. ln dem Unterstand befand sich ein kleines

Ofchen, das vorn vielen Heizen stellenweise rotglühend

war. An der hinteren Wand befanden sich

zweimal 3 übereinandcr angebrachte Drahtbetten.

Mein erster Gedanke war: Hier ist's zum Aushalten.

Vor dem Unteroffizier stand ich still und meldenmich

zur Stelle. » Iach keine Flausen«, sagte er Zu

mir. »Stillstehen gibt's hier bei mir nicht. Sie machen

einfach Ihren Dienst. lm übrigen sind wir aIle Karneraden.

Wie heifit du. fragte er mich weiter. »Richert

«, antwortete ich. »Ich meine, mit Vornamen «.

sagte er, worauf ich meinen Vornamen Dominik

nannte. [… ] »Gut, wir nennen dich einfach Nicki!

[… ] Nicki, willst du was essen?« fragte mich der

Unteroffizier weiler. »Habt ihr was meinte ich.

»Cewiss, nimrn nur da oben auf dem Brett, was di

willst.: Ich schaute hinauf und war nicht wenig CI

staunt: Mehrere Kornmiûbrote, se, Schrnalz

                              202

ersatz, Dauerwurst und Butter lagen da nebeneinander,

daneben standen 2 Kistchen Zigarren und Zigaretten.

»Nein, so was ist mir noch nicht vOl·gekommen,

seit ich Soldat bin«, sagte ich.

    Nachmittags mulite ich Posten stehen. Ourdi den

Grabenspiegel betrachtete ich das Gelande vor mir.

Gleich neben dern MG-Stand ging ein Laufgrabeu

nach dem im Drahtverhau gelegenen Horchpostenloch.

Zwei breite Drahthinderriisse schützten die

Stellung gegen einen Angriff. Vor der russischen

Linie, die etwa 250 m entfernt lag, waren ebenfalls 2

Drahtverhaue. An mehreren Stellen sah ich dort

Rauch aufsteigen, auf unserer Seite dasselbe Bild.

Alles war ruhig, nur von Zeit zu Zeit horte man nah

oder Fern den Donner eines Geschützes und das

Krachen der einschlagenden Granaten. Hie und da

knallte auch ein Gewehrschuß. Jede Nacht muliten

wir Doppelposten stehen, 4 Stunden im Unterstand,

~ Stunden stehen und so weiter. Des Nachts war das

Postenstehen langweiliger, und es war empfindlich

kalt, so daf man sich immer bewegen und trampeln

muûte, um nicht zu frieren. [... ]

    Am dritten Tage stand ich eben von 12 bis 2 Uhr

nachrnittags Posten. Urn mir die Zeit zu vertreiben,

dachte ich an die Heimat und an alles magliche.

Alles war ruhig. Nirgends fiel ein Schuû. Auf

c-inmal hörte ich eine Explosion, von deren Stärke

ic.h noch keine gehort hatte. Der Boden erbebte, und

ich wäre beinahe vor Schrecken zu Boden gefallen.

1la sah ich etwa 500 m links von mir VOl' der deutsrhen

Stellung eine mehr ais 100 m hohe Rauchwolke

hochschief3en, eine Unmenge Erdschollen flogril

umher. Die Russen hatten eine unterirdische

Mine springen lassen, um die deutsche Stellung dort

ill die Luft zu sprengen. lm selben Moment sauste es

hcran. Direkt VOl' mir irn Drahtvcrhau explodierten

vier schwere russische Granaten, groHe Löcher in

dCIl Drahtverhau reiHend. Nun folgte ein Artillerielc-

uer , in dern einern Hör en und Schen verging.Dazwischen

prasselte von der Stelle, an der die Spren 

                                203

gung erfolgt war, heftiges Infanterie– und MGFeuer.

Die russische Infanterie stürrnte vor und besetzte

den gewaltigen Sprengtrichter. Aber schon

setzte der deu tsche Gegenstoß ein, wobei ein Teil der

Russen entfloh; die anderen wurden gefangengenommen.

Das russische Artilleriefeuer hielt an. Vor,

hinter und hie und da im Graben selber krachten die

Granaten. Gleich bei den ersten Schüssen kam der

Unteroffizier mit der ganzen Besatzung aus dem

Unterstand gestürzt, da sie einen Angriffberchteten.

Wir duckten uns aile im Graben zu Boden, um

nicht von Splittern und Erdschollen getroffen zu

werden. Nul' der Unteroffizier hielt von Zeit zu Zeit

Umschau nach den Russen. Dabei traf ihn ein fingergroßer

Granatsplitter oberhalb des Ohres am

Mützenrand, so daßel' wankte und betäubt zu Boden

stürzte. Eine Wunde war nicht zu sehen, nul'

eine Beule. Ich hielt ihm schnell eine Handvoll

Schnee an die Stirne, und sofort kam el' wieder zu

sich. Er wu/3te im ersten Moment gar nicht, was

geschehen war. Nach einigen Minuten hatte el' sich

vollstandig erholt.

    Gleich neben uns befand sich ein Unterstand, der

von 8 Infanteristen bewohnt war. Ein kurzer Laufgraben

führte nach der Eingangstür. Neben der Tür

war ein Fensterchen eingebaut. Gleich eine der ersten

Granaten schlug neben der Eingangstür ein.

Dadurch wurde der Laufgraben var der Tür mil

Erde zugeworfen, sa daßes den Infanteristen U[1

mëglich war, die Tür, die nach au/3en aufging, ZlI

öffnen. Sie rissen von innen das Fensterchen weg.

warfen die Gewehre hinaus und krochen einer nach

dem anderen hinaus, um im Graben Aufstellung ZlI

nehmen. Ais eben der letzte durch die Fensteflnung

kroch, schlug eine Granate oben auf den aus

Holz gebauten Unterstand. Durch den Druck gaI>

der Unterstand etwas nach und schob sich zusarn

men. Der Infanterist, dessen Oberkorper und

Hände aerhalb der Fensteröffnung waren, wäh

rend seine Beine noch innen hingen, wurde einge-

                                    204

klemmt und konnte weder VOl'noch zurück. ln Todesangsten

schrie er um Hilfe. Zwei seiner Kameraden

versuchten ihn herauszuziehen, was aber nicht

ge!ang. Durch in der Nähe einschlagende Granaten

waren die beiden gezwungen, im Graben besser gedeckte

Plàtze aufzusuchen. So hing der Arme ganz

allein in Todesängsten und suchte sich mit Handen

und Armen gegen die herumfliegenden Erdschollen

zu schützen. Endlich, nach etwa einer halben

Stunde, hörte das Artilleriefeuer auf. Nun konnte

an die Befreiung des armen Soldaten gegangen werden.

Da das Herausziehen nach innen und aullen

unmöglich war, blieb nichts anderes übrig, ais das

unter ihm befindliche Stück Tannenholz aufbeiden

Seiten durchzusagen und herauszunehmen. Nun

wurde der var Angst halbtote Soldat heruntergenomrnen,

wo sich alsbald herausstellte, dan er vollständig

unverletzt war.

        Nun bat ich den Unteroffizier um Erlaubnis, zu

Max Rudat zu gehen, um nachzuschauen, ob ihm

«twas passiert sei. Der Graben war teilweise ebengeschossen,

so daf ich an mehreren Stellen kriechen

mubte, um von den Russen nicht gesehen zu werden.

Mehrere Soldaten waren verschüttet, und man

war eben daran, sie auszugraben. Auch sah ich drei

Gefallene im Graben liegen. Mehrere Leichtverwundete

hatten sich bereits aus dem Staub gemacht. Drei

Unteroffiziere, die in einem Unterstand Karten gespielt

hatten, wurden von einer Granate, die die

Decke durchschlug und in dem Unterstand explodierte,

vollständig in Scke gerissen. Max Rudat

stand eben Posten neben seinem MG und machte ein

ganz sonderbares Gesicht. Der Schrecken war noch

nicht ganz von ihm gewichen. »Na, Max, wie hat's dir

diesmal gefallen>. fragte ich. »Frag nicht, Nickel«,

antwortete er. »Ich lag platt auf dem Grabenboden

und hätte mir var Angst bald in die Hosen gernacht.«

Dabei zeigte er mir mehrere frische Cranatlöcher

dicht neben ihm. Wir freuten uns, beide mit heiler

Haut davongekommen zu sein. [... ]

                                    205

    Eines Naehts stand ich Posten und unterhielt mieh

mit dem Offizierstellvertreter, der eben die Posten

revidierte. Der Mond beleuchtete fast taghel! c1ie

Gegencl. Um mieh warrn zu halten, trat ich von einern

Bein aufs andere. Plützlich dben ein scharfer

Knall, ein heftiger Klang am rechten Ohr. Die Kugel

hatte meinen Stahlhelm an der rcchten Seite in

Stirnhohe gestreift und die graue Farbe weggerissen.

lch erschrak nicht wenig. Da c1ie hintere Wand

schrag und mit Schnee bedeckt war, hatte ein Russe

wahrscheinlich die Bewegung meines Kopfes auf

dem weilien Hintergrund bemerkt und wollte mieh

gleich ins Jenseits befördern. Von c1aab war ich viel

vorsichtiger.

    Nach und nach schmolz cler Schnee, und der

Frühling steIlte sich ein. Das Leben im Schützengraben

wurde viel angenehmer. Beim Postenstehen am

Tage konnte man sich schön von der Sonne bescheinen lassen.

    Eines Tages karn der Befehl, einen Handstreich

auszuführen, in die russischen Graben einzudringen

und festzustellen, was fur ein Regiment uns gegenüberliege.

Zu diesem Zweck wurden mehrere Wassereimern

ähnliche Cefäûe in unserem Graben aufgestellt

und der Inhalt angezündet, ais der Wind

nach cler russischen Stellung wehte. Es entwickelten

sich dichte, für das Auge undurchdringliche Rauchwolken,

die mit dem Luftzug langsam dem russischen

Graben zustrebten. Etwa 20 Mann Infanterie

liefen in c1en Rauchwolken nach der russischen Stellung

hinüber. Mit Drahtscheren bahnten sie sich

einen Weg durch die Ilindernisse und drangen iu

c1ie russische Stellung ein. Wir lauschten gespannt

hinüber, aber es fiel kein SehuJ3. Die Russen, die

wahrseheinlich die Rauchwolken fur Gaswolken

hielten, hatten an dieser Stelle den Graben geraumt.

Alle Infanteristen kamen heil wieder zurück. Sie

brachten ein russisches Cewehr und mehrere Stahlschutzschilde.

Ein Mann harre in einern Unterstancl

eine Brieftasche mit Militàrchlein gefunden,

                                    206

warin man die Nummer des russischen Regiments

und der Division feststellen konnte.

    Eines Tages im Mai schof die russische Artillerie

irnmer an dieselbe Stelle in unserem Drahtverhau,

bis schlieBlieh eine breite cke entstand. Wir dachten,

daß die Russen in der folgenden Nacht bestimrnt

eiueri Angriff rnaehen rden, und trafen

unsere Vorkehrungen. Hinter der Lücke wurden in

unserem Graben 3 faschinengewehre aufgestellt

und der Graben an dieser Stelle von Infanterie stark

besetzt. Von Zeit 'zu Zeit wurde eine Leuchtkugel

abgeschossen, die c1asCelände zwisehen den Stellungen

mit zitterndem Lichtschein überflutete. Aufeinmal

hief es: »Sie komrnen!« Ein prasselndes MGund

Infanteriefeuer unsererseits brach nun los. Die

Artillerie, die telephonisch benachrichtigt wurde

und deren Bedienungsmannschaften bereits an den

Geschützen stand en, legte ein starkes Sperrfeuer

zwischen die Stellungen. Ich konnte beim besten

Willen keinen Russen sehen, obsehon alles von den

Leuchtkugeln fast taghell erleuchtet war. Sie hatten

sich namlich ins hohe Gras geworl'en, als die Schielierei

losgegangen war. Da sah ich plötzlich einige von

ihnen aufspringen und in ihren Graben zurücklau-

Fen. Auf einmal wimrnelte alles von fliehenden Russen,

die in ihren Graben verschwanden. Nach einigen

Tagen las ich in der Zeirung: »Südlich von Illuxt

wurde ein starker russischer Nachtangriff mit

schwersten Verlusten für den Feind abgeschlagen.«

Nun, gar so richtig war die Sache nicht. Aber jede

Kleinigkeit mulite eben aIs groJ3er Sieg ins Land

hineinposaunt werden, um c1ieKriegsstimmung des

Volkes aufreehtzuerhalten.

    lm Mai 1916 wurcle unsere MGBesatzung einige

hundert Meter naeh rechts verschoben. Dort zog

sich die Stellung durch einen herrlichen Tannenund

Birkenwald. Wir fanden dort in einem Unrerstand,

der viel schlechter war als der vorige, Unterkunft.

Bei regnerischem Wetter mubten wir taglich

viele Eimer Wasser, die sich im Unterstand samrnel-

                                207

 

ten, ausschopfen und hinaustragen. Gegen Morgen

war so viel Wasser im Unterstand, d af es fast bis an

die unteren Drahtbetten reichte. Ein solehes Wohnen

war höchst ungesund. ln lauen Mainachten

schlief ich oft hinter dem Unterstand auf dem Waldboden,

wo ich einen Haufen trockenes Laub gesammelt

hatte. Um besser wohnen zu körinen, fafiten wir

den Entschluû, einen neuen Wohnunterstand zu

bauen. Wir hoben ein viereckiges Loch in der Groûe

eines kleinen Zimmers aus, fällten weiter zurück im

Wald starke Tannen, sagten Balken und starke Träger

und begannen mit dem Bau. Es war ein schweres

Stück Arbeit, aber da aile fest zusammenhielten, waren

wir bald fertig. Die Decke bestand aus 6 Schichten

kreuz und quer liegenden Tannenstämmen. Die

Zwischenraume waren mit Erde angefüllt. Natürlich

konnten wir nur nachts an der Decke arbeiten, und

auch da war es oft gefahrlich, da die russischen Posten

vor Langeweile in die Nacht hinausknaUten und

man deshalb immer in Lebensgefahr war, werm man

oben deckungslos arbeitete.

        Nun ging es an die innere Ausstattung. Auf einer

Seite wurden 6 Drahtbetten hingestellt, immer zwei

übereinander. Einer von uns war Maurer von Beruf

und baute aus Backsteinen einen hübschen Ofen.

Aus Brettern wurde ein Tisch gezimmen, ebenso

Bänke, und hinter dem Tisch wurde eine Art Sofa

gemacht, mit trockenem Gras gepolstert und mit

neuen, aufgetrennten Sandsäcken überzogen. Da

ich etwas Geschick im Zeichnen und Malen hatte,

zeichnete ich mehrere Bilder, welche ich dann mit

dicker Birkenrinde einrahmte und im Unterstand

aufuing. Die Wände wurden mit der Rinde gefalltel

Tannen, die wir rundurn sorgfaltig abschälten, tapeziert.

Vor dem Fensterchen legte ein Kamerad, ein

Cartner, ein schönes Waldblumenbeet in Sternform

an. Ein anderer, ein Holzschnitzer, fertigte ein 1 1/2 m

hohes Maschinengewehr aus Holz. Es wurde inrnitten

des Blumenbeetes auf einem Großen Stein wie

ein Monument aufgestellt. Als alles fertig war, waren

                                        208

wir mit unserer Arbeit sehr zufrieden, ebenso unser

Kornpanieführer, Leutnant Matthes, der ein guter,

gerechter Vorgesetzter war und uns für unsere Arbeit

auch sein Lob aussprach.

        Unser Maschinengewehr war in einem Betonunterstand

mit Schießschlitz schufifertig aufgestellt,

bei welchem immer Posten stehen muûten, am Tage

ein Mann, nachts zwei. Die Gefahr war nicht grofi

hier. Wohl kamen jeden Tag einige Granaten

und Schrapnells sowie kleine Minen herübergeflogen,

doch gab es nur selten Verluste. Wir aile

wünschten, hier das Kriegsende abwarten zu dür-

Fen. Die Verpflegung war nicht mehr so gut wie bei

meiner Ankunft, doch konnte man es immer noch

aushalten.

           Eines Tages wurden mehrere Minenwerfer, von

deren GrbHe ich bis jetzt noch keine gesehen hatte,

hinter unserem Unterstand aufgebaut. Die Minen

hatten ein Gewicht von 2 Zentner. Da unsererseits

ein Handstreich geplant war, sollten diese Minenwerfer

im Verein mit der Artillerie die russische

Stellung sturmreif schieûen, Wir selbst muûten mit

2 Maschinengewehren von unserem Unterstand aus

abwechselnd Sperrfeuer nach der russischen Stellung

abgeben, um die russischen Reserven zu hindern,

zur Verstarkung an die vordere Stellung zu

kommen. ln der Zeit von 20 Minuten gaben wir

Tausende von Scssen ab. Die Pfahle desDrahtverhaus

wurden vollstandig in Fetzen geschossen,

ebenso fast aIle Drahte entzweigerissen. Mehrere

junge Birken srzten um; sie waren von unseren

Kugeln wie abgesagt. Die Explosion der 2-Zentner-

Minen war furchtbar. Durch den machtigen Luftdruck

bogen sich Tannen und Birken pendelnd hin

und her. Nun ging eine halbe Kompanie Infanterie

von uns var. Nach einer Viertelstunde kamen aile

heil wieder zu rück mit 8 Russen, die zitternd vor

Todesangst in einem Unterstand aufgefunden worden

waren und ohne Widerstand gefangengenommen

wurden. Die Gefangenen waren sichtlich froh,

                                    209

russische Artillerie an, unsere Stellung unter scharfes

Sehrapnell- und Granatenfeuer zu nehmen. Ich

stand eben hinter dem Betonunterstand mit noch

2 Kameraden und unserem Oberleutnant, ais eine

Granate kleineren Kalibers direkt über unseren

pfen auf dem Unterstand aufsehlug, platzte und

die Ladung nach allen Seiten schleuderte. Wir blieben

aile, obwohl wir VOl' Sehreek fast umgeflogen

waren, unverletzt. Nur ein Feldwebel von der Infanterie,

der eben den Graben entlangkam, wurde von

einem Splitter in den Baueh getroffen und starb im

Lazarett an der schweren Verwundung. Von einer

kleinen Mine wurde unserem Zugführer, einem

Leutnant, der Arm weggerissen. Ein guter Freund

von mir aus Memel namens Masur, der bei dem

Leutnant Ordonnanz war, wurde derart schwer verwundet,

daß er nach wenigen Minuten versehied. Er

wurde auf dem Friedhof unseres Regiments, der im

Wald hinter der Front angelegt war, bestattet.

    Eines Tages imJuni wurde unsere MG-Besatzung

endlich abgelost, und wir kamen zurück nach Neugrünwald.

Es war doch schön, wenn man sich wieder

Frei auf der Erde bewegen konnte und nieht gezwungen

war, dauernd in Graben und Unterständen, fast

wie ein Maulwurf, zu leben. Ebenso fand ich es angenehm,

die Nächte durchschlafen zu körinen. Der

Dienst wurde uns so leicht wie moglich gemacht:

1 Stunde Exerzieren, 1 Stunde Unterricht und MG-Reinigen,

das war alles. Wir vertrieben uns die Zeit

durch Ringkämpfe und Turnen an einem Reck.

Oder wir lagen auf der faulen Haut und fingen

Lause, denn dieses Vieh hatte sieh wieder bei uns

heimisch gemacht.

    Eines Tages wurde ich zum Gefreiten befördert.

Am folgenden Tage mußte ich nach Jelovka, um

mich beim Regimentskommandeur zu melden. Dort

erhielt ich das Eiserne Kreuz II. Klasse, ebenso mehrere

Soldaten und Unteroffiziere des Regiments.

Der Regimentskommandeur hielt eine äulierst kriegerische
                                        210

kriegerische Rede an uns; wir sollten stolz auf diese

Auszeichnung sein. Das alles ließ mich jedoch sehr

kalt, denn am liebsten hätte ich den ganzen Kram

weggeschmissen und ware nach Hause gegangen.

Ais ich wieder bei der Kompanie ankam, wurde mir

vom Vorgesetzten und von den Kameraden derart

gratuliert und die Hand gedrückt, daßdieselbe anfing,

mir weh zu tun.

    Nach 8 Tagen Aufenthalt in Neugrünwald ging's

wieder in Stellung. An einer Stelle kamen wir an

vielen Gräbern gefallener Russen vorbei, die noch

im Bewegungskrieg Ende 1915 gefallen waren. Die

Russengräber waren erkenntlich an den Mützen, die

halb verfault an den morschen Kreuzen hingen. An

einer freien Stelle neben der Bahn waren aueh mehrere

Graber von gefallenen deutsehen Jagern; das

erkannte man an den an den Kreuzen hängenden

Jigertschakos. Weiter vorne führte ein Laufgraben

nach der vorderen Stellung. Dort lösten wir eine

Besatzung ab, die nun 8 Tage zur Erholung naeh

Neugrünwald ging.

    Das Maschinengewehr stand ebenfalls in einem

Betonunterstand. Der Wohnunterstand war auch

nicht übel, aber lange nicht so schön und stark wie

der von uns gebaute. Hier war es auch gefahrlicher

aIs an der früheren Stelle. Da der Wald neben der

Bahn entlang etwa 100 m abgeholzt war und wir an

der freien Stelle lagen, konnten die Russen unsere

Stellung sehen und sieh mit ihrer Artillerie genau

einsehießen. Jeden Tag kamen etwa 20 Granaten

vom Kaliber 12, die schon einen gewaltigen Druck

haben, angesaust. Gleieh nach dem ersten Einsehlag

liefen wir aIle in den MG-Betonunterstand. Eines

Tages las ich eben in dem Wohnunterstand in einem

Buch, die Kameraden spielten Karten, ais plötzlich

eine der 12-cm-Granaten oben auf un serem Unterstand

einschlug und platzte. Var der Explosion

drang sie bis auf die untere Lage der die Decke

bildenden Tarinenstämme. Der Druck schob mehrere

Stämme etwas auseinander, so dass  mehrere

                                     211

Schubkarrcn Erde in den Untersta nd stürzten. Mit

jahem Schreck flogen wir aile zu Boden, dann ging's

Hals über Kopf zur Tür hinaus in den Betonunterstand,

bis die Schiellerei wieder aufhorte.

    Abends mit dem Dunkelwerden Qinoen wir dann '-.1 b '

das Granatloch oben auf dern Unterstand wieder

aufzufüllen: wir warfen die hinausgeworfenen,zerspliuerten

Holzstücke in das Loch und füllten es mit

Erde aus. Dann wurden Tannenäste geholt und darübergedeckt.

Bei dieser Arbeit erhielt ein Mann der

Besatzung, ein freundlicher Kerl, ein Uhrmacher,

einen Halsschuß, stürzte auf den Unterstand. Ich

konnte noch sehen, wie el' die Hand hob und mich

mit starren Augen anschaute, aIs wollte er mich bitten,

ihm zu helfen. Aber sofort sank sein Kopf hintenüber.

Er war tot. Wir aIle waren durch den plötzlichen,

unerwarteten Tod unseres Kameraden sehr

erschrocken und betrübt. Noch in der Nacht trugen

wir seine Leiche auf einer Tragbahre auf den Friedhof

des Regiments, wo er am folgenden Tage beerdigt

wurde.

    Einige Tage später schlug wieder eine 12-cm-Granate

auf die Ecke des Unterstandes, denselben vollständig

wegfegend. Wieder wurde keiner von uns

verletzt, denn nach den ersten Einschlägen flüchteten

wir aIle in den Betonunterstand. Dann kam der

Befehl, neben den Gleisen im vorderen Graben einen

Großen, bombensicheren Betonunterstand zu

bauen, der bis zu 200 Mann aufnehmen konne. Das

war leichter gesagt ais getan. Wir mußten wie die

Infanteristen mithelfen. Zuerst wurde ein etwa 3 m

tiefes, 4 m breites und 40 m langes Loch ausgehoben.

Die Erde mußten wir in Sandsäcken 200 m weit

schleppen und im Wald ausleeren. Das war eine

Arbeit! Tausend und abertausend Sacke warenwegzuschleppen.

Ais das Loch fertig ausgehoben war,

fing die Arbeit des Betonierens an. Aufeiner kleinen

Feldbahn wurden Kies und Zement bis etwa 300 m

hinter die vordcre Linie gefahren. Am Ausladeplatz

wurde die Menge gemischt und, ebenfalls in Sandsäcken,

                                    212

durch den Laufgraben nach vorne geschleppt.

Jeder Mann mulite tàglich 40mal hoJen

gehen. Man konntc hochstens einen halben Sandsack

tragen, da die Mischung sehr schwer und naß

war. Um die Decke herzustellen, wurden dießahnschienen

losgeschraubt, zwei Reihen quel" übereinandergelegt,

dann kam noch lm Beton obendrauf,

und der Unterstand war fertig. Um Licht und Luft

einzulassen, befanden sich in den Wänden mehrere

schmale Schießscharten.

        So ging der Sommer 1916 langsam seinem Ende

entgegen, oh ne daf etwas Besonderes vorgefallen

ware. Tag und Nacht abwechselnd Postenstehen,

Essenholen, Holz herbeischleppen, Heizen und

Arbeitsdienst, das war 50 ziemlich alles. Die Verpf1egung

wurde immer schlechter, bereits gab es

2 fleischlose Tage die Woche. Die Verpflegung bestand

taglich aus 1y~Pfund Kommißbrot, morgens

und abends schlechtem schwarzem Kaffee – oft

ohne Zucker-, etwas Butter oder Käse, manchmal

etwas Wurst, Schmalzersatz, am meistenjedoch Marmelade,

auch einer Art grauen Schmalzes, die von

den Soldaten Hindenburg- oder Affenfett genannt

wurde. Am Mittag gab es pro Mann 1 Liter Suppe.

Alles war stets aIs Suppe gekocht. Nudeln, Sauerkraut,

Reis, Bohnen, Erbsen, Graupen, Dörrgernüse

(von den Soldaten »Stacheldraht« genannt), Hafer-

flocken, Kartoffelflocken und so weiler. Manchrnal

gab es grüne Klippfische; dieser Fraf war vollständig

ungeniessbar und roch wie Leichen, die einige

Tage an der Sonne gelegen hatten. An fleischlosen

Tagen gab es gewohnlich Nudelsuppe mit einigen

Rosinen darinnen. Von einem Stückchen gebrateuem

Fleisch, Salat oder ähnlichern nie eine Spur!

       Im Oktoher 1916 wurden wir von einem Regiment,

das von der Westfront kam, abgelöst. Wir

marschierten nach Jelovka. Unterwegs hief es, daf

wir nach allen rnöglichen Fronten transportiert werden

würden. Aber bei Jelovka bogen wir nach Süden

ab und lösten etwa 20 km südlich unserer früheren

                                    213

StelIung ein Regiment ab. Die Front lief über freies,

hügeliges Celande. [… ] Unsere sowie die russische

StelIung waren durch 3 breite Drahtverhaue geschützt.

Dort wurde unsere MG-Kompanie, die dem

Regiment unterstand, in 3 Kompanien eingeteilt,

welche jede einem Bataillon zugeteilt wurde. Ich

gehörte zur 2. MG-Kompanie und wurde Gewehrführer.

Das heilit: Ich machte, obwohl ich nur Gefreiter

war, Unteroffiziersdienst. lch hatte eine gute

Besatzung, alles junge, flinke Burschen, darunter

auch einen Unterelsässer, Emil Fuchs aus Erstein.

DieJ ungens hatten aile einen guten Appetit, und das

Brot wolIte nie reichen. Mit einem Mann der Besatzung,

dem 20jahrigen Seedorf aus Hamburg, muûten

wir immer lachen. Alle 2 Tage empfingjeder ein

3-Pfund-Brot. Seedorf schnitt mit dem Taschenmesser

Zeichen in das Brot, um es sich einzuteilen. Bis

zum ersten Einschnitt sollte es bis zum gleichen

Abend reichen, der zweiten für den nächsten Morgen

und so weiter. [… ] Nun af el' gewöhnlich am

ersten Abend bis zum Einschnitt für den nächsten

Morgen. Gewöhnlich hatte Seedorf den zweiten Tag

keinen Bissen Brot mehr. Obwohl die Lebensmittel

knapp waren, kam es nie vor, daßeiner dem anderen

ein Stückchen Brot stahl, das imrner offen auf einem

Brett im Unterstand lag.

 

                MEIN ERSTER URLAUB

                    ENDE OKTOBER 1916

 

Nun war ich an der Reihe, in Urlaub zu fahren. Wie

schön wäre es gewesen, wenn ich wie die anderen

Soldaten nach Hause gekonnt hätte. Eine elsassische

Flüchtlingsfamilie aus Dürlingsdorf namens Mattler,

die gegenwartig in Eberbach im Neekartal (Baden)

wohnte, hatte mich brieflich eingeladen, werm

ich sonst nirgends hinfahren könrie, zu ihnen zu

kommen. Lange wulite ich nicht, was ich tun sollte.

                                214

Endlich entschlof ich mich zu fahren, denn ich war

zu gern einmal wieder einige Zeit, ohne das Militärjoch

im Nacken zu fühlen. Auch freute ich mieh auf

die weite Reise. Aiso nahm ich den Urlaubsschein

sowie etwas Verpflegung, nahm Abschied von meinen

Kameraden und walzte los. Ich marschierte

nach Jelovka und bestieg den Zug. [… ] Ein herrliehes

Gefühl der Freiheit und Sicherheit überkam

mich, ais wir immer welter von der Front fortrollten.

Endlich, nach langer Fahrt, erreichten wir bei Eydtkuhnen

die deutsehe Grenze. Alles muhte aussteigen

und sich in der dortigen Entlausungsanstalt lausefrei

machen lassen, denn ohne Entlausungsschein

durfte kein Soldat in Deutschland einfahren. Nun

ging es weiter über Insterburg nach Konigsberg.

Dort bestieg ich den Schnellzug, der mit Urlaubern

überfüllt war, in Richtung Berlin. Es ging weiter

über Braunsberg, Elbing. Bei Dirschau passierten

wir die grösste Brücke, die ich bisher gesehen

hatte, über die Weichsel. [… ] Mit Anbruch der

Nacht lief der Zug in Berlin, Schlesischer Bahnhof

ein. lch ging mit mehreren Urlaubern, mit denen

ich währerid der Fahrt Bekanntschaft gemacht

hatte, in die Stadt, um Berlin bei Nacht zu sehen.

Die Stadt war fast taghell erleuchtet. Wir besuchten

mehrere Restaurants, tranken Bier und lieûen uns

für teures Geld ein Nachtessen geben. Wir übernachteten

im Bahnhofswartesaal und schliefen sitzend,

indem wir die Köpfe auf die Tische legten.

Morgens in der Frühe tranken wir in einer Wirtschaft

heilien Kaffee und gingen nach dem Anhalter

Bahnhof. Natürlich muliten wir uns oft nach

dem Weg erkundigen. lch bestieg den Sehnellzug

nach Südwestdeutschland. Es ging über Luckenwalde,

Wittenberg, Halle, Merseburg, Naumburg,

Weimar, Erfurt, Gotha, Eisenach [… ] nach Frankfurt

am Main. Dort gab es einen längeren Aufenthait.

Die Reise von Berlin nach Frankfurt war sehr

schön und interessant. Fast immer ging es durch

Iruchtbare, dichtbevölker te Gegenden. Die Häuser

                                    215

in Stadt und Land waren hübsch gebaut. Wie war es

doch schön hier, im Vergleich mit dem oden, langweiligen

Rußland! Ich konnte es kaum fassen, da/3

ich dort monatelang in Schützengräben in Unterständen

gelebt hatte.

        [… ] Trotzdem ich in meiner Endstation Eberbach

von der Familie nur Herrn Mattler kannte, wurde ich

von allen freundlich aufgenommen. Wie freute ich

mich, endlich wieder einmal einige Tage leben und

wohnen zu können, wie es einem Menschen zusteht.

Am meisten freute ich mich über das gute Bett, denn

seitJanuar, also 9 Monate, hatte ich nie ausgezogen in

einem Bett geschlafen. Immer nul' auf den harten

Drahtbetten in den Unterstanden. Wenn schone

Tage waren, machte ich Ausflüge in die Umgebung.

Viel zu rasch gingen die Urlaubstage vorbei. Ich

wurde auch bekannt mit mehreren anderen elsässischen

Fchtlingsfamilien, die aIle sehr freundlich zu

mir waren. Besonders die Flüchtlingsmadchen überboten

sich an Freundlichkeit mir gegenüber, und

mehrere ließen durchblicken, daß sie gerne der

Schatz eines elsàssischen Soldaten sein würden. Dies

alles mach te mir narlich Sp. Ich tauschte mit

mehreren Adressen aus und dachte, daß der Briefverkehr

vielleicht etwas Abwechslung in das langweilige

Schützengrabenleben bringen werde.

            Die Familie Mattler wohnte über einer Wirtschaft,

wir aIle aßen dort. Die Kost war nicht besonders

reichlich, aber im Vergleich zum Feldküchenfra/3

herrlich. Das Brot war auch nicht besser aIs dasKornmißbrot,

auch nicht zu reichlich, denn Brot, Fleisch,

Butter waren schon rationiert und konnten nul' auf

Karten bezogen werden, soundso viel Gewicht auf

den Kopf. [... ] lm ganzen war ich 10 Tage in Eberbach,

dann folgte ein Tag Fahrt nach dem Rheinland

zu meinem früheren Kriegskameraden August

Zanger aus Struht. Meine Endstation war Schladern

an der Sieg. [... ] Zanger wohnte etwa eine halbe

Stunde von Schladern entfernt bei einer Familie

Gauche\. Zanger war sehr erfreut, mich wiederzusehen

                                216

 

[ ] Von der Familie Gauche!, bestehend aus

Mutter, Sohn namens Josef und Tochter Maria,

wurde ich aufs freundlichste aufgenommen. Bald

fühlte ich mich dort wie zu Hause. Die guten Leute

holten alles, was sie hatten, und tischten es mir auf.

Die Tochter Maria hatte Zanger bei seiner schweren

Verwundung 1915 gepflegt im Lazarett. Die beiden

verliebten sich und beabsichtigten, nach dem Kriege

zu heiraten (was sie auch taten). Da die Familie sehr

religios war, und um dem Gerede der Leute zu entgehen,

schlief Zanger nicht im Haus der Familie

Gauchel, sondern in einem Nachbarhause bei einer

Familie Batt, wo er ein Zimmer gemietet hatte. Nachdern

wir uns aile bis spat in die Nacht unterhalten

hatten, gingen wir zu Bett. Wir erzahlten uns von der

Heimat und unseren Erlebnissen, bis der Morgen

zum Fenster hereinsah.

        Am folgenden Tage halfen Zanger und ich der

Familie Gauche! beirn Dreschen mit der Dreschmaschine.

Eine Arbeit, die ich auch nicht mehr gewohnt

war, obwohl ich das früher oft getan hatte. Am folgenden

Tag fuhren wir nach der Stadt Siegburg, wo

wir uns beide photographieren lielien und gleich

cinige Bilder über die Schweiz nach Hause adressierten

und abschickten. Am dritten Tag fuhren wir

nach dem etwa 20 km entfernten Eitorf, um das

(;rab des Schwob Josef aus meinem Heimatdorf aufzusuchen.

Es war sehr traurig r uns beide, einen

guten Kameraden aus der Heimat sa wiederzufinden.

Nachdem wir eine Weile am Grab gebetet haticn,

gingen wir ins Lazarett und erkundigten uns bei

der Schwester, die ihn gepflegt hatte, nach der Art

der Verwundung und seinen letzten Tagen. Nach

c-rhaltener Auskunft [... ] fuhren wir zurück. Nun

uoch eine Nacht in einem Bett schlafen, dann war's

wieder vorbei, für weif Gatt wie lange.

        Nur sehr ungern verlief ich nach 3 Tagen Zanger

und die gute Familie Gauchel, aber das furchtbare

Muß ließ es eben nicht and ers machen. Wenn man

nur  einen Tag zu spät bei der Kompanie ankam, flog

                                            217  
 

man 3 Tage ins Loch, in einen dunklen Unterstand,

und das woIlte ich nicht. Meinen Tornister hatten

die guten Leute mit allerhand Lebensmitteln sowie

einer Flasche Likör angefüUt, sa dal] ich für die Reise

gutausgerüstet war. [… ] Der Abschied ging mir sehr

zu Herzen, denn die Mutter Gauchel weinte, als ob

ich ihr Sohn wäre. Es war auch traurig, wufite man

doch nicht, ob man sich wiedersehen oder ob ich

drauben totgeschossen würde, denn ein Kriegsende

war noch nicht abzusehen. Zanger begleitete mich

nach der Bahn. [… ] ln Köln bestieg ich den Schnellzug

nach Berlin und fuhr 2 Tage lang nach der

Front, zuerst durch das Ruhrgebiet über Düsseldorf,

Hagen, Dortmund, [… ] Paderborn, Halberstadt,

Magdeburg, Brandenburg, Potsdam, Charlottenburg

nach Berlin. Ohne Aufenthalt ging es weiter

nach Rußland hinauf. Wir befanden uns nun im

Anfang November. Oben in Rußland war der Boden

mit einer leichten Schneedecke bedeckt. Es schauderte

mich, als ich den Schnee sah, die armseligen

Wohnungen, die düsteren Tannenwälder und die

schlechtgekleideten Bewohner. Und es schauderte

mich, als ich an das mir wieder bevorstehende langweilige

Leben im Schützengraben dachte.

 

                                WIEDER AN DER FRONT

 

Von der Endstation Jelovka konnte ich auf einem

Wagen meines Bataillons meine Truppe erreichen.

Ich meldete mich vom Urlaub zurück und mulite

gleich wieder die Führung meines Maschinengewehrs

übernehmen. lm Unterstand angekommen,

sagten mir die Soldaten sofort, daßFuchs Emil aus

Erstein gefallen sei. Er hatte von einem russischen

MG eine Kugel in die Stirn erhalten, als er nachts

Posten stand, und war sofort tot gewesen. Ich hatte

tiefes Mitleid mit ihm, denn er war ein Landsrnann

und guter Junge.

                                            218
 

    Eintonig vergingen die Tage. Schnee, Nebel, Nebel

und Schnee, das war so ziemlich die ganze Abwechslung.

Die Russen schickten jeden Tag einige

Granaten herüber, die jedoch nicht viel schadeten.

Eines Sonntags wurden vonjedem MG 2 Mann zum

Gottesdienst zurückgeschickt. Ich mullte die Leute

führen. lm Walde, etwa 1km hinter der Front, war

hinter einem Abhang eine große Baracke erbaut, die

als Gotteshaus diente. Sie füllte sich bis auf den letzten

Platz mit Soldaten, und der Feldgeistliche begann

mit dem Gottesdienst. Während der Wandlung

hörten wir plötzlich den Einschlag mehrerer

Granaten vorne an der Front. Die Explosionen wurden

immer zahlreicher; [… ] wir hörten die Sprengstücke

über die Baracke schwirren. Wir wurden alle

sehr unruhig. Nur der Feldgeistliche las die Messe zu

Ende, als werm alles still wäre. Wir verließen nun die

Baracke, das Schießen der Russen wurde immer

stärker. Unser Kompaniefeldwebel gab uns den Be-

Ichl, sofort zu unserem Maschinengewehr zurückzukehren.

Eben marschierten 2 Kompanien Infanterie,

die in Reserve gelegen hatten, nach vorne. Wir

Iolgten ihnen. Es fing nun an zu schneien, daßman

keine 100 m weit sehen konnte. Am Waldrand angekommen,

horte ich an den Einschlägen, daßdie russische

Artillerie hauptsächlich den die Mulde entlang

nach der Stellung führenden Laufgraben unter

Fcuer hielt. Da ich die Kirchgänger zu führen hatte,

überlegte ich einen Moment, wie wir am besten nach

der Stellung kommen konnten. Ich beschlob, über

den Hügel zu gehen, an dessenjenseitigem Abhang

die Stellung lag. Wir erreichten den Gipfel des Hügels,

ohne daßeine Granate in unsere Nahe gefallen

war. AIs das Schneien plötzlich aufhörte und wir von

den Russen wie auf einem Präsentierteller gesehen

wcrden konnten, warfen wir uns alle in den tiefen

Sdmee. Was nun? Laufgraben und Stellung waren

ganz mit schwarz en Granatrauchwolken bedeckt,

und immer neue Geschosse sausten heran. Wenn wir

von dem russischen Artilleriebeobachter oder vom

                                            219

 

MG-Soldaten gesehen würden, waren wir sa gut wie

verloren. Liegenbleiben konnten wir nicht, nach der

Stellung hatten wir noch etwa 400 m zurückzulegen,

nach dem Laufgraben etwa 200. Also entschlossen

wir uns, nach dem Laufgraben zu eilen. »Auf,

marschmarsch!« rief ich. Sofort waren alle auf den

Beinen, und so schnell wir konnten, rannten wir

dem in der Mulde entlanglaufenden Laufgraben zu.

Ein russisches MG fing an zu rattern, schoß aber viel

zu hoch, denn wir horten die Kugeln über uns zischen.

Fast atemlos kamen wir im Laufgraben an.

AIs die Schießerei einen Moment aufhörte, suchten

wir sa schnell wie moglich in den weiter vorne neben

dem Laufgraben liegenden Sanitatsunterstand

zu kommen. Der Laufgraben war stellenweise beinahe

vallgeschassen. An einer Stelle lagen drei tote

Infanteristen; der eine war bis zur Unkenntlichkeit

verstümmelt. Wir waren glücklich, ais wir den stark

ausgebauten Sanitätsunterstand erreicht hatten.

Am Baden lag ein Gefallener. Ein Sanitäter erzahlte

uns, daß der Tate ein Urlauber sei, der am Morgen

die Stellung verlassen habe, um in Urlaub zu fahren.

AIs er den Laufgraben entlangging, schlugen

mehrere der ersten Granaten var ihm ein. Schleunigst

ging el' in den Sanitätsunterstand zurück, um

dort das Ende der :Schieberei abzuwarten. Da

schlug eine Granate hinter dem Unterstand ein,

und ein ganz kleines Sprengstück durchschlug das

Stück Tannenholz, das den unteren Teil der Fenstereinfassung

bildete. Es traf den Unglücklichen

mitten in die Stirn. Er war sofort tot von der Bank

gestürzt. Der Arme, der sicher in Gedanken schon

in der Heimat geweilt hatte, sollte seine Angehorigen

nicht wiedersehen.

    Das Donnern und Krachen der Granaten hatte

wieder eingesetzt. Ais wieder eine Pause eintrat,

suchte je der von uns sa schnell wie moglich sein MG

zu erreichen. Aber schon wieder kamen Geschosse

herangesaust, und wir muûten uns hinlegen, um

nicht von Splittern und Erdschollen getroffen zu

                                220

werden. Endlich kam ich an meinem Unterstand an.

Meine Jungens hatten angsterfüllte Gesichter, denn

eine leichte Granate war oben auf dem Unterstand

geplatzt, ohne jedoch durchzuschlagen. Da hörte ich

auf einmal Infanterie- und MG-Feuer. Ich sprang

hinaus, nahm das Fernglas und sah, daß [bei der

russischen Stellung] hinter dem Gut Schiskowo alles

von russischer Infanterie wimmelte, die sich zum

Angriff anschickte. »Alles raus! » schrie ich in den

Unterstand hinein. DieJungens kamen. Das Maschinengewehr,

das in einer Nische gedeckt im Graben

stand, wurde in die SchieHstellung gehoben und geladen.

Ich schaute nach den Russen hinüber und sah

gerade noch die letzten in ihrem Graben verschwinden.

Über der Stelle platzten eine Menge deutsche

Schrapnells, welche die Russen zum Rückzug zwangen,

ehe sie noch recht zum Angriff geschritten waren.

Wir erhielten den Befehl, in höchster Alarmbereitschaft

zu bleiben. Dauernd sollten 2 Mann beim

MG bleiben. Die anderen durften sich im Unterstand

aufhalten, aber nicht schlafen. ln aller Ruhe

ging der Tag seinem Ende entgegen. Da noch immer

ein Angriff der Russen befürchtet wurde, wurden in

der Nacht viele Leuchtkugeln abgeschossen, sa daf

es fast immer hell war und ein Anschleichen der

Russen auf dem weillen Schnee unrnoglich war. Da,

nach Mitternacht, fing ein MG an zu schiefien, dazwischen

horte man das Knallen der Infanterie. Da

blitzte seitwärts hinter uns ein deutscher Scheinwerfer

auf, beleuchtete hin und her das Niemandsland

zwischen den Stellungen und lief schlieHlich sein

volles Licht in einer Mulde erstrahlen, die sich von

der russischen nach unserer Stellung hinzog und in

die wir von unserem MG-Stand nicht hineinsehen

konnten. Ich schof mehrere Leuchtkugeln ab,

konnte aber vor uns keine Spur von Russen entdekken.

Bald horte das Schießen wieder auf. Wie wir

dann erfuhren, hatte sich ein russischer Stoßtrupp

der Mulde entlang unserer Stellung genahert,

wurde jedoch gesehen und durch das Feuer zurück-

                            221
getrieben . Eine Patrouille ging nun vor und fand

sieben tote Russen sowie einen Schwerverletzten,

den sie mit zurückbrachten. Sie legten ihn auf ein

Drahtbett im MG-Unterstand, wo er wieder zu sich

kam. Er hatte jedoch vie! Blut verloren und war halb

erstarrt, so daßer am folgenden Morgen verschied.

    Von da ab hatten wir Ruhe. Auber mit einigen

Granaten täglich wurden wir von den Russen nicht

mehr belastigt. Da ich Gewehrführer war, brauchte

ich nicht mehr Posten zu stehen. Trotzdem stand ich

meine Zeit, damitdieJungens es etwas besser hatten.

Da es die Nächte stark fror, mußten wir dauernd mit

etwas trockenem Sand gefüllte Säcke am Ofen im

Unterstand heiß machen und sie um den Mante! des

Maschinengewehrs binden, um zu verhüten, daß das

Wasser im Mantel gefror. Denn mit eingefrorenem

MG ist das Schießen unmöglich. Früher war dieses

Aufwärrnen nicht nötig, denn unter das Wasser

wurde Glyzerin gemischt, welches bekanntlich nie

einfriert. Nun mangelte es an Glyzerin, wie an den

meisten anderen Sachen. Mitdem Heizen war es auch

schlecht bestellt. Wir hatten nur gefrorenes grünes

Tannenholz, das schrecklich qualmte, aber nicht

brennen wollte. Man mußtesich oft fast die Lunge

auspusten, bis nur das bißchen Kaffee gekocht war.

        Am Weihnachtstage ging ich eben hinten im

Walde an der Kantine vorbei, als mehrere Kisten

Keks (Zuckerbretla) abge!aden wurden. Das war

eine Seltenheit, denn sonst gab es in der Kantine

hauptsächlich Stiefe!wichse, Schuhfett, Briefpapier,

Bleistifte, Fe!dpostkarten, hie und da eine Büchse

Olsardinen und eingemachtes Obst zu kaufen. Ich

kaufte aile Taschen voll Keks und af fast aile hintereinander,

bis auf 5 Rollen, die ich meiner MG-Besatzung

brachte. Es wundert mich noch heute, wie mein

Magen dies alles aufnehmen konnte. Am Weihnachtsabend

bekamen wir immer zu 2 Mann eine

3/4-Liter-Flasche sauren Rheinwein ais Christabendbeseherung.

        ln der Silvesternacht 1916 auf 1917 schlief ich

                                222

eben im Unterstand, ais ich von dem Kornpanieschreiber

geweckt wurde. lch schaute auf die Uhr,

es war eben Mitternacht. Draufien knallten die Posten

aus purer Langeweile das neue Jahr an. Wir

beide wünschten uns ein glückliches neues Jahr.

»Aber deshalb«, sagte ich zum Schreiber, »hättest du

mich nicht zu weeken brauchen.« – »Ich bin auch

nicht deshalb hier in die Stellung gekommen«, antwortete

er. »Ich bringe dir den Befehl des Kornpaniefelclwebels.

Du sollst sofort deine Sachen pakken

und dich hinten im Waldlager bei ihm melden..

lch war ganz baff, denn ich hatte keine Ahnung,

weshalb. Auch der Schreiber konnte oder

wollte mir keine Auskunft geben. Also packte ich

mein Hab uncl Gut zusammen und stolperte über

den hartgefrorenen, knirsehenden Schnee dem

Waldlager zu. Da sah ich VOl' mir einen Soldaten,

cler ebenfalls Sack und Pack bei sich hatte. »He, du,

wart mal!» rief ich. Er blieb stehen, und ich erkannte

in ihm einen Lothringer namens Beek,

ebenfalls von meiner MG-Kompanie. »Wo gehst du

hinr- fragte ich. »Zum Kompaniefeldwebel«, sagte

er. »Der Schreiber sagte mir, ich soli mieh bei ihm

melden.« Als wir beim Feldwebelunterstand ankamen,

waren sehon mehrere Elsässer da, die von einem

Bein aufs andere hüpften und teils mit Handen

um sieh sehlugen, um sieh zu erwärrnen. lch

meldete mich beim Feldwebel, der wach in seinem

Unterstand saß und sehrieb. Er kam mit hinaus,

wies uns einen leeren Unterstand an, der weder

Fenster noeh Türen hatte, und sagte, wir sollten

dort den Tag abwarten. Wir stahlen nun bei den

bewohnten Unterständen zerkleinertes Holz, um in

unserem offenen, inwendig hart gefrorenen Unterstand

ein Feuer zu machen. Wir saßen um das

Feuer herum, da wurcle geschimpft, geflueht und

aile möglichen Meinungen ausgetauseht. Ich sagte:

»Paßt auf, wir sind die längste Zeit beim Regiment

44 gewesen. Ich glaube, dan wir versetzt werden..

Und meine Ahnung wurde zur Wahrheit.

            223
 

Am frühen Morgen Iief.\uns der Kompanieführer

antreten und teilte uns mit, daß die Division, zu der

das Regiment 44 gehore, nach der \Vestfront transportiert

würde. Auf hoheren Befehl müliten aile

Elsaß-Lothringer an der russischen Front bleiben

und anderen Regimentern zugeteilt werden. Ein allgerneines

Gebrurnme unserer seits erhob sich nun:

"Ah so, Soldaten 2.Klasse. Die haben wohl Angst,

wir laufen dort über« und sa weiter. Da sagte der

Kompanieführer: »Ich hatte euch ja gern behalten

bei der Kompanie. Ich war mit euch allen sehrzufrieden.

Aber ihr wißtja selbst, Befehl ist Befehl, und

da ist nichts dran zu ändern, Schließlich körint ihr's

für ein Glück ansehen, hierbleiben zu konnen, denn

an der Westfront ist die Lebensgefahr weit größer ais

hier.. Obwohl wir ihm in Gedanken recht gaben, lief

es keiner laut werden. Wir rnarschierten nun nach

]elovka, wo schon mehrere hundert Elsali-Lothringer

von unserer Division versarnmelt waren. Wie

da geschimpft wurde! Die Gesinnung aller war genau

dieselbe. Wenn die Preußen dahin gekommen

waren, wo sie hingewünscht wurden, wären wohl alle

beim Teufel gelandet. Am Nachmittag hielt der Regimentskommandeur

nochmals eine Rede und wiederholte,

daßes nicht and ers zu machen sei; es sei

Befehl von oben. Die Nacht verbrachten wir in Baracken.

Am folgenden Tag, dem 2.]anuar 1917, marschierten

wir los. Ein Oberleutnant zu Pferde ritt

nebenher. Der Marsch ging diesmal nordwärts, Irnmerzu

wurde laut gemurrt, oder es ertönten Iaute

Zwischenrufe. »Épinal«, schrie einer, ein anderer:

»Vive la France!« Sofort sprengte der Oberleutnant

nach der Abteilung in der Kolonne, wo der Ruf

ertönt war, und wollte wissen, wer geschrien hatte.

Da kam er aber schon an. Die einen sagten, sie hatten

nichts gehürt, wieder andere lachten ihm frech ins

Gesicht. »Vive la France! Vive l'Alsace!« wurde mun

vor und hinter dem Oberleutnant geschrien. Dieser

knirschte vor Wut, konnte aber nie herausfinden,

                                224

wer gerufen hatte. Denn alle hielten zusarnrnen wie

eine Klette. »Su lang as es Plüta und Knepfla git, su

frecka die Schwowa irn Elsaß net- [»Solange es Blüten

und Spätzle gibt, so lange fressen die Deutschen

im Elsaf nicht«], sang wieder einer am rückwàrtigen

Ende der Kolonne. Da gab der Oberleutnant den

Befehl zum Singen. Kein Laut wurde vernehrnbar.

»Wenn mir jetzt noch einer die Schnauze auftut, der

soll mal sehen!« schrie nun der Oberleutnant, der

sehr gereizt war, da seine Befehle nicht beachtet

wurden. Plötzlich fing einer der Elsässer an zu singen:

,,0 Straßburg, 0 Straßburg, du wunderschöne

Stadt!« Wie auf Kornmando fielen aile ein, und

machtig scholl das schone Elsässerlied durch die eisige,

klare Winterluft. Der Oberleutnant, der einsah,

dan er nichts ausrichten konnte, ritt mm hinter der

Kolonne her. Wir rnarschierten durch herrliche

Tannenwalder. Bei einem einzelnstehenden Cehöft

wurde haltgemacht. Etwa 200 Mann muûten dableiben;

dabei befand auch ich mich, ehenso aile Elsässer

der MG-Kompanie, denn wir blieben imrner beisammen.

Wir marschierten nun direkt unter der Führung

eines Feldwebels in Richtung Front.

 

 

    BEIM RESERVEINFANTERIEREGIMENT

        260, RUSSISCHE NORDOSTFRONT

            2 JANUAR BIS 14.APRIL 1917

 

Auf einem Gutshof war ein Regimentsstab des Reserveinfanterieregiments

260 einquartiert. Dorthin

wurden wir geführt und unter die einzelnen Kornpanien

verteilt. Ich verlangte, in die MG-Kompanie

eingeteilt zu werden. Auf einen Telephonanruf karn

der Bescheid, daßbei der MG-Kompanie 260 kein

Platz frei sei. Also wurde ich mit noch etwa 12 Mann

der 9. Kompanie zugeteilt. Obwohl die Nacbt angebrochen

war, wurden wir noch zurn Kompaniefeldwebel

der 9. Kompanie, der irn Wald in einern schö-

                                     225

nen Unterstand die Kompanieschreibstube eingerichtet

hatte, geführt. Er war ein freundlicher Mann,

und wir waren mit dem Empfang recht zufrieden. Er

fragte uns gleich, ob wir etwas essen woLlten, und lief

uns Brot und Konservenfleisch geben. Übernachten

muliten wir in einem leeren Unterstand, in dem alles

wie Stein und Bein gefroren und weif bereift war.

Trotzdem wir ein Feuer anrnachten, konnten wir

lange nicht warm bekommen. Der Abschnitt, den

das Regiment 260 besetzt hielt, schien ziemlich gefährlich

zu sein, denn man hörte die ganze Nacht

dröhnende Minen- und Granatenexplosionen.

    Als wir die folgende Nacht bereits schliefen,

wurde ich vom Kompanieschreiber geweckt. Vorne

in der Stellung war von der Gruppe des Unteroffiziers

Blau der Gefreite verwundet worden; ich sollte

nun seine Stelle besetzen. [… ] Die Nacht war bitter

kalt. Laut knirschte der gefrorene Schnee beijedem

Schritt. Es war mir doch etwas unheimlich, so alleine

in der Nacht in diesem unbekannten Graben.

Manchrnal blieb ich stehen und lauschte. 1ch konnte

nicht mehr weit von der Stellung sein, das Knallen

der Posten ertonte ganz in der he. Plötzlich ein

sekundenlanges Sausen, ein Blitz, ein Krach; gar

nicht weit von mir hatte eine gröûere Granate eingeschlagen,

sa daßder emporgeschleuderte Schnee

auf mich niederrieselte und die Erdschollen zum

Teil über mich hinwegflogen. Unwillkürlich fing ich

an zu laufen, um von der gefàhrlichen Stellewegzukommen.

Plotzlich teilte sich der Laufgraben in

3 Graben. [... ] Endlich, nach einigen hundert Schritten,

erreichte ich die vorderste Stellung. [... ] Fast

aile Posten machten Bewegungen, um sich etwas

warm zu halten. Sie aile hatten die Kopfschoner von

unten über das Kinn und die Nase bis an die Augen

hochgezogen, so daßnul' ein fingerbreiter Spalt offenblieb,

um durchsehen zu können.

Endlich, nach langem Umherfragen, fand ich den

Unterstand des Unteroffiziers Blau. 1ch meldete

mich zur Stelle. Der Unteroffizier fragte mich, wie

                                226

lange ich Soldat sei, was für ein Landsmann und so

weiter. Nach einer Weile war wieder Zeit, die Posten

zu wechseln. Ablösung!« schrie der Unteroffizier,

der Grabendienst hatte, zum Unterstand herein.

»Richert, Sie konnen gleich aufziehen«, sagteUnteroffizier

Blau zu mir. Ich nahm das Gewehr des verwundeten

Gefreiten. Der Unteroffizier kam mit und

führte mich zurn Postenstand. Ich stand nun mutterseelenallein

in der fremden Stellung. Vor  mir

konnte ich trotz der Dunkelheit die halbeingeschneiten

Drahthindernisse erkennen. Die weitere Aussicht

verlor sich in Nacht, Schnee und Nebel. Nach

und nach fing ich an zu frieien, denn die Nacht war

bitter kalt. 1ch trat vom Postenstand hinunter,

sprang von einem Bein aufs andere und schlug mit

den Händen um mich. Dann stieg ich wieder hinauf.

Auf einmal horte ich drüben einen dumpfen Abschuß

Ich kannte den Ton, es war der einer Mine.

Da ich nicht wuûte, wo dieselbe hinfallen würde,

sprang ich in den Graben hinunter und lauschte

gespannt. Plotzlich hörte ich dire kt in Richtung gegen

mich, zuerst leise, dann laut: Tseh-tseh-tseh. Das

war die Mine, die im Bogen zischend die Luft durchschnitt.

Das Blut erstarrte mir fast vor Schreck in den

Adern. Ich hatte gerade noch Zeit, mich platt in den

Craben zu werfen, aIs mit entsetzlichem Krach die

Mine kaum 2 m hinter mir, oben auf der Deckung,

cxplodierte. Rauch, Schnee, Erdschollen und Splitter

flogen umher. Ich hatte mindestens einen Schubkarren

von Erde auf mir liegen. 1ch schüttelte sie ab,

sprang auf und horchte, denn ich erwartete eine

zweite Mine. Meinen Postenstand durfte ich nicht

verlassen. Da kam Unteroffizier Blau gelaufen, der

g'eh6rt hatte, daßdie Mine dicht bei mir eingeschlag'cn

haben mulite. »Sind Sie verletzt?« rief er. Ais ich

verneinte, sagte er: »Sie müssen sich, wenn Sie den

Abschuf hören, sofort ins Fuchsloch begeben! 

»Was für ein Fuchslochi- fragte ich. Da zeigte er mir

dicht neben dem Postenstand, von der Grabensohle

nach vorne eingebaut, ein Loch, welches mit Holz

                                        227

verschalt war und bequem einen Mann aufnehmen

konnte. Bum, wieder ein Abschuß drüben. Der Unteroffizier

kroch in das Fuchsloch. Da ich keinen

Platz mehr darin hatte, legte ich mich wieder auf den

Grabenboden. Da kam die Mine schon angesaust;

dies mal flog sie etwas wei ter über uns hinweg. Blau

ging nun wieder in den Unterstand. Es kamen noch

mehrere Minen angeflogen,je doch keine mehr so in

die nächste Nähe. Zuletzt stand ich überhaupt nicht

mehr Posten und blieb einfach irn Fuchsloch liegen.

Endlich kam die Ablösung. Wir mußten stündIich

ablösen, der bitteren Kälte wegen. Ich ging nun in

den Unterstand, der von einer Kerze erleuchtet war,

zog die Stiefel aus, die steinhart gefroren waren, um

die Füße etwas am Ofen zu wärrnen. Der Kopfschoner,

den ich draußen über Mund und Nase gezogen

hatte, war vor dem Mund derart vereist, daû sich ein

fast faustgroßer Klumpen Eis und Reif gebildet

hatte. AIs ich etwas erwärrnt war, legte ich mich auf

ein Drahtbett, um zu schlafen. Wie schnell waren die

2 Stunden urn, bis ich wieder an der Reihe war!

Kaum daßich meinte, eingeschlafen zu sein, hief es

schon wieder Ablösung. Sechsmal mußte ich jede

Nacht Posten stehen. Natürlich ging es den anderen

Soldaten nicht besser. Die Nachte schienen uns

schier endlos.

Manchmal, wenn ich so alleine in der kalten Nacht

stand, dachte ich, für was oder wen ich hier eigentlich

stand. Von Vaterlandsliebe oder ahnlichem war

bei uns Elsässern überhaupt keine Spur, und manchmal

erfaßte mich eine furchtbare Wut, wenn ich

daran dachte, welches bequeme Leben die eigentlichen

Urheber dieses Krieges führten. Überhaupt

hatte ich einen heimlichen Zorn gegen aIle Offiziere

vom Leutnant aufwarts, die aile besser wohnten, bessere

Verpflegung hatten und obendrein noch eine

schöne Bezahlung erhielten, während der arme Soldat

»fürs Vaterland und nicht fürs Geld, hurra,

hurra, hurra«, wie es in einem Soldatenlied heiBt,

das ganze Kriegselend mitmachen mußte. Dazu

                                228

 

hatte man noch den Offizieren gegenüber überhaupt

keine eigene Meinung. Man hatte überhaupt

nichts zu sagen, nur blind zu gehorchen.

        Eines Tages wurden wir derart mit Minen überschüttet,

daßman nicht wußte, wo man sich verkriechen

sollte. Da liefen wir aIle in den betonierten

Sanitatsunterstand. Links und rechts davon schlugen

die gewaltigen Flügelminen ein. Der Unterstand

war mit Soldaten voUgestopft wie eine Heringsbüchse

mit Heringen. Plötzlich ein furchtbares Getose

über unseren Köpfen, eine Mine war dire kt auf

dem Unterstand geplatzt. Rundum, wo der aus Eisenbeton

bestehende Deckel auf den Mauern auflag,

zeigten sich Risse. Durch die gewaltige Erschütterung

hatte sich der meterdicke Deckel losgelost.

Angstlich schauten wir uns an. Wieder ein KnaU, daß

wir fast aile zu Boden Hogen. Wir hatten wieder

einen Volltreffer auf den Unterstand erhalten. Diesmal

war der gallZe Zementdeckel etwa eine Handbreit

zur Seite gerutscht. Da sagte ich zu meinem

Kameraden Karl Herter, mit dem ich bereits gut

befreundet war: »Karl, hier bleibe ich nichtl. – »Wo

willst du denn hin?« fragte er. »Wir warten den

nächsten Einschlag ab. Wenn du willst, kannst du

mitkornmen.. AIs die nachste Mine explodiert war,

gingen wir beide zum Unterstand hinaus, liefen im

Laufschritt die SteUung entlang bis zu einem Graben,

der nach dem vorne in den Drahthindernissen

gelegenen Horchpostenloch führte. Da hinein begaben

wir uns. Wir waren nun vollständig sicher, denn

die Minen Hogen aUe über uns hinweg. Wir konnten

sie schön betrachten, wenn sie in einem hohen Bogen

über uns hinwegHogen. Nun fing die deutsche

Artillerie an, Antwort zu geben. Bum-bum-bumbum,

krachten die Abschüsse hinter uns in den Waldern.

Mit lautem Zischen sausten sie über uns hinweg,

um bei der russischen Stellung einzuschlagen.

Durch den Grabenspiegel, der sich im Horchpostenloch

befand, beobachteten wir drüben die Einschlage.

Es war ein sehr aufregendes, interessantes

                                 229

Schauspiel, so daßwir beide die Kälte vergaûen. Die

russische Artillerie, die wohl zeigen wollte, daßbei

ihnen auch noch Munition vorhanden war, schickte

nun auch eine Menge Granaten, untennischt von

Schrapnells, herüber. Überall ein Donnern und

Dröhnen, daßeinem Hören und Sehen verging.

    Gegen Abend flaute das Feuer ab. Wir gingen zurück

in die Stellung. Stellenweise war der Graben fast

ebengeschossen. Wir warteten, bis es dunkel war,

dann wurde der Graben wieder gangbar gemacht

und einigermalien repariert. Mehrere Unterstande

waren zusammengeschossen, jedoch war nur einer

von 6 Soldaten besetzt gewesen, von denen vier getbtet

und die beiden anderen schwer verwundet waren.

Es war eine traurige und schwere Arbeit, im

Dunkel der Nacht die beiden Schwerverwundeten

und die 4 Leichen unter gefrorener Erde und zerschlagenen

Tannenstämrnen hervorzuholen.

    Die Russen wurden an diesem Frontabschnitt immer

frecher. Wo nur Rauch aus einem Unterstand

aufstieg, schossen sie mit Minen und Granaten. Von

da ab durften wir bei Tage nur noch mit Holzkohlen

heizen. Diese wurden in den groûen Waldern hinter

der Front gebrannt und mit der Feldbahn nach der

Front geschafft. Alle 2 Tage erhielt jede Gruppe

einen Großen Sack davon. Eines Morgens schickte

mich der Unteroffizier Blau zum Kohlenempfangen.

Die Säcke lagen auf einem Haufen bei der Mündung

des Laufgrabens in die Stellung. [… ] Ich war

eben im Begriff, meinen Sack über den Rücken zu

heben, als ein Schrapnell herangesaust kam und

über uns zerplatzte. Die ganze Ladung schlug kaurn

1m vor uns in die Grabenwand. lm selben Moment

fühlte ich ein heftiges Brennen im Rücken. Wir

sprangen alle Hals über Kopf in einen in der Nähe

befindlichen alten Unterstand. Dort fragte ich einen

Soldaten, ob er nichts an meinem Rock auf dem

Rücken sehe. Er entdeckte ein erbsengroßes Loch.

lch sagte, daß ich einen kleinen Splitter abbekommen

hätte, fühlte aber, daß es gar nicht schlimm war.

                                    230

Ich zog den Rock aus. Der Splitter war durch das

Stückchen Leder gedrungen, das auf dem Rücken

die Hosentrager zusarnmenhält, wodurch seine

Durchschlagskrafterheblich geschwàcht wurde. Der

Splitter, der nicht ganz die Größe einer Erbse hatte,

saß nur unter der Haut und wurde von einem Soldaten

mit den Fingernägeln herausgedrückt. Ich war

froh, als die »Operation« vollendet war, denn mich

fing es an, auf dem nackten Rücken gewaltig zu

frieren. [… ]

Die Verpflegung wurde immer schlechter und weniger.

Sehr oft, wenn man halberfroren yom Postenstehen

so gegen Morgen mit einem machtigen H unger

in den Unterstand kam, war kein Stückchen

Brot, noch viel weniger sonst etwas zum Beißen da.

 

                EIN HANDSTREICH GEGEN DIE

            RUSSISCHE STELLUNG-JANUAR 1917

 

Eines Tages kam der Befehl: »Morgen gegen Abend

hat die 9. Kompanie nach heftiger Artillerievorbereitung

anzugreifen, in die russische Stellung zu

dringen und Gefangene mitzubringen, zur Feststellung,

welche Truppen uns gegenüberliegen. Wenn

möglich, sind die russischen Minenwerfer zu zerstören

!- «Ais ich dies hörte, fiel mir das Herz fast in die

Hosen, denn ich gehorte zur 9. Kompanie. Ich

dachte, wie schrecklich es sein müsse, wenn man bei

dieser Kalte schwerverwundet und hilflos zwischen

den Stellungen liegenbleiben und langsam erfrieren

mulite. Wie schon wàre es gewesen, wenn ich bei der

MG-Kompanie gewesen wäre! Dann hätte ich diesen

    Angriff nicht mitzumachen brauchen!

Die nächste Nacht mußten wir mit Drahtscheren

Gange durch unsere drei Drahtverhaue schneiden,

urn schnell vorwartszukommen beim Angriff. Wir

wurden bei dieser Arbeit zum Glück von den Russen

nicht bemerkt. Langsam schlich der folgende Tag

                            231

dahin. Wir alle waren sehr niedergeschlagen, denn

keiner wte, wie es ihm beim Angriff ergehen

rde.

        Am Nachmittag fingen die deutsche Artillerie und

Minenwerfer furchtbar die russische Stellung zu beschießen

an. Bald entstanden breite cken in den

russischen Drahthindernissen. Das ArtiIleriefeuer

hörte wieder' elauf. Gegen Abend mußten wir uns

fertigmachen.jeder mußte sich 3 Handgranaten an

das Koppel hangen und die Seitengewehre aufpflanzen.

So standen wir im Graben, mit vor Aufregung

klopfenden Herzen, und warteten. Alles war in

diesem Moment still. Ganz plötzlich setzte starkes

deutsches Artilleriefeuer ein. »Vorwarts!« schrien

die Kompanie- und Zugführer. Wir aIle kletterten

zum Graben hinaus, liefen durch die Gange im

Drahtverhau, so schnell es der hochliegende gefrorene

Schnee erlaubte, nach der russischen Stellung

hinüber. Als wir uns dem Graben naherten, legte die

deutsche Artillerie an unserer Angriffsstelle das

Feuer weiter zurück, während links und rechts die

Granaten in und um die vordere russisehe Stellung

platzten, um die Russen daran zu hindern, uns in die

Flanke zu sehießen. Am russisehen Graben angekommen,

wurden einige Handgranaten hineingeworfen,

dann hineingesprungen. Die wenigen Russen,

die den Graben besetzt hielten, waren vollständig

überrascht. Einige setzten sich zur Wehr. Dabei

wurden 2 Mann unsererseits niedergesehossen und

drei verwundet. Die Russen wurden wie Hunde niedergeknallt,

ebenso einige, die fliehen wollten. Die

armen Teufel dauerten mich. Der Rest, etwa 30

Mann, ergab sich. Wie die Armen Angst hatten! Wir

ließen sie ihre Habseligkeiten in den Unterständen

zusammenpaeken, um sie mit in Gefangensehaft zu

nehmen. Auf beiden Seiten der Einbruchstelle standen

mehrere Soldaten mit Handgranaten bereit, um

sie im Falle, daß die Russen uns im Graben angreifen

wollten, ihnen über die Schulterwehren entgegenzuschleudern.

Jedoeh kein Angriff erfolgte. lch hatte

                                    232

nur den Wunsch, wied el' in unserer Stellung zu sein.

Lang-sam fïng es an zu dunkeln. Die deutsche Artillerie

legte wieder stärker los. Das war für uns das

Zeichen, im Schutze des Artilleriefeuers zurückzugehen.

Die russische Artillerie fing nun ihrerseits an,

die deutsche Stellung unter Feuer zu nehrnen, so

daß das Zuckgehen auch gefahrlich zu werden

schien. "Wir deuteten den Russen an, sich bereit zu

halten. Alle kletterten wir nun zum russischen Graben

hinaus, nahmen die Gefangenen in die Mitte,

und los ging's.Da stieg eine russische Leuchtkugel

hoch. Wir wurden von den Russen gesehen. Mehrere

Scsse knallten. Ein Mann bekam einen Armschuß,

einer der Russen einen Beinschuß. Trotzdem

wurden aIle mitgeschleppt, ebenso die 3 in der russischen

Stellung Verwundeten. ln unserem Graben

angekommen, suchte jeder so schnell wie glich in

cinen Unterstand zu kornmen, denn die russisehe

Artillerie schickte immer noch einige Granaten herüber.

AIs das Feuer aufhörte, mußte die Kompanie

im Graben antreten. Es fehlten 8 Mann. Zwei waren

im russischen Graben gefallen, drei waren dort und

einer war auf dem Rückweg verwundet worden,

macht sechs. Niemand wußte, wo die beiden anderen

geblieben waren. AIs es am nächsten Morgen

hell wurde, sahen wir einen tot zwischen den Stellungen

auf dem Schnee liegen. Von dem letzten fehlte

jede Spur.

 

 

                38 GRAD KÀLTE- JANUAR 1917

 

ln der folgenden Nacht wurde unser Bataillon abgelöst.

Wir marschierten etwa 8 km zurück und wurden

in großen Unterständen untergebracht. Nun

setzte eine Kalte ein, wie ich sie noch nie erlebt hatte.

Das Thermometer sank auf 38 Grad unter Null.

Morgens beim Sonnenaufgang war es am kältesten.

Es war so kalt, daf die Luft flimmerte. Ein Bächlein,

               233

etwa 1m tief, mit stark fliefiendem Wasser war bis

auf den Grund gefroren, so dali wir gezwungen waren,

Schnee- und Eisklumpen im Kochgeschirr auf

dem Ofen zu schmelzen, wenn wir Kaffee kochen

wollten oder zu sonstigen Zwecken Wasser haben

muûten. Das Brot und die anderen Lebensmittel, die

auf Schlitten hergebracht wurden, war en hart wie

Stein.

Wenn ein Mann den Kopfschoner nicht über die

Nase gezogen hatte, war die Nasenspitze binnen

5 Minuten weißgelb, alles Blut daraus gewichen. Dabei

wurde die Nase vollständig gefühllos. Da kam

der Befehl, daßeiner den anderen beobachten

sollte. Auch erhieltjeder eine Schachtel Frostsalbe,

um sofort die erfrorenen Stellen einzuschmieren

und zu verbinden. »Mensch, du hast ja eine weiße

Nasel- hörte man oft einen zurn anderen sagen. Die

Nase wurde dann sofort mit der Frostsalbe eingeschmiert

und verbunden. Am schnellsten erfroren

Nase, Ohren, die Haut auf den Backenknochen, Fingerspitzen,

Zehen und Fersen.

Nachdem wir einige Tage Ruhe hatten, mufiten

wir täglich nach vorn zum Stellungsbau. Das war

nicht so einfach bei dieser bitteren Kalte. Wir muûten

fast immer Zementplatten durch die Laufgräben

nach der Stellung schleppen, die zum Bau von Unterständen

dienten. Auf dem Hin- und Herwege

zogen wir weifie Schneehemden mit Kapuze über

unsere Uniform, um von den Russen nicht so gut

gesehen zu werden.

[… ] Als unsere Ruhezeit vorbei war, ging es Ende

Januar wieder 1km nordwarts in Stellung. An dieser

Stelle war der russische Graben kaurn 50 m von unserem

entfernt. Daß  keiner von uns den Kopf zeigen

durfte, war selbstverständlich. Des Nachts mulite immer

die Hälfte der Mannschaften Posten stehen, um

im Falle eines Überfalls bereit zu sein. Also mubte

jeder bei dieser bitteren Kälte 8 Stunden draulien

stehenjede Nacht. Da wurde gefroren! Selten, daf

einer einige Minuten stillstand. Immer wurde ge-

                                234
getrampelt und um sich geschlagen. Wenn man abgelost

wurde und sich etwas im Unterstand erwärrnt

hatte, waren eine halbe bis dreiviertel Stunde vorbei.

Dann legte man sich den Rest der Stunde aufs harte

Drahtbett. Kaum daßman eingeschlafen war, muûte

man wieder raus. Es war strengstens verboten, des

Nachts abzuschnallen oder die Stiefel auszuziehen.

So konnte man nur auf dem Rücken liegen und hatte

die gefüllten Patronentaschen auf dem Magen. Die

Gewehre wurden am Bett aufgehangt, so daßman

sie bei Alarm sofort bei der Hand hatte. Jede Woche

wurde mindestens zweimal Alarm gegeben, da mit

die Offiziere feststellen konnten, wie lange es dauerte,

bis der Graben besetzt war.

Eines Morgens wurde ich zum Brotempfang geschickt.

Ich legte das Zelttuch über die Schulter,

steckte die Hände in die Manteltaschen und ging

nach der etwa 300 m entfernten Empfangsstelle. Ich

nahm so viele Brote ins Zelt, wie ich tragen konnte.

Da sah ich, daßich meine Handschuhe im Unterstand

liegengelassen hatte. Ich nahm nun mit den

bloben Händen die Ecken des Zeltes zusammen,

schwang das Brot aufden Rücken und lief, so schnell

ich konnte, dem Unterstand zu. Herrgott, wie mir

die Finger anfingen zu frieren! Ich konnte kaum das

Zelttuch noch halten. Endlich erreichte ich den Unterstand,

Iief Zelt und Brot zu Boden fallen. Mehrere

Fingerspitzen waren bereits erforen und weibgelb.

Sofort schmierten meine Kameraden meine

Hände mit Frostsalbe ein und verbanden sie. ln den

Fingern hatte ich fast gar kein Schmerzgefühl, aber

die Arme hinauf und besonders in der Brust

schmerzte es mich derart, daßich mich auf den

Drahtbetten herurnwälzte. Nach etwa einer Viertelstunde

war der Schmerz wieder fast ganz weg. Ich

nahm den Verband von den Händen und sah, daf

das Blut in die Fingerspitzen zurückgekehrt war.

Anfang Februar 1917 wurden wir wieder abgelöst

und kamen in das Dörfchen Kekeli in Quartier. Kekeli

bestand aus einigen zerstreuten Holzhütten, die

                                    235

mit Stroh gedeckt waren. Nun konnten wir einige

Nächte durchschlafen. Jeden Tag muûten wir vor

dem Dörfchen an einer Stellung, welche mit Schnee

gemacht wurde, arbeiten. Nach etwa einer Woche

ging es wieder nach vorne. Wir kamen wieder in

dieselbe Stellung wie zuvor. Da kam wieder der Befehl,

einen Handstreich gegen die russische Stellung

zu machen. Es wurde gefragt, wer sich freiwillig

melden wolle. Die Freiwilligen bekamen nach der

Ausführung des Handstreichs das Eiserne Kreuz.

Zu meinem nicht geringen Staunen meldeten sich

12 Mann. Am folgenden Tage, morgens bei Tagesanbruch,

stellten sich die zwölf im Graben auf, kletterten

auf Kornmando hinaus und waren in ein paal'

Sprüngen in der russischen Stellung. Das Ganze

ging so schnell, daß von seiten der Russen kein einziger

Schuh fiel. Wir lausehten gespannt hinüber. Da

fielen einige Schüße. Nach etwa 2 Minuten fingen

unsere Maschinengewehre an zu rattern und fegten

links und rechts von der Einbruchstelle knapp über

die russische Stellung. Nun kletterten unsere Soldaten

aus dem russischen Graben und liefen, so schnell

sie konnten, in unsere Stellung zurück. Es waren nur

noch elf. Keiner wuûte, wo der zwolfte geblieben

war. Wir nahrnen an, daßer absichtlich drüben geblieben

sei, mn in Gefangenschaft zu kommen. Die

Angreifer hatten, wie sie sagten, nur einen Russen

niedergeschossen. Sie brachten des sen Brieftasche

und abgerissene Achselklappen mit.

    Die Stellung, in der wir lagen, war zu dieht am

Feind und zu gefàhrlieh. Deshalb sollten wir in der

Lange von 1km etwa 300 m zurückgenommen werden,

wo bereits eine schöne Stellung mit Unterstanden

ausgebaut war. ln der letzten Nacht, die wir in

der vordercn Stellung zubraehten, muflten wir Kistchen

mit Sprengstoff nach vorne tragen. Dieselben

wurden von den Pionieren in die Unterstände verteilt,

mit einern Draht verbunden, und dann wurden

die Eingange und Fensterchen zu den Unterständen

mit gefülltten Sandsäcken zugebaut. Am Morgen bei

               236

Tagesanbruch verliefien wir die vor dere Stellung

und bezogen die weiter zurückgelegcne, neu erbaute

Stellung. Punkt 12 Uhr mittags sollte die

Sprengung stattfinden. Gespannt schauten wir aIle

nach vor ne. Plötzlich eine Explosion, daß die Erde

zitterte. [… ] Sofort wurde cine Patrouille durch den

Laufgrabcn nach vorn geschickt, um nachzuschen,

ob alle Unterstände zerstört waren. [… ]

        Nun ging das Leben seinen gewühnlichen Gang

weiter: Postenstehen, schleehte Verpflegung und

quälende Lause. Ende März 1917 wurden wir abge-

löst, um wieder einige Tage in Ruhe zu kommen.

Das Wetter war etwas gelinder, doch lag der Schnee

noch massenhaft. Wir mußten nun im Schnee herumexerzieren.

Ich hatte als Gruppenführer den Unteroffizier

Schneider, der trotz seiner 29 Jahre bereits

Doktor der Chemie war, dem aber das Militarleben

absolut nicht zusagte. Unser Bataillonskornmandeur,

ein sehr strenger Mann, ritt im Bataillon

herum und sehaute den Bewegungen der Gruppen

zu. Als er eben bei uns anhielt, gab Unteroffizier

Schneider einige verkehrte Befehle. Als hätte er das

größte Verbrechen begangen, schrie ihn der Bataillonskommandeur

an: »Wie kommt es, daßso ein

Rindvieh wie Sie zum Unteroffizier befördert

wurde? Sie gehören ins Rekrutendepot, um den

Dienst von vorne zu lernen! Sie, der Cefreite«, sagte

cr dann zu mir, ȟbernehmen sofort den Befehl

über die Cruppel- Ieh trat nun vor. Da ich eine

kräftige Stimme hatte und die Kommandos in meiner

4jahrigen Militärzeit natürlich genau kannte,

war es ein leichtes, die Gruppe zu führen. Ich lief3sie

einige Schwärmbewegungen maehen, einige Male

Stellung nehmen und dann wieder sammeln. Der

Bataillonskommandeur, der zugesehen hatte, ritt

heran und sagte: »GUI, der Gefreite. Wie lange sind

Sie sehon Soldat?« – »Seit Oktober 1913!« antwortete

ich. »Wie lange sind Sie sehon im Feld?« – »Seit

Kriegsausbruch, mit etwa 4 bis 5 Monaten Untcrbrechung.

« – »So, wie kommt es dann, daß Sie noch

                                237
 

nicht Unteroffizier sind?« – »Ich bin Elsässer und

habe deshalb schon viermal die Regimenter wechsein

müssen. Ais Neuling wird man dann gewühnlich

ais Rekrut behandelt.«

Dann ritt der Bataillonskommandeur weg und

rief unseren Kompanieführer, Leutnant Kerrl, der

ein guter Vorgesetzter war und mich gut leiden

konnte, zu sich. Ich sah, daßbeide oft nach mir

sahen, also von mir sprachen. Ais wir eben aufhörten

mit dem Exerzieren, brachte die Regimentsordonnanz

eine Meldung zu unserern Bataillonskomrnandeur.

Als diesel' dieselbe gelesen hatte, rief er: »Das

ganze Bataillon hier rumkomrnen !- Alles lief hin

und stellte sich im Kreis um den Bataillonsführer.

»Soldaten«, fing el' an, »der Krieg auf dieser Front

ist soviel ais beendet. ln Ruûland ist eine Revolution

ausgebrochen. Der Zar ist abgesetzt. Die Garnison

von Petersburg, 30000 Mann, hat sich den Revolutionären

angeschlossen.« [Es war die Februarrevolution

yom 23. Februar 1917, der am 17. Marz 1917 die

Abdankung von Zar Nikolaus IIfolgte.]

Wir aIle horchten mit offenem Munde, dann

konnten wir in unsere Quartiere gehen. Alle möglichen

und unrnöglichen Vermutungen wurden ausgetauscht.

Den einen grau te schon, die dreckigen

Feldbahngeleise nun abreilien zu müssen; andere

meinten: »jetzt geht's los nach Petersburg und Moskau..

Fast aIle freuten sich, daßdas Schützengrabenleben

nun bald ein Ende haben sollte. lch selbst war

jedoch noch nicht so ganz von der Sache überzeugt,

sagte aber nichts weiter. Vorne an der Front ertönten

die einzelnen Kanonenschüsse genau wie vorher.

Also war's mit der Revolution nicht so schlimm.

Einige Tage spater wurde der wahre Sachverhalt

bekannt. Wirklich, der Zar war abgesetzt worden,

aber nul' weil cr Frieden schlielien wollte. Der Krieg

jedoch wurde unter dern Befehl des Diktators Kerenski

[damals Mitglied des Provisorischen Exekutivkomitees

des Arbeiterdeputiertenrates, yom  Juli

1917 bis zur Oktoberrevolution russischer Ministerpräsident]

                                238

 

aufs neue fortgesetzt. Das klang ganz,

ganz and ers ais die erste Meldung.

        Anfang April 1917 wurde unser Regiment ganz

abgeWst. Wir marschiertcn zurück und wurden in

dern ganz von Juden bewohnten Städtchen Subbat

2 Tage einquartiert, Hier sah ich seit meinem Urlaub

irn Oktober 1916 wieder die ersten Zivilisten. Lebensmittel

waren keine zu kaufen, aber sonst allerhand.

Und in den Teestuben gab es no ch einigerrna-

Ben guten Tee zu trinken, der statt mit Zucker mit

Sacharin versülit wurde. Dann marschierten wir

nach der Bahnstation Abeli. Dort wurden wir verladen.

Kein Mensch wubte, wohin, Wir fuhren zurück

über Radsiwilischki, Rakischki über Schaulen nach

janischki. Dort verlieben wir den Zug und wurden

3 Tage in Massenquartieren untergebracht; dort

schliefen wir auf den Zimrnerböden. Es gelang mir

auf Schleichwegen, 12 Eier und 1 Pfund Speck zu

kaufen. Das gab wieder mal zwei vernünftige Mahlzeiten.

Als die 3 Tage um waren, fuhren wir mit der

Bahn nach Schaulen zurück. lch soIlte mit noch einern

Gefreiten zum Unteroffizier befordert werden.

ln Schaulen angekommen, hief es: »Alle Elsaû-

Lothringer aussteigenl- lch ahnte gleich, weshalb.

Wir muûten auf dem Perron antreten. Der Kompanieführer

kam zu mir, übergab mir einen Brief, den

ich meinem zukünftigen Kornpanieführer geben

sollte. Es sei ein Empfehlungsschreiben, mich und

die übrigen Elsässer der 9. Kompanie betreffend.

Ich dankte, dann nahm der Kornpanieführer Abschied

von uns. Von unseren Kameraden konnten

wir nicht Abschied nehmen, denn sie durften nicht

.iussteigen. Bei unserern Abmarsch winkten wir ihlien

ein letztes Lebewohl zu. [… ] die Division wurde

nach dem franzosischen Kriegsschauplatz transpor-

1 iert, und wir Elsässer durften nicht mit. Wir wurden

ill Schaulen in einer früheren Lederfabrik für 2

'Lige einquartiert. Wir waren etwa 1200 Mann. Es

war hier wieder dieselbe Schimpferei wie bei unserer

Versetzung vom Regiment 44 zum Regiment 260.

                                239

Mich wunderte sehr, was eigentlich in dem Empfehlungsschreiben

meines früheren Kornpanieführers

stand. Auf dem Briefumschlag stand nur: »An

den Kompanieführer«. Ich dachte: lch kann den

Brief ebensogut in einem unbeschriebenen Briefumschlag

abgeben. SAriß ich ihn einfach auf und las.

Dieser Brief war der reine Lobgesang auf mich,

dann auf den Soldaten Runner Harry, der aus Rufach

stammte, und die übrigen Soldaten der 9. Kornpanie.

Es freute mich doch, daß wir bei unserem

Kompanieführer so gut angesehen waren. lch teilte

den Inhalt des Briefes nur meinem Kameraden

Runner Harry mit. Am nächsten Tag ging ich mit

Runner in die Stadt, um zu sehen, ob etwas Eßbares

zu kaufen wäre. Wir konnten leider nichts finden als

Tee in den Teestuben. Es fiel uns auf, daß viele

Soldaten in eine abgelegene Gasse gingen, ebenso

von dort kamen. ln der Meinung, daßdort etwas zu

kaufen wäre, gingen wir beide auch hin. Wir betraten

ein Haus, in dem es ein und aus ging wie in einem

Bienenstock . .la, da war wirklich was zu kaufen, aber

was! Wir waren in ein öffentliches Haus geraten, in

dem etwa 8 Dirnen ihr Unwesen trieben. Var jeder

Tür stand eine ganze Reihe Soldaten, einer nach

dem anderen ging hinein. Wir beide kehrten um,

denn wir schämten uns unserer Landsleute. Die Soldaten

waren närnlich aIle Elsasser.

Am folgenden Tag ging es wieder mit einer Feldbahn

nach der Front, etwa 60 km nordwärts. ln der

Nähe von Jakobstadt verlieben wir die Bahn und

wurden auf verschiedene Regimenter verteilt. lch

wurde mit noch etwa 200 Mann dem Regiment 332

zugeteilt. Ein Feldwebel führte uns nach der Front.

Wir hatten etwa 15 km zu marschieren. Der Feldwebel

hörte auch allerhand und war froh, aIs er uns

beim Regimentsstab abgeben konnte.

Wir wurden sofort den Bataillonen zugeteilt und

hingeführt. Wir mußten antreten. Da kam der Major

Zillmer, ein etwa 65jahriger Mann, um seine Begrü-

Bungsrede zu halten. Bis jetzt war noch kein Elsässer

                                    240

im Regiment, daher kannte sie der Major nur vom

Horensagen. Und nach allem, was er sprach, schien

er noch wenig Cures über die Elsaß-Lothringer gehört

zu haben. Zuerst ging er var uns durch und sah

jedem einzelnen auf die Mütze. »Es geht noch. Ich

dachte schon, es seien mehrere Soldaten 2. Klasse

dabei.« Das war der erste Satz, den er sprach. (Die

Soldaten 2. Klasse, »Schwerverbrecher«, dürfen

nämlich keine Kokarden an der Mütze tragen.)

Dann fuhr er fort: »Was seh' ich? Einige von euch

tragen sogar das Eiserne Kreuz l- Darüber schien er

so verwundert, ais ob er etwas ganz Unrnogliches

cntdeckt hatte. Am Iiebsten hatte ich den alten Halunken

niedergeschlagen. Verdient hätte er es!

Nun wurden wir den Kompanien zugeteilt. lch

kam zur 5. Kompanie, obwohl ich zur MG-Kompanie

verlangte. Der Kompaniefeldwebel, den ich vom

crsten Augenblick nicht leiden konnte, empfing uns

ähnlich. Hier bist du geliefert, dachte ich bei mir. lm

stillen nahm ich mir vor, bei der nächsten Gelegenheit

zu den Russen überzulaufen, denn bei dieser

Bande schien mir das Aushalten unrnöglich.

 

                lN STELLUNG BEIM REGIMENT 332

 

Am folgenden Tage mußte ich mit mehreren Kameraden

in die Stellung nach vorne. Der Weg führte

rneist durch eine sumpfige Gegend. Durch den

Sumpf waren stellenweise lange Brücken aus Tannenstämmen

gebaut, um das Passieren zu errnöglichen.

EndIich kamen wir in der Stellung an. Sie

bestand hier nicht aus einem in die Erde gegrabenen

Schützengraben, sondern aus einem aufgeworfenen

Erdwall. ln die Tiefe graben war unmoglich, denn in

der sumpfigen Gegend wäre der Graben sofort voll

Wasser gewesen. Die oben auf die Erde gebauten

Unterstànde waren auch nur schwach gebaut und

hatten bei einer Artilleriebeschießung wenig Dek-

                        241

kung geboten. Die Stellung schien je do ch sehr ruhig,

und wie mir Soldaten erzahlten, kamen nur selten

einige Schrapnells herübergef1ogen.

    Wir mußten uns beim Kompanieführer, Leutnani

Pelzer, vorstellen. Der Leutnant, der eine heisere

Stimme hatte und sehr welk und schlecht aussah,

betrachtete uns, wie man ungefahr ein widerrtiges

Stück Vieh betrachtet, und befahl dem uns begleitenden

Feldwebel, uns in die Gruppen zu verteilen.

Vorher gab ich den Empfehlungsbrief meines

früheren Kompanieführers ab; der Leutnant offne

te den Brief, las ihn und sagte einfach: »Sie können

gehenl« Ich schob ab und kam in die Gruppe des

Unteroffiziers Stein.

Es schien hier eine strenge Disziplin zu herrschen,

denn beim Postenstehen mußte man wie verrückt

immer geradeaus nach den Russen hinübersehen,

und wenn ein Offizier den Graben passierte, mulite

man stillstehen und immer nach vorne sehend melden:

»Cefreiter Richert, auf Posten Numero

soundso, yom Feinde nichts Neuesl- Dabei waren in

dieser Stellung die Russen gar nicht zu fürchten,

denn zwischen uns und ihnen strörnte der großc

Fluf vorbei, die Düna, die an diesel' Stelle etwa

400 m breit war. Bei Tage war ein Herüberkommen

. ganz unrnöglich. Nach etwa 10 Tagen wurden wir

abgelëst und wohnten in Baracken, die am Rande

eines Tannenwaldes etwa 3 km hinter der Front errichtet

waren.

 

                                HUNGER

 

Plötzlich gab's pro Mann und Tag statt wie bisher

1:2 nur noch 1 Pfund Brot. ln Deutschland und den

eroberten Gebieten war der Bestand der Lebensmittel

aufgenommen worden; dabei stellte sich heraus,

daß das Brot unmöglich bis zur neuen Ernte ausreichen

konne. Daher wurde uns taglich ein halbes

                                         242

Pfund abgezogen. Kartoffeln hatten wir bereits seit

4 Monaten über haupt keine mehr zu sehen, noch

viel weniger zu essen bekommen, da im Herbst 1916

die Kartoffelernte sehr schlecht ausgefallen war.

Nach und nach stellte sich bei allen Soldaten ein

derartiger Hunger ein, daßman sich nicht mehr zu

helfen wußte.

   Die Verpf1egung bestand morgens und abends

aus schlechtem, schwarzem Kaffee, aus KaffeeErsatz

gebraut, ohne Zucker, 1 Pfund Brot pro Tag,

das jeder gleich am Morgen zum Kaffee gegessen

hatte. Dann gab es noch abwechselnd Butter, Marmelade

oder eine Leberwurst, ein graues Fett, »Affenfett

« genannt, jedoch nur wenige Gramm pro

Kopf – was hingereicht hätte, eine junge Katze zu

ernähren, aber nicht junge, ausgehungerte Soldaten.

Dabei gab esjetzt drei fleischlose Tage pro Woche.

Das Mittagessen bestand aus 1 Liter dünner Suppe,

hauptsachlich Grieß- oder Dörrgemüsesuppe. Die

Feldküche fuhr mit dem Essen nach vorne in die

Stellung. Uns, dem Reservezug, wurde die Suppe

auf einem Wagelchen in einem Kübel hergefahren.

Wenn die Zeit herannahte, daß der Wagen kommen

sollte, gingen ihm die meisten Soldaten entgegen,

denn jeder wollte der erste sein in der Hoffnung,

außer seinem Liter, wenn noch etwas Rest im Kübel

war, davon zu erhaschen. Der Kübel selbst wurde

mit Loffeln sauber ausgekratzt. Manchmal, wenn

sich die ersten an den Wagen anhängen wollten, um

zuerst dazusein, hieb der Fahrer plotzlich auf die

Pferde los und sprengte im Galopp nach derAusgabestelle,

so daß jene, die die ersten sein wollten, nun

die letzten waren. Trotzdem gab es noch 50 blödsinnige

Patrioten, die immer noch an einen deutschen

Sieg glaubten. 

   Da nun Frühling geworden war, sprossen in den

Cemüsegarten der zerstörten Hauser, in Hecken

und an Wegrändern viele Brennesseln. Sie wurden,

kaum daßman sie fassen konnte, gerupft, in Sal 
                                    243

wasser gekocht und mittags unter die Suppe gemengt

und vertilgt. Ebenso wurde der Löwenzahn

(Kettenstüdasalat) sowie die Blätter der Melden [spinatähnliche

Unkräuter, häufig ais Gemüse verwendet]

gesammelt, gekocht und gegessen. Alles, was

kreuchte und fleuchte, wurde gegessen. Einmal gelang

es mir, eine Wildkatze von einer Tanne herunterzuschieHen.

Sie schmeckte ausgezeichnet. Ich

hatte früher nie gedacht, daßich sa tief sinken

würde, Katzenfleisch zu essen.

        Wir muhten nun jeden Abend nach der Stellung

gehen, um neue Drahthindernisse zu bauen

und Reservegräben auszuheben. Bei Tagesanbruch

marschierten wir wieder zurück in die Baracken.

Auf dem Rückweg ging jeder, wie er wollte, in

Gruppen von 2, 3 bis 10 Mann. Da lief vor uns ein

Igel über den Weg. Etwa 8 Mann sprangen in den

Graben, um den Igel zu fangen. Jedoch jeder, der

den Igel anfassen wallte, stach sich an den Stacheln

und lief ihn mit einem Aufschrei 'Nieder los. Sa

stießensich die Soldaten im Graben herurn, keiner

wollte sich die Beute entgehen lassen, und doch

konnte sie keiner erhaschen. Ich sprang nun ebenfalls

in den Graben und sah den Igel, der natürlich

zusammengerollt war, zwischen den Beinen der

sich herumstoßenden Soldaten liegen. Schnell

scharrte ich den Igel hervor, nahm die Mütze vom

Kopf und rollte ihn mit dem Fußhinein. Der Igel

war mein! Die Hälfte briet ich, während ich die andere

Hàlfte ais Suppe kochte. Das war für mich das

reins te Festessen.

Eines Morgens, ais wir von der Arbeit kamen, sah

ich in einer Wasserlache etwa 100 Frosche, die eben

laichten. Ich ging mit einem Kameraden, einem

Cartner aus Straßburg, hin, um sie zu fangen. Sofort

reinigten wir sie. Die Preußen, die zusahen, mußten

sich fast erbrechen vor Ekel, denn in PreuGen werden

keine Frösche gegessen. Nun fingen wir beide

an, sie in einer Pfanne auf dem Ofen zu braten. Der

Gärtner hatte am Tage vorher ein halbes pfund Butter

                                244

von zu Hause erhalten, und Froschschenkel, in

Butter gebraten, verbreiten bekanntlich einen sehl'

angenehmen Duft. Einer nach dem anderen der

Preulien kam herbei, von dem herrlichen Geruch

herbeigelockt, und guckte verlangend in die Pfanne.

»Du, ich mochte auch mal kostenl- Jene, die sich

beim Putzen der Frosche am meisten geekelt hatten,

hatten nun die ganze Pfanne leer gegessen. Wir

beide sagten aber einfach, sie sollten sie selber fangen

und kochen. Von da ab war kein Frosch mehr in

der ganzen Umgebung sicher.

Wir hofften, daßdie Verpflegung wieder etwas

besser werden würde. Leider hatten wir uns getäuscht.

Es war wirklich fast nicht mehr zum Aushalten.

Nie, nicht ein einziges Mal konnte man sich satt

essen. [… ]

Eines Tages war Bataillonsappell. Wir muliten aile

antreten. Da kam der Regimentskommandeur hergeritten.

Er nahm die Parade ab. Von einem schneidigen

Parademarsch war natürlich keine Rede, denn

erstens war der Parademarsch nicht geübt, und zweitens

fehlte die Kraft, die schlappen Beine rauszuwerfen.

Nachher muGte das ganze Bataillon im

Halbkreis um den Regimentskommandeur antreten.

»Kameradenl- fing er an. »Wir hungern, dies ist

eine Tatsachel- (Dabei hatte er ein richtiges Vollmondgesicht

und ein mächtiges Fettkissen im Nakken.)

»[a, wir hungern«, fuhr er fort, »aber England

hungert auch, unsere Unterseeboote schaffen's, selten

gelingt es einem Schiff, England zu erreichen,

ohne versenkt zu werden. Frankreich ist ebenfalls

erschopft und leidet unter dem Lebensmittelmangel!

« (Dabei erhielt ich zwei Tage vorher einen Brief

aus der Heirnat, in welchem mir meine Schwester

mitteilte, daßdort Lebensmittel in Hülle und Fülle

vorhanden seien, und von Not keine Spur!) »Es ist

gerade wie in einem Ringkampf«, redete er weiter,

»bei dem der Gegner zu Boden gerungen ist,jedoch

noch eine Schulter hochhält. Diese Schulter rnuf

noch niedergerungen werden, deshalb müssen wir

                            245

aushalten. Denn wir wollen, müssen und werden

siegen!« Dieser Dickkopf hat gut reden, dachte ich.

Mehrere patriotische Soldaten glaubten natürlich

dem Regimentskommandeur. Wenn sie nachher

von dem bald ausgehungerten England und Frankreich

sprachen, langte ich die Brieftasche hervor

und gab ihnen den Brief meiner Schwester lU lesen.

»Donnerwetter l- meinte mancher. »Wenn das 50 ist,

geht's mit uns zuletzt doch noch schief!«

lm Mai 1917 marschierte unser Regiment zurüek.

Wir wurden von einer Feldbahn etwa 150 km weiter

nach Süden transportiert. Bei dem Städtchen Nowo

Alexandrowsk verlieBen wir die Feldbahn und marschierten

auf einer sehr guten, breiten Stralie an die

Front [ ] nach der vordersten SteIlung, wo wir das

darin befindliche Regiment ablösten. Die Soldaten

sahen auch aile elend und abgemagert aus; das

zeigte uns, daßauch hier der Hunger herrschte.

Meine Kompanie lag in einem kleinen Waidchen,

welches auf einer Landzunge zwischen zwei Seen,

rechts der Meddumsee, links der Ilsensee, lag. Die

russische Stellung befand sich etwa 150 m vor uns.

[... ] Die Stellung war hier sehr stark ausgebaut. Die

ganze Linge des Schützengrabens lief ein Gang in

5 m Tiefe entlang, welcher durch mit Treppen versehene

Eingänge aIle 15 m mit dem Schützengraben

verbunden war. lm großen und ganzen war die Stellung

nicht sehr gefahrlich. Wahl flogen jeden Tag

einige Granaten und Schrapnells hinüber und herüber.

Aber sie richteten wenig Sehaden an. lch

wurde nun wieder Gruppenführer und brauchte

nicht mehr Posten zu stehen. Bloß jede Nacht hatte

ich eine Stunde Grabendienst, um die Posten zu

revidieren. Mehrere Male traf ich in besonders

schwülen Nächten Posten an, die var Schwäche ohnmachtig

geworden waren und neben dem Postenst.

and im Graben lagen. Die ganzlich erschöpften

Soldaten kamen 14 Tage bis 3 Wochen in ein irgendwo

hinter der Front eingeriehtetes Erholungsheim,

um wieder etwas zu Kräften zu kommen.
                            246

Ich versuchte nun nochmals, lUI' MG-Kompanie

meines Bataillons zu kommen, ging zum Kompanieführer

der MG-Kompanie und erzählte ihm mein

Anliegen. Der Kornpanieführer, ein Freiherr von

Reiliwitz, war sehr freundlich zu mir und sagte, er

wolle mich von meiner Kompanie anfordern. [... ]

Nach 2 Tagen kam der Bataillonsbefehl: »Cefreiter

Richert von der 5. Kompanie ist zur 2. fG-Kompanie,

Infanterieregiment 332 versetzt l

        Ich freute mieh nicht wenig, nahm Abschied von

meinen Kameraden und ging zur MG-Kompanie.

Der Feldwebel nahm mich freundlich auf und

fragte, ob ich Telephondienst machen könne. Obwohl

ich noch wenig mit dem Telephon zu tun gehabt

hatte, bejahte ich und wurde Te!ephonist. [… ]

Wir waren 3 Telephonisten, jeder hatte täglich 8

Stunden Dienst, der natürlich sehr leicht war. Man

saß im Unterstand und wartete, bis das Te!ephon

klingelte, und gab dann die Befehle per Telephon

weiter. Auch kamjeden Tag der Heeresbericht vom

Groûen Hauptquartier. Dieser muûte niedergeschrieben

und in einem Kasten an einer Tanne aufgehangt

werden, damit sich die Soldaten an den

aufgebauschten Siegesmeldungen »satt essen«

konnten. Das Leben war hier sehr angenehm. Wenn

nur der Magen mehr Arbeit gehabt hättel Es war

wirklich einJammer mit der Verpflegung. Zuwenig

zum Leben, zuvie! zum Sterben! Einmal bekam ich

1 pfund Brot von der Familie Gauche! aus dem

Rheinland geschickt. Das Paket war wohl irgendwo

liegengeblieben, denn es war 14 Tage auf der Reise.

Die Mutter Gauche! hatte das Brot wohl im warmen

Zustand eingepackt, denn ais ich das Paket öffnete,

sah man vom Brot innen und außen nichts ais grünen

Schimmel. Trocken dasselbe zu genießen war

unmoglich, wegwerfen konnte ich es nicht. Aiso versuchte

ich, eine Suppe zu kochen, nahm Wasser ins

Kochgeschirr, tat etwas Salz hinzu und schnitt das

Brot hinein. Durch das Kochen löste sich viel von

dem Schimmellos; diesen schopfte ich ab. Dann aß

                             247

ich die Suppe. Es war mir fast unm öglich, sie zu

geniessen. Aber' mit Todesverachtung würgte ich sic

hinuntcr.

Gleich am Rande des Secs breitetc sich ein großes

– nun natürlich verwildertes  Ackerfeld aus. Stellenweise

befanden sich einige zusammenstehende

Roggenahren dort, die nun reif ware n. Ich schnitt

mit dem Taschenmesser einen Brotbeutel voll Ahren

ab, rieb die rner aus, blies die Spreu weg,

nahm einen runden Stein und zerdrüekte die Korner

auf einer Steinplatte. Daraus koehte ich wieder

Suppe. Natürlich hatte ich schon bessere gegessen.

Acht 'rage lang mach te ich es sa, bis keine Roggenahre

mehr in der Umgebung zu finden war.

üft suchte ich au ch Himbeeren, um etwas in den

Magen zu bekomrnen. Gleich hinter dem Unterstand

erhob sich ein runder H ügel, an dem es viele

Himbeersträucher gab. Die vordere Seite des gels

lag frei gegen die Russen; deshalb sammelte ich zuerst

nul' hinter dem Hügel. Da es heiß war, zog ich

meinen Rock aus. ln meinem Eifer kam ich um den

gel herum, ohne es zu beachten, daßich nun

nicht mehr in Deckung war. Plotzlich sauste eine

Granate heran und sehlug etwa 3 m links von mir in

den Hügel. Die Russen hatten mich in meinem wei-

Ben Hemd gesehen. leh erschrak narlich heftig bei

dem plëtzlichen Einschlag und lief, so schnell ich

konnte, um den gel herum, um in Deckung zu

kommen. Beim Laufen blieb ich mit den Füben an

den Dornen hängen, stürzte zu Boden, so daß fast

alile Himbeeren aus dem Koehgeschirr herauskollerten.

Mit einem fast leeren Koehgesehirr ging ich in

den Unterstand zurück.

        Auf dem See gleich neben dem Unterstand lag ein

kleiner Kahn mit 2 Rudern. Darauf fuhren ich und

der andere Telephonist, der eben dienstfrei hattc,

auf den See hinaus, um mit Handgranaten zu fischen,

trotzdern dies streng verboten war. Manehmal

gelang es uns, mehrere schöne Fische zu fangen.

Wir nahmen eine Handgranate, entzündeten sie

                                        248

und warfen sie etwa 3m vom Kahn ins Wasser. Von

der Explosion horte man nul' einen dumpfen

Schlag. Das Wasser wurde jedoch derart in Bewegung

gesetzt, daß der Kahn anfing zu schaukeln. Die

Fische, die sich in der Nahe befanden, wurden teils

gelet, teils nul' betäubt. Einmal fuhren wir in UI1

seunscrern Eifer zu weit in den See hinaus, wo elnicht

mehr durch den Wald gedeckt war und ihn

die Russen genau einsehen konnten. Wir beide waren

eben beschäftigt, mehrere betäubte Fische einzufangen,

als eine Granate etwa 30 m vor uns ins

Wasser schlug. lm selben Moment bog ich mich weit

über den Rand des Kahnes, wahrend mein Kamerad

auf der anderen Seite stand, um das Gleichgewicht

zu halten. Bei dem Einschlag der Granate

ckte sich mein Kamerad, der Kahn fing an zu

schaukeln, und beinahe wàre ich kopfüber in den

See gestürzt. [… ] Uns war für einige Zeit die Lust

am Fisehen vergangen.

    Unweit von unserem Unterstand befand sich im

Geseh eine aire Müllgrube, die nicht mehr gebraucht

wurde. Da mußte wohl im Frühling eine

Kartoffel hineingeraten sein, denn eine schöne

Staude wuchs da. Ich wollte sie zuerst ausreilien,

dachte aber, daß wahrscheinlich noch keine oder

nur kleine Kartoffeln daran seien, und Iief sie stehen.

Damit sie den Blicken der anderen Soldaten

entzogen sei, steckte ich rundum dichte grüne Reiser.

Ich wollte die Staude ausreifen lassen, um wieder

mal einige Kartoffeln essen zu können. Seit über

einem halben.J ahr hatte ich keine einzige Kartoffel

gesehen, noch viel weniger gegessen! Eines Tages

mulite ich eine Meldung zum Bataillonsstab bringen,

der gleich hinter dem Wald in einem Bauernhaus

wohnte. Vom Waldrand bis zum Haus zog sich ein

Kartoffdacker. [... ] Schon mehrere Male war nachts

gestohlen worden, so daß jede Nacht Infanterie Wache

stehen und um den Acker patrouillieren mußte.

lch ging in meinen Unterstand zurück und sagte

meinen beiden Karneraden: »Heute nacht gibt's

                                249
Kartoffelnl  »Wie, wasj'- riefen sie wie aus einem

Munde, »[a, ganz sicherl antwortete ich. »Laût

mich nur machen AIs es dunkel "l'tude, ging ich in

Richtung des Bataillonsstabes. Der Posten patrouillierte

schon um den Acker. Jedesmal werm der Posten

bei seinem Rundgang sich dem Waldrand naherte,

blieb ich still hinter dem Gesch knien. Zuletzt

trennte mich nur noch ein Busch von dem Weg,

den der Posten passierte. Ich lief ihn vorbeigehen

und kroch dann, ais er am unteren Ende angelangt

war, auf allen vieren in den Acker und fing an, mit

den Händen die Knollen hervorzuwühlen.]edesmal

wenn der Posten vorbeiging, lag ich mäuschenstill

zwischen den Stauden, um dann gleich, werm die

Gefahr vorbei war, mit der Wühlerei von vorne zu

beginnen. So füllte sich nach und nach mein Sandsack,

und ich schätzte meine Beure auf 25 pfund.

[… ] Bei meinem Unterstand angekommen, horchte

ich erst, ob die beiden Telephonisten alleine seien.

Dann offnete ich die Tür zum Unterstand und warf

den Sack hinein. [… ] Wie da ein]ubellosbrach! AIs

hätte jeder das große Los gewonnen! Sofort wurde

ein gehoriges Quantum gewaschen, geschalt und in

Salzwasser gekocht. Das Wasser wurde abgeschüttet

und die Kartoffeln mit dem Griff des Seitengewehrs

zerstolien. Die beiden wollten nun gleich drauflosessen.

Ich aber sagte: »Nur langsam!«, ging an meinen

Tornister, holte die eiserne Portion hervor, offnete

die Büchse und mengte das Fleisch unter die Kartoffeln.

Da das Essen der eisernen Portion ohne Erlaubnis

mit 3 Tagen Arrest bestraft wurde, waren meine

Kameraden über meine Dreistigkeit sehr erstaunt

und sagten: »Was ist nun, wenn Appell ist?«  »Nur

ruhig. Ich telephoniere morgen einfach dem Kornpaniefeldwebel,

daß mir meine eiserne Portion gestohlen

worden sei. Ich hoffe, daß el' mir eine andere

mit der Feldküche zuschickt.« Meine Kameraden

mußten nun herzlich lachen, und seelenvergnügt

aben wir nun dieses seltene Essen.

Eines Tages bekam ich sehr starke Zahnschmerzen.

                                        250

Da sie mehrere Tage anhielten, meldete ich

mich krank und bekam vom Bataillonsarzt eine

Bescheinigung, die Zahnstation in NowoAlexandrowsk

aufzusuchen, um meine kranken Zähne ziehen

zu lassen. lm Wartezimmer saûen etwa 12 Soldaten,

die wortlos vor sich hinstierten. Ein Soldat mir

gegeber kam mir bekannt vor. Ich konnte ihn

jedoch unmoglich erkennen. Es fiel mir bald auf,

daf el' mich ebenso betrachtete wie ich ihn. Ich

wollte eben fragen, ob er nicht Elsässer sei, ais er

aufstand, auf mich zukam, mir die Hand zum GruJ3e

hot und sagte: »Dü bisch doch der Richert vo St.

Ulrich!« Nun erkannte ich ihn. Es war der Schwob

.Josef aus Hindlingen. »Dü bisch 0 feist worda wia

ich!« meinte er dann. Und wirklich, Schwob war

schrecklich abgemagert. DeshaIb konnte ich ihn

nicht gIeich erkennen. Daß ich bei solcher Verpflegung

auch nul' noch ein wandelndes Knochengerüst

war, kann sich wohljeder denken. Wir erzählten uns

von der Heimat, was eben jeder von dort wulite. [... ]

Ohne daßich die Zahne gezogen hatte, gingen wir in

clas Stadtchen in der Hoffnung, etwas zum Beiûen

kaufen zu konnen. Jedoch nichts war aufzutreiben

als ein Glas Bier in einer Kantine. Gerne hätte ich

1I0ch eins getrunken, abe